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Stefan Beuse

Die Nacht der Könige

Roman

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Über das Buch

Eine, höchstens zwei Wochen hofft der Werbetexter Jakob Winter für seinen aktuellen Auftrag zu brauchen, dann will er seiner Familie in den Sommerurlaub folgen. Doch sein Auftraggeber verhält sich während des ersten Termins merkwürdig vertraulich, er scheint Winter zu kennen. Auch seine junge, schweigsame Assistentin Lilly irritiert ihn. Wer ist sie? Und woher kommt diese soghafte Faszination?

Bald erinnert sich Winter schemenhaft an eine Nacht vor zehn Jahren, an ein teures Management-Seminar, in dessen Verlauf Moral- und Wertvorstellungen der Teilnehmer aufgeweicht wurden, zur hemmungslosen Entfaltung des eigenen Egos. Ist er am Ende gar in ein Verbrechen verwickelt?

Stefan Beuse führt Winter an Abgründe seiner Existenz und uns in poetischen Bildern mitten in das dunkle Herz eines entfesselten Willens zur Macht.

»Eine überaus spannende Geschichte, die satt und süffig nach dem Muster eines Psychothrillers erzählt wird.« Martin Lüdke, DIE ZEIT

Über den Autor

Stefan Beuse, 1967 in Münster geboren, lebt in Hamburg. Er hat u. a. als Fotograf, Texter und Journalist gearbeitet. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Alles was du siehst«. Stefan Beuse gewann zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. den Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 1999 und den Hamburger Förderpreis für Literatur (1998, 2006 und 2013). Im Frühjahr 2005 war er Writer in Residence an der Cornell University in Ithaca, New York. Bei CulturBooks sind bisher die Single »Der Wal«, die Alben »Warten auf die Löwen« und »Wir schießen Gummibänder zu den Sternen« sowie der Longplayer »Kometen« erschienen.

Für Chiara

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: Piper Verlag, München 2002

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 05.01.2015

ISBN 978-3-944818-71-9

Yes, it doth shine that night.

William Shakespeare

-31-

»Wir haben den Etat«, sagte sie, »ich kann das nicht glauben«, und zündete sich die dritte Zigarette hintereinander an. Es war das erste, was sie auf der Rückfahrt sagte.

»Glaub mir, Tatjana, wir hätten auch gewonnen, wenn wir ihm eine Kampagne für Magerquark präsentiert hätten«, sagte Winter, und: »Es gab keine anderen Agenturen. Wir hatten schon gewonnen, bevor wir das erste Mal da waren.«

»Erklär mir das später«, sagte sie. »Ich muß diesen Termin erstmal verdauen. Und deine Texte ... Wo warst du eigentlich?«

»Am Meer.«

»Was ist mit dem Video? Wolltest du mir nicht eine Geschichte erzählen?« fragte sie.

»Es gibt keine Geschichte«, sagte er.

Sie hatten beide die Fenster heruntergekurbelt. Es war genauso heiß wie vor einer Woche, und Winter fragte, ob es hier überhaupt geregnet hatte.

Tatjana fuhr sich durch die Haare und blies den Rauch in den Fahrtwind. »Nein«, sagte sie. »Heute abend.«

»Das haben sie schon vor einer Woche gesagt«, murmelte er, und Tatjana strich ihr Kleid glatt und sagte, »diesmal passiert es, ich spüre das«, und plötzlich begriff er.

Dieselbe Straße. Dieselben Häuser.

Er bremste vor Lillys Wohnung. Stieg aus. Sagte zu Tatjana, er sei gleich wieder da und drückte das Fenster nach innen.

»Wo willst du hin?« rief sie ihm nach, »wo willst du denn hin?« und ihre Stimme verhallte in seinem Kopf wie das Echo in einer Kirche.

Er setzte ein Bein durch das Fenster und fand keinen Halt; Winter stieß sich ab und fiel in einen Raum, der vollkommen leer war, er legte sich dahin, wo vorher ihr Bett gestanden hatte und schloß die Augen.

»Zu meiner Frau«, sagte er. »Ich will zu meiner Frau«, und eine halbe Stunde später, nachdem er Tatjana in der Agentur abgesetzt hatte, nahm er die erste Straße Richtung Süden. »Ich möchte endlich neben ihr schlafen«, sagte er, während ihm der Wind jedes seiner Worte vom Mund abriß und der Sommer immer noch über der Stadt lag wie ein stummes Gebet.

