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Einleitung

Pädagogisches Handeln ist überwiegend professionelles Handeln in Organisationen. Freie pädagogische Berufstätigkeit findet sich fast überwiegend nur im Bereich der Beratung – und hier ist insbesondere die Supervision als berufsbezogene Beratung zu nennen – und der Psychotherapie, wobei hier fast ausschließlich die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie gemeint ist. Bleibt die supervisorische Tätigkeit des Pädagogen noch der pädagogischen Praxis, also dem der Pädagogik zuzurechnenden Bereich der (Fort-)Bildung verbunden, so ist die Durchführung heilkundlicher Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie berufs- und sozialrechtlich dem medizinischen Versorgungsmodell nachgebildet und der psychotherapeutisch tätige Pädagoge bewegt sich damit im öffentlichen Gesundheitswesen und der gesetzlichen bzw. privaten Krankenversicherung, die im Sozialgesetzbuch V (SGB V) geregelt ist und die sich entsprechend vom Erziehungs- und Bildungswesen unterscheidet.

Blickt man also auf die gesellschaftliche Organisation und institutionelle Rahmung pädagogischer Berufstätigkeit, dann lässt sich feststellen, dass – neben der Schule, die hier als Feld pädagogischer Berufstätigkeit nicht weiter ausgeführt wird – der weite Bereich der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen und die hier verorteten „Hilfen zur Erziehung“ (im Folgenden werden die „Hilfen zur Erziehung“ in Anführungszeichen gesetzt, da es sich um einen feststehenden Begriff handelt) im Besonderen den Tätigkeitsbereich professioneller Pädagogen schlecht hin abgeben.

Der pädagogischen Berufstätigkeit im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe kann deswegen so große Bedeutung zugesprochen werden, weil sie gesetzlich durch das Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) geregelt ist und dieses damit den Handlungsrahmen und die Berechtigungsgrundlage pädagogischen Handelns abgibt.

Auf den ersten Blick kann pädagogisches Handeln im Rahmen des SGB VIII somit mit ärztlichem Handeln im Kontext des SGB V verglichen werden, wobei selbstverständlich auch außerhalb der genannten Gesetzesgrundlagen pädagogisch bzw. ärztlich gehandelt werden kann. Die Bedeutung der gesetzlich geregelten Kinder- und Jugendhilfe besteht aber gerade darin – und hier gibt es ebenso eine Parallele zum SGB V –, dass damit der gesellschaftliche Zentralwert von Erziehung und Bildung und die damit verbundenen Bedarfe nach Erziehung vom Gesetzgeber anerkannt werden. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) unterstreicht das Recht des jungen Menschen „auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Das heißt, Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Erziehung, und über die Erziehung und Pflege der Kinder und Jugendlichen wacht die staatliche Gemeinschaft, was nichts anderes heißt, dass Eltern und andere Sorgeberechtigte eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Kindern haben und die Gemeinschaft und der Gesetzgeber darüber wachen, ob die Sorgeberechtigten dieser Pflicht auch angemessen nachkommen.

In diesem Sinne hält das Kinder- und Jugendhilfegesetz – neben weiteren Aufgaben der Jugendhilfe – eine ganze Reihe von „Hilfen zur Erziehung“ bereit, die dann zum Einsatz kommen, wenn eine dem Wohl des Kindes nicht zuträgliche Erziehung vorliegt.

Wenn von einer dem Wohl des Kindes nicht förderlichen Erziehung gesprochen wird, dann ist damit zumeist die Erziehung gemeint, die in und durch die Familie stattfindet. Wenn es also den Personensorgeberechtigten, zumeist den Eltern, aus welchen Gründen auch immer, nicht, nicht mehr oder nicht ausreichend gelingt, eine Erziehung zu realisieren, die dem Wohl des Kindes entspricht, können „Hilfen zur Erziehung“ in Anspruch genommen oder aber auch durchgesetzt werden. Diese erzieherischen Hilfen umfassen pädagogische und therapeutische Leistungen (vgl. § 27 Abs. 3 SGB VIII) und reichen von Erziehungsberatung, über Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistand, Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpflege Heimerziehung bis hin zur Intensiven Sozialpädagogischen Einzelfallbetreuung. Dem Kind, dem Jugendlichen und seinen Eltern soll so geholfen werden, eine Erziehungspraxis (wieder) herzustellen, die die bestmöglichste Entfaltung der Entwicklungspotentiale des jungen Menschen in Aussicht stellt.

