STINE RUGEBREGT

LEONORAS HAUS

Roman

Umschlagbild:
Nora Roggausch

Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-86205-932-4 (E-Book)

© IUDICIUM Verlag GmbH, München 2012

Alle Rechte vorbehalten

www.iudicium.de

Als die Zehn Gebote in Stein gemeißelt waren,
fehlte Platz für das elfte.

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Irgendwann nach der
Jahrtausendwende

Maria

Dorothea

Herbert

Dorothea

Wilhelm

Leonora

Epilog

IRGENDWANN NACH DER JAHRTAUSENDWENDE

Er hörte, wie seine Mutter in der Küche hantierte. Hörte, wie sie einen Topf auf den Herd stellte. Er hielt den Blick auf seinen Teller gerichtet, während er langsam weiterkaute. Jetzt war sie mit dem Besteck beschäftigt. Im Geiste konnte er ihre Bewegungen genau verfolgen. Sie trocknete jedes einzelne Stück sorgfältig ab. Das Trocknen erfolgte immer nach einem festen Muster, von dem sie nie abwich. Zuerst kamen die ,Sonderteile‘, wie Suppenkelle, Fleischgabel oder Salatbesteck. Danach alle Löffel, große und kleine. Anschließend die Gabeln. Und zum Schluss die Messer. Messer ...

Er hörte auf zu kauen. Messer. Langsam hob er den Blick. Zunächst schaute er auf den Fleischbraten, der einladend auf seinem Holzbrett wartete. „Schneid‘ mir noch eine Scheibe ab“, schien er zu sagen. Neben dem Brett lag das Tranchiermesser. Einige Sekunden lang fixierte er das Messer. Dann glitten seine Augen über den Braten hinweg zu dem Platz gegenüber: dem Stuhl seiner Mutter. Auf dem jetzt Momo, die graue Katze, saß. Sobald seine Mutter aufgestanden war, war Momo frech auf ihren Platz gesprungen und starrte nun wie hypnotisiert auf den Braten.

Sein Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. Momo schien seinen Blick zu spüren, denn plötzlich wandte sie die Augen vom Braten ab und schaute ihn an. Einige Sekunden lang sahen beide, Katze und Mann, einander intensiv an. Dann stand er auf und ging um den Tisch herum. Momo machte erwartungsvoll einen Katzenbuckel. Er nahm ganz ruhig das Tranchiermesser vom Tisch und stieß mit einer fließenden Bewegung zu. Legte das Messer wieder auf den Tisch. Momo gab nur einen kurzen Laut von sich, starb fast geräuschlos.

Seine Mutter kam aus der Küche. Nahm das Bild in sich auf. Und begann zu schreien, während sie hilflos, wie angewurzelt, dastand.

Er starrte sie stumm an, schrie aber in Gedanken: „Hör‘ auf!“

So laut er konnte schrie er. „Hör‘ auf, du Hexe, hör‘ auf, hör‘ auf!“

Er legte die Hände an die Ohren, seine stummen Lippen zuckten verzweifelt. Aber sie hörte nicht auf.

„Das halte ich nicht aus! Hör‘ auf, ich halte es nicht aus!“ Seine Gedanken kreischten ohrenbetäubend. Seine Hand griff wieder nach dem Messer, drehte es zu sich selbst – und stach zu. Er schloss die Augen.

Mit einem Mal war Ruhe. Er lag auf dem Rücken und er schwebte. Irgendwo tat ihm etwas weh, aber es war nicht unerträglich. Er schwebte, und als er die Augen aufmachte, sah er ein sanftes Licht. Plötzlich wusste er mit großer Gewissheit, warum er schwebte. Weil er auf diesem Licht lag, auf diesem angenehmen Licht. Er fragte sich, wie das möglich war, was es auf sich hatte mit diesem Licht. Es war so beruhigend. Er lächelte. Das Licht wurde heller, aber nicht grell. Je heller das Licht wurde, desto mehr zog sich der Schmerz zurück.

Jemand kam auf ihn zu. Nein, schwebte auf ihn zu.

Sein Vater. Er machte ein bekümmertes Gesicht. „Mein Sohn ...“ Sein Vater kniete sich an seine Seite. Er wollte ihn nicht sehen, wandte den Blick ab, schloss die Augen wieder.

„Nein, zuerst hör‘ mir zu“, sagte sein Vater. „Oder uns.“

Uns? Er öffnete die Augen. Seine Mutter. Bleib mir bloß weg!

Auch sie hatte sich niedergekniet. Sie rang verzweifelt ihre Hände.

„Hör uns zu, Max! Bitte, hör‘ uns zu! Geh‘ nicht so. Das ist doch keine Lösung!“

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Doch, es war eine Lösung. Wieder schloss er die Augen. Endlich Ruhe!

Er wünschte, sie würden gehen! Ihn mit diesem wunderbaren Licht alleine lassen. Das mussten sie doch verstehen!

Sie wollten reden? Na, dann los! Er würde tun, als ob er schon tot wäre!

„MAX!“ rief jemand. Er zuckte zusammen. Nein! Sein Körper wand sich vor Angst. Diese Stimme! Er wollte flüchten. Aber, ach ja, das Messer! Er konnte sich nicht bewegen. Dieser Teufel. Dieser Dämon!

„Max ...“ Oh, dieser schmeichelnde, flehende Ton. Der stählerne Klang darin. Rasiermesserscharf. Angst, Angst, Angst!

Er stellte sich tot.

„Max ...“ Flehend. Aber anders als damals. Irgendwie anders. Was war das? Damals gehörte der flehende Ton zum Spiel. Zum teuflischen Vorspiel. Dieses Flehen klang anders. Klang echt.

Jetzt knieten sie alle drei an seiner Seite. Max spürte Hass. Einen Hass, so tief, dass er Raum und Zeit zu transzendieren vermochte. Auf einmal erfüllte ihn eine Klarheit, die er sein Leben lang nicht gekannt hatte. Auf einmal wusste er, dass er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich lebendig war. Und plötzlich wusste er mit absoluter Gewissheit, dass er diesen Hass, diesen leidenschaftlich tiefen Hass mitnehmen würde. Oder umgekehrt: Dass dieser Hass ihn ins nächste Leben zerren, mit ihm tanzen und ihn herumwerfen würde ...!

Nein, seine Eltern hatten recht: Es war keine Lösung. Es würde weiter gehen, immer weiter. Nichts war zu Ende!

Er spürte, wie sich, tief in seiner Brust, ein Schluchzen Bahn brach. Ein Schluchzen, verzweifelt und erschütternd, das wie ein Erdbeben seinen Widerstand zertrümmerte. Und aus dem Grund seines Herzens stieß er den uralten Ruf der Menschheit aus, so wie die letzte Wehe das Baby aus der Gebärmutter treibt:

„Herr, hilf mir!“

Und sieh da: Wie die Antwort Gottes spürte er schlagartig, wie sich Raum und Zeit, Vergangenheit und Zukunft auflösten. Aus dem Licht trat eine Gestalt und näherte sich ihm. Eine weibliche Gestalt. Er erkannte sie. Dorothea! Jetzt weinte er vor Erleichterung. Sie sah ihn mit unendlichem Mitgefühl an. Und sagte:

„Höre zu ...“

MARIA

Ja, ich bin schuldig. Das sage ich mal gleich vorweg. Und feige bin ich auch. Denn ich hoffe, dass diese Geschichte erst nach meinem Tod, wenn überhaupt, gelesen wird. Ich möchte keine Fragen und keinen Kommentar. Papier kann man einfach ohne Erklärungen abgeben. Warum ich sie erzählen will? Obwohl alles zu spät ist? Natürlich weil es zu spät ist. Weil ich Reue empfinde. Und weil Dorothea mich darum gebeten hat.

Nachdem sie Max in der Psychiatrie eingeliefert hatten, begann ich, meine Entscheidung anzuzweifeln. „Es ist doch nicht für immer“, hatte der Psychiater beruhigend gesagt. „Nur für eine Weile. Damit er die Ruhe bekommt, die er so dringend braucht.“

Trotzdem. Als ich Max sah, wie ihn ein Pfleger sanft beim Arm nahm, als ich sah, wie ergeben er sich wegführen ließ ...; da wusste ich, dass wir ihn verloren hatten. Selbst wenn er bald wieder nach Hause kommen würde.

„Warum sollten wir unsere Geschichten erzählen“ fragte ich Dorothea. Sie schaute mich mit ihren ruhigen, dunklen Augen an. „Für Max“, antwortete sie. „Und für alle Anderen. Fülle einfach meinen Kopf mit euren Geschichten, und ich sorge dafür, dass sie zu gegebener Zeit weitergeleitet werden.“ Das war nun wieder typisch für Dorothea. Sie sagt manchmal Dinge, die ich einfach nicht verstehe. „Oder schreib‘ deine Geschichte auf.“

Aber für so etwas bin ich nicht gebildet genug. Also lass ich Dorothea schreiben. Sie ist eine nette Frau. Sie hat versucht, Max zu helfen, so gut sie konnte. Und vielleicht wäre es ihr gelungen, ihn wieder gesund zu machen, wenn ich mich nicht quergestellt hätte. Wenn ich ein bisschen mutiger hätte sein können. Ich hätte Herbert, meinen Mann, dazu bringen können, ein klares Machtwort zu sprechen. Aber ich habe mich einfach nicht getraut. Genau genommen habe ich mich Vieles nicht getraut im Leben. Es war ja auch nie nötig. Immer hat jemand für mich gesorgt oder mir die Entscheidungen aus der Hand genommen. Es kam mir einfach nie in den Sinn, mal selbst etwas zu entscheiden. Wenn ich andere Frauen sehe, auch solche in meinem Alter, wundere ich mich über deren selbstbewusste Art. Bin ich denn wirklich so anders?

Neulich habe ich seit längerer Zeit wieder an einer Pfarrfahrt nach Köln teilgenommen. Oh, das war wirklich schön! Da haben wir unter anderem den Dom besichtigt und ein Museum. Nachher tranken wir Kaffee auf einer Terrasse in der Sonne. Um uns herum hörte ich allerlei Sprachen. Ich fühlte mich fast wie ein Weltenbummler. Da es so voll war, saß auch eine fremde Dame an unserem Tisch. Sie war ganz freundlich, fragte, wo ich her kam. „Aus Awel in der Eifel“, sagte ich.

„In der Eifel?“ Sie machte große Augen. „Das ist ja weit weg von Köln!“

„Nah genug für einen Tagesausflug“, meinte ich. Trotzdem schaute sie mich an, als ob ich vom Mond käme. Sie war auch ganz modisch gekleidet. Trug Jeans wie die jungen Leute. Ich trage immer Röcke oder Kleider, und nur manchmal eine Hose bei der Gartenarbeit. Dann runzelt der Herbert aber die Stirn, und obwohl er nichts sagt, ist es mir trotzdem unangenehm. Herbert mag es nicht, wenn ich Hosen trage. Das darf ich nur beim Wandern.

