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STRUHAR • DAS GEWICHT DES LICHTS

STANISLAV STRUHAR

Das Gewicht des Lichts

Roman

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Copyright © dieser Ausgabe 2015 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerhard Maierhofer
ISBN 978-3-99047-014-5

Auf dieser Seite
stand eine Widmung
für Stanislav
meinen geliebten Sohn
und dort steht sie
immer noch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1

Aus seinen Gedanken riss Fabian das Deutsch der Frau, die neben ihm Platz nahm. Verstohlen sah er sie an. Sein Blick glitt über ihr blondes Haar und verharrte auf dem jungen Gesicht des bei ihr stehenden Mannes, zu dem sie sprach. Langsam drehte er sich zurück zum Fenster, sah wieder hinaus. Er hörte oft die deutsche Sprache, mitunter sogar das vertraute Wienerisch, doch auf eine Unterhaltung ließ er sich selten ein.

Als der Zug in die nächste U-Bahn-Station einfuhr, machte er sich zum Aussteigen bereit. Die Frau sah ihn an und lächelte, nahm die Hand des Mannes und stand auf. Der sei kein Italiener, sagte sie mit gedämpfter Stimme, bevor sie dem Mann zur Tür folgte.

Das Abendlicht war sanft, manche Häuser lagen schon im Schatten, doch die Straßen im Zentrum pulsierten vom Leben, sie waren bunt und laut, eine Vielfalt von Sprachen und Stimmen. Auf der Piazza Navona traten Straßenkünstler auf, und auf dem Campo de’ Fiori waren alle Tische besetzt. Immer wieder übertönte Gelächter die Melodien der Musiker, durch die Gassen wehte der Geruch nach Essen. Von allen Seiten stachen die Lichter aus Fenstern und Laternen in den Abend, Kinder spielten vor ihren Haustüren. Es war der bislang wärmste Tag in diesem Jahr, und die Stimmung ließ erahnen, dass die Nacht lang werden würde.

Es dämmerte, als er über den Tiber schlenderte. Die Uferwege waren menschenleer, unter den dicht belaubten Bäumen kaum erkennbar. Seltsam bedrückend wirkte hier der Abend, so nahe schien der Himmel zu sein, verlassen und trüb die Stadt. Doch schon die erste Straße nach der Brücke, zwischen Häuserreihen gebettet, strahlte in Lichtern; als hätte der Tag gerade erst begonnen, herrschte ein reges Treiben in Trastevere.

Auch diesmal hockten die beiden Obdachlosen an der Ecke der Straße, und wieder lagen vor ihren Füßen zwei große Hunde mit zwei Welpen. Niemand beachtete sie; einander zugewandt lächelten die Männer und murmelten, eine Flasche Wein stand griffbereit zwischen ihren Schlafsäcken. Laut war die Straße, und wie immer hatten sich in dem Gastgarten auf dem nächsten Platz die Jugendlichen getroffen, ihre Stimmen klangen aufgeregt, auf dem Boden glänzten Tropfen von Getränken und Eis. Schon vor dem Platz verdoppelte Fabian seine Schritte, er bog in die Seitengasse ein, öffnete die Haustür und sah noch einmal zu dem Gastgarten. Silvio und Chiara lächelten einander in die Augen, im Gespräch vertieft, ihre Gläser standen leer.

Erst in der Küche machte er Licht, denn das Küchenfenster öffnete sich auf einen kleinen Hinterhof. Später ließ er nur die Tischlampe im Schlafzimmer an. Eine Weile lag er still, schließlich griff er nach dem Buch auf dem Nachtkästchen. Dann wanderte sein Blick zum Nachtkästchen auf der anderen Bettseite. Eine feine Staubschicht überzog das Buch, das darauf lag. Er drehte den Kopf zum Fenster, und in die Dunkelheit des Hofes starrend legte er das Buch auf seine Brust. Seine Hand glitt auf die leere Hälfte des Bettes, und er schloss die Augen.

