Grußwort der Ministerin Malu Dreyer

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Die in diesem Tagungsband gesammelten wissenschaftlichen Beiträge sind Ergebnis des ersten pflegewissenschaftlichen Kongresses an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV), für den ich sehr gerne die Schirmherrschaft übernommen habe.

In der gesundheitspolitischen Praxis hat Gerechtigkeit unterschiedliche Facetten. Mir ist die solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems ein Herzensanliegen. Wichtig ist mir auch ein gerechter Zugang zur Gesundheitsversorgung. Für alle Menschen, auch solche mit geringen Einkommen oder mit Behinderungen, muss der Zugang zu gesundheitlichen und pflegerischen Leistungen gewährleistet sein. Die Chance, gesund zu bleiben oder gesund zu werden, darf nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Auch die Rahmenbedingungen für Pflege- und Gesundheitseinrichtungen und die Bezahlung der dort beschäftigten Menschen müssen gerecht sein.

Es ist wichtig, dass Gerechtigkeitslücken immer wieder thematisiert werden und wir nach geeigneten Wegen suchen, sie zu schließen. Dafür und für viele andere wichtige Zukunftsthemen brauchen wir eine enge Verzahnung von Politik, Wissenschaft und Praxis. Ich freue mich, dass wir mit der pflegewissenschaftlichen Fakultät der PTHV einen Partner in Rheinland-Pfalz haben, der diesem wichtigen Austausch eine Plattform bietet.

Der Tagungsband zeigt die Sichtweisen unterschiedlicher Fachdisziplinen und spannt, wie zuvor der pflegewissenschaftliche Kongress, einen Bogen von den theoretischen Grundlagen von Gerechtigkeit und Solidarität zu empirischen Befunden, bzw. zu Gerechtigkeitsproblemen in der Praxis. Ich würde mich freuen, wenn die Veröffentlichung dazu beiträgt, die Auseinandersetzung mit diesen wichtigen Themen zu fördern.

Malu Dreyer

Ministerin für Arbeit, Soziales,

Gesundheit, Familie und Frauen
des Landes Rheinland-Pfalz

Geleitwort aus der Sicht eines Theologen

Ein altes Zerrbild von Gerechtigkeit lässt einen Vogel, eine Schildkröte, einen Affen und einen Elefanten »gleichermaßen« vor der Herausforderung stehen, auf einen hohen Baum zu klettern. Dieses Bild steht mir oft vor Augen, wenn ich Debatten um Gerechtigkeit verfolge, die zum Ziel haben, dass »alle immer mehr bekommen«. Das ständige Wirtschaftswachstum, als Allheilmittel gegen Ungerechtigkeit oft zu Unrecht gepriesen, verhindert eben nicht, dass die Schere zwischen arm und reich ständig weiter auseinander geht, was sich gerade auch im Bereich von Krankheitsversorgung und Pflege bemerkbar macht. Und dabei ist es ein »existentieller Unterschied«, von welcher Seite des sozialen Grabens über Gerechtigkeit und die damit verbundenen Ängste und Hoffnungen gesprochen wird.

Die jüdisch-christliche Tradition stellt sich von jeher auf eine sehr subjektive, angreifbare Position:

Der Arme wird als Liebling Gottes betrachtet, weil er Herz und Hände frei hat und sich angewiesen weiß auf eine Güte, die er sich selbst nicht leisten kann. Entsprechend wird er in größerer Nähe zu Gott gesehen, auf den er seine Hoffnung setzt. So kennt das Alte Testament geradezu ein Armenpathos. In vielen Psalmgebeten wird die Klage laut über die herrschenden Zustände von unterdrückender Macht und Gewalt, von Hartherzigkeit und Wohlstand Weniger, der auf Kosten Vieler geht.

Die Schriften des Neuen Testamentes greifen diese Haltung auf. Dies ist umso mehr verständlich, weil auch die ersten frühchristlichen Gemeinschaften vielfach in den unteren sozialen Schichten anzutreffen waren. So sind uns in den Evangelien Jesusworte überliefert, welche wiederum den Armen selig preisen und vor der Gefahr warnen, die mit Reichtum und Macht verbunden ist:

»Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Grossen setzen ihre Macht gegen sie ein. Unter euch aber sei es nicht so, sondern: Wer unter euch groß sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Markus-Evangelium, 10, 42–45).

Diese Warnung vor Machtmissbrauch steht bei Markus an zentraler Stelle und ist an jene gerichtet, die im Jüngerkreis Jesu eine hervorragende Stellung einnahmen. Über die Tradierung einer wörtlichen Aussage hinaus intendiert die Stelle wohl, Christen mit Autorität und Amt in der Gemeinde ein jesuanisches Verständnis vom Dienen »ins Stammbuch zu schreiben«. Die darin enthaltene Umkehrung von Werten ist, auch wenn sie im Lauf der Kirchengeschichte oft in Vergessenheit geriet, eine notwendige Warnung vor einem menschenunwürdigen Verständnis von Macht, Ressourcen und Gerechtigkeit.

Welche Akzente kann vor diesem Hintergrund ein Theologe in die pflegewissenschaftliche Debatte um eine reale, dem Leben dienende Gerechtigkeit einbringen? Zuerst und vor allem ist es der Blick auf den konkreten Menschen, der mehr ist als seine finanzielle Ausstattung. Wie kann dafür gesorgt werden, dass mehr Menschen in den Genuss kommen, die in ihnen steckenden Fähigkeiten und Lebens-Visionen zu verwirklichen? Wie kann eine soziale Bewegung angestoßen werden, die von einer Kultur des (immer mehr) Habens zu einer des Gebens und Teilens führt? Wie kann wieder neu ein Interesse und Sorge für jene Armut geweckt werden, die nicht eine Frage des Einkommens ist – wie bspw. die Verwahrlosung im Alter oder die rasch ansteigende Anzahl von dementen Menschen? Welche Kriterien und Messinstrumente kann es geben, um ein »erfülltes Leben« zu erkennen und mit vereinten politisch-gesellschaftlich-kirchlichen Kräften dafür Sorge zu tragen, dass für immer mehr Menschen die Möglichkeit geschaffen wird, dieses für sich zu wählen und zu realisieren?

Hier hat Wissenschaft einen wichtigen Dienst zu leisten. Darüber hinaus steht die innere Einstellung des Menschen zur Frage, inwieweit er bereit ist, sich selbst als verantwortlichen Teil der Menschheit und Schöpfung zu sehen. Nur daraus wird sich sowohl eine entschiedene Stellungnahme gegen egoistische Versuchungen (Korruption, Habgier ...) wie auch ein solidarisches Handeln ableiten, das menschliche Gemeinschaft in ihren konkreten Lebensvollzügen zu mehr Solidarität inspiriert.