Einmal hab ich gesagt: „Ach Herbert! Schau dir nur diese Hosen an.“ Da blätterte ich gerade in einem Otto-Katalog. „Die Zeiten haben sich doch geändert!“

„Nicht in Awel!“ sagte er kurzangebunden. Punkt. Ich kenne diesen Ton. Ich widersprach also nicht.

Herbert ist ein echter Aweler. Seine Familie – sie heißt Heiml – lebt hier schon seit Generationen. Ganz früher waren die Heimls Bauern, wie übrigens meine Familie auch, aber schon Herberts Vater hatte einen kleinen Supermarkt im Zentrum vom alten Awel. Den hat Herbert übernommen, kurz nach unserer Heirat. Wenn wir von Awel sprechen, meinen wir immer noch das ursprüngliche Dorf Awel. Aber die Gemeinde Awel ist viel größer. Sie umfasst mehrere Ortschaften. Ich komme nicht aus Awel. Ich komme aus Kall. Als Herbert noch um mich geworben hat, hab ich mal spaßeshalber gesagt: „Im Vergleich zu Awel ist Kall doch eine Großstadt!“ Da war er richtig beleidigt, stell dir vor!

Begegnet bin ich Herbert zum ersten Mal, als ich in einem Sommer mit meinen Eltern, Annegret und Hans Stockmann, einen Ausflug machte. Awel entwickelte sich damals allmählich zu einem Touristendorf; malerisch genug war es. Meine Eltern wollten in Awel Rast machen, aber zuerst im Supermarkt einkaufen. Ich bot an, dies zu erledigen, so dass sie sich schon mal auf eine Terrasse setzen konnten. Ich war etwas schlecht gelaunt; es war mir ein Rätsel, warum mein Vater unbedingt diesen Wanderausflug machen wollte. Denn da, wo wir gewandert waren, sah es genauso aus wie in Kall und wie überall in der Eifel. Herbert sagte später, er hätte mir meine schlechte Laune angesehen und wollte mich aufheitern. Er war gerade dabei, die Fächer zu füllen, während sein Vater an der Kasse saß. „Darf ich der schönen jungen Frau vielleicht helfen?“ fragte er. Dabei hat er so schelmisch gelächelt. Meine schlechte Laune war wie weggeblasen, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Meine Eltern haben sich gewundert, dass der Einkauf so lange dauerte ... Herbert und ich tauschten Adressen aus. Er wollte mich anrufen und besuchen. So begann es mit uns.

Meine Eltern waren schon bei seinem ersten Besuch sehr angetan von ihm. Er war höflich und freundlich. Und ich war stolz auf ihn und sehr verliebt. Er sah in meinen Augen auch sehr gut aus: Groß und stark war er, mit dichtem, blondem Haar – ja, das könnte man sich heute nicht mehr vorstellen – und lebhaften blauen Augen, die gerne lachten.

Bald schon ermutigten meine Eltern uns, zu heiraten. Herbert sei eine gute Partie, sagten sie. Er würde eines Tages den Laden seines Vaters übernehmen, und da er in der Nähe wohne, würde ich nicht allzu weit wegziehen. Und auch ich wäre eine passende Ehefrau für ihn. Nach der Volksschule hatte ich in verschiedenen Stellungen gearbeitet. Zum Beispiel in einer Bäckerei, bei einem Metzger und in einem Kurzwarengeschäft. Mit Kassen und Kunden kannte ich mich also aus. Als ich Herbert kennenlernte, war ich Kellnerin in einem Café. Warum ich nicht weitergelernt habe? Ach, das hat mein Vater so entschieden. Er war Tankwart und ganz zufrieden mit seinem Leben. Er war zufrieden und gläubig. Er sagte oft, er habe die Kirche im Dorf und Brot auf dem Tisch, was will man mehr? Warum sich den Kopf mit kompliziertem Zeug voll stopfen? Meine Mutter habe das auch nicht gemacht; sie wollte nur eine gute Hausfrau und Mutter sein. Ich hatte ja immer die Ehe meiner Eltern vor Augen. Sie vertrugen sich gut und waren sich meistens über alles einig. Manchmal hatte ich zwar das Gefühl, dass meine Mutter Vater zustimmte, obwohl sie eigentlich anderer Meinung war, aber es ging dann meistens um unwichtige Dinge. Sie kümmerte sich um Haus und Garten und engagierte sich in der katholischen Kirche. Mehr brauche sie im Leben nicht, sagte sie, und das gelte auch für mich. Ich kannte also kein anderes Leben.

Manchmal kamen Touristen durch unseren Ort, junge und ältere Leute. Mit Wanderrucksäcken und so. Die waren immer so begeistert von unserer Landschaft: Das Hügelige, die Weite, der Wald. Die kamen aus der Stadt. Dann fragte ich mich schon mal, wie es wohl sein mochte, in einer großen Stadt zu leben. Und wenn es auch noch Ausländer waren ... Ja, dann hab ich es manchmal schon bedauert, nicht weitergelernt zu haben. Es wäre doch schön, ein bisschen Englisch zu können.

Aber ich sollte weitererzählen. Es kam der Sonntag, an dem Herbert mich mitnahm zu seiner Familie, um sie ,offiziell kennen zu lernen‘. Ich wusste, dass er eine Schwester hatte, Helga, die auch noch bei den Eltern lebte. Seinen Vater hatte ich im Laden ja schon einmal gesehen. Natürlich war ich etwas nervös, als Herbert mich an diesem Tag abholte. Er kam immer in dem alten Ford seines Vaters und versäumte es nie, bei meinem Vater zu tanken.

Awel war ein Dorf, wie aus einem Reiseführer. Die Häuser im Ortskern sahen ganz schmuck aus, waren allerdings manchmal auch sehr klein. Obwohl der Ort heute viel größer ist, hat er seinen gemütlichen Charakter nicht verloren. Die Heimls bewohnten ein Haus am Rand des Dorfs, ein ganz normales Satteldachhaus wie unseres: Freistehend und mit einem Garten ringsherum. Nur dass es viel größer war und viel gepflegter. Der weiße Putz war weiß und die Garage sah solide aus. Vater meinte immer, wenn er einmal pensioniert sei, werde er endlich die Renovierung unseres Hauses in Angriff nehmen. Für Profis hätten wir kein Geld.

„Es ist ein Zweifamilienhaus“, sagte Herbert. „Schon seit Generationen. Wir werden auch hier wohnen.“ Das war ein kleiner Schreck für mich. Irgendwie hatte ich mir immer vorgestellt, dass Herbert und ich ein Häuschen für uns selbst finden würden. Und jetzt sollten wir mit drei anderen zusammenleben? Aber ich sagte erst mal nichts. Durch den Schreck vergaß ich, den schönen Garten zu betrachten, und außerdem erschienen gerade Herr und Frau Heiml in der Türöffnung. Er groß und kräftig wie Herbert, und sie ebenfalls groß, aber sehr schlank. Sie begrüßten mich herzlich, Frau Heiml umarmte mich sogar. Sie waren fast genauso angezogen wie meine Eltern, als Herbert sich bei ihnen vorgestellt hatte. Herr Heiml hatte ein Sonntagshemd mit Krawatte an, und Frau Heiml trug zu ihrer weißen Bluse eine Goldkette. Herbert zog mich ins Wohnzimmer und als ich bewundernd auf den hübsch gedeckten Kaffeetisch schaute, übersah ich fast die junge Frau, die sich zögernd von einem Sofa erhob. Sie streckte mir die Hand entgegen und sagte leise und verlegen: „Nett, Sie kennen zu lernen ...“ Herbert räusperte sich. „Das ist meine Schwester Helga.“ Ihre Hand fühlte sich ganz schlaff an, und sie zog sie schnell zurück.

Vielleicht hab ich es mir eingebildet, aber ich hatte den Eindruck, dass die Familie in diesem Moment den Atem anhielt. Ich hab sofort gesehen, dass mit Helga etwas nicht stimmte. Sie sah Herbert sehr ähnlich, aber sie hatte überhaupt nichts von seiner energischen, lebhaften Ausstrahlung. Ihre Schultern waren gebeugt, sie hatte ein nervöses Zucken um die Lippen, und sie blickte die meiste Zeit nach unten, als wolle sie niemandem ins Gesicht sehen. Im Laufe des Besuches merkte ich, dass sie nur einsilbige Antworten gab, wenn man sie etwas fragte. Herbert hatte nicht viel über sie erzählt; nur, dass sie noch zu Hause wohnte und in einer Gärtnerei arbeitete.

Beim Kaffee plauderten Herr und Frau Heiml ungezwungen, und ich war sehr bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Wenn Herbert seine Eltern hin und wieder gutmütig neckte, zwinkerte er mir schelmisch zu. „Maria hat schon viel Erfahrung im Umgang mit Kunden, Vater“, sagte er und erzählte, wo ich überall gearbeitet hatte. „Und du hast dir eine Kundin geschnappt“, witzelte Herr Heiml. Alles in allem verlief der Besuch recht entspannt. Helga hob ab und zu den Blick, um mich scheu zu beobachten. Abgesehen von einem gelegentlichen „Möchtest du noch was Kaffee?“ oder „Noch ein Stück Kuchen, Helga?“, wurde sie von der Familie ignoriert.

Ich schaute mich verstohlen um. Das Wohnzimmer der Heimls war größer als unseres, aber die Möbel waren durchaus ähnlich. Es waren vorwiegend Eichenmöbel, vielleicht schon viele Jahre im Besitz der Familie, wie bei uns. Die Vorhänge waren deutlich höherwertig als unsere, aber ansonsten befanden sich hier keine wirklich kostbaren Gegenstände.

Nach dem Kaffee wurde ich durch den Garten geführt. Es gab einen großen Kirschbaum und die kleineren Pflaumen-, Mirabellen- und Apfelbäume. Und jede Menge Obststräucher: Himbeeren, Johannisbeeren und Brombeeren. Auch ein Quittenbaum fehlte nicht.

„Mutter verbringt viel Zeit im Garten“, sagte Herbert. Das konnte man sehen. Die Beete, Obstbäume und Sträucher waren sehr gut gepflegt.

„Sie haben im Sommer sicher ganz viel Arbeit mit dem Obst, Frau Heiml?“ fragte ich. „Wie meine Mutter, die hat alle Hände voll zu tun mit Einmachen und Einkochen.“

„Und ob“, antwortete sie. „Wir ziehen auch Bohnen und Tomaten. Und wenn du hier wohnst, kannst du mir helfen ...“ Unsere Eheschließung und mein Einzug waren für die Familie schon beschlossene Sache, und wie verliebt ich auch war, mir war nicht wohl bei diesem Satz, aber ich kommentierte ihn nicht. Stattdessen sagte ich vorsichtig: „Helga ist doch sicher auch eine große Hilfe?“ Frau Heiml zögerte. „Na ja, Helga ist nicht immer gesund, und dann arbeitet sie auch noch in der Gärtnerei ...“

Herbert und sein Vater waren schon weitergegangen und klappten auf der Terrasse die Gartenstühle aus. Da saßen wir dann noch eine Weile und redeten. Oder besser gesagt: Herbert und seine Eltern redeten und machten schon Pläne für die Zukunft. Ich sagte nicht viel, und Helga warf mir ab und zu einen scheuen Blick zu.