-1-

Winter mußte geträumt haben, denn ohne daß er es bemerkt hatte, war er in die falsche Richtung gefahren. Die Stadt zog an ihm vorbei wie ein überbelichteter Film, eine Fieberphantasie aus Hitze und Staub, und Winter klappte den Blendschutz runter.

Er befand sich in einer Straße, in der er noch nie gewesen war, eine Seitenstraße mit Häusern rechts und links, von denen sich die Farbe schälte wie alte Haut. Etwas Seltsames ging von diesen Häusern aus, sie waren wie die Erinnerung an etwas, das einst Teil von ihm gewesen war und ihn jetzt befremdete, und Winter dachte daran, der Straße weiter zu folgen, zu versuchen, auf anderem Weg die Agentur zu erreichen, aber dann sah er auf seine Uhr; er setzte rückwärts in eine Einfahrt und bemerkte die geschmolzenen Weingummis hinten auf der Ablage. Seit drei Tagen waren sie jetzt in dem Ferienhaus, drei Tage, in denen er seine Familie nicht unbedingt vermißt hatte; im Gegenteil, er war sogar froh, etwas Zeit für sich zu haben, aber ihm fehlten die Geräusche, die sie machten, das Wissen um ihre Anwesenheit. Sobald er den Auftrag erledigt hatte, würde er nachkommen. Eine, höchstens zwei Wochen.

Er bog zurück in die Hauptstraße und steckte zwischen aufgeregt hupenden Autos fest: eine Hochzeitskolonne, die über den Asphalt kroch und beide Spuren der Fahrbahn blockierte. Der schwarze Mercedes des Brautpaars fuhr direkt vor ihm, ein rotes Pappherz klebte an der Heckscheibe, flankiert von zwei winkenden Kindern, die auf der Rückbank hockten und etwas riefen, das er nicht hören konnte. Wie Gefangene sahen sie aus, mit ihren stumm rufenden Mündern und den großen Augen, und je länger er sie anstarrte, desto lauter wurde das Gehupe.

Langsam schob sich die Autoschlange unter einer Brücke hindurch. Die Kinder vor ihm schnitten jetzt Grimassen, weil sie wollten, daß auch er hupte oder winkte; ihr lautloses Klopfen schien ihm zu drohen, und Winter spürte, wie ihm der Schweiß aus- brach. Kurz dachte er daran, seine Frau anzurufen, zu fragen, ob alles in Ordnung sei, aber dann verwarf er den Gedanken, sie hätte ihn sowieso nicht hören können, und fuhr statt dessen an eine Tankstelle, um der Hochzeitsgesellschaft einen Vorsprung zu geben. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte zehn Uhr zweiundvierzig. Er war bereits zwölf Minuten zu spät.

Weil der Tank voll war und er keine Lust hatte, ohne besondere Absicht an einer Tankstelle herumzustehen, parkte er den Wagen bei »Luft und Wasser« und versuchte, Tatjana auf ihrem Handy zu erreichen, aber sie war vorübergehend nicht verfügbar. Er probierte es in der Agentur und landete in der Warteschleife, wo Hell’s Bells von AC/DC lief, einer der zahlreichen Versuche von Oswald & Bell, sich als außergewöhnlich kreative Agentur zu präsentieren; eine Pose, die Winter immer gehaßt hatte und die er heute unerträglich fand.

»Herzlich willkommen bei Oswald & Bell«, sagte Alinas Stimme über der Musik von AC/DC, »im Moment sind all unsere Plätze belegt«, er drückte das Gitarrensolo weg, bevor sie weiterreden konnte, und stieg aus.

In der Luftdrucktabelle las er 2,2 für die Hinterachse und 2,0 für vorne. Winter nahm das Meßgerät vom Stutzen, drehte die Ventilkappe des rechten Vorderreifens ab und setzte das silberne Rohr an. Der Zeiger sprang auf 1,8. Winter drückte die Plustaste. Mit einem gequälten Zischen preßte sich Luft in den Reifen. 2,0. 2,2. 2,4. Kurz dachte er daran, den Reifen platzen zu lassen; er fragte sich, wieviel Druck dazu notwendig wäre und wie so ein aus der Form geratener Reifen wohl aussehen würde, wie dünn das Gummi werden mußte, bevor es reißen würde, doch dann ließ er die überschüssige Luft wieder ab und schraubte das Ventil zu.

Er wollte mit dem Meßgerät in der Hand gerade zum nächsten Reifen gehen, als ihm schwarz vor Augen wurde. Winter spürte, wie ihm die Luft wegblieb, nicht jetzt, dachte er und ließ sich gegen den Wagen fallen, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, das Blech brannte in seinem Rücken, er hörte seinen pfeifenden Atem und tastete nach dem Inhalator. Zwei Stöße Berotec, dann ging es besser.

Als er das Meßgerät zurücksetzte, erinnerte ihn das Geräusch der nachströmenden Luft an das Kreischen eines bremsenden Zuges kurz vor dem Stillstand. Das Gerät schaukelte auf dem Luftstutzen wie in harpunierter Fisch, und Winter ging in Richtung Kassenhäuschen. um Tatjana und sich einen Glückskeks zu kaufen. DEA, dachte er, DEA, die Göttin, und dann sah er in den Himmel, der blau war und leer. Für den Abend waren Gewitter angekündigt, der erste Regen seit Wochen, aber noch stand die Sonne starr über der Stadt, und es ging kein Wind.

-2-

Vor der Agentur überfuhr er fast eine Taube. Den ganzen Tag saßen sie in der Einfahrt und pickten in halb verfaulten Kadavern. Winter fiel auf, daß er noch nie einen blutenden Vogel gesehen hatte, er fragte sich, ob es überhaupt Blut gab in so einem Vogel, während er den Wagen zwischen Torbens Citroën und Tatjanas Alfa parkte, in die Reihe der Marketingexperten und Kreativen: heißes Blech in allen Farben der DULUX-Palette. Die Verwesung flirrte über dem Asphalt, sechs oder sieben Tauben hatten sich vor dem Eingang versammelt, und gleichmäßig rollten seine Sohlen ab, drei, vier, sie saßen da, als warteten sie auf ihn, und er zählte weiter, in seinem Inneren, wie immer, wenn er in Situationen geriet, die ihn bedrängten: eine Angewohnheit, die er seit jener Nacht nicht hatte ablegen können.

Plötzlich stob der Schwarm auseinander. Winter hielt die Luft an. Nah an seinen Ohren klangen ihre Flügelschläge wie die Rotorblätter eines startenden Hubschraubers; er duckte sich und spürte, daß sein Haaransatz zu jucken begann. Wie Autoscooter prallten sie gegeneinander, stumpf und plump, und er hielt weiter die Luft an, bis ihm die Lunge brannte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und die Tauben wirbelten in Zeitlupe Dreck auf und Federn; er trat nach ihnen, schlug blind mit den Armen, als kämpfte er gegen eine unsichtbare Armee, dann lehnte er sich gegen die Eingangstür, drückte die Klingel und wartete auf das Summen, mit dem die Verriegelung aufgehoben wurde.

»Guten Morgen, Herr Winter«, sagte Alina vom Empfang aus, während sie sich auf ihrem Sessel hin und her drehte, Winter atmete aus und wieder ein, »sind Sie etwa gerannt?« fragte sie mit gespielter Überraschung, und er vermutete, daß sie sich dabei wahnsinnig geistreich vorkam, weil sie sich ja eigentlich duzten. Aber vielleicht war das nur eine gespielte Ermahnung, weil er noch nie zu spät gekommen war, vor allem nicht zu so wichtigen Terminen, also nichts weiter als eine kokette Art auszuprobieren, wie weit sie bei ihm gehen konnte. Er lächelte und erwiderte ihren Gruß freundlich, aber unverbindlich, professionell also, als hätte es diesen Unterton nie gegeben, und war seltsam stolz auf die Souveränität seiner Reaktion. Alinas Lipgloss glänzte im Licht des Halogensternenhimmels über ihnen, und kurz hatte er Lust, an ihrem Hals zu riechen, die warme Haut um ihr Schlüsselbein zu spüren, doch in diesem Moment kam Tatjana aus der Grafik, in einem dunkelblauen Kostüm, dessen Stoff ihn entfernt an Schmetterlingsnetze erinnerte. Sie streckte ihm die schwarze Präsentationsmappe entgegen und sagte, »wir müssen los«, gab ihm einen Kuß in den Nacken und zog ihn zur Tür. Sie roch nach frisch aufgetragenem Make-up und schwerem Parfüm, eine Mischung, die er auf nüchternem Magen kaum ertrug.