Ich bin als Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar dankbar, dass die noch junge Pflegewissenschaftliche Fakultät sich in ihrem ersten Kongress dem Thema »Gerechtigkeit und Solidarität im Gesundheitswesen« gewidmet hat. Die hier dokumentierten Beiträge zeugen von einem in Liebe der Realität verpflichteten Bewusstsein, das intellektuelle Forschung und lebendige Konsequenzen miteinander zu verbinden weiß. Ich wünsche dem Buch viele Leser in der großen Gemeinschaft von Suchern nach einem Mehr an Gerechtigkeit und Frieden.

Paul Rheinbay SAC

Rektor der Philosophisch-Theologischen

Hochschule Vallendar (PTHV)

Vallendar, im November 2011

Einleitung

Hermann Brandenburg und Helen Kohlen

1 Der Hintergrund

In den letzten Jahren wurde in der Pflegewissenschaft ein eigener Wissensfundus erarbeitet. Dazu gehören die Positionierungen in wissenschaftstheoretischen Fragen, die Entwicklung von monodisziplinären Standards zu einzelnen klinischen Problemfeldern und die kritische Überprüfung von Interventionsverfahren in der Pflege. Die Pflegewissenschaft hat sich jedoch sehr stark auf einen innerwissenschaftlichen Diskurs konzentriert. Nun ist es an der Zeit, die eigenen Ergebnisse einem kritischen Diskurs der Disziplinen auszusetzen. Insbesondere die Medizin, die Philosophie und Theologie sowie die Sozial- und Verhaltenswissenschaften sind hier gefordert. Die Medizin, weil die Pflegewissenschaft bislang eine kritische Auseinandersetzung mit der Medizin vernachlässigt hat, diese aber dringend allein schon wegen ihrer fachlichen Verwandtschaft notwendig ist. Die Philosophie und Theologie, weil die von ihnen aufgeworfenen ethischen Fragen für die Positionierung der Pflegewissenschaft essentiell sind. Die Sozial- und Verhaltenswissenschaften schließlich vor allem aus dem Grunde, weil ohne deren inhaltliche, methodische und empirische Zugänge die Pflegewissenschaft als kritische Perspektive wirkungslos bliebe.

Für die genannte Öffnung der Perspektive hat sich die Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar (PTHV) als ein geeigneter Veranstaltungsort erwiesen. An dieser Hochschule ist am 18.10.2007 die erste pflegewissenschaftliche Fakultät in Deutschland eröffnet worden. Interdisziplinäre Aspekte, etwa zur bioethischen Debatte, werden an der Fakultät intensiv vorangetrieben. Der Dialog mit der Theologie als eine der ältesten wissenschaftlichen Disziplinen überhaupt wird in einem eigenen Modul ausführlich gewürdigt. Darüber hinaus werden Bezüge zu den Sozial- und Verhaltenswissenschaften in allen Lehrgebieten hergestellt.

Konsequent war daher die Realisierung des ersten pflegewissenschaftlichen Kongresses an der PTHV unter dem Thema »Gerechtigkeit und Solidarität im Gesundheitswesen« am 04./05. Juni 2009. Ziel war es, einige der gegenwärtig kontrovers diskutierten Themen aufzugreifen. Thematisiert wurden Gerechtigkeitsfragen, das Spannungsfeld von Fürsorge und Autonomie sowie die Notwendigkeit einer Kooperation im Gesundheitswesen.

2 Anliegen dieses Buches: Thema Gerechtigkeit und Solidarität im Gesundheitswesen

Gerechtigkeitsfragen sind nicht neu (vgl. für eine historische und systematische Begriffsgeschichte die Arbeit von Höffe 2010). Aber sie werden immer wieder neu gestellt – und müssen angesichts konkreter Herausforderungen auch neu beantwortet werden. Die Auseinandersetzung über normative Grundfragen von Gerechtigkeit setzt in den letzten Jahrzehnten vor allem an einer Konzeption an, nämlich dem 1971 von dem amerikanischen Philosophen John Rawls vorgelegten Werk »Eine Theorie der Gerechtigkeit«. Der rawlsche Zugang hat Gerechtigkeit mit Fairness verbunden. Dies wurde vor allem in seinem Neuentwurf von 2001 »Gerechtigkeit als Fairness« deutlich herausgestellt. Unter Fairness hat Rawls verstanden, dass wir in unseren Wertungen Voreingenommenheiten vermeiden (sollen), dass wir die Interessen anderer berücksichtigen (sollen) und vor allem darauf achten, dass wir uns nicht von eigenen erworbenen Vorrechten, Prioritäten, Vorurteilen beeinflussen lassen. Es geht also um Fairness als Unparteilichkeit (vgl. Rawls 2006). Grundsätzlich erwies sich der Rawlssche Ansatz einer Verfahrensethik nicht nur als Gegenentwurf zu utilitaristischen Ansätzen, sondern kann als Anstoß für die Entwicklung alternativer liberaler Theorieansätze, individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu vereinbaren, gelesen werden (z. B. Ackerman 1980, Dworkin 1984).

Rawls’ Werk blieb nicht ohne Kritik. Sie konzentrierte sich vor allem auf drei Aspekte1. Erstens wurde der von konkreten gesellschaftlichen Kontexten abstrahierende Charakter der Begründung von Rawls‹ Theorie kritisiert und der Einbezug von »Kontexten der Gerechtigkeit« (Ethik, Recht, Demokratie, Moral) angemahnt (z. B. Forst 1996). Zweitens wurde der Vorrang gleicher individueller Freiheiten vor substantiellen Konzeptionen des Guten kritisiert und damit auf die Notwendigkeit einer Theorie des Guten verwiesen (z.B. Nussbaum 1999; vgl. auch Vossenkuhl 2006). Drittens wurde die Vernachlässigung der empirischen Realität, etwa bezogen auf die Funktionsweise der Ökonomie, zum Gegenstand der Kritik. »Die fröhliche Philosophie der Marktgesellschaft Rawls, wonach die Reichen getrost reicher werden dürfen, wenn es nur auch den ›am wenigsten Begünstigten‹ besser geht, war immer schon rein spekulativ begründet und nicht an der Prozeduralität des ökonomischen Systems abgelesen. Tatsächlich werden die Reichen immer reicher und die am wenigsten Begünstigten auch immer ärmer« (Dux 2006, S. 44; vgl. auch Sen 2002, 2010).

Was ist das Anliegen dieses Buches? Es geht uns nicht darum jene Theorien, die sich um eine »gerechte Gesellschaft« bemühen, einer Prüfung zu unterziehen, sondern vielmehr die konkreten Realisierungsversuche, um »mehr Gerechtigkeit« einem kritischen Blick zu unterwerfen. Eingebettet in eine kritische Auseinandersetzung mit universalistischen Gerechtigkeitstheorien ist für uns die Erkenntnis zentral, dass Diskussionen einflussreicher Gerechtigkeitstheorien häufig losgelöst von den konkreten soziökonomischen und religiösen Erfahrungswelten einzelner Menschen und Gruppen geführt wurden. Empirische Erkenntnisse wurden vernachlässigt. Sorge um und Solidarität mit den bedürftigen konkreten Anderen haben in universalistischen Gerechtigkeitstheorien eher eine randständige Position und verlieren auch zunehmend in gesundheitswissenschaftlichen und pflegewissenschaftlichen Autonomiediskursen an Gewicht. Wenn es um Gerechtigkeit im Gesundheitswesen geht, so das Anliegen dieses Besuches, ist dies nicht vom Gedanken und der Praxis des Engagements, der Solidarität und der sozialen Verantwortung zu trennen.

Ungleichheit ist die Ursache einer Vielfalt sozialer und gesundheitlicher Probleme. Äußerst aufschlussreich ist hierzu die Synthese der Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett »Gleichheit ist Glück – Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind« (2009). Auf der Basis ihrer Studien über fünfzig Jahre kommen sie zum Ergebnis, dass die Gesundheit der Bevölkerung nicht schlicht vom ökonomischen »Kuchen« abhängt, sondern davon, wie er geteilt wird. Entsprechend hatte Lynch (1998) festgestellt, dass hohe Ungleichheiten im Einkommen gesundheitliche Risiken bedingen und die Sterblichkeitsrate im Gegensatz zu Gebieten mit niedrigen Ungleichheiten im Einkommen erhöht ist.

Damit sind wir insgesamt einem komparativem Denken verpflichtet, das konkrete Versuche um »mehr Gerechtigkeit« in den Blick nimmt, ohne das Hauptaugenmerk primär auf Regeln, Verfahren und Institutionen zu begrenzen, die für eine gerechte Ordnung der Dinge notwendig sind.

Norman Daniels hat in Bezug auf Rawls versucht, Regeln für eine gerechte Gesundheitsversorgung aufzustellen. Mit dem Prinzip der Chancengleichheit begründet er, dass die Notwendigkeit eines allgemeinen Zugangs zur Gesundheitsversorgung, Bildung und Erziehung einen direkten Einfluss auf Gesundheit und dies insbesondere bei Kindern hat (Kennedy et al. 1998, Lynch 1998). Ökonomische Autonomie und politische Partizipation haben einen direkten Einfluss auf die Gesundheit von Frauen (Kawachi und Kennedy 1999). Diese Befunde anerkennend, plädiert Daniels (2004), von einer Fokussierung auf Krankheit oder Behinderung abzusehen und stattdessen die Frage in den Blick zu nehmen, ob Individuen ihre Fähigkeiten entwickeln können. Damit sind wir bei der Frage der Capabilities und damit der Ermöglichungsstrukturen eines gerechten Gesundheitswesens angelangt.

Im Zentrum gegenwärtiger ethischer Diskurse in Deutschland zum Thema Gerechtigkeit im Gesundheitswesen geht es vorwiegend um Verteilungsfragen im Hinblick auf medizinische und pflegerische Unterstützungen, und zwar angesichts einer nicht mehr zu bestreitenden Rationierungsproblematik im Gesundheitswesen (vgl. umfassend hierzu: Gutmann und Schmidt 2002). Deontologische Ethiken fordern für die Patientenauswahl Gerechtigkeit, wobei allerdings die Kriterien dafür umstritten sind. Die einen setzen auf mittels Losverfahren oder Warteschlangen umzusetzende Chancengleichheit und wollen Differenzierungen allenfalls nach dem Grad der Bedürftigkeit zulassen (vgl. z. B. Gutmann 2002).

Andere halten eine Rationierung nach Lebensalter für vertretbar, welche älteren Patienten eindeutig das Nachsehen gegenüber Jüngeren gibt (vgl. z. B. Breyer und Schultheiss 2002). Im Unterschied zu deontologischen Ethiken fokussieren Konsequentialisten vor allem die Ergebnismaximierung und nicht allgemeine Gerechtigkeitsgesichtspunkte. Sie stellen auf die Erfolgsaussichten eines Patienten (gemessen an QUALYs, Lebenserwartung, Langzeitprognose usw.) ab, können aber den Zielkonflikt zwischen der – wie auch immer verstandenen – Gerechtigkeit und der Effizienz der Allokation nicht lösen. Kurz und gut, es muss entschieden werden, aber es gibt kaum unstrittige, von allen Beteiligten und Betroffenen konsentierte Entscheidungsparameter. Und wie soll es auch anders sein? Unter den Bedingungen eines »ethischen Pluralismus (ist) dies weit eher zu erwarten als das Gegenteil« (Schmidt und Gutmann 2002, S. 23).

Die aufgezeigten Dilemmata werden auch in der vorliegenden Publikation nicht »gelöst«. Allerdings sind wir der Auffassung, dass durch einen Mehrperspektivblick auf das Gesundheitswesen ein Beitrag zur Reflexion – und letztlich zur begründeten Entscheidungsfindung geliefert werden kann. Diese Hoffnung wird durch die Erfahrung und Kompetenz der involvierten Autoren2 genährt. Diese haben direkt oder indirekt Bezug zur medizinischen und pflegerischen Praxis. Alle blicken auf der Basis von beruflichen und persönlichen Erfahrungen im Gesundheitswesen mit analytisch-wissenschaftlicher Distanz auf die Situation in den Krankenhäusern, Pflegeheimen und der Pflege zu Hause.

Drei Perspektiven sind für uns dabei bedeutsam:

  1. Die erste Perspektive ist ein theoretischer Blick, der sich zentralen Begriffen der Gerechtigkeitsdebatte zuwendet: Gerechtigkeit, Solidarität, Engagement und soziale Verantwortung. Hierfür stehen die Beiträge von Schulz-Nieswandt, Kohlen und Friesacher. In diesen Texten wird deutlich, dass Gerechtigkeit ein zentrales Anliegen ist und bleibt. Allerdings kann und darf die Debatte dabei nicht stehen bleiben. Die ›Grenzen der Gerechtigkeit‹ sind ebenfalls mit zu beachten. Es geht nicht allein um ›Gerechtigkeit als Fairness‹ (Rawls) im Sinne der (liberalen) Unparteilichkeit, sondern – umgekehrt – im Sinne eines sozialen, auch christlich motivierten Engagements, um den und die Schwachen. Es geht nicht allein um ›gerechte‹ Tauschverhältnisse, sondern gerade im Gesundheitswesen um die Notwendigkeit von Solidarität, konkreter Fürsorge und Care im gesellschaftspolitischen Sinne.
  2. Die zweite Perspektive umfasst multidisziplinäre Zugänge verschiedener Einzelwissenschaften (Pflegewissenschaft/Politikwissenschaft/Ethik/Medizinethik). Hierfür stehen die Texte von Brandenburg, Schockenhoff, Kreutzer, Heier, Strech und Marckmann sowie Nass und Tretz. Wir sprechen bewusst von Multidisziplinarität (Nebeneinander von mehreren Disziplinen) und nicht von Interdisziplinarität (inhaltliche Zusammenarbeit und Integration der Befunde). Und wir tun dies aus folgendem Grund: Bereits auf der Ebene der Multidisziplinarität findet eine gegenseitige Information über die unterschiedlichen Forschungszugänge und Erkenntnisse statt. Dies ist wichtig, denn eine echte Auseinandersetzung setzt profunde Kenntnisse der disziplinspezifischen Forschungszugänge voraus. Alles andere ist »unreflektierter Eklektizismus« (Kruse und Martin 2004, S. 9). Die Arbeiten machen deutlich, wie unterschiedlich die Vorstellungen von Gerechtigkeit sein können. Aber trotz dieser Heterogenität kann man sich – wenn man will – auf bestimmte »no-go-Prinzipien« einigen (vgl. den Beitrag von Schockenhoff). Beispielsweise, dass keinem Patienten medizinisch notwendige Behandlungen verweigert werden dürfen, dass eine Orientierung am Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse erfolgen muss (und nicht primär oder konkurrierend an ökonomischen Kriterien) oder dass jeder im Rahmen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit aufgerufen ist, zur Wiedererlangung und Aufrechterhaltung seiner Gesundheit beizutragen. Damit wird jener Aspekt unterstrichen, der bereits oben erwähnt wurde: Es geht nicht um eine ideale Konstruktion von Gerechtigkeitsprinzipien, sondern um konkrete Schritte zu ihrer Verwirklichung oder auch Warnungen davor, bestimmte Grenzen zu überschreiten.
  3. Die dritte Perspektive ist die Empirie. Hierfür stehen die Untersuchungen von Schubert, Brühl, Gröning, Planer sowie Borutta und Ketzer. Wir greifen damit einen zentralen Kritikpunkt der Theoriedebatte um die Gerechtigkeit auf. Das Wissen um die Prinzipien einer ›gerechten Welt‹ ist die eine Seite der Medaille. Die zweite Seite wird bei Theoriediskussionen um Gerechtigkeit häufig vernachlässigt, nämlich die Empirie. Wie ist es um die Rationierung im Gesundheitswesen bestellt? Sehen wir bereits konkrete Auswirkungen? Welche Gründe lassen sich anführen, die Gerechtigkeitsfrage nicht nur als professionelles Thema der Pflege (im engeren Sinne) zu diskutieren, sondern die Generationenbeziehungen mit zu berücksichtigen? Welche konkreten Entscheidungen sind empirisch bei einem Pflegeheimeintritt bereits nachgewiesen? Die ausführliche Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitsfragen, insbesondere auf dem Hintergrund der empirischen Erkenntnisse in ausgewählten Problemfeldern (Rationierung, Vergütung, Familienpflege, Heimeinweisung und Prüfkonstrukten), erdet sozusagen die Debatte um die Gerechtigkeit und führt letztlich zu der Konsequenz, nicht nur die ›Idee der Gerechtigkeit‹ zu formulieren, sondern auch für die Verwirklichung von Teilzielen zu kämpfen – hier und jetzt!

3 Zu den einzelnen Beiträgen

Teil 1: Theorie und Diskurs

Am Anfang der theoretisch und grundlegend orientierten Beiträge steht eine Arbeit von Frank Schulz-Nieswandt. Er skizziert sein Verständnis von Sozialpolitik, welches in der Tradition der Weisserschen Schule der Lebenslageforschung steht. Sein Programm bezeichnet er selbst als »methodologischen Personalismus« (vgl. seine umfangreiche Studie zum Wandel der Medizinkultur 2010). Er sieht den Lebenslauf als eine Abfolge von Entwicklungsaufgaben, denen sich das Individuum zu stellen hat. Diese Position wird darüber hinaus existentialphilosophisch in der »Sorgestruktur des menschlichen Daseins« begründet. Sie entwirft eine Konzeption von Sozialpolitik, die zwingend an die Bereitstellung von Ressourcen (z.B. assistierende Technologien, soziale Dienste etc.) gebunden ist. Entscheidend ist die Frage nach der Zugänglichkeit, Nutzbarkeit und konkreten Auswirkungen von sozialen Diensten – dies ist eine Kernfrage kritischer (im Unterschied zu affirmativer) Sozialpolitik. Sie gilt Schulz-Nieswandt als »Voraussetzung sozial kohärenter Entwicklung«.

Sozialpolitik – so Schulz-Nieswandt – muss daher Gerechtigkeit zu ihrem Programm machen. Ohne Umverteilung geht es seiner Auffassung nach nicht. Denn in einer unvollkommenen Welt führen Marktergebnisse nicht zwingend zur gerechten Verteilung von Lebenslagen, d.h. von Lebenschancen und Teilhabemöglichkeiten. Allerdings dürfen staatliche Interventionen effizienzökonomische Überlegungen nicht ignorieren, weil mit Umverteilungssystemen die Gefahr der Unterminierung von Anreizstrukturen des ökonomischen Systems verbunden ist. Es geht um eine politische Beurteilung von Marktergebnissen. Aber wenn Gerechtigkeit auf der Agenda steht (stehen soll!), dann muss auch – so Schulz-Nieswandt – definiert werden, welche Form von Gerechtigkeit für wen und in welchen Lebenslagen praktisch werden soll. Denn nicht jede Gerechtigkeit führt auch zur Solidarität!

Helen Kohlen plädiert in ihrem Text für eine Thematisierung von sozialen Verantwortlichkeiten in der Bioethik und klinischen Ethik. Dies zeigt sie in ihrem Beitrag mittels einer Analyse zu Diskursen der Bioethik sowie zweier Feldstudien (Norwegen und Deutschland) zu ethischen Entscheidungsfindungsprozessen. Offenbart doch der historische Rückblick in die Verfahren und Kriterien, wem die begrenzt verfügbaren Technologien zur Nieren-Dialyse zur Verfügung stehen sollen und wem nicht, dass der soziale Status entscheidend ist. In gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskursen in der Bioethik gilt es zu berücksichtigen, dass nicht über diejenigen gesprochen wird, die oft keinen Zugang zu therapeutischen Maßnahmen haben, wie beispielsweise Patienten, die gar nicht erst auf eine Station mit Möglichkeiten intensivmedizinischer Therapien gelangen. Feldstudien zur Prioritätensetzung auf der Intensivstation wie auch zu Debatten in klinischen Ethikkomitees zeigen, dass Patienten in Abhängigkeit ihres Eingebundenseins in eine Familie und deren Sozialstatus vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch werden sie häufiger über Therapiemöglichkeiten aufgeklärt. Deutlich wird, inwiefern Gerechtigkeitsüberlegungen nicht hinreichend sein können, um konkrete sozialethische Konfliktlagen in der Praxis von Medizin und Pflege zu erfassen. Vielmehr zeigen die Untersuchungsergebnisse die Notwendigkeit, soziale Verantwortlichkeiten zu klären. Als ethischen Referenzrahmen, der die Bedeutung sozialer Fragen aufnimmt, schlägt Kohlen die theoretische Konzeption von M. U. Walker vor. Soziale Verantwortung ist auch Gegenstand in einem aktuellen Artikel der Allgemeinen Erklärung über Bioethik und Menschenrechte.

Unter dem Titel »Kritik und moralisches Engagement« legt Heiner Friesacher seine Überlegungen zur Gerechtigkeitskonzeption in der Pflege thesenartig dar.

Er hält dabei am Programm einer kritischen Konzeption fest. Für Friesacher kann nur ein kritischer Begriff pflegerischen Handelns den Ansprüchen einer »pluralistischen Gerechtigkeitskonzeption« genügen. Friesacher sieht die Pflege als eine verhinderte Profession, die sich im folgendem Dilemma befindet: Als Hilfehandeln bewege sie sich zwischen einem formal geregelten programmatischen Auftrag der Gesellschaft mit mehr oder weniger klaren juristischen, administrativen und institutionellen Vorgaben einerseits und einer am individuell Betroffenen orientierten, im Arbeitsbündnis sich realisierenden Beziehungsgestaltung andererseits. Einflüsse auf die Verhinderung der Pflege als Profession sieht der Autor in Religion, Medizin und Ökonomie, die sich für ihn als »Fremdbestimmer der Pflege« identifizieren lassen. Vor allem in Anlehnung an die Studie von Rainer Wettreck (2001) beschreibt Friesacher »pflegerische Fallen«, in die Pflege hineintappt und somit selbst Einfluss auf ihre Verhinderung nimmt. Herauszuheben ist die Psycho-Falle mit einem ständigen Klagen und Explodieren statt Argumentieren sowie die »Karriere- Falle«, die dafür sorgt, dass innerhalb der Berufsgruppe jeglicher berufliche Karrierezuwachs negativ kritisch beurteilt wird, weil die Person die »Pflege am Bett« verlässt und somit nicht mehr dazu gehört.

Die Theorie der Anerkennung (Axel Honneth) bietet für Friesacher eine gute Basis, um eine Gerechtigkeitskonzeption für die Pflege zu entwickeln. Das Vorenthalten von Anerkennungsweisen (Fürsorge durch Zuwendung, Solidarität durch soziale Wertschätzung) stelle eine moralische Verletzung dar, die auch im Gesundheits- und Pflegewesen sichtbar wird. Ergänzt werden müsse diese Theorie durch den »Einbezug der Kategorie des Leibes, denn die Natur, die wir selbst sind, ist wesentlicher Ausgangspunkt und Adressat einer Ethik leiblicher Existenz.«

Teil 2: Multidisziplinäre Perspektiven

Die Beiträge aus verschiedenen Disziplinen werden durch einen Text von Hermann Brandenburg eröffnet. Er beschäftigt sich mit Qualitätsindikatoren in der stationären Altenpflege, und zwar aus der Perspektive der gerontologischen Pflegewissenschaft. Es geht ihm um die Frage, ob und inwieweit die bisher vorgelegten bzw. neu zu entwickelnden Qualitätsindikatoren einen Beitrag zur guten Pflege leisten.

Hierbei sind auch Aspekte der Gerechtigkeit und Solidarität mit zu beachten. Wichtig sind dabei zwei Fragen. Erstens: Besteht überhaupt ein Konsens im Hinblick auf die Kriterien einer guten Pflege? Wenn keine Übereinstimmung bei den als grundlegend zu bewertenden (und zu überprüfenden) Qualitätskriterien erkennbar ist, dann ist letztlich der Einsatz von Ressourcen (Zeit, Personal, Geld) problematisch. Und zweitens: Liegt eine Vergleichbarkeit des Ist-Zustands der Pflege mit einem Maßstab »guter Pflege« im Sinne eines Referenzbereiches vor? Diese Frage ist deswegen bedeutsam, weil gute Pflege kein objektiv feststehender Wert ist, sondern sich nur in Relation zu einem Referenzbereich inhaltlich bestimmen und kritisieren lässt. Die Festlegung dieses Referenzbereichs setzt wissenschaftliche Befunde, aber auch einen Konsens der involvierten Interessengruppen, voraus.

Nach Skizzierung und kritischer Einschätzung von vier grundlegenden Arbeiten zu den Qualitätsindikatoren kommt der Beitrag zu folgender Einschätzung: »Die von mir zu Beginn aufgeworfene Frage, ob Kriterien vorliegen, die einen Qualitätsvergleich zwischen Ist-Zustand und guter Pflege ermöglichen, kann gegenwärtig nicht eindeutig mit ja oder nein beantwortet werden. Es existieren zwar einige ›Kandidaten‹, wobei insbesondere die klinischen Indikatoren am häufigsten untersucht worden sind. Ein Konsens über die Inhalte und eine Klarheit der methodischen Erfassung der zentralen Indikatoren der Pflegequalität ist in Deutschland (noch) nicht gegeben, auch international gibt es keine Einigung.« Die Konsequenz für Brandenburg ist eindeutig: Bei der Debatte um Qualitätsindikatoren und gute Pflege müssen erstens verschiedene Perspektiven integriert werden (Betroffene/Angehörige, Kostenträger, Praktiker, Experten), zweitens mehrere Merkmale guter Pflege Beachtung finden (von fachlich-klinischen Aspekten bis hin zur Teilhabe und Selbstbestimmung) und drittens geeignete finanzielle, organisatorische und rechtliche Rahmenbedingungen garantiert werden. Letztlich ist die Frage nach der guten Pflege (nicht nur alter Menschen) eine gesellschaftspolitische Frage, an der sich der Stellenwert der Langzeitpflege erkennen lässt.

Vor dem Hintergrund der Knappheit und Kostenintensität medizinischer Güter beschäftigt sich der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff mit der Frage, wie eine Allokation im Gesundheitswesen aus ethischer Sicht begründbar ist.

Drei Kriterien sind aus Sicht von Schockenhoff bedeutsam, um eine Begrenzung von medizinischen Leistungen zu legitimieren. Erstens muss die Transparenz auf der Grundlage zuvor festgelegter Kriterien thematisiert werden. Hieraus folgt, dass eine implizite und verdeckte Rationierung nicht verantwortbar ist. Zweitens muss bei Leistungsausgliederung bestimmter medizinischer Maßnahmen die Möglichkeit bestehen, nichterstattungsfähige Leistungen über eine Privatversicherung zu finanzieren, auch um einen »Medizintourismus« ins Ausland zu verhindern, der darüber hinaus die Bessergestellten noch stärker bevorzugen würde. Drittens müssen Entscheidungen über Rationierungen auf der Ebene getroffen werden, wo sie anstehen. Sie dürfen nicht auf die unterste Ebene (Mikroebene der konkreten Entscheidung vor Ort) verlagert werden. Die Beachtung ökonomischer Effizienzgebote muss daher auf der Meso- und Makroebene (Verteilung der Ausgaben auf die verschiedenen Sektoren und Gesamtaufwand für die Gesundheitsausgaben in einer Gesellschaft) getroffen werden. Denn: Der Arzt darf sich zwar der Suche nach kostengünstigen Behandlungsmethoden nicht verschließen, allerdings gilt seine ärztliche Verantwortung primär dem Wohl und der Lebensqualität dem ihm anvertrauten Patienten. Ein Loyalitätskonflikt des Arztes ist daher häufige Konsequenz.