Nach diesem Besuch machten sich unsere Eltern offiziell miteinander bekannt. Sie mochten sich auf Anhieb und schon bald duzten sich alle. Herberts Eltern waren jetzt für mich ,Marianne und Josef‘ und meine Eltern für Herbert ,Annegret und Hans‘.

Es wurde entschieden, dass wir die obere Wohnung, wo Helga und Herbert ihre Zimmer gehabt hatten, beziehen würden. Helga zog in ein leeres Zimmer im Erdgeschoss. Wir begannen gleich mit der Renovierung, um am Hochzeitstag einziehen zu können. Über die Wohnung hatte ich mit Herbert die ersten Meinungsverschiedenheiten. Ich wollte der Wohnung eine persönliche Note geben, eine Herbert-und-Maria-Note. Etwas modernere Möbel zum Beispiel, in einem helleren Holzton. Herbert fand das aber Geldverschwendung.

„Wir haben doch schon Möbel!“ sagte er. Wenn ich einwendete, sie seien doch schon so alt und klobig, meinte er: „Eben! Solide und unverwüstbar.“

„Aber wir sind doch eine neue Generation. Wir könnten doch wenigstens im Schlafzimmer einige neue Stücke aufstellen ...?“

Da nahm er mich in die Arme, wirbelte mich herum, und sagte in gespielter Verzweiflung:

„Ach, Marie, woher soll denn dein armer Mann das Geld herholen?!“ Mit diesem Klamauk konnte er mich immer entwaffnen. Aber manchmal sagte er auch streng: „Marie! Du gehörst bald zur Familie Heiml. Und zu den Heimls gehören dieses Haus und diese Möbel!“

In solchen Momenten spürte ich eine vage Unruhe in mir. Keine Angst, aber doch eine gewisse Beklemmung. Er war aber einverstanden, dass die ganze Wohnung neu tapeziert und gestrichen würde. Das machte er zusammen mit seinem Vater. Ich durfte die Farben aussuchen. Aber letztlich wurde es wieder ein Kompromiss, denn Marianne gab auch ihre Meinung, und ich traute mich nicht, diese ganz außer Acht zu lassen. Helga beobachtete die Renovierung schweigend, immer im Hintergrund. Sie sagte nie etwas, und man fragte sie nicht. Das Endergebnis stellte Herbert und seine Eltern zufrieden. Wir hatten neue Gardinen und Vorhänge, Tapeten, Bodenbeläge und Bettwäsche. Aber die Möbel blieben.

Jetzt konnte geheiratet werden. Ich war zweiundzwanzig, Herbert fünfundzwanzig. Wenn ich so zurückblicke, kommt mir der Gedanke, dass von mir eigentlich nur ein Ding erwartet wurde: Bei der Hochzeit dabei zu sein. Unsere Eltern und Herbert regelten alles. Vater war dankbar, dass ich einen guten Mann bekommen hatte, der wirtschaftlich fest im Sattel saß. Immer mehr Touristen machten in der Gegend Urlaub, und dem Supermarkt ging es gut. Mutter war dankbar, dass ihr einziges Kind nicht in irgendeine ferne Stadt oder Gegend ziehen würde und sie somit ,Ihre Enkel aufwachsen sehen dürfe‘. Vor der Hochzeit hatten Herbert und ich ein Gespräch mit dem Pfarrer, Herrn Feger. Unsere Eltern bestanden darauf. Pfarrer Feger war damals vielleicht Mitte dreißig und in meinen Augen nicht nur ein kluger Mann, sondern auch ein Mensch mit viel Lebenserfahrung. Die jungen Leute heute würden sich nur verwundert die Augen reiben. Wer würde sich heute noch von einem Pfarrer etwas erzählen lassen, etwa über die Zusammengehörigkeit von Mann und Frau, oder über die Pflichten gegenüber Kindern und Eltern ... Mich beeindruckte damals vor allem die Tatsache, dass er über Sexualität sprach. Ob wir genügend Bescheid wüssten? Denn selbst für Katholiken sei heutzutage Familienplanung wichtig. Dass ein Pfarrer über Sexualität sprach, fand ich so modern! Ich hatte das Gefühl, wir hätten einen besonders fortschrittlichen Pfarrer, der die jüngere Generation wirklich verstand. Dass Herbert bei diesem Thema ein leicht gelangweiltes Gesicht machte, irritierte mich ein wenig. Natürlich hatten wir schon miteinander geschlafen. Nur posaunte man es damals nicht so herum. Ich wusste genau, was der spöttische Zug um Herberts Mund bedeutete: „Was weißt du denn von Sex?“

Aber mir gefiel Pfarrer Feger sehr. Schon von seinem Aussehen her. Er hatte dunkles, welliges Haar und ein sehr schönes Gesicht: glatt und straff, mit einer feinen, geraden Nase. Alles war sanft an seinem Gesicht; der Schwung seiner vollen Lippen, die Linie seiner Augenbrauen, der Ausdruck in seinen dunklen Augen. Auch seine Stimme war sanft und leise. Seine ganze Ausstrahlung fand ich anziehend. Er war nicht bevormundend, erteilte keine Ratschläge, sondern fragte nach unserer Meinung. Ich denke, er hat schon gemerkt, dass Herbert sich langweilte, aber er hat sich nichts anmerken lassen. Als wir uns verabschiedeten, sagte er mit großer Wärme, falls wir jemals Probleme hätten, sollten wir nicht zögern, zu ihm zu kommen. Ich war glücklich, von einem solchen Pfarrer getraut zu werden.