Wie anhand dieser kurzen Ausführungen, die sich auf das KJHG beziehen, schon deutlich wird, werden Begrifflichkeiten durch den Gesetzgeber eingeführt, die zwar einerseits die Grundlage und die Begründung für pädagogisches und auch für in die Autonomie der familialen Lebensführung eingreifendes Handeln abgeben, die aber andererseits so überdeterminiert sind, dass es notwendig wird, um begründet fachlich handeln zu können, diese Begriffe in einer Weise zu konkretisieren und in ihrer Bedeutung pädagogisch „auszubuchstabieren“, dass sie einem fachlichen Diskurs zugänglich werden und damit im Grunde jeder fachlich Beteiligte eine genaue Vorstellung von der Bedeutung und den Konsequenzen der im KJHG verwendeten Begrifflichkeiten haben sollte.

Die Praxis der Erziehungshilfe spricht dagegen eine andere Sprache (Urban, 2004; vgl. Peters, 1999). So ist eben häufig nicht klar, was zum Beispiel mit dem Begriff „Kindeswohl“ gemeint und wie dieser zu konzeptualisieren ist. Gleichwohl ist aber gerade das Kindeswohl und dessen mögliche oder manifeste Gefährdung Dreh- und Angelpunkt und insbesondere Ausgangspunkt jedweder pädagogischer Bemühungen im Rahmen der staatlichen Kinder- und Jugendhilfe. Erst die Bestimmung des Kindeswohls und seiner (möglichen) Gefährdungen versetzen den Pädagogen in die Lage, eine fachlich, das heißt, pädagogisch begründete Einschätzung eines erzieherischen Bedarfs (Diagnose) vorzunehmen, der dann eine pädagogische Indikationsstellung hinsichtlich der dem erzieherischen Bedarfs des Kinder bzw. der Eltern angemessenen Hilfe zur Erziehung erlaubt. Es geht also immer zunächst um die Frage, ob überhaupt eine die kindliche Entwicklung hemmende oder schädigende Erziehung vorliegt und wenn ja, wie die in die Krise geratene Erziehungspraxis pädagogisch zu verstehen ist, um dann zu einer fachlich begründeten Entscheidung hinsichtlich der einzusetzenden „Hilfen zur Erziehung“ zu gelangen.

Das medizinisch bewährte und begründete Procedere, das jedem, der schon mal beim Arzt war, bekannt ist – man geht wegen Beschwerden zum Arzt, dieser stellt dann eine Erkrankung oder Symptome mit Krankheitswert fest, diagnostiziert diese und leitet dann die auf die Diagnose bezogene Behandlung (Indikation und Therapie) ein –, können die erzieherischen Hilfen für sich nicht in Anspruch nehmen. Sowohl die sozialpädagogische Diagnose als auch die Bestimmung der geeigneten Hilfen und deren Umsetzung folgen nicht selten Kriterien, die nichts mit Pädagogik und nichts mit der fachlich begründeten Logik des besseren Arguments zu tun haben. Im Grunde bleibt es jedem verantwortlichen (Sozial-)Pädagogen selbst überlassen, wie er den erzieherischen Bedarf einschätzt und welche Schlüsse er daraus zieht, und man kann nur hoffen, dass er über genügend Fachwissen verfügt, die problematische Erziehungssituation pädagogisch oder überhaupt in irgend einer Weise fachlich begründet zu deuten. Überwiegend jedoch wird die Deutung der problematischen erzieherischen Situation mit eklektizistisch zusammengesetztem (Halb-)Wissen aus Psychologie, Psychotherapie und einer gehörigen Portion eines scheinbar vernünftigen Alltagsverstehens zu Wege gebracht und ist deswegen in hohem Maße personalisiert. Dass diese Deutungen nicht selten schief gehen, lässt sich dann anhand der Berichterstattung durch die Medien aufzeigen. Dass erzieherische Bemühungen keinen Erfolg zeigen, also nicht das gelernt wird, was gelernt werden soll, ist nicht so sehr das Problem. Vielmehr kommt es darauf an, den Lern- bzw. den Erziehungsbedarf nachvollziehbar, pädagogisch begründet eingeschätzt und hierauf dann bezogen die erzieherischen Bemühungen gerichtet zu haben. Wenn es dem Pädagogen gelingt, diesen Sachverhalt pädagogisch darzustellen, kann man auch im Fall des Scheiterns der erzieherischen Bemühungen im engeren Sinne nicht von einem pädagogischen Kunstfehler sprechen. Dieser ist aber sofort dann gegeben, wenn es dem Pädagogen nicht gelingt, sein Verstehen, Denken und Handeln nachträglich pädagogisch zu begründen.

An der skizzierten Deutungsschwäche ändert sich auch nichts durch die Verpflichtung, maßgebliche Entscheidungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe im Fachteam der Sozialpädagogen und Sozialarbeiter zu treffen, denn das strukturelle Problem, also die Frage danach, wie die Erziehungssituation begründet und nachvollziehbar pädagogisch verstanden werden kann, bleibt davon unberührt.

Im Grunde ist dieses Umsetzungsproblem der wirklich vorbildlichen Gesetzgebung aber auch gar nicht verwunderlich, denn zum einen waren die „Väter“ und „Mütter“ des Kinder- und Jugendhilfegesetzes überwiegend Juristen und nicht Pädagogen (vgl. Wiesner et al., 2006). Und zum anderen kann der gesetzliche Rahmen auch gar nichts anderes sein als eine Form, die inhaltlich ausgestaltet werden muss – sowohl prinzipiell als auch einzelfallbezogen. Denn so wenig wie das SGB V dem Arzt bei der Behandlung seiner Patienten und das Schulgesetz dem Lehrer beim Unterrichten seiner Schüler in der jeweils konkreten Behandlungs- bzw. Unterrichtspraxis weiterhilft, so wenig helfen Begriffe wie „Wohl des Kindes“, „erzieherischer Bedarf“ und „Hilfen zur Erziehung“ dem zum erziehungspraktischen Verstehen und Handeln verpflichteten Pädagogen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe. Kann sich der Arzt auf die medizinische Theorie und seine ärztliche Kunst verlassen, und verfügt die schulische Erziehung über eine Theorie der Schule und des Unterrichts und über eine Didaktik des Unterrichts, so fehlt diese theoretische Durchdringung der „Hilfen zur Erziehung“ mit Ausnahmen (Frommann, 2001, 2009; Winkler, 2001) fast völlig. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass die Begründung und die Durchführung von „Hilfen zur Erziehung“ entweder auf eine semi-professionelle Basis gestellt oder aber durch andere Professionen oder zumindest durch in Dienstnahme des professionellen Wissens von anderen Professionen durchgeführt werden. Dass durch diese Praxis die für professionelle Tätigkeiten konstitutive Verpflichtung zur nachträglichen Begründung immens erschwert wird, versteht sich von selbst.

In diesem Sinne verfolgt das Buch in gebotener Kürze das Anliegen einer praxisorientierten Einführung in die „Hilfen zur Erziehung“ aus pädagogischer Sicht. Hierzu wird zunächst die Geschichte der Erziehungshilfe kurz nachgezeichnet, ein Blick auf die Adressaten der erzieherischen Hilfen gerichtet und ein Überblick über die unterschiedlichen „Hilfen zur Erziehung“ gegeben (Kapitel 2).

Anschließend wird Erziehung als Grund- und Leitbegriff der „Hilfen zur Erziehung“ ausformuliert. So wird es möglich, den Kern der erzieherischen Hilfen pädagogisch in Theorie und Praxis zu fassen (Kapitel 3).

Abschließend werden dann die bereits in Kapitel 2 kurz vorgestellten unterschiedlichen „Hilfen zur Erziehung“ auf eine pädagogische Basis gestellt, die Auskunft über die sinnvolle Ausgestaltung und Umsetzung der jeweiligen Hilfe gibt. Zum besseren Verständnis werden die jeweiligen „Hilfen zur Erziehung“ mit Praxisbeispielen veranschaulicht (Kapitel 4).

Ganz zum Schluss werden die Ausführungen noch einer kurzen kritischen Diskussion unterzogen (Kapitel 5).

Die Form einer praxisorientierte Einführung bringt es mit sich, einige Facetten der Thematik auszusparen oder stark vereinfacht darzustellen. Insofern sei der interessierte Leser, der sich tiefer gehend und umfassender mit der Thematik auseinander setzen möchte, auf das von Vera Birtsch, Klaus Münstermann und Wolfgang Trede herausgegebene Werk „Handbuch Erziehungshilfen“ (2001) verwiesen. Hier wird ein guter Überblick über das weite Feld der „Hilfen zur Erziehung“ geboten, der Orientierung und vertiefende Lektüre ermöglicht. Darüber hinaus bietet das Buch von Erwin Jordan (2005) „Kinder- und Jugendhilfe“ einen über die „Hilfen zur Erziehung“ hinausreichenden Blick auf die komplette Kinder- und Jugendhilfe. Und abschließend sei noch auf Mechthild Seithe (2001) verwiesen, die mit ihrem Buch „Praxisfeld: Hilfen zur Erziehung“ die besondere Fachlichkeit, die in diesem Feld von Nöten ist, in den Blick nimmt und so eine praxisorientierte Ergänzung zu den beiden oben genannten Übersichtswerken darstellt.

Dem geneigten Leser, der sich speziell für die pädagogische Diagnostik im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe interessiert, sei das „Multiaxiale Diagnosesystem Jugendhilfe (MAD-J)“ von André Jacob und Karl Wahlen (2006) ans Herz gelegt. Hierin werden fast alle gängigen Konzepte der sozialpädagogischen Diagnostik diskutiert und ein eigenständiges Konzept entwickelt. Das, was darin fehlt, ist der Ansatz der sozialpädagogischen Diagnose von Mollenhauer und Uhlendorff (vgl. Mollenhauer & Uhlendorff, 2000, 2004; Uhlendorff, 2010), der dem Diagnosesystem wahrscheinlich zu hermeneutisch ist.

Was die Adressaten des vorliegenden Buchs anbelangt, so wendet es sich zunächst an Lehrerinnen und Lehrer aller Altersstufen und Schularten, da der Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe eine enorme Bedeutung zugesprochen werden muss und hierfür fundierte Kenntnisse des Fachgebiets des jeweiligen Kooperationspartners unabdingbar sind (vgl. Ellinger, 2010). Im Grunde plädiert das Buch zum einen für die Überwindung der Trennung in schulische und außerschulische Lernhilfen und damit konsequenterweise zum anderen für die Überwindung der Trennung von schulischer und außerschulischer Erziehung, was nichts anderes heißt, als die Forderung nach einem „erziehenden Unterricht“ (Herbart, 1806), also einem Unterricht, der sich grundsätzlich als Erziehung versteht.

Darüber hinaus wendet sich das Buch an Studierende der Sonder- und Sozialpädagogik sowie an bereits in der Praxis stehende Pädagoginnen und Pädagogen, die sich über ihr Handeln im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ergänzende Klarheit verschaffen und das Buch als Reflexionshilfe nutzen wollen.

Obwohl im Bereich der Erziehung überwiegend Frauen tätig sind, wird im folgenden Text zumeist die männliche Schreibweise gewählt. Diese Entscheidung ist einerseits der besseren Lesbarkeit und andererseits dem Sachverhalt geschuldet, dass es sich bei Erziehern, Sozialpädagogen, Lehrern etc. ausschließlich um Funktionsbezeichnungen handelt. Die Personen, die in den Praxisbeispielen dargestellt werden, treten dort allerdings als Mann oder Frau in Erscheinung.

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„Hilfen zur Erziehung“

Eine Annäherung an das Praxisfeld „Hilfen zur Erziehung“ geschieht zunächst durch einen kurzen Blick auf die Geschichte der Erziehungshilfe. Hieran schließen Überlegungen zu den Adressaten der erzieherischen Hilfen an, um dann die zentralen Begrifflichkeiten in den Fokus zu nehmen, die letztendlich die Bezugspunkte für die konkreten „Hilfen zur Erziehung“ abgeben.

2.1 Zur Geschichte der Erziehungshilfen

Die Geschichte der „Hilfen zur Erziehung“ ist auf der einen Seite nicht leicht zu rekonstruieren, weil es immer auch um die Entwicklungs- und Theoriegeschichte einzelner „Hilfen zur Erziehung“ geht. So weisen beispielsweise die Erziehungsberatung (Hundsalz, 1995) und die Soziale Gruppenarbeit (Konopka, 1969) eigenständige Traditionslinien auf, die im Grunde auch eine eigene Geschichtsschreibung nötig machen. Darüber hinaus, und das darf bis heute nicht vergessen werden, ist die Geschichte der erzieherischen Hilfen immer auch eine sozialpolitische Geschichte und weist auf das in der betreffenden Epoche maßgebliche politische Klima hin.

Auf der anderen Seite aber lassen sich grob Entwicklungsphasen der erzieherischen Hilfen identifizieren, die einen Überblick ermöglichen. Im Grunde lässt sich mit Hinblick auf Deutschland die Zeit zwischen 1878 und 1922 als „Gründerzeit der Jugendhilfe“ (Trede, 2009, S. 26, kursiv nicht im Original) auffassen. In dieser Zeit entwickelte sich eine erste systematisch zu nennende öffentliche Fürsorgeerziehung, die allerdings eher den Auftrag hatte, den immer mehr aufkommenden Typ des proletarischen Jugendlichen unter Kontrolle zu halten. Diese Form der Fürsorge richtete ihr Augenmerk auf die entwicklungspsychologisch und pädagogisch-erzieherisch relevante Zeit der Adoleszenz, die ihrerseits in das damalige gesellschaftliche Vakuum zwischen Schule und Militärdienst fiel. Um die pubertär-adoleszente Dynamik kontrollieren zu können, hatte die Fürsorgeerziehung entsprechend auch einen fast ausschließlichen Zwangscharakter und war mit einer totalen Institution (Goffmann, 1973) vergleichbar. Gleichwohl darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass in diese Zeit auch die Entstehung erster Jugendämter fiel und damit eine Verberuflichung der Jugendfürsorgetätigkeit einsetzte. Diese Entwicklung fand dann mit der Etablierung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes 1922 einen ersten vorläufigen Abschluss. Der sich an diese Zeit anschließende Nationalsozialismus setzte dann allen aufkommenden emanzipatorischen öffentlich-erzieherischen Hilfen – wie etwa die Erziehungsberatung – ein deutliches Ende. Nicht mehr Aufklärung, Unterstützung und Hilfe waren die Leitkategorien erzieherischer Hilfen, sondern vielmehr die Selektion und Differenzierung der Kinder und Jugendlichen in erziehbar, schwer erziehbar und unerziehbar. Für die Sonderpädagogik galt entsprechend die Differenzierung in bildbare und unbildbare Menschen. In der auf den Nationalsozialismus folgenden so genannten restaurativen Phase knüpften die „Hilfen zur Erziehung“ aus Mangel an Alternativen sowohl an das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz als auch an die damit verbundenen traditionellen Formen der Anstaltserziehung an. Erst das Aufkommen der Kinderdorfbewegung (vgl. Honsal, 2009) in den 1950er Jahren und die Konzeptualisierung und Gründung heilpädagogischer Heime (vgl. Möckel, 2007) ungefähr zur gleichen Zeit führten zu einer einsetzenden Professionalisierung, die, ausgelöst durch die Heimkampagne im Sommer und Herbst 1969, letztendlich einen tief greifenden Reformprozess in Gang setzte. Als Meilenstein dieser Entwicklung kann der Zwischenbericht der Kommission Heimerziehung aus dem Jahr 1977 gewertet werden. Hierin wird schon das Programm einer modernen Jugendhilfe grundgelegt. Ihre Entfaltung und Umsetzung fand diese Programmatik allerdings erst 1991, als das bis heute gültige Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) in Kraft trat und damit auch das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922 in der Fassung von 1966 ablöste. Seit 1991 wurde das KJHG um das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz KICK) im Jahre 2005 erweitert. Diese Erweiterung erlangt deswegen große Bedeutung, weil hierin der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe und dessen Konkretisierung im Fall einer Kindeswohlgefährdung (vgl. § 8a KJHG) unmissverständlich als Aufgabe und Pflicht der Kinder- und Jugendhilfe klargestellt werden.

Und seit dem Inkrafttreten des KJHG’s sind erzieherische Hilfen als mehr oder weniger intensive Beratungs-, Betreuungs- und Hilfsangebote für junge Menschen und deren Familien zu verstehen (vgl. §§ 27–35 SGB VIII), auf die ein Rechtsanspruch von Seiten der Personensorgeberechtigten dann besteht, wenn „eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII).

2.2 Adressaten der Erziehungshilfe

„Insgesamt unterscheiden sich die Familien der Kinder/Jugendlichen in Erziehungshilfen – das belegen sowohl Jugendhilfestatistik wie auch alle empirischen Studien – deutlich von der ‚Normalbevölkerung‘“ (Trede, 2009, S. 31). Das heißt, die Familien, die Adressaten der „Hilfen zur Erziehung“ sind, können als mehrfach belastete Familien (Wnuk-Gette & Wnuk, 2002) aufgefasst werden. Familien also, bei denen ungünstige sozioökonomische und bio-psycho-soziale Faktoren zusammenwirken. Auf den Punkt gebracht heißt dies: Je höher der Grad der Belastung der familialen Verhältnisse und der sozialen Benachteiligung und je niedriger das Maß an Bewältigungsressourcen, desto häufiger werden die Kinder aus diesen Familien Adressaten erzieherischer Hilfen (Ellinger, 2011), die dazu noch eine sehr hohe Eingrifforientierung und Intensität aufweisen.

Was die Altersverteilung der Kinder anbelangt, so kann festgehalten werden, dass jüngere Kinder weniger deutlich im Rahmen der Erziehungshilfe auftreten – und wenn, dann eher im Bereich der Erziehungsberatung oder der Sozialpädagogischen Familienhilfe – als ältere Kinder und Jugendliche. Und auch hinsichtlich der Geschlechterverteilung fällt auf, dass zum Beispiel deutlich mehr männliche Kinder und Jugendliche eine stationäre Hilfe zur Erziehung erhalten als weibliche Jugendliche (Trede, 2009).

Gleichwohl muss festgehalten werden, dass nicht jedes Familienproblem und/oder jede individuelle Problemlage eines männlichen Jugendlichen aus sozioökonomisch und/oder psychosozial belasteten Familienverhältnissen dazu führt, „Hilfen zur Erziehung“ in Anspruch zu nehmen oder diese staatlich durchgesetzt werden müssen. Es ist vielmehr das Zusammenwirken unterschiedlicher Stressoren mit den vorhandenen Ressourcen, das darüber im Einzelfall entscheidet, ob sich familiale, partnerschaftliche und individuelle Verfasstheiten auf der einen Seite und sozioökonomische Bedingungen auf der anderen Seite zu einer akuten oder permanenten Gefährdung des Kindeswohls auswachsen. Erst mit diesem Verständnis wird es möglich, auch Familien zu erfassen, die nicht unbedingt im landläufigen Sinne als Multiproblemfamilien zu erkennen sind, sich vielmehr durch ein hohes sozioökonomisches und bildungsbürgerliches Niveau auszeichnen und trotzdem Erziehungsverhältnisse realisieren, die dem Wohl des Kindes oder der Kinder abträglich sind und so Spielarten einer so genannten Wohlstandsverwahrlosung entstehen (Zöllner, 1997).

In allen Fällen stellt sich aber der mit dem Kind oder der Familie beschäftigten Fachperson die Frage, wie sich die Kindeswohlgefährdung im jeweiligen Einzelfall konkret zeigt und mit welchen erzieherischen Hilfen hierauf bezogen angemessen geantwortet werden kann.

2.3 Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, erzieherischer Bedarf und Hilfeplan als zentrale Begriffe der Erziehungshilfe

Erzieherische Hilfen im Kontext des KJHG’s bedürfen also neben der gesetzlichen Grundlage einer begründeten einzelfallbezogenen Ausgestaltung.

