Über das Buch:
Vielleicht haben Sie momentan eigentlich zu viel zu tun, um noch ein Buch wie dieses zu lesen – dann stecken Sie wahrscheinlich schon mittendrin: in der Alltagsfalle. Wenn Sie es trotzdem lesen sollten, dann würden Sie und ich - als Leser/In und Autor – uns gemeinsam auf ein ziemlich gewaltiges Thema einlassen: den Sinn des Lebens. Wie ich in Gesprächen immer wieder merke, gibt es dazu einige wirklich hilfreiche Dinge zu sagen ...

Über den Autoren:
Dr. med. Martin Grabe, Jahrgang 1959, Psychiater und Psychotherapeut, ist Chefarzt der Psychotherapeutischen Abteilung der Klinik Hohe Mark in Oberursel. Gleichzeitig engagiert er sich als Vorsitzender der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS) über Kongresse und Tagungen für die bessere Vernetzung von Psychotherapeuten und Seelsorgern. Mitherausgeber der Zeitschrift „P & S, Magazin für Psychotherapie und Seelsorge“. Lehraufträge in Masterstudiengängen im Fach „Praktische Theologie“ sowie in der ärztlichen Weiterbildung. Martin Grabe ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Kronberg/Taunus.

3. Die Alltagsfalle

Mit dem Bereich Lust hat es aber noch eine weitere Bewandtnis. Wenn Sie die beiden erstgenannten Bereiche Geld und Ehre betrachten, fällt deutlich auf, dass Menschen hier in ziemlichem Maße bereit sind, gerade auf Lust zu verzichten. Zum Beispiel jeden Tag sehr lange zu arbeiten. Eigentlich ist das doch paradox, wenn man sich klar macht, dass es ja gerade darum gehen soll, durch diese Anstrengung möglichst viel Lust zu erreichen.

Wir haben es hier mit einer zentralen Eigenheit jeder Zivilisation zu tun. Zivilisation ist nämlich nur da möglich, wo Menschen bereit sind, auf die momentane und spontane Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu verzichten. Der Grund dafür ist, dass sie größere Vorteile in der Zukunft nur dadurch erreichen können, dass sie so handeln – und das erhoffen sie auch.

Wenn zum Beispiel in einer einfachen Agrarkultur ein Bauer seinen ganzen Getreidevorrat aufisst, hat er zwar für den Moment das Maximum an Lust erreicht. Im nächsten Jahr aber muss er hungern. Sät er stattdessen einen Teil des Getreides aus, kann er im nächsten Jahr wesentlich mehr ernten, als er ausgesät hat. Das ist aber nur möglich, wenn er jetzt Verzicht leistet.

Historisch ist Überleben in klimatisch kälteren Zonen der Erde nur durch ein ausgeprägtes Vorsorgewesen möglich geworden, was gleichzeitig zu hohen Kulturleistungen geführt hat.

So ist es in der Kindererziehung eines der wichtigsten Ziele, dass die Kinder lernen, nicht alles gleich haben zu können. Spätestens ab Beginn der Schule wird Triebverzicht antrainiert. Die verordnete Zeit ist abzusitzen, egal, ob der Lehrer gut ist oder schlecht, ob der Unterrichtsstoff bedeutsam ist oder wenig brauchbar. Gespielt wird nach den Hausaufgaben.

Auch wenn man manches am gegenwärtigen Schulsystems kritisieren könnte, werden Sie mir sicher darin zustimmen, dass dadurch eine Reihe notwendiger Fähigkeiten für das weitere Leben erreicht werden. Nicht zuletzt diese Fähigkeit, momentane Interessen aufgrund übergeordneter Ziele warten lassen zu können. Wie eben beschrieben, wäre ohne diese Fähigkeit keine Zivilisation möglich.