Die Hochzeit fand in der kleinen Kirche von Awel statt. Es waren viele Leute gekommen, denn die Heimls gehörten ja schon seit vielen Generationen zum ,Dorfadel‘. Während der Trauung tupfte Mutter sich hin und wieder die Tränen vom Gesicht und Vater sah ernsthaft und zufrieden aus. Für ihre Generation war das ja noch wie in alten Zeiten: Sie hatten eine Tochter aufgezogen und in die Obhut einer anderen Familie gegeben. Vielleicht habe ich sie nie so geliebt wie damals in der Kirche, als ich sie so nebeneinander sitzen sah.

Es war ein wunderschöner Tag, an dem alle fröhlich waren. Wir feierten im Restaurant ,Die Laterne‘. Der Inhaber, Herr Seifert, war ein alter Schulfreund von Josef. Es wurde gut gegessen und viel getrunken und zur allgemeinen Heiterkeit waren gegen Ende des Abends sogar die Väter des Brautpaares beschwipst. Nur einmal gab es einen Missklang. Ein Gast, der zu viel getrunken hatte, drängte Helga, mit ihm auf unser Wohl anzustoßen. „Das nächste Mal bist du dran, Mädel“, sagte er. „Dass dein Bruder dich überholen musste ...!“

Helga wurde rot und starrte auf den Tisch. Sie war zwei Jahre älter als Herbert und galt eigentlich als ,aufgegeben‘. Zum Glück ließ keiner sich anmerken, die Bemerkung gehört zu haben.

Herbert blieb nüchtern und ich war stolz auf ihn: Er sah so gut aus und er war so freundlich zu jedem! Außerdem sorgte er dafür, dass die Atmosphäre keineswegs steif war; er konnte überaus witzige Bemerkungen machen. An jenem Tag war er der Held des Dorfes.

Unter den fröhlichen Bemerkungen der letzten anwesenden Feiergäste trug Herbert mich nachts über die Schwelle unserer Wohnung. Er lächelte triumphal, während alle sich mit den besten Wünschen und anzüglichen Bemerkungen verabschiedeten. Als die Tür hinter uns zufiel, schauten wir einander an und brachen in Lachen aus. „Jetzt können wir uns endlich betrinken!“ sagte Herbert. Stattdessen trollten wir uns jedoch todmüde ins Bett. Schließlich hatten wir unsere Hochzeitsnacht ja schon mehrfach gefeiert.

So begann unser Eheleben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich doch recht schnell daran gewöhnen würde, zu ,Haus Heiml‘ zu gehören. Marianne und Josef waren herzliche und unkomplizierte Schwiegereltern. Meinen Kellnerjob hatte ich abgegeben und ich half jetzt mit im Supermarkt. Bei Bedarf ging ich Marianne im Garten und beim Obst-Einmachen zur Hand, worüber sie sehr begeistert war.

Manchmal stand ich vor dem Haus und betrachtete die breite Frontseite mit den hübschen Blumenkästen. ,Mein Zuhause‘, dachte ich dann, dankbar, dass ich mich reibungslos in das Heimlsche Leben eingefügt hatte.

Meine Befürchtung, wir würden jeden Tag zusammen essen, hatte sich als unbegründet erwiesen. Da immer jemand im Laden sein musste, kamen Herbert und Josef zu unterschiedlichen Zeiten zum Mittagessen nach Hause. Außerdem hatte Marianne Verständnis für meine Lage. „Eine Frau muss ihren eigenen Haushalt haben!“ sagte sie bestimmt. „Ich koche für Josef und Helga und Maria kocht für Herbert.“

Helga konnte allerdings nicht zum Mittagessen nach Hause kommen. Dafür lag die Gärtnerei zu weit weg.

Aber an den langen Sommerabenden saßen wir häufig alle zusammen im Garten, und ich spürte manchmal Bedauern für meine Eltern, die nur zu zweit waren.

In unserer Freizeit und so lange das Wetter es zuließ, tourten Herbert und ich durch die Gegend. Obwohl er hier geboren war, bekam Herbert nie genug von der Eifellandschaft, und oft fuhren wir auch über die belgische Grenze. Herbert mochte eine gute Wanderung und er kannte sich sehr gut aus mit Pflanzen und Bäumen. Von wem er das alles gelernt habe? fragte ich ihn mal. „Von meiner Mutter“, sagte er. „Und die weiß es wieder von ihrem Vater. Sie hat Helga und mir schon sehr früh Vieles über Pflanzen beigebracht. Sie bestimmt im Garten über alle Neupflanzungen. Vater interessiert das nicht so. Hauptsache, er kann sich im Gartenstuhl entspannen.“