Das Zimmer lag im klaren Tageslicht. Er öffnete das Fenster und ging auf den Balkon. Er hatte diese lauwarmen und lichtvollen Morgen von Anfang an geliebt, nun aber wusste er, er würde sie nicht mehr länger ertragen. Er kehrte zurück ins Wohnzimmer, setzte sich und nahm sein Handy.

»Endlich!«, sagte sein Onkel. »Ich kann dich nicht erreichen.«

»Ich weiß«, murmelte er, den Blick auf den großen Schrank gerichtet, der im Vorzimmer, gegenüber der Wohnzimmertür, stand.

»Warst du schon bei den Rinaldis?«

»Ich war gestern bei ihnen.«

»Möchten sie das Internetcafé wirklich nicht verkaufen?«

»Nein, Mattia hat es übernommen«, antwortete er, und die Erinnerung daran kam ihm, wie er zum ersten Mal dieses Zimmer betreten hatte; wie Lucilla seine Hand losgelassen hatte und zurück in das Vorzimmer gelaufen war, um das neue Kleid aus dem Schrank zu nehmen.

»Sie sollten es lieber verkaufen«, sagte der Onkel.

»Wie ist denn das Wetter in Wien?«

»Es regnet.«

»Geht es dir besser?«

»Nein.«

»Hast du schon mit deiner Bekannten gesprochen?«

»Deswegen habe ich versucht, dich zu erreichen. Kerstin wird bald alle Wohnungen fertig haben, du kannst dann schon einziehen.«

Während sein Onkel über Ligurien erzählte, starrte Fabian auf die geöffnete Balkontür. Er fühlte sich daran erinnert, wie Lucilla in dem neuen Kleid auf seinen Schoß gefallen war, ihre Arme um seinen Hals gelegt und Fragen über Wien gestellt hatte; wie ihre Stimme schwach geworden war, als sie gefragt hatte, ob er wirklich bei ihr in Rom bleiben wolle.

»Ich komme dich noch besuchen, bevor ich nach Ligurien ziehe«, sagte er, und es läutete an der Haustür. Schnell verabschiedete er sich, legte das Handy auf den Tisch und lief zur Tür. Nicht der Briefträger, wie er geglaubt hatte, sondern Silvio antwortete in die Sprechanlage. An der Wohnungstür grüßte dann Silvio noch einmal, ehe er loslegte:

»Dein Handy ist entweder ausgeschaltet oder besetzt. Ich möchte dich zu einem Picknick einladen.«

»Zu einem Picknick?«

»Ich habe alles mit«, sagte Silvio und deutete auf seinen Rucksack.

Unterwegs fragte Silvio behutsam, ob es bei den Rinaldis lange gedauert habe. Nein, antwortete Fabian, und sogleich entschuldigte er sich, dass er nicht angerufen hatte. Silvio meinte, er verstehe das, und dann erzählte er, dass er seinem Bruder beim Kauf eines Gebrauchtwagens hatte helfen müssen. Als er einen grotesken Zwischenfall schilderte, zu dem es während der Probefahrt gekommen war, lachte Fabian und sagte, er habe Ähnliches mit seinem Onkel erlebt.

Im Park der Villa Borghese wurde Fabian still. Als er zuletzt hier gewesen war, hatten die Bäume geschwiegen, ihre Kronen waren gelichtet und starr. Nun aber war der baldige Einzug des Sommers allgegenwärtig, die grünen Blätter bewegten sich in sanfter Brise, und das Gras war lauwarm, Vögel sangen. Silvio wählte einen Platz, wo es zugleich Schatten und Sonne gab, dann wurde auch er still. Doch wirkte sein Schweigen seltsam unruhig. Als er zwei Plastikbehälter und kleine Flaschen Mineralwasser aus dem Rucksack nahm, fragte Fabian:

»Was würdest du damit machen, wenn ich nicht zuhause gewesen wäre oder keine Lust gehabt hätte mitzukommen?«

»Ich hätte mir bestimmt etwas einfallen lassen«, gab Silvio zur Antwort und öffnete die Behälter.

»Das ist aber lieb von Chiara.«

Silvio lächelte, reichte ihm einen Behälter und sagte, er werde morgen seiner Oma in ihrem Garten helfen müssen. Eine Weile erzählte er über seine Großmutter und die alljährlichen Probleme mit dem Garten, und als sein Behälter leer war und er sich auf den Rücken legte, wurde er wieder still. Dann aber sagte er in die Baumkrone über sich:

»Wir werden dich vermissen.«

»Ich euch auch.«

»Du brauchst Zeit. Du würdest auch hier darüber hinwegkommen.«

»In Rom nicht. Ich schaffe es nicht einmal, auf den Friedhof zu schauen. Am schlimmsten ist es zuhause.«

»Wie viele Wohnungen wirst du eigentlich betreuen?«, fragte Silvio rasch und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das schwarz war und so dicht, dass seine Finger darin verschwanden.

»Fünf.«

»Du kennst wirklich niemanden dort?«

»Nein. Es wird alles neu für mich sein. Aber das ist gut so.«

»Wie ist denn dein Onkel dazu gekommen, in Ligurien Ferienwohnungen zu vermieten?«

»Er wollte schon immer nach Italien.«

»Wie geht es ihm? Kann er schon aufstehen?«

»Nein. Es geht ihm schlecht.«

»Diese verdammten Schlaganfälle«, knurrte Silvio und setzte sich auf. Er trank den Rest Mineralwasser und steckte die leere Flasche samt dem Behälter in den Rucksack. Auch Fabian stopfte Behälter und Flasche in den Rucksack, dann fragte er lächelnd, ob Chiara zuhause lerne. Silvio sah ihn an, auch er musste lächeln. Er schloss den Rucksack und antwortete, dass Chiara sich diesmal vorgenommen habe, das Studium fertig zu machen.

»Lass uns noch ein bisschen spazieren«, sagte er und stand auf.

»Gut.«

»Ich bin wieder arbeitslos«, bemerkte er, nachdem Fabian sich aufgerichtet hatte. »Angeblich kann sich die Firma kein Lagerpersonal mehr leisten.«

Er sparte nicht mit Spot und Ironie, als er über die Firma sprach, und seine Augen funkelten ununterbrochen. Als er dann in einem Gastgarten Cappuccino bestellte, fragte er plötzlich die junge Kellnerin, ob sie vielleicht hier einen Job für ihn habe. Und er hätte weiter gescherzt und gelacht, wenn nicht sein Handy geläutet und seine Großmutter ihn gebeten hätte, ihr Medikamente aus der Apotheke zu besorgen.

Sie verabschiedeten sich schon am Rande des Parks voneinander. Fabian lächelte, winkte noch einmal, dann drehte er sich weg. Er wusste, er werde ihn nicht mehr treffen. Und als er nachhause kam, war er schon fest entschlossen, nicht nach Wien zu fahren, um den Onkel zu besuchen. Er setzte das Handy ans Ohr, fiel auf das Sofa und lehnte den Kopf zurück. Seltsam gedämpft kam die Stimme Frau Rinaldis, leichtes Beben drang in ihre Worte. Mattia brauche die Wohnung doch nicht so dringend, der Vater habe sich missverständlich ausgedrückt, er habe nur wissen wollen, wann ungefähr Mattia sie haben könnte.

»Ich weiß. Aber ich will halt früher nach Ligurien.«

»Du kommst uns nicht mehr besuchen, habe ich recht?«

Er wollte sie nicht anlügen. Denn sie hatte immer Verständnis und ein offenes Ohr für ihn gehabt. Er hörte, wie sie mit den Tränen kämpfte. Er brach das Gespräch ab, legte das Handy auf den Tisch. Lucilla sah ihr ähnlich, auch sie hatte ein hübsches schmales Gesicht und große dunkle Augen, hatte kurzes schwarzes Haar getragen. Beide waren sie sanft und sensibel, doch Lucilla besaß ein kämpferisches Naturell. Das wiederum ähnelte ihrem Vater, und das hatte ihr Vater von ihr zu spüren bekommen.

Langsam legte Fabian sich hin, und sein Blick verharrte auf dem Bücherregal. Er erinnerte sich daran, wie Lucilla ihm zum letzten Mal vorgelesen hatte. Sie hatten es geliebt, einander vorzulesen, ein Buch dem Fernseher vorzuziehen. Ihm war es anfangs unangenehm, wenn er vorlesen musste, seines Akzents und seiner schlechten Aussprache wegen, schon bald aber hatte er daran Gefallen gefunden. In warmen Nächten hatten sie die Balkontür samt Fenster geöffnet, und im Winter hatten in der Wohnung oft Kerzen gebrannt. Manchmal hatten sie sich über die Geschichten unterhalten, hatten versucht, sie zu verändern, hatten überlegt, wie sie wohl weitererzählt werden könnten. Lucilla hatte sich gewünscht, mit ihm gemeinsam ein Buch zu schreiben, über ihr Leben zu erzählen, doch er hatte gefunden, dazu seien sie noch zu kurz zusammen und zu jung. Es gebe doch so viele schmale Bücher, hatte sie widersprochen.

Er überquerte den Fluss und ging zu Piazza Navona, der Tag war sonnig und warm. Er wechselte ein paar Worte mit Alfonso, dem jungen Kellner, bestellte das Essen und sah auf den Platz. Umgeben von Stimmen beobachtete er Menschen, dann aß er langsam. Nach dem Essen nahm er das Handy. Der Hinweis auf einen versäumten Anruf erschien. Mattia wollte ihn sprechen. Ein älterer, elegant gekleideter Mann mit einem großen Hund blieb mitten auf dem Platz stehen, und einige der Gäste in den Gastgärten sahen zu, wie der Hund ein Häufchen legte. Als der Mann sich zu dem Häufchen neigte und es in ein Säckchen entsorgte, kam Gelächter von den Tischen.

»Hat’s geschmeckt?«, fragte Alfonso, und Fabian drehte sich zu ihm. Sehr, antwortete er, lobte seine Küche und bestellte einen Espresso. Lächelnd sah er, wie Alfonso sich entfernte, dann setzte er das Handy ans Ohr. Schon in Mattias Gruß, der in seiner rauen Stimme kaum zu verstehen war, steckte Nervosität. Einer der Computer habe sich nicht einschalten lassen, aber sein Freund habe ihn schon repariert.

»Das passiert eigentlich selten«, sagte Fabian. »Sonst ist alles in Ordnung?«

»An der Tankstelle war schon mehr los.«

Mattia sah seinem Vater ähnlich, er war klein und stämmig, pflegte seinen Kopf kahl zu rasieren. Und wenngleich er eine Enttäuschung für seinen Vater war, da er stets zu den Versagern gezählt hatte, verstand er sich in der Familie am besten mit ihm. Das Internetcafé war für Mattia angeschafft worden, doch hatte es nicht seinen Erwartungen entsprochen, war schlecht besucht, brachte allzu wenig ein. So hatte Mattia die Gelegenheit ergriffen und es an Lucilla übergeben, als diese das Interesse daran geäußert hatte. Die würden hier nie einen Job finden, hatte er damals zu seinem Vater gesagt, der es ungerecht fand, dass Lucilla außer der Wohnung auch das Internetcafé bekommen hatte. Das Internetcafé werde aber später an Mattia zurückgegeben, war das letzte Wort des Vaters, nachdem Lucilla versprochen hatte, ihr Studium nicht abzubrechen. Seitdem war Lucilla regelmäßig auf die Universität gegangen. Oft war sie nach Vorlesungen ins Internetcafé gekommen und bis zum Schluss geblieben, hatte gelernt oder Fabian geholfen, und manchmal hatte sie eine ihrer Freundinnen mitgebracht. Sie hatte sich gefreut, wenn er mit seinen Gästen plauderte, war glücklich, wenn er neue Freunde fand. Es war ihr großer Wunsch gewesen, dass ihre Heimat auch zu seiner Heimat werde.