Winter drehte sich noch einmal um und lächelte Alina zu, bevor er die Tür hinter sich schloß. Als er mit Tatjana zum Wagen ging, klingelte sein Handy. Er tastete danach und bekam den Inhalator zu fassen. Die Tauben saßen jetzt wieder in der Einfahrt und pickten in etwas herum, von dem er nicht wissen wollte, was es war; das Telefon klingelte weiter, und Winter wühlte in seinen Taschen, spürte die kurze Antenne und zog daran. Sein Handy fiel auf die Steinplatten. Der Akku sprang ab. Er bückte sich, um beides aufzuheben, Tatjana lachte, und als der Akku wieder einrastete, sah Winter, daß er Taubenflaum in das Handy geklemmt hatte.

»Drecksviecher«, sagte er und zog die Nase hoch.

Im Wagen drückte Tatjana eine Kassette ins Radio. Lloyd Cole. Es war so stickig, als hätte das Auto den ganzen Tag in der Sonne gestanden; noch bevor sie eingestiegen waren, hatten sie die Fenster heruntergekurbelt, und zum wiederholten Mal war Winter froh, alles Elektrische aus seinem Wagen verbannt zu haben. Die Vorstellung, im Notfall von der Funktionstüchtigkeit irgendwelcher Schaltkreise abhängig zu sein, hatte ihm immer angst gemacht; unter dem Kopfschütteln des Verkäufers hatte er seine Liste vorgelesen: keine Zentralverriegelung, keine elektrischen Fensterheber, keine Klimaanlage.

Er beschleunigte, bis der Fahrtwind die heiße Luft aus dem Wagen gesaugt hatte, dann gab er Tatjana den Glückskeks.

»Oh, süß von dir«, sagte sie und riß die Plastikfolie auf.

Seitdem Winter das erste Mal bei ihr gewesen war, brachte er ihr manchmal irgendwelchen Esoterik-Kram mit, Mondkalender, Stimmungsringe, Räucherstäbchen. Sie hatte damals eine CD mit den Gesängen von Buckelwalen im Hintergrund laufen lassen, während sie über die Kampagne für ein Versicherungsunternehmen gesprochen hatten, und Winter war das ziemlich grotesk vorgekommen: Tatjana auf ihrem handschuhweichen Ledersofa, umringt von Anzeigenentwürfen, die überall auf ihrem Tropenholz- Parkett verstreut lagen und milchgesichtige BWL-Studenten zeigten, die den Daumen nach oben gereckt hielten und lachten, als gehörte ihnen die Zukunft; die Buckelwal-CD drehte sich dazu in der Bang & Olufsen-Anlage, und aus den Lautsprechern stöhnte und fiepte es zum Steinerweichen. Er brauche sich gar nicht darüber lustig zu machen, hatte Tatjana gesagt, das sei gut zum Entspannen. Außerdem verkörperten die Gesänge sozusagen das Gewissen der Welt. Winter hatte auf das lachende Gesicht eines blonden Mädchens gestarrt, das mitten in einem Rapsfeld an ein rotes Cabrio gelehnt stand, und versucht, sich zu entspannen. Es war ihm nicht gelungen. Aber wenn in den Klagelauten auch nur ein Bruchteil von dem war, was es zu beklagen gab, wußte er nicht, was daran entspannend sein sollte.

Der Geruch des Glückskekses – Plastik, Backtriebmittel und roher Teig – mischte sich mit Tatjanas Parfüm und dem Geruch, den ihr Kostüm verströmte, und Winter fragte, ob sie seinen auch aufmachen könne, weil er heute noch nichts gegessen habe. Er mochte es, sie zu beobachten, während sie etwas für ihn tat, sie war dann ganz versunken. Selbst wenn sie Fusseln von seinem Revers entfernte, eine Geste, die er eigentlich haßte, hatte ihr Gesicht diesen Ausdruck: ein kurzer Moment der Selbstvergessenheit, hingebungsvoll und gleichzeitig vollkommen absichtslos; sie war dann wie in Trance, und würde er in solchen Momenten in die Hände klatschen und fragen, was sie da mache, wäre er sicher, daß sie hochschrecken und ihn verwundert ansehen würde; in diesen kurzen Augenblicken der Echtheit spürte Winter eine tiefe Zuneigung zu ihr.