In diesem Zusammenhang sind die Begriffe „Kindeswohl“, „Kindeswohlgefährdung“ „erzieherischer Bedarf“ und „Hilfeplan“ als zentral und als handlungsleitend anzusehen. Denn erst, wenn eine dem Kindeswohl nicht zuträgliche Erziehung vorliegt, haben die Personensorgeberechtigten einen Rechtsanspruch auf Inanspruchnahme erzieherischer Hilfe. Und folgt man Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“, dann wird hier unmissverständlich deutlich, dass auch erzieherische Hilfen gegen den Willen der Eltern durchgesetzt werden können und zwar dann, wenn die Eltern ihrer Pflicht zur Erziehung und Pflege der Kinder nicht oder nur ungenügend nachkommen, so dass eine Gefährdung des Kindeswohls festgestellt werden kann.

Wie aber sind nun genau Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung auf der einen Seite und erzieherischer Bedarf und Hilfeplan auf der anderen Seite zu verstehen? Bei den nachfolgenden Definitionsversuchen gilt: Die im KJHG verwendeten Begriffe – und das darf nicht vergessen werden – sind vordringlich zunächst juristische Begriffe. Und sie können dementsprechend ihrem Wesen nach nie völlig bestimmt sein, weil sie sowohl auf das Allgemeine als auch auf das Besondere Bezug nehmen müssen.

Kindeswohl

Versucht man den Begriff Kindeswohl zunächst allgemein zu fassen, dann bietet es sich an, auf die Bestimmung des Oberlandesgerichts Köln zurückzugreifen. Dort heißt es: „Kindeswohl bedeutet das Recht des Kindes auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Bei der Kindeswohlprüfung sind dabei die Persönlichkeit und die erzieherische Eignung der Eltern, ihre Bereitschaft Verantwortung für das Kind zu tragen und die Möglichkeiten der Unterbringung und Betreuung zu berücksichtigen, wozu als wesentliche Faktoren die emotionalen Bindungen des Kindes zu den Eltern und anderen Personen treten“ (OLG Köln vom 18.06.1999 – 25 UF 236/98, zit. nach Krause, 2009, S. 45)

Möchte man allerdings etwas über die „Pharmakologie“ des Kindeswohls, also über dessen Bestandteile erfahren, kommt man nicht umhin, sich den unhintergehbaren Bedingungen für eine gesunde, und das heißt, nicht nur eine von Krankheit freie, menschliche Entwicklung zuzuwenden.

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Abb. 1: Bedürfnispyramide in Anlehnung an Maslow (1981)

In diesem Zusammenhang sind zwei theoretische Konzepte zu nennen, die hohe Praxisrelevanz aufweisen. So ist zunächst auf Abraham Maslow (1981) zu verweisen, der die Bedürfnisse der Gattung Mensch pyramidal in fünf Ebenen darstellte. Auf der untersten Ebene, gewissermaßen als (Lebens-)Basis, verortete er die physiologischen Bedürfnisse. Hierauf folgen die Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit, nach Verständnis und sozialer Bindung, nach seelischer und körperlicher Wertschätzung sowie nach Anregung, Spiel und Leistung und schließlich als Spitze das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Die Form der Pyramide und die Zuordnung der Bedürfnisse verweisen auf die basale Hierarchie der Bedürfnisse. Wird beispielsweise das Bedürfnis nach Nahrung nicht erfüllt, erübrigen sich die weiteren Bedürfnisse, da der Mensch ohne Nahrung stirbt.