Im Gastgarten wurden die meisten Tische frei, und Alfonso hätte sich auf eine Unterhaltung eingelassen, doch Fabian wünschte ihm einen schönen Tag und ging. Das kurze Gespräch mit Mattia beschäftigte ihn. Er fürchtete, dass Mattia bald wieder anrufen werde.

Ein Fußball rollte ihm entgegen. Kleine Buben schauten ihn an, ihre erhitzten Gesichter ließen merken, dass sie einem Spiel entrissen wurden. Er kickte den Ball zurück und sah zwei Polizisten, die auf der anderen Seite des Platzes standen. Nachdem die Buben ihr Spiel wieder aufgenommen hatten, lächelten die Polizisten. Dann wurde einer der Buben von einem Mann, vermutlich seinem Vater, der sich aus einem Fenster beugte, nachhause gerufen, und als es zwischen den beiden zu einem Streit kam, fingen die Polizisten an zu lachen. Auch Fabian hatte gern Fußball gespielt, als er noch ein Kind war, doch gestritten hatte er dabei nur mit seiner Mutter. Schon als Kind hatte er gewusst, dass er ihr keine Fragen über seinen Vater stellen durfte.

Um die Piazza Navona wurde es ruhig. Er kannte jedes Fenster und jede Ecke, seit Langem waren die Gassen hier sein Heimweg. Diesmal aber durchquerte er sie ohne Eile, verlangsamte sogar noch seine Schritte. Auf der Brücke über den Fluss blieb er schließlich stehen, um den Menschen, die am Ufer der Tiberinsel saßen, zuzusehen. Durch das Rauschen des Flusses waren ihre Stimmen nicht zu hören, selbst ihr Lachen blieb lautlos. Die Insel hatte Lucilla ihm gezeigt, es war am Tag nach jenem Fest, auf dem sie einander kennengelernt hatten. Es hatte genieselt, der Himmel war bedeckt, die Insel menschenleer. Lucilla war das erste Mädchen, das er geküsst hatte, und er würde nie vergessen können, wie sie dabei gelächelt hatte, weil sie es gespürt hatte. Er war damals zum ersten Mal in Rom, es war im Frühling, nach dem Tod seiner Mutter. Der Onkel hatte ihn mitgenommen, fast zwei Wochen lang waren sie in der Stadt geblieben. Er würde nie vergessen können, wie Lucilla ihn nach seinen Eltern gefragt hatte und wie er ihr hatte antworten müssen, er sei in Rom mit seinem Onkel, da er außer ihm niemanden mehr habe. Nie würde er vergessen können, wie sie ihn vor seiner Abreise in Umarmung gehalten und in sein Ohr gesagt hatte, sie werde ihn genau so lieben, wie seine Mutter es getan habe.

Er öffnete das Fenster und sah in den Hof. Wie immer stand sein altes Fahrrad an die Wand gelehnt, doch das neue, das er Lucilla zu Weihnachten geschenkt hatte, war verschwunden. Schnell ging er ins Stiegenhaus, sah im Erdgeschoß nach und lief hinauf in den obersten Stock, doch das Fahrrad war fort. Im obersten Stock hatte er es kurz vor Weihnachten stehen lassen, und während Lucilla am Heiligen Abend mit Kochen beschäftigt war, hatte er es heimlich hergebracht. Sie war sprachlos, als sie das Geschenk bekam, jenes weiße Fahrrad, das sie im Herbst in einem Schaufenster gesehen und so bewundert hatte.