Er sah sie an, wie sie neben ihm saß, in diesem Schmetterlingsnetz-Ding, und seinen Glückskeks auspackte. Er fragte sich, ob sie das extra machte, ob Torben ihr aufgetragen hatte, so etwas anzuziehen oder ob sie sich irgendwas davon versprach, aber im Grunde, dachte er, war sie immer so gewesen, immer ein bißchen zu viel von allem: ein bißchen zu freundlich, ein bißchen zu sexy, ein bißchen zu stark geschminkt.

»Du mußt den Spruch lesen, während du kaust«, sagte sie, als sie ihm den Glückskeks gab, »sonst wirkt es nicht«, und Winter knackte eine Hälfte mit den Zähnen ab. Der Keks schmeckte so, wie er roch: nach vergammelter Pappe. Winter hielt den Kopf aus dem Fenster.

»Warum hast du auch keine Klimaanlage«, stöhnte sie, während ihr der Wind die Haare durcheinanderwirbelte.

»Ich hasse Klimaanlagen«, sagte Winter, unter dem Stoffgitter sah er ihre Haut schimmern, nur über den Brüsten verdeckte ein schmaler Balken die Sicht.

»Was?«

»Ich mag keine Klimaanlagen«, sagte er, und Tatjana lachte und warf den Kopf in den Nacken: »Da hat sich Torben ja den Richtigen ausgesucht.«

Er brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, was sie damit meinte, und fragte mit gespielter Langeweile, ob sie sich an die Kitty’s Diner-Kampagne erinnere. »Ich bin allergisch gegen Katzen«, sagte er, »trotzdem haben uns die Anzeigen eine Medaille eingebracht.«

Tatjana guckte ihn von der Seite an. »Gegen was bist du eigentlich nicht allergisch«, fragte sie und zupfte ihr Kleid zurecht. Winter stellte sich vor, wie sehr sie darin schwitzen mußte.

Er nahm die leeren Zellophantütchen, in denen die Glückskekse verpackt gewesen waren, von der Konsole, hielt sie in den Fahrtwind und beobachtete im Rückspiegel, wie sie in Richtung Asphalt schwebten: zwei winzige Segel, aus voller Fahrt rückwärts gerissen.

»Weißt du überhaupt was über den Kunden?« fragte sie.

Winter kurbelte das Fenster ein Stück hoch. »Ach komm«, sagte er, »du hältst ein bißchen die Pappen hoch und lächelst an den richtigen Stellen, und ich versuche, so wenig Fremdwörter wie möglich zu benutzen, damit sie denken, ich platze vor Kompetenz. Im Grunde funktionieren Klimatechniker nicht anders als Bäcker oder Wirtschaftsleute.«

Weil ihr das augenscheinlich nicht reichte, holte sie ein paar Prospekte hervor, auf denen Sonnenuntergänge, Windmühlen und Iglus abgebildet waren. Auf den Titelseiten stand immer sowas wie »Die Natur als Vorbild- oder »Für ein gesundes Raumklima«, während innen dann die »genial einfachen Ideen der Natur« in der »einfach genialen XY-Klima-Lösung« ihre kongeniale Übersetzung fanden; links ein Bienenvolk, rechts ein Bürogebäude, dazu technische Einklinker mit farbigen Pfeilen, die die Molekülbewegungen im Klimasystem veranschaulichen sollten. Seit Jahren funktionieren diese Dinger so, kein Grund für eine Revolution also, dachte Winter.

»Wir treten gegen drei Agenturen an«, sagte Tatjana und steckte die Prospekte hintereinander, als würde sie ein Kartenspiel mischen. »Der Etat ist siebenstellig. Ich glaube nicht, daß Torben begeistert wäre, wenn wir das vergeigen.«

Winter imitierte ein Gähnen und dachte kurz an seine Frau und die Kinder und daran, daß er versuchen wollte, den Auftrag schnell hinter sich zu bringen. Nicht, daß es ihm egal gewesen wäre, wenn sie den Etat nicht gewinnen würden. Er wollte nur auf den üblichen Schlenker verzichten, etwas zu präsentieren, das zwar originell war, dem Kunden aber nach langer Überlegung doch zu gewagt erschien. Er kannte dieses Spiel, es lief nach dem ewig gleichen Schema ab, und Winter sah keinen Sinn darin, eine Woche unnötiger Arbeit auf sich zu nehmen für eine Kreativkür, die nur Zeit kostete und niemandem weiterhalf. Außerdem fühlte er sich reif für einen Urlaub.