Dass Marianne über den Garten herrschte, hatte ich schon bemerkt. Manchmal half ihr Helga. Während Marianne Anweisungen gab, folgte Helga ihr wie ein Schatten und tat schweigend, was die Mutter verlangte. Helga war mir immer noch ein Rätsel. Die Familie war nicht unfreundlich zu ihr, aber doch ein wenig gleichgültig. Sie wurde nie in ein Gespräch einbezogen, was vielleicht auch kein Wunder war bei ihren einsilbigen Antworten. Nur selten gab sie einen ganzen Satz von sich. Kurz nachdem ich sie kennengelernt hatte, hatte ich Herbert mal gefragt, warum sie eigentlich so scheu und still war. Er hatte die Schultern gezuckt. „Sie war nicht immer so schlimm. Sie ist erst so geworden, nachdem sie von der Schule abgegangen war und in Stellung ging beim Krächel.“ Für Herbert war die Sache Vergangenheit und uninteressant. Er führte sein eigenes Leben und dieses machte ihm Spaß. Aber Helga tat mir leid und es kam mir komisch vor, dass sie nur, sozusagen, am Rande der Familie lebte. Ich bat ihn, die ganze Geschichte zu erzählen.

Der alte Krächel war damals der Bäcker im Dorf. Die Bäckerei hieß immer noch Krächel, aber der Inhaber war ein Fremder von ,außerhalb‘. Ich hatte Krächel schon kennengelernt. Es war ein netter, jovialer und sehr rüstiger Mann. Manchmal trafen wir ihn auf der Straße. Oder er kam in den Supermarkt. Herbert nannte ihn, wenn wir unter uns waren, respektlos ,den Heiligenschein‘, weil er nur noch einen kleinen, grauen Haarkranz auf dem Schädel hatte. Herbert erzählte etwas widerwillig, während ihrer Zeit bei Krächel sei Helga immer stiller geworden. Zunächst sei es nicht aufgefallen, denn Helga war immer schon ein ruhiges und sensibles – so heißt das doch, oder? – Kind gewesen. Aber sie wurde zerstreut und manchmal starrte sie lange Zeit schweigend aus dem Fenster. Eines Tages sei Krächel gekommen, um – mit Bedauern – mitzuteilen, dass er Helga nicht länger beschäftigen könne. Sie mache zu viele Fehler und sei unkonzentriert. Das komme bei den Kunden nicht gut an. „Aber meine Eltern wussten schon, dass Helga sich nicht so gut machte“, sagte Herbert. „Es hatte sich bereits herumgesprochen.“

Von da an blieb Helga zu Hause. Ihr Zustand besserte sich aber nicht. Sie wurde ärztlich untersucht und sogar zu einem Psychiater oder Psychologen geschickt. Herbert wusste es nicht mehr so genau. „Ich war zwei Jahre jünger und mich interessierte nur Fußball. Zunächst sprach man von einer Jugendschizophrenie. Na ja, nicht so etwas mit Stimmenhören, oder so. Der Seelenklempner fragte, ob sie albernes Gerede von sich gab. So was! Sie sprach ja kaum noch. Kapselte sich ab.“

Marianne und Josef hatten wissen wollen, ob das denn vorüberginge. Da habe man sich ein bisschen herumgedrückt, fuhr Herbert fort. Man solle sie beschäftigen, aber ansonsten in Ruhe lassen. Dann würde sich ihr Zustand schon verbessern. „Er bekam sogar recht. Später fanden meine Eltern Arbeit in einer Gärtnerei für sie. Sie wurde wieder etwas lebhafter und die Leute waren zufrieden mit ihr. Sie hört auch zu, wie du gemerkt hast, aber ein Gespräch mit ihr zu führen, ist ziemlich unmöglich.“

„Aber es haben doch sicher alle gefragt, ob in der Zeit bei Krächel etwas passiert ist?“ wollte ich wissen. „Ja, natürlich! Aber sie hat immer nur den Kopf geschüttelt. Der Seelenklempner meinte, so etwas könne genetische Ursachen haben. Das hat meinen Eltern natürlich überhaupt nicht gefallen!“ Herbert grinste, trotz des Ernstes der Geschichte. „Beide beteuerten, in ihren Familien sei kein einziger Irrer vorgekommen.“

Er kniff mir lachend in den Po und sagte: „Und in deiner hoffentlich auch nicht!“

Jedenfalls habe sich die Familie mit Helgas Zustand arrangiert, und was ihn anging, gab es nur einen Wermutstropfen: „Wenn meine Eltern tot sind, haben wir Helga am Hals.“ Wiederum lachte er, als ich ihn empört anstarrte. „War doch nur ein Witz, Marie! Denken wir nicht an die Zukunft!“

So war mein Herbert. Er lebte von Tag zu Tag, war immer gut gelaunt und lachte gerne. Dafür musste aber das Leben so laufen, wie er es wollte. Und seine Frau sollte ihm in jeder Hinsicht folgen. Das fiel mir aber nicht schwer, denn Herberts Lebenslust war ansteckend.

Als der Sommer sich verabschiedete, blieb jeder für sich in seiner Wohnung. Regelmäßig saß Herbert unten zusammen mit seinem Vater über der Buchhaltung. Wenn er oben war, schaute er meistens fern. Sport und Krimis und so. Ich habe immer gerne gelesen, aber es machte mir nichts aus, wenn der Fernseher lief. Unsere Abende waren gemütlich. Sonntagnachmittag trafen wir uns alle bei Marianne zum Kaffeetrinken. Es war während eines dieser Kaffeebesuche, dass Herbert unser ,kleines Geheimnis‘ verkündete: Ich war schwanger. Marianne brach in Tränen aus, und Josef verschluckte sich an seinem Kaffee, ja wirklich! Nacheinander umarmten mich beide innig und Josef rief: „Darauf stoßen wir an!“ Helga warf mir ein erfreutes Lächeln zu, bevor sie rasch den Blick wieder senkte. Josef rannte in den Keller, um, wie er sagte, „seinen besten aufgesetzten Schnaps zu holen!“

Wir hoben die Gläser, Josef räusperte sich und sagte dann feierlich: „Also, liebe Familienmitglieder ...: auf den jüngsten Heiml-Spross!“

Selbst Helga trank mit, was mich irgendwie verwunderte, und als ich sie etwas erstaunt anguckte, lächelte sie sogar fast schelmisch. Herbert strahlte wie ein Honigkuchenpferd, und als die Gläser wieder auf dem Tisch standen, sagte er: „So Marie, das war für die kommenden neun Monate dein letztes Gläschen!“ Da bekam ich schon eine Ahnung, wie er sich während der ganzen Schwangerschaft einmischen würde. Aber er hatte ja auch recht; Frauen sollten in dieser Zeit keinen Alkohol trinken.

Von da an wurde ich umsorgt, gehegt und gepflegt wie eine empfindliche Pflanze. Die Familie war noch mehr schwanger als ich. Manchmal versuchte ich nach einem Einkauf mit meinen Tüten unbemerkt ins Haus zu kommen, so dass niemand herausstürzen würde, um mir die abzunehmen und hochzutragen. Aber das war nicht so einfach, da das Küchenfenster zur Straße hin blickte. Wenn ich in den Keller wollte, rief oft jemand: „Wenn du gerad‘ einen Wäschekorb schleppst, sag‘ Bescheid!“ Auch wenn alles gut gemeint war, fand ich es hin und wieder trotzdem etwas nervig.

Mit Herbert richtete ich das Kinderzimmer ein; die Familienwiege wurde vom Dachboden geholt und ein Wickeltisch angeschafft. Und mit Marianne kaufte ich Babywäsche und alles, was man so für ein Neugeborenes braucht.

Die Schwangerschaft verlief völlig problemlos. Na ja, abgesehen von der Übelkeit in den ersten Monaten. Im Zusammenhang mit dieser Übelkeit übrigens hörte ich zum ersten Mal einen ganzen Satz von Helga. Einmal kam sie nach oben und reichte mir ein Päckchen Kräutertee. „Das verkaufen wir in dem Gärtnereiladen“, sagte sie. „Magentee gegen deine Übelkeit.“ Ich war so überrascht, dass ich sie herzlich umarmte. „Danke, Helga, das ist so lieb von dir!“ Ich spürte, wie sie unter meiner Umarmung versteifte und ließ sie schnell los. „Ich meine es ganz ernst, wenn ich sage, dass du eine ganz liebe Schwägerin bist.“ Sie nickte wortlos und ging wieder hinunter. Mit einem zufriedenen Lächeln, wie ich feststellte.

Als Herbert nach Hause kam, erzählte ich ihm von dem Tee. „Vielleicht ist es ein Anfang“, sagte ich. „Vielleicht wird sie in der Zukunft immer mehr sprechen. Ich sollte sie ermutigen.“

Herbert schaute skeptisch drein. „Versuch’s! Du wärest nicht die erste.“

Tatsächlich wiederholte sich eine solche Gelegenheit nicht. Und als unser Baby kam, dachte ich nicht mehr daran.

Die Geburt war schmerzhaft, wie Entbindungen es eben sind, aber unkompliziert. Natürlich war es das schönste und liebste Baby auf der Welt, unser Max, der eigentlich Hans, nach meinem Vater hätte heißen sollen. Für einen Sohn hatten Herbert und ich uns geeinigt auf Hans Herbert. Aber Herbert hatte in einem Anflug von Großzügigkeit, noch berauscht von der Geburt, seiner Mutter, was den Namen anging, nachgegeben.

Nachdem die Familie und meine Eltern ins Krankenhaus geeilt waren, durften beide Großmütter unser Baby kurz im Arm halten. Marianne sagte begeistert: „Das wird ein ganz schöner Kerl. Ein ganz toller Kerl, wie etwa ...“ sie überlegte kurz. „Wie etwa Maximilian Schell!“ Herbert lachte. „Ach, Mutter, du und dein alter Fernsehschwarm ...! Sollen wir ihn etwa Maximilian nennen?“

„Oh ja!“ sagte Marianne sofort. „So nennen wir ihn. Denn er ist doch jetzt schon ein kleiner Star!“ Das gefiel Herbert. Er probierte den Klang aus. „Maximilian Herbert Heiml.“

„Von der Familie Max genannt“, mischte sich Josef ein. Ich sah meinen Vater etwas verlegen an. Aber er lächelte nur und ließ sich, wie meine Mutter, nicht anmerken, ob er den ,Verlust‘ seines Namens bedauerte. Und wieder einmal traute ich mich nicht, zu widersprechen.

Um meine Verlegenheit zu überspielen, beugte ich mich über das feine Gesichtchen und sagte: „Obwohl unser Baby ein Junge ist, sieht es irgendwie Helga mehr ähnlich als Herbert.“

Da kam mir gleichzeitig ein alarmierender Gedanke: Hoffentlich sei er Helga nur äußerlich ähnlich; hatte der Psychiater oder Psychologe damals nicht etwas über erbliche Faktoren gesagt, was Helgas Zustand anging ...? Just in diesem Moment fing Max an, lautstark zu weinen. Herbert war entzückt. „So klingt ein echter Kerl!“ sagte er, und das beruhigte mich.