Ihr altes Fahrrad hatte Lucilla einem Flüchtling geschenkt, einem der jungen Schwarzafrikaner, mit denen sie manchmal in dem Park beim Kolosseum plauderte. Schon als sie ihr neues Fahrrad bekam, war sie auf diese Idee gekommen. Dass es ein Damenfahrrad war, hatte den Mann nicht gestört, er bestieg es und strahlte vor Freude, seine Freunde klatschten und lachten. Fabian lachte mit, Lucilla setzte sich auf den Gepäckträger seines Rads und stach ihm mit den Fingern in die Rippen. Auch zuhause, im Bad und in der Küche, hatten sie beide gelacht. Doch als sie im Wohnzimmer waren, jeder einen Teller in der Hand, wurden sie still. Lucilla hatte nur die Hälfte ihrer Portion gegessen, ließ den Teller auf dem Tisch stehen und legte sich auf das Sofa. Ein Bein hochgezogen, die Hände über dem Bauch gefaltet, starrte sie auf die Zimmerdecke. Als er den letzten Bissen gegessen hatte und die Teller in die Küche tragen wollte, streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Er stellte die Teller zurück auf den Tisch, setzte sich und nahm ihre Hand, dann legte er sich zu ihr. Sie schmiegte sich eng an ihn und sagte, sollte er eines Tages fort aus Rom wollen, so werde sie ihm folgen.

Ihre Eltern hatten das neue Fahrrad erst zu Jahresbeginn zu sehen bekommen. Sogar dem Vater stand die Freude im Gesicht, ehe er fragte, was mit dem alten Fahrrad geschehen solle. Lucilla wich seinem Blick aus, und Fabian sagte rasch, es sei wahrscheinlich gestohlen worden. Wer bitte so alte Fahrräder stehle, hatte Mutter wie zu sich selbst gesagt. Er hätte das Fahrrad hergerichtet, die Mutter hätte es haben können, murmelte der Vater mit finsterer Miene. Ob das Fahrrad im Hof gestanden sei, fragte er. Lucilla hatte gewusst, dass ihr Vater einen Fahrraddieb unter den Ausländern vermuten werde, sie sah ihn mit festem Blick an, doch brach sie in Tränen aus, als ein Streit zwischen ihnen entflammte. Sie wolle ihn nie wiedersehen, waren die letzten Worte, die sie über die Lippen brachte. Fabian wollte sie um die Schultern fassen, sie aber entzog sich seiner Hand, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr los. Sie fuhr ziellos durchs Stadtzentrum, entlang des Flusses bis zur Engelsburg, er folgte ihr. Auf dem Weg nachhause wurde sie langsamer, und nachdem sie das Rad im Hof abgestellt hatte, wartete sie im Stiegenhaus. Erst dann ließ sie sich umarmen. Zuhause öffnete sie den Schrank und fragte, ob sie mit dem Kochen anfangen solle oder ob er sie in ein Restaurant einladen wolle. Er möchte sie einladen, hatte er geantwortet, und sie nahm ihre neuen Jeans heraus. Er nannte den Namen ihres Lieblingsrestaurants, das in einer Gasse neben dem Campo de’ Fiori stand, und ihren Mund umspielte ein Lächeln. Unterwegs sprach sie über die Universität, über ihre Freundinnen, und ihre Augen funkelten. Er hielt sie an der Hand und hörte ihr zu, wünschte sich, dass ihre Mutter sie anriefe. Denn ihre Mutter hatte manchmal angerufen, wenn Lucilla sich mit ihrem Vater gestritten hatte. An diesem Abend war das Restaurant halb leer und ruhig. Doch nachdem sie das Essen bekommen hatten, kamen zwei Paare herein. Fabian hatte ihr Deutsch sofort vernommen, sah aber nicht auf. Lucilla blickte ihn einmal an, rasch nur und verstohlen, während sie sprach, und er wusste, sie werde ihn bald fragen, ob es Deutsche oder Schweizer oder sogar Österreicher seien. Es seien Österreicher, hatte er dann geantwortet, sie würden in burgenländischem Dialekt sprechen. Er strich ihr über die Wange, und sie sagte, sie würde die ganze Pizza nicht schaffen. Das Glas Wein in der Hand, sprach sie wieder von der Universität, und das Lächeln auf ihren Lippen bewegte sich in sanftem Glanz. Die Burgenländer hatten Essen bestellt, ließen sich eine Flasche Wein bringen, danach hoben die Frauen an, Anekdoten aus ihrem Arbeitsalltag zu erzählen. Als eine von ihnen im Wiener Dialekt zu sprechen begann, hörte Fabian ihr aufmerksam zu. Sie hatte eine neue Kollegin nachgeahmt, die aus Wien in ihre Firma gekommen war, und er musste an Rudi denken, seinen Mitschüler aus dem Gymnasium, über dessen Deutsch damals alle gelacht hatten. Lucillas Handy läutete. Giulia war dran, ihre Freundin. Fabian drehte sich dem Fenster zu und dachte daran, wie Rudi sich einmal mit Emre geprügelt und dabei geschrien hatte, burgenländisches Deutsch klinge immerhin besser als türkisches. Lucillas Lachen drang an sein Ohr, und er sah sie an. Das müsse gefeiert werden, sagte sie ins Handy, und er lächelte. Er wartete, bis sie sich von Giulia verabschiedet hatte, dann fragte er, ob es Neuigkeiten gebe. Lucilla schlug beide Hände vors Gesicht, ließ sie in den Schoß fallen und sagte, Giulia sei schwanger. Carlo sei vor Freude wie verrückt, könne es gar nicht fassen, dass er Vater werde. Lucilla hätte gern noch ein Glas Wein bestellt, er aber wollte gehen, woanders ein Glas trinken. Schon draußen vor der Tür fing sie an, über Giulia zu sprechen, und den ganzen Weg bis nach Trastevere erzählte sie dann über sie. In dem kleinen Café nahe ihrem Haus luden Stammgäste sie beide auf ein Glas Wein ein, und Lucilla strahlte geradezu vor guter Laune. Dennoch wurde sie bald müde, sprach wenig, lachte nicht mehr. Draußen vor dem Café hatte er sie an sich gedrückt, schließlich auf die Arme genommen. Bis ins Bett hatte er sie getragen, sanft in seiner Wärme gehalten. Als er ihr ein Glas Wasser brachte, um das sie ihn gebeten hatte, war sie schon fast eingeschlafen. Sie nahm einen Schluck und bat ihn, sich zu ihr zu legen. Mit den Armen umschlang sie seinen Hals, er küsste ihren Nacken, und sie fragte, ob er sich einen Sohn oder eine Tochter wünschen würde. Er stutzte, bevor er antwortete, dass es ihm egal sei. Sie würde beides haben wollen, aber zuerst einen Buben. Einen Buben, der so ein schönes brünettes Haar haben würde, hatte sie gesagt, über seinen Kopf streichend. Ob er sich wünschen würde, dass sein Sohn Deutsch lerne. Ja. Worüber sich die Österreicher unterhielten, hatte sie weiter gefragt, und ihre Hand blieb auf seinem Kopf liegen. Stille folgte, und er sah, wie sie in den Schlaf sank; wie sie das Schlafzimmer, wie sie ihn langsam verließ.

Frauenstimmen entrissen ihn der Lektüre. Ähnlich hatte Lucilla gelacht, wenn sie von ihren Freundinnen abgeholt wurde, auf die Universität gegangen war. Manchmal war er auf den Balkon gelaufen und hatte ihr nachgeschaut, sie hatte genauso viel zu erzählen gehabt wie ihre Freundinnen, schon ihre Körpersprache ließ merken, wie groß ihre Aufregung war.

Er schloss das Buch und legte es auf den Tisch. Er erinnerte sich, wie Lucilla gesagt hatte, sie würde mit ihrem Studium jederzeit aufhören, sollte er sich das wünschen. Sie lag auf dem Rücken, starrte auf die Zimmerdecke, als er sie ansah und fragte, warum er sich das denn wünschen sollte. Egal, hatte sie geantwortet, sie wolle nur, dass er das wisse. Er hatte gefragt, wie sie auf die Idee komme, doch sie schmiegte sich wortlos an ihn. Rasch hatte sie mit der Hand seinen Mund bedeckt, denn sie wusste, er würde weiter fragen.