»Was steht denn in deinem Keks«, fragte er, und sie schob sich die zweite Hälfte in den Mund und strich den Papierstreifen glatt.

»Beide zusammen«, sagte sie, ein kleiner Teigklumpen flog dabei aus ihrem Mund und landete am Kilometerzähler. Winter bemühte sich, nicht hinzusehen, zog den Text aus seinem Keks und begann, die zweite Hälfte zu kauen.

»Hör auf, ständig zu suchen, das Glück ist nebenan«, las er vor.

Tatjana sagte »haaa-ha« und »gib her«, und als sie sah, daß das wirklich da stand, grinste sie ihn an. In ihren Augen war dasselbe kurze Leuchten, das in Alinas Augen gewesen war, als sie ihn »Herr Winter« genannt hatte.

»Das häng dir mal an den Rückspiegel«, sagte sie und lächelte plötzlich traurig.

Winter merkte, wie ihm die Hose an den Beinen festklebte und spuckte den Glückskeksbrei aus dem Fenster.

Tatjana wandte sich ab. »Du bist widerlich, echt.« Er versuchte, sich im Außenspiegel zu sehen. »Und bei dir?« rief er gegen den Fahrtwind.

»Ein schöner Teil der Reise ist die Fahrt dorthin – amüsiere dich«, sagte sie, und er erkannte jetzt sein Gesicht, das aussah, als hätte er Fieber. Seine Züge kamen ihm fremd vor, ein Unbekannter, der ihm auf unangenehme Art vertraut schien, wie immer, wenn er sich seinem Spiegelbild gegenübersah. Besonders in Geschäften, die ganze Wände als Spiegelfläche gestaltet hatten. Oder in Hifi-Läden, die versteckte Kameras installiert hatten und Passanten in genau dem Moment auf dem Monitor zeigten, in dem sie vorübergingen. Es war der Augenblick, bevor er das System hinter dem Bild begriff, die Sekunde, in der er glaubte, ein Fremder träte ihm entgegen, und jedesmal bekam er ein komisches Gefühl, wenn er sein anderes Ich sah, eine Erscheinung losgelöst vom inneren Bewußtsein seiner selbst, und was er dann sah, paßte so wenig zu dem Bild, was er von sich selbst hatte, daß er meist erschrak. Diesmal war es anders. Er hatte absichtlich in den Spiegel gesehen und erschrak trotzdem.

Er beugte sich zu Tatjana und zog eine Packung Dunhill aus ihrer Handtasche. Sie haßte es, ihn rauchen zu sehen. Du bringst dich damit um, sagte sie immer. Dein Asthma. Wie eine Mutter.

Er nahm das Feuerzeug, das sie ihm hinhielt, ohne ihn anzusehen, ließ es aufspringen, zog zwei-, dreimal an der Zigarette und wog ihr Feuerzeug dabei in der Hand. Es war golden und schwer, mit kompliziert ineinander verschlungenen Initialen, »T« und »B«, er warf es hoch und steckte es dann zurück in ihre Tasche. Es schien ihr nichts auszumachen, daß er in ihrer Tasche wühlte, unglaublich fand er das, und er fragte sich, ob Tatjana vielleicht verliebt in ihn war.

»Sag mal, Tatjana, bist du vielleicht verliebt in mich«, sagte er ziemlich laut und direkt neben ihrem Ohr, wobei er ihre Frisur in eine Rauchwolke hüllte.

Sie zog eine Augenbraue hoch, eine Geste, die ihm sagen sollte, daß er ein arroganter Sack sei und sich bloß nichts einbilden solle, wie er überhaupt auf sowas komme, wirklich, das sei vollkommen absurd, und im Grunde, dachte er, unterscheidet sie sich kaum von Alina.

Sie hielten vor einer Kreuzung, an der sich nichts bewegte, weil niemand erkennen konnte, ob die Ampel rot war oder grün. Die Sonne überstrahlte alles. Zögernd tasteten sich ein paar Wagen vor, nacheinander, wie beim Blindekuhspiel, wenn die anderen »heiß« oder »kalt« rufen. Als gäbe es eine kollektive Meinung zu rot oder grün, die sich irgendwie auf alle Autofahrer in der Schlange übertrug. Drei, vier Wagen jedesmal. Dann wieder Stillstand.