Das zweite Konzept stammt von Aaron Antonovsky (1997), der sich mit der Frage beschäftigt hat, was Menschen gesund hält und somit als Begründer der Salutogenese gilt. Nach Antonovsky entsteht bei einem Menschen ein Kohärenzgefühl, das Widerstandsressourcen gegenüber unterschiedlichen Stressoren bereithält, dadurch, dass der Mensch sein Leben überwiegend als sinnhaft, handhabbar und verstehbar erlebt. Verstehbar meint, über ein strukturelles Wissen über personale, interpersonale und über die Phänomene der objektiven Welt zu verfügen. So gelingt es, nicht jedes Gewitter als Gottes Zorn, sondern als das Aufeinandertreffen von unterschiedlich warmen Luftschichten zu begreifen. Auch ist dann nicht jede Atemnot oder jedes Angstgefühl ein Hinweis auf eine tödliche Erkrankung, sondern kann unter Umständen auch auf eine den Menschen aufregende Situation zurückgeführt werden. Und schließlich lässt zum Beispiel das Wissen um Gruppendynamik zwei scheinbar unvereinbare Positionen zu einer gemeinsamen Mediation zusammen kommen. Nun geht es aber nicht nur um Verstehbarkeit und Wissen, sondern auch darum, dass der Mensch in der Lage ist, dieses Wissen mit Bezug auf seine Lebenspraxis auch handelnd einsetzen zu können. Erst das Gefühl, dass ich auch etwas dafür oder dagegen tun kann, ermöglicht eine Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Und schließlich, da der Mensch ein nach Gründen suchendes Wesen ist (Heidegger, 2006), muss zum Wissen und Können noch ein übergeordneter Sinnzusammenhang hinzukommen. Erst die subjektive Sinnstiftung trägt zur Entwicklung des Kohärenzgefühls bei.

Sowohl die Überlegungen zur Bedürfnispyramide als auch die zum Kohärenzgefühl geben bis heute die Grundlage für die weitere Konzeptualisierung des Begriffs Kindeswohls ab.

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Abb. 2: Elemente des Kohärenzgefühls in Anlehnung an Antonovsky (1997)

Aus aktueller Sicht sind hier insbesondere die Arbeiten von zwei U.S. amerikanischen Kinderärzten und Kinderpsychiatern zu nennen. Brazelton und Greenspan (2002) weisen auf sieben Grundbedürfnisse hin, die ein Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein. Zu diesen Grundbedürfnissen gehört das Bedürfnis nach

  1. … beständigen liebevollen Beziehungen
  2. … körperlicher Unversehrtheit
  3. … Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind
  4. … entwicklungsgerechten Erfahrungen
  5. … Grenzen und Strukturen
  6. … stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und kultureller Kontinuität
  7. … einer sicheren Zukunft.

Die Grundbedürfnisse, die Brazelton und Greenspan (ebd.) identifiziert haben, orientieren sich bzw. nehmen Bezug auf die Überlegungen zur Bedürfnispyramide nach Maslow.

Im deutschsprachigen Raum hat sich insbesondere Fegert (1999; vgl. auch Ziegenhain & Fegert, 2008) um die wissenschaftliche Erforschung von Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung und um die Entwicklung von Praxiskonzepten bemüht. Nach Fegerts (1999) sehr dezidiertem Konzept können sechs Grundbedürfnisse von Kindern und mögliche Folgen bei einem Mangel benannt werden.

Grundbedürfnis nach …

Mögliche Folgen eines Mangels

Liebe, Akzeptanz und Zuwendung

Schwere körperliche und psychische Deprivationsfolgen bis hin zu psychosozialem Minderwuchs und nicht organisch bedingten Gedeihstörungen

Stabile Bindungen

Auffälligkeiten der Nähe-Distanz-Regulierung bis hin zu Bindungsstörungen

Ernährung und Versorgung

Gedeihstörungen bis hin zu kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen

Gesundheit

Vermeidbare Erkrankungen mit unnötig schwerem Verlauf

Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung

Anpassungs- und posttraumatische Störungen

Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrungen

Entwicklungsrückstände bis hin zu Pseudodebilität


Abb. 3: Grundbedürfnisse nach Fegert (1999)

Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich begründet der Schluss ziehen, dass man – je nach Klassifikationsschema – von sechs bis sieben kindlichen Grundbedürfnissen auszugehen hat, die in jedem Fall befriedigt werden müssen. So gelingt es, den zunächst juristischen und mehrfach determinierten Begriff des Kindeswohls inhaltlich so auszuformulieren, dass nun bestimmte Auskunft über das Wohl eines Kindes und über die dem Kindeswohl zuträgliche oder abträgliche Erziehung gegeben werden kann.

Kindeswohlgefährdung