Als unverzichtbare ethische Rahmenbedingungen für Allokationsentscheidungen werden von Schockenhoff folgende »no-go-Prinzipien« formuliert: Erstens dürfen Rationierungsentscheidungen nicht auf der Grundlage von (errechneten oder vermuteten) Werten eines Individuums oder von Gruppen erfolgen, sondern nur nach medizinischen Kriterien. Zweitens sind einfache Rationierungsregeln (wie z. B. Alter, Geschlecht, Einkommen etc.) mit dem Gleichheits- und Gerechtigkeitsgrundsatz unvereinbar. Drittens kann die Intention einer Rationierung nicht die Belohnung oder Bestrafung von Menschen sein (etwa zur Erzwingung eines bestimmten Lebensstils). Der Sinn einer Allokation liegt vielmehr in der möglichst effizienten Nutzung knapper Ressourcen und muss darüber hinaus den Freiraum für die individuelle Lebensgestaltung wahren. Und viertens schließlich dürfen Rationierungsentscheidungen nicht von oben nach unten weitergeben werden, weil diese Praxis letztlich Ärzte und Pflegende daran hindert dem eigenen Ethos gemäß tätig zu werden.

Voraussetzend, dass in der Pflegewissenschaft Care-Konzepte vor allem durch ethische Debatten gekennzeichnet sind, setzt sich Susanne Kreutzer mit Care in historischer Perspektive auseinander. Sie fragt konkret nach dem Alltag und der Organisation evangelischer Krankenpflege. Die Konzeption und Transformation des evangelischen Liebesdienstes zeigt sie am Beispiel des Diakonnissenmutterhauses der Henriettenstiftung in Hannover im Zeitraum von 1950 bis 1980. Kreutzer stellt fest, dass im tradierten Selbstverständnis Care sowohl im Sinne der Sorge um den Anderen als auch der Sorge um sich selbst thematisiert wurde. Evangelische Krankenversorgung bestand als selbstständige und selbsttätige Tätigkeit und hatte eine ergänzende Funktion zu den Aufgaben des Arztes.

Kreutzer betont, dass das Konzept der Einheit von Leibes- und Seelenpflege einen persönlichen Kontakt zwischen Pflegenden und Patienten sowie ein hohes Maß zeitlicher Verfügbarkeit der Schwestern voraussetzte. Die Kontinuität der Patientenbetreuung sei eine wesentliche Voraussetzung gewesen, um eine Kompetenz zur Krankenbeobachtung zu erlernen. Kreutzer zeichnet das Bild der Krankenpflege als grundsätzlich unabhängig vom ärztlichen Entscheidungsmonopol. Noch bis Anfang der 1950er Jahre erklärten die gewerkschaftlich organisierten Schwestern mit großem Selbstbewusstsein: »Alle unsere Ärzte wissen, dass nicht die beste Medizin, nicht die Spritze wichtig ist, sondern der Kontakt.«

Care als Organisationsprinzip wurde durch Orientierung am Familienmodell realisiert. Es wurde von einer Stationsfamilie gesprochen, die von einer »Mutter der Station« mit organisatorischen Talenten geführt wurde. Obwohl die »tüchtigen Frauen« sehr wohl in ihren Briefen über die Anstrengungen im Pflegealltag berichten, verweisen die untersuchten Dokumente von Susanne Kreutzer auf nichts, dass mit heutigen Symptomen zu vergleichen wäre, die als Burnout gefasst werden. Allerdings lässt sich ein Konfliktpotenzial durch die faktischen Anstrengungen in der Pflege und das Verwiesensein von Schwestern und Betreuten nicht leugnen.

Einleitend in ihrem politisch-philosophischen Beitrag konstatiert die Politikwissenschaftlerin Jorma Heier: »Werden konkrete Zustände als nicht verantwortbar beurteilt, so entsteht die moralische Verpflichtung, diese in moralisch annehmbare zu transformieren.« Daher komme der Gerechtigkeit als Bezugskonzeption eine besondere Bedeutung in Prozessen zu, die sich um Transition bemühten. Zunächst nimmt Heier die Semantik der Gerechtigkeit unter die Lupe und führt hierzu die kritischen Überlegungen der Fürsorgeethiken sowie die der Anerkennungsansätze an. Sie betont, dass formale Gleichheit keine gleichberechtigte Anerkennung von unterschiedlichen Lebensentwürfen zu leisten vermag und eine formal garantierte Chancengleichheit nicht ausreichend sein kann, sondern gezielt durch positive Ungleichbehandlung befördert werden müsse. Die Autorin hinterfragt, inwiefern das Konzept der Gerechtigkeit transformativen Anliegen gerecht werden kann und schlägt in Anlehnung an den Restorative Justice Ansatz von Margaret Urban Walker und das Connection Model of Justice von Iris Marion Young eine Neubestimmung von Gerechtigkeitskonzeptionen zur Gestaltung von Transitionsprozessen vor. Gerechtigkeitsgestaltung und Verantwortungsübernahme von und zwischen Menschen ergeben sich demnach aus sozialen Beziehungen und gemeinsamen Entwicklungsprozessen. Innerhalb dieser Konzeption sind somit Gerechtigkeitsüberlegungen sowie um Gerechtigkeit ringende Praktiken nicht von solidarischem Handeln zu lösen. Vielmehr kann Solidarität hier als ein Ergebnis von gelungenen sozialen Beziehungen verstanden werden, die den Weg zu einer gerechten Praxis bedingen. Die Rezeption von Restorative Justice ist bisher in Deutschland weitestgehend ausgeblieben und Heier hat somit Neuland betreten. Der Beitrag stellt keinen Bezug zum Gesundheitswesen her. Stattdessen tritt er durch sein hohes theoretisches Potential hervor und regt an, Gerechtigkeitsfragen (auch) im Gesundheitswesen neu zu bedenken.

Die Medizinethiker Daniel Strech und Georg Marckmann rücken (ebenso wie der Beitrag von Schockenhoff) die Problematik einer ethisch verantwortbaren Rationierung im Gesundheitswesen ins Zentrum ihrer Überlegungen. Dabei geraten unterschiedliche Strategien im Umgang mit der Mittelknappheit in den Blick. Kosten-Nutzenbewertungen spielen eine wichtige Rolle. Diese können – so die Autoren – die Entscheidungsfindung bei der Vergabe von knappen Gesundheitsressourcen unterstützen und sowohl als Rationalisierungs- wie auch als Rationierungsinstrument dienen. Eine derartige Bewertung kann z.B. Informationen darüber liefern, ob ein medizinischer Outcome mit verschiedenen Verfahren unterschiedlich kostenintensiv ist. Weiterhin kann eine Kosten-Nutzen-Bewertung eingesetzt werden, um weniger Verfahren aus dem Leistungsumfang zu streichen, die im Vergleich zu alternativen Behandlungsmethoden ein zu schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen, obwohl der Patient einen Zusatznutzen von der Maßnahme erwarten könnte. In diesem Sinne können Kosten-Nutzen-Bewertungen als Rationierungsinstrumente eingesetzt werden, ihre Grenzen dürfen jedoch nicht übersehen werden.

Im Fazit fallen – nach Ansicht der Autoren – die negativen Auswirkungen für die einzelnen Patienten am geringsten aus, wenn die expliziten Rationierungen auf der Grundlage von evidenzbasierten Kosten-Nutzen-Einschätzungen erfolgen. Allerdings existiert gegenwärtig noch kein Goldstandard für die Methodik der Kosten-Nutzen-Bewertung. Es wird darüber hinaus angeregt, die Diskussionsbeiträge und Stellungnahmen zu dem öffentlich vorgetragenen Methodenvorschlag des IQWiG im Internet zu veröffentlichen. Die Rolle der Berufsverbände, Fachgesellschaften etc. ist noch nicht abschließend geklärt. Und schließlich wird kritisch darauf hingewiesen, dass Werturteile (etwa im Hinblick auf die Priorisierung bestimmter Entscheidungen) bislang viel zu wenig Beachtung gefunden haben.

Der Theologe Elmar Nass und die Kinderkrankenschwester Kristina Fretz setzen sich in ihrem Beitrag mit Gründen, Motiven und Praxis einer christlichen Ethik solidarischen Handelns auseinander. Die normative Ethik sucht zunächst nach (rationalen) Begründungen für ein solidarisches Handeln. Dieses ist aber ohne innere Haltung und Motivation undenkbar. Das Ethos kann als ein Leitfaden angesehen werden, welches den Menschen zu solidarischem Handeln motiviert. Schließlich muss sich die Ethik der Solidarität in der Praxis bewähren.

Ausgangspunkt ist die Diagnose einer »Krise der Solidarität«. Warum? Weil die Unantastbarkeit der Menschenwürde zunehmend in Frage gestellt wird, was zu einer Begründungskrise der Solidarität geführt habe. Zudem ist eine »Vergötzung von Markt und Technik« immer bedeutsamer geworden. Dies habe zu einer Tugendkrise geführt. Letztlich muss sich eine christlich verstandene Solidaritätsethik in der Konkurrenz zu radikal-liberalen Solidaritätskonzepten einerseits und kollektiv-sozialistischen Solidaritätskonzepten andererseits behaupten. Im Unterschied zu diesen Ansätzen folgt aus christlicher Sicht eine Solidarität absoluter Menschenwürde, die von Gott vorgegeben und daher objektiv wie universal gültig ist. Das göttliche Naturgesetz sieht den Mensch als ein von Gott gerufenes Wesen. Ein sozialer Zusammenhang ist dann gerecht, wenn es dem Menschen ermöglicht wird, seiner gottgegebenen Bestimmung gemäß leben zu können. Dies bezieht sich konkret auf die individuelle Freiheit (Kreativität, Fleiß, Ehrgeiz), Sozialnatur (Freundschaft, Partnerschaft, Familie) sowie (potentielle) Fähigkeiten und Fertigkeiten. »Ist dieses humane Ziel erreicht, ist der Mensch Person. Dann ist seine Menschenwürde realisiert«. Solidarität bedeutet, dass jeder subsidiär den Beitrag leistet, den er leisten kann. Es besteht eine »unbedingte juristische Menschenpflicht« zur Befähigung jedes Individuums, eigenverantwortlich den ihm möglichen Grad an Personalität zu verwirklichen. Und dies gilt aus christlicher Sicht auch für Ungeborene, behinderte oder dementiell erkrankte Menschen. Im Unterschied zu einer rein am Vernunftgesetz ausgerichteten Solidarität absoluter Menschenwürde, dessen kategorischer Imperativ nicht auf transzendentaler Erkenntnis beruht und damit die absolute Menschenwürde »nur« postuliert, versteht sich die normative Ethik christlicher Solidarität personal. »Denn die Idee der Personalität begründet stimmig eine unantastbare Würde und deshalb unbedingt geschuldete Solidarität«.

Der Beitrag schließt mit Anmerkungen aus der Pflegepraxis, welche die Notwendigkeit einer Solidarität einer unbedingten Wertschätzung des Menschen, auch angesichts der harten Realität des Pflegealltags, betont. Zeitliche und atmosphärische Spielräume für solidarisches Handeln werden eingefordert und damit die Hinwendung des Menschen zum Menschen und nicht dessen Betrachtung als Sache.

Teil 3: Empirische Erkenntnisse

Zu Beginn des Abschnitts über empirische Studien, die sich um Gerechtigkeitsfragen zentrieren, steht eine Arbeit von Maria Schubert und ihren Kollegen. Sie thematisieren Auswirkungen von Rationierungseffekten in den Krankenhäusern der Schweiz. Hintergrund sind Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen, die sich in einer Reduzierung von Pflegepersonal in den Krankenhäusern niederschlagen. Eine Folge dieser Entwicklung besteht darin, dass aufgrund mangelnder Ressourcen Pflegende nicht mehr alle notwendigen Maßnahmen bei Patienten durchführen (können) und damit gezwungen sind, implizit zu rationieren.

Die Ergebnisse der Rationing of Nursing Care in Switzerland Study (RICH Nursing Study) weisen eindeutig auf die negativen Auswirkungen von Rationierungseffekten in der Pflege hin – mit erheblichen Konsequenzen für die Patienten. Bereits ein sehr geringes Rationierungsniveau wirkt sich nachteilig auf Patientenergebnisse aus. Ein Anstieg des Rationierungsniveaus um 0.5 Einheiten war mit einem mäßigen bis hohen Anstieg von berichteten Medikamentenfehlern, Stürzen, nosokomialen Infektionen, kritischen Zwischenfällen und Dekubitualulzera verbunden. Ebenfalls war die Zunahme des Rationierungsniveaus signifikant, wenn auch nur marginal, mit der Abnahme der Patientenzufriedenheit assoziiert. Wie komplex sich die Zusammenhänge darstellen, zeigt beispielsweise der irritierende Befund, dass in jenen Spitälern mit einem höheren Rationierungsniveau die Arbeitsumgebung insgesamt positiver eingeschätzt wurde.

Welche Konsequenz ergibt sich aus den Resultaten dieser großen empirischen Studie nach Angaben der Autoren? Eine ist sicher darin zu sehen, dass Pflegende vor der impliziten Rationierung alle anderen Alternativen ausschöpfen (sollen), etwa die Verlängerung des Zeitabstandes zwischen den Maßnahmen, eine Durchführung der Maßnahmen im reduzierten Umfang oder Qualität oder die Delegation der Maßnahme. Die Rationierung muss damit als letzte in Frage kommende Möglichkeit angesehen werden, denn die Versorgungssituation ist insgesamt bereits angespannt und z.T. prekär. Auf der Grundlage der ermittelten Rationierungsgrenzwerte sind darüber hinaus eine Beobachtung möglich und Interventionen bei Überschreitung von kritischen Grenzwerten angezeigt. Schließlich wird insgesamt im Magnethospitalansatz eine Möglichkeit gesehen, interdisziplinäre Initiativen zu verstärken und die Frage nach dem »guten Krankenhaus« mit hoher Arbeitsumgebungsqualität und besseren Ergebnissen für Patienten und Pflegende in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken.

Albert Brühl setzt sich in seinem Beitrag mit Vergütungssystemen beziehungsintensiver Dienstleistungen auseinander. Seine These lautet, dass fallbezogene Vergütungssysteme mit empirisch gehaltvoll prüfbaren Gütekriterien bedarfsgerechter sind als Systeme, die sich auf Einzelleistungen mit normativ gesetzten Zeitwerten beziehen. Die zuletzt genannten Systeme, so seine Kritik, werden entweder normativ gesetzt und stellen keinerlei Bezug zu den Leistungen her – beispielsweise die Vergütungspauschale für Berufsbetreuer, bei der es unerheblich ist, ob der Klient zu Hause oder in einer Einrichtung lebt – oder definieren von vornherein eine ungerechte Zuordnung von Minutenwerten zu Leistungskomplexen, die nicht weiter erklärt werden (Beispiel: Leistungskomplexe der Pflegeversicherung). Aus Sicht von Brühl kommt als Vergütungssystem nur eine dritte Ebene von Instrumenten in Frage, die empirisch und mit Fallbezug aufgebaut ist (Beispiel: Diagnosis Related Groups). Am Beispiel des neuen Begutachtungsinstruments für Pflegebedürftigkeit (NBA) werden einige Problemfelder aufgezeigt. Brühl konstatiert, dass es sich hier um einen empirischen Ansatz handelt, der jedoch durch normative Setzungen behindert wird. So werden die für einzelne Subskalen ermittelten extrem niedrigen Inter-Rater-Reliabilitäten für passabel erklärt. Weiterhin wird nicht untersucht, »ob die zur Unterscheidung verschiedener Stufen von Pflegebedürftigkeit gebildeten Summenwerte überhaupt sinnvoll gebildet werden können.« Schließlich sei auch die Unterscheidung nach fünf Stufen beim NBA eine politisch und nicht wissenschaftlich begründete Ableitung.

In der Konsequenz wird vom Autor postuliert, dass für die Pflegewissenschaft eine Chance verpasst wurde: »Da, wo die Medizin durchaus in der Lage ist, ein empirisches fallbezogenes System zu entwickeln, begnügt sich die Pflegewissenschaft auch bei grundsätzlich empirisch gehaltvollen Systemen mit normativen Setzungen und liefert sich so wieder den wechselnden Stimmungen in der Politik vollkommen aus, ohne die Gelegenheit zu nutzen, Pflegebedürftigkeit gehaltvoll zu messen.«

Katharina Gröning nimmt das Thema Gerechtigkeit und familiale Pflege aus einer Geschlechterperspektive unter die Lupe. Gröning distanziert sich von drei gängigen Meinungen und wissenschaftlichen Annahmen: erstens stellt sie einen Expertendiskurs in Frage, der häusliche Pflege vor allem als ein Resultat sozialnormativer Einstellungen sieht und eine traditionelle Verpflichtung zur Pflege in der Familie festschreibt. Zweitens akzeptiert sie nicht die im Diskurs anhaltende pessimistische Haltung gegenüber der Pflege von Angehörigen. Schließlich negiert sie die Annahme, dass sich der demografische und soziale Wandel krisenhaft miteinander verbinden. Diesen kritischen Standpunkt gewinnt sie auf der Basis einer Synthese und Feinanalyse vorliegender Studien zur Situation und Zukunft häuslicher Pflege. Sie folgert, dass Studien zur Zukunft der häuslichen Pflege Erkenntnisse zur Familiendynamik, Verwandtschaftsdynamik sowie Geschlechterverhältnisse einschließen sollten. Studien mit ihren Kollegen (Gröning et al. 2004) zeigten, dass in den untersuchten Familien durchgängig »eine die pflegenden Frauen isolierende und polarisierende Familiendynamik« vorliegt. Obwohl die Pflege familial akzeptiert schien, habe sich die Verantwortung bald auf eine einzelne, weibliche Pflegeperson zugespitzt.

Katharina Planer geht der Frage nach, wer beim Heimeinzug alter pflegebedürftiger Menschen die Entscheidung trifft und welche Gerechtigkeits- und Solidaritätsaspekte betroffen sind. Planer ordnet die Problematik von vornherein in einen systemischen Ansatz ein, der vor allem das Pflegesetting, die Familiensituation und die pflegeversicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen beachtet.

Im Ergebnis zeigt die international orientierte Literaturstudie, dass der Heimeinzug nicht als isolierte Einzelentscheidung anzusehen ist, sondern in Abhängigkeit von der Familiensituation getroffen wird. Dabei ist die Entscheidungsfreiheit der Betroffenen von grundlegender Bedeutung. Verfügen Angehörige über entsprechende Ressourcen und sind sie bereit, die Bedürfnisse des Pflegebedürftigen zu befriedigen, dann ist es auch möglich (und gerecht) dass der Pflegebedürftige zu Hause durch die Familie und das entsprechende Netzwerk versorgt wird. Bei fehlenden Ressourcen ist die Gesellschaft verpflichtet, im Sinne des Subsidiaritätsprinzips Familien zu befähigen, auch tatsächlich den Entscheidungsprozess gerecht gestalten zu können.

Die Schlussfolgerungen von Planer beziehen sich auf konkrete Verbesserungen der Entscheidungssituation. Zunächst einmal sollte der Aspekt der Lebensführung stärker ins Zentrum gerückt werden. Und zwar deswegen, weil in der Regel bei Entscheidungen die Logik der Übergänge zwischen verschiedenen Versorgungssettings (Krankenhaus, Rehabilitation, ambulante Versorgung, Heim) dominant sind. Vorrangig sind die professionellen Versorgungslogiken, weniger die umfassende Berücksichtigung lebensweltlicher Merkmale. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Heimeinweisung häufig akut und unter Druck getroffen wird. In der Regel ist sie unumkehrbar, mittel- und langfristige Perspektiven (etwa die Rückkehr in die eigene Häuslichkeit) werden ignoriert bzw. aufgrund »vollendeter Tatsachen« (z. B. Wohnungsauflösung) praktisch unrealisierbar. Aus diesem Grunde plädiert Planer eindrücklich für Moderationsangebote für das Familiensystem, bei denen die Perspektive der Betroffenen (im Sinne ihrer Selbstbestimmung) ins Zentrum gerückt wird.

Manfred Borutta und Ruth Ketzerbzw.