Vorwort

Als ich im Mai 1961 an der Kirchlichen Hochschule Bethel mit dem Theologiestudium begann, war die Debatte um die „neue Frage nach dem historischen Jesus“ in vollem Gange. Auf einer Tagung für Theologiestudenten nach meinem ersten Semester vernahm ich aus dem Mund schon fortgeschrittener Kommilitonen verwundert den ersten Satz aus Bultmanns „Theologie des Neuen Testaments“. Dieses Buch – wie auch seine „Geschichte der synoptischen Tradition“ – habe ich dann zwischen meinem zweiten und dritten Semester gelesen. Damit meinte ich, eine tragfähige theologische Position gefunden zu haben. Im Wintersemester 1962/63 hörte ich in Bonn eine Vorlesung über die Synoptiker von Erich Dinkler, die ausschließlich an der Frage der Vorgeschichte der Evangelientexte orientiert war. Als ein Studienfreund den Nachweis eines Textes als „Gemeindebildung“ mit dem Seufzer kommentierte, jetzt wäre uns wieder etwas genommen worden, antwortete ich, mir würden eher die Texte Probleme bereiten, die für „echt“ erklärt würden. Mit einem von Ernst Fuchs geprägten Hilfspastor in unserer Gemeinde diskutierte ich ausgiebig die theologische Berechtigung oder Fragwürdigkeit der Rückfrage nach Jesus. Diese Diskussion setzte ich intensiv mit Kommilitonen fort, als ich im Wintersemester 1963/64 in Tübingen Ernst Käsemanns Vorlesung über „Theologie des Neuen Testaments“ hörte, in der das Problem des „historischen“ Jesus eine wesentliche Rolle spielte.

In den 70er Jahren, nachdem ich inzwischen selbst zu lehren hatte, übernahm ich in dieser Frage Käsemanns Position und arbeitete während einer Lehrstuhlvertretung in Marburg im Sommersemester 1978 eine Jesus-Vorlesung aus. Als ich sie in Bochum im Wintersemester 1982/83 hielt, bekam ich Zweifel an der Stimmigkeit dieses Unternehmens. Ich habe die Vorlesung zunächst liegen gelassen, aber in meiner „Pax Romana“ (1986) doch noch ein Kapitel über Jesus geschrieben. Als ich mir etwas später Teile der Vorlesung wieder ansah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Jesus, den ich dort vorfand, hatte an der Studentenbewegung teilgenommen. Der große methodische Aufwand, den ich in der Bearbeitung der Texte betrieben hatte, um das zu gewinnen, was dem „historischen“ Jesus zugeschrieben werden kann, hatte mich nicht davor bewahrt, ihn für meine politischen Einsichten zu funktionalisieren. Seitdem war die Jesussuche für mich erledigt. Allerdings hatte schon in der Schlussdiskussion nach dem erstmaligen Vortrag der Vorlesung ein kluger Student die mich entlarvende Frage gestellt, ob ich denn, gesetzt den Fall, meine Jesusdarstellung würde sich, was er nicht annehme, als historisch falsch erweisen, daraufhin meine politische Meinung ändern würde. Damals war ich noch zu stolz auf die gerade vollbrachte Leistung, um sofort eine Revision vornehmen zu können.

Bei meiner ersten Lektüre des berühmten Vortrags von Martin Kähler: „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“ meinte ich, noch grundsätzliche Vorbehalte anmelden zu müssen. Sie sind bei weiterem Nachdenken ausgeräumt worden. Ernst Käsemann hatte 1953/54 geäußert, Kählers Vortrag habe „nach 60 Jahren an Aktualität noch kaum eingebüßt“ und sei „auch nicht wirklich widerlegt“, sich aber nicht auf ihn eingelassen. Ich denke, dass Käsemanns Urteil über Kähler, noch einmal 60 Jahre später, immer noch Gültigkeit hat. Alles Wesentliche ist von ihm in dieser Sache gesagt worden. Daran kann die neutestamentliche Wissenschaft nur zu ihrem eigenen Schaden vorbeigehen; sie hat das leider – aufs Ganze gesehen – getan. So dient dieses Buch nicht zuletzt auch der Erinnerung an Martin Kähler. Wenn ich während der Zeit, als sein Urenkel Christoph Kähler Landesbischof von Thüringen war, zu Besuch in Eisenach weilte, habe ich gerne unter der auf der Fensterbank stehenden Büste von Martin Kähler geschlafen.

Dieses Buch ist ein negatives Buch. Es versucht aufzuzeigen, dass die Suche nach dem „historischen“ Jesus zwar historisch grundsätzlich möglich, aber wenig ergiebig und dass sie in theologischer Hinsicht ein unmögliches Unternehmen ist. Es plädiert daher entschieden dafür, diese Suche nicht fortzusetzen. Ich halte es nicht für eine theologisch verantwortliche Aufgabe von Exegetinnen und Exegeten, sich die Texte, die sie auslegen, erst selbst herzustellen. Ein positives Gegenstück zu diesem negativen Buch wäre daher eine Darstellung Jesu, wie er in den Evangelien erscheint, eine Darstellung, die deren Viergestaltigkeit mit ihren Unterschieden, Spannungen und Gegensätzen ernst nimmt.

Wiederum gilt mein herzlicher Dank Herrn Florian Specker vom Verlag für die gute Zusammenarbeit, besonders für das Erstellen der Kolumnentitel und das Einrichten des Inhaltsverzeichnisses.

Bochum, im April 2013

Klaus Wengst

Einleitung

Im letzten Teil seines umfangreichen Buches über „Jesus und seine Zeit“ (2010) bezeichnet Wolfgang Stegemann die Rückfrage nach dem „historischen“ Jesus als „unvermeidlich relativ und relativ unvermeidlich“.1 Die erste Aussage – „unvermeidlich relativ“ – ist in jedem Fall zutreffend. Das zeigen die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung in jeder der drei Etappen, in die sie eingeteilt werden kann; sie sind aufs Ganze gesehen schlicht chaotisch. Die zweite Aussage – „relativ unvermeidlich“ – trifft nur auf Historiker zu. Für Theologen, wenn sie denn wirklich Theologen sind und bleiben wollen, besteht nicht der mindeste Zwang, sich auf diese Frage einzulassen. Sie können sie nicht nur vermeiden; sie sollten es auch. Dafür gibt es gute Gründe, die später zu betrachten sein werden. Dagegen gibt es keinen einzigen Grund, der das Verfolgen dieser Frage theologisch nahelegen könnte. Auch darauf wird noch einzugehen sein. Historikern ist es selbstverständlich unbenommen, sich auf diese Suche zu begeben. Wenn Jesus eine Gestalt der Geschichte war, die tatsächlich gelebt hat – und das zu bezweifeln, lässt sich nicht gut begründen –, muss es geboten erscheinen, mit den Mitteln historischer Wissenschaft nach ihm zu fragen wie nach jeder anderen Gestalt der Geschichte auch. Die Berechtigung einer solchen Fragestellung ist unter historischen Gesichtspunkten schlechterdings nicht anzuzweifeln. Wer aber dieser Frage nachgeht, muss zuerst Bescheid wissen über die Quellen seines Gegenstandes, vor allem über deren Relation zu diesem Gegenstand der intendierten historischen Untersuchung. Auch darüber wird ausführlich zu reden sein.

Der erste Teil dieser Untersuchung umfasst den Zeitraum „von Reimarus bis Käsemann“, also rund 200 Jahre, die Zeit der Leben-Jesu-Forschung und die Zeit der „neuen Frage nach dem historischen Jesus“ samt der Zeit dazwischen. Die Formulierung dieser Überschrift spielt natürlich auf den Titel der ersten Auflage von Albert Schweitzers berühmter „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ an: „Von Reimarus zu Wrede“. Der Unterschied ist weniger beträchtlich hinsichtlich der an zweiter Stelle genannten Person; der ist lediglich durch die andere Zeit bedingt. Er ist es jedoch sehr entschieden hinsichtlich der gebrauchten Präposition. Schweitzer war der Überzeugung, eine auf ein Ziel zulaufende Forschungsgeschichte schreiben zu können. Dabei war der Zielpunkt nicht der tatsächlich genannte William Wrede, sondern er selbst, Albert Schweitzer, mit seiner „eschatologischen Lösung“. Diese Sicht hat sich als nicht zutreffend erwiesen. Mir geht es mit der Angabe der beiden Personennamen nur um die Eingrenzung eines Zeitraums. Reimarus steht für den Beginn der Suche nach dem „historischen“ Jesus im deutschen Sprachraum, während Käsemann die „neue Frage nach dem historischen Jesus“ initiiert hat und zugleich als deren wichtigster Repräsentant gelten kann. Auch diese „neue Frage“ liegt inzwischen etwa ein halbes Jahrhundert zurück. Im Abstand lassen sich die Probleme klarer erkennen und gelassener betrachten; man gerät nicht sofort in die Hitze des Gefechts wie bei der Auseinandersetzung mit Zeitgenossen.

Da es, wie am Beispiel der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ Albert Schweitzers deutlich werden wird, keine Zielgerichtetheit in der Suche nach dem „historischen“ Jesus gibt, keinen „Fortschritt der Forschung“, ist es nicht meine Absicht, eine Forschungsgeschichte in diesem ersten Teil zu schreiben. Es könnte nur ein Chaos beschrieben werden, was freilich uferlos wäre. Ich greife deshalb aus diesem langen Zeitraum „von Reimarus bis Käsemann“ nur wenige Forscher heraus, um ihren Denkwegen in dieser Frage nachzugehen und die sich dabei zeigenden Probleme herauszustellen. Das lässt es zu, Ergebnisse zu formulieren und Folgerungen zu ziehen.

Auf diesem Hintergrund wende ich mich im zweiten Teil der noch gegenwärtigen „dritten Suche nach dem ‚historischen‘ Jesus“ zu unter der Frage, was es in ihr Neues gibt. Dabei gehe ich anders vor als im ersten Teil, indem ich nicht einzelne Personen, die sich ausführlich und prägnant zur Sache geäußert haben, je für sich darstelle, sondern ich bespreche ihre Beiträge – und wiederum sind es angesichts des wiederum entstandenen Chaos nur wenige – in sechs Abschnitten, die die Leitfrage nach dem Neuen gegenüber vorangegangenen Suchexpeditionen in weiteren Fragen entfalten.

1 W. Stegemann, Jesus, S. 421.

I. Von Reimarus bis Käsemann Blicke zurück auf rund 200 Jahre Suche nach dem „historischen“ Jesus

Ich setze ein mit Reimarus, der mit der Unterscheidung zwischen der „Lehre der Apostel“ und der „Lehre Jesu“ die Suche nach dem „historischen“ Jesus, bei ihm noch nicht so benannt, der Sache nach im deutschen Sprachraum eröffnete. Diese Suche ist bei ihm kein selbständiges Programm, sondern ergibt sich im Zusammenhang eines ebenso umfassenden wie fulminanten Angriffs auf die gesamte Bibel. Bereits an diesem ersten Versuch können die leitende Intention dieser Suche und ihre Perspektive deutlich werden, aber auch die Probleme, vor die sie sich gestellt sieht. An diesen Problemen hat sich im Grundsätzlichen nichts geändert und kann sich angesichts der Quellenlage – die vier kanonischen Evangelien sind die einzig relevanten Quellen – auch nichts ändern. Bevor weitere Forscherpersönlichkeiten mit ihren Beiträgen zur Sache dargestellt werden, geht es deshalb im zweiten Kapitel als einer theologischen Grundlegung darum, die Eigenart der Evangelien zu bedenken und ihr eigenes Recht herauszustellen. Sie zeichnen den irdischen Jesus, d.h. sie setzen es als selbstverständlich voraus, dass Jesus als jüdischer Mensch in seinem Volk gelebt und gewirkt hat. Aber dabei geht es ihnen nicht um das chronistische Verzeichnen von Fakten, sondern sie wollen zeigen, was Gott mit dieser Geschichte zu tun hat und wie er in ihr zur Wirkung kommt. Wer nach dem „historischen“ Jesus fragt und also die „tatsächlichen“ Fakten sucht, muss mit für dieses Unternehmen äußerst widerständigen Texten rechnen. Schon David Friedrich Strauß – er wird im dritten Kapitel besprochen – hat gezeigt, dass sich so mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr als „das einfache historische Gerüst des Lebens Jesu“ ergibt. Was darüber hinausgeht, sind Hypothesengebilde mit eher geringer Wahrscheinlichkeit. Wer nach dem „historischen“ Jesus fragt, verlässt vor allem die für die Evangelisten entscheidende Perspektive, die das Leben Jesu für sie theologisch relevant sein lässt. Die theologische Kritik an der Leben-Jesu-Forschung ist grundlegend von Martin Kähler geleistet worden. Er kommt im fünften Kapitel zu Wort. Zuvor wird im vierten Kapitel sein Hallenser Kollege und – in dieser Sache – Antipode Willibald Beyschlag vorgestellt, der meinte, David Friedrich Strauß historisch überwinden und damit den Wahrheitsbeweis für das Christentum wissenschaftlich führen zu können. Albert Schweitzer – das wird im sechsten Kapitel deutlich – war kein neutraler Berichterstatter, sondern ein höchst engagierter Mitstreiter in der Sache. Nur so konnte er auch meinen, das Chaos in der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung geordnet zu haben. Im siebten und achten Kapitel werden Bultmann und Käsemann dargestellt, der Lehrer und sein mit ihm nicht nur in der Frage des „historischen“ Jesus streitender Schüler. Jenseits des unmittelbaren Kampfgetümmels tritt deutlich hervor, dass sie mehr verbindet, als es scheint. Vor allem aber lässt sich an diesen späteren Beiträgen erkennen, dass neue Methoden an der Problemlage nichts ändern. Im abschließenden neunten Kapitel wird versucht, ein vorläufiges Fazit zu ziehen.

1. „Die wahre einfache und thätige Religion Jesu“ Jesus als Helfer der „vernünftigen Verehrer Gottes“ HERMANN SAMUEL REIMARUS (1694–1768)

a) Skizze seines Lebens und Wirkens

Für den deutschen Sprachraum wird die Suche nach dem „historischen“ Jesus üblicherweise mit Hermann Samuel Reimarus angesetzt.2 Er wuchs in einem Pfarrhaus in Hamburg auf und besuchte dort das Akademische Gymnasium, bevor er ab 1714, zunächst in Jena, Theologie, Philosophie und orientalische Sprachen studierte. Er sollte und wollte Pfarrer werden, orientierte sich aber während des Studiums um. Ab 1727 war er Professor für orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium seiner Heimatstadt.3

Reimarus wirkte als Aufklärer; seine Intention war die Verbindung von Religion und Vernunft. 1754 veröffentlichte er sein sehr erfolgreiches Werk: „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“, das gleich im folgenden Jahr eine zweite Auflage erlebte und von ihm selbst noch einmal 1766 in einer erweiterten dritten Auflage herausgegeben wurde. Auch nach seinem Tod wurde es bis 1791 noch weitere drei Male aufgelegt. In seinem „Vorbericht“ deutet Reimarus eine bestimmte Beziehung der natürlichen Religion zum Christentum an, wenn er schreibt: „Das Christenthum setzet die Wahrheiten der natürlichen Religion, von Gottes Daseyn, Eigenschaften, Schöpfung, Vorsehung, Absicht und Gesetze, von der Seele geistigem Wesen, Natur und Unsterblichkeit u. s. w. nicht allein voraus, sondern es leget dieselben auch zum Grunde, und flicht sie mit in das Lehrgebäude seiner Geheimnisse ein.“4 Gawlick, der Herausgeber der Neuausgabe der „vornehmsten Wahrheiten“ von 1985, meint in seiner Einleitung, Reimarus habe damit „den Eindruck erweckt, als betrachtete er die natürliche Religion nur als Vorstufe zu etwas Höherem“ (11), und so getan, als stünde er in der Tradition, die „in einem ersten Schritt vernünftige Annahmen über Gott und die Welt entwickelte, um danach in einem zweiten Schritt zu den eigentlichen Glaubenswahrheiten des Christentums aufzusteigen“ (11f.). Es trifft gewiss zu, dass Reimarus verschwiegen hat, was er wirklich über das Christentum denkt. Aber er hat sich bei seiner Formulierung auch nicht verbogen, wenn er „die Wahrheiten der natürlichen Religion“ als Grundlage des Christentums bezeichnet und nebulos sagt, es flechte sie „mit in das Lehrgebäude seiner Geheimnisse“ ein, und hinsichtlich dieser Geheimnisse auch nicht die Spur einer positiven Wertung andeutet.5

Ein paar Seiten weiter im „Vorbericht“ schreibt er: „Man setze, daß einer in einer Kirche erzogen worden, worinn das Wesentliche der Religion durch vielen Tand und Aberglauben ersticket wird. Er fängt bey heranwachsendem Alter an zu denken, und diese Thorheiten einzusehen; er gerät an Gesellschaften und Bücher, die ihn darinn bestätigen. Was folget daraus? Er bekömmt eine Verachtung und einen innern Haß gegen seine Religion; und weil er keine andere hat, als die abergläubische, und von keiner andern weis, so verwirft er alle Religion ohne Unterschied“ (59). Er setzt hier einen hypothetischen Fall, über dessen Gegebenheit er sich nicht weiter auslässt. Aber genau dieser Fall ist weithin seine eigene Erfahrung,6 aus der er als tiefe Überzeugung gewonnen hat, dass „das Wesentliche der Religion“ die vernünftigen Wahrheiten der natürlichen Religion sind und dass das Christentum – und auch das Judentum –, sofern sie darüber hinausgehen, nichts als „Tand und Aberglauben“ sind.

Die Destruktion von Christentum und Judentum als „Tand und Aberglauben“ unternimmt er in seinem großen Werk: „Apologie oder Schutzschrifft für die vernünftigen Verehrer Gottes“. An dieser Schrift hat er über 30 Jahre lang, von 1736 bis kurz vor seinem Tod, heimlich gearbeitet. Er brachte sie nicht zur Veröffentlichung – aus berechtigter Furcht, dadurch seine berufliche Stellung und bürgerliche Existenz zu verlieren.7 Nur nahen Freunden gab er jeweilige Fassungen zum Lesen. In seinen beiden letzten Lebensjahren schrieb er in einer klaren und schönen Handschrift die endgültige Fassung nieder.8 Sie erschien erst im Jahr 1972 im Druck. Nach seinem Tod erhielt Lessing Kenntnis von dessen Werk und veröffentlichte zwischen 1774 und 1778 aus einer „Handschrift, die […] ein erheblich früheres Stadium des Werkes wieder(gibt)“,9 sieben Fragmente eines „Ungenannten“. Die Gesamtschrift ergibt ein deutlich anderes Bild, als es die von Lessing herausgegebenen Fragmente vermitteln. Das gilt gerade auch im Blick auf die Frage nach Jesus. Es erscheint deshalb als angemessen, diese Schrift im Ganzen in ihren wesentlichen Intentionen und Aspekten darzustellen. Dabei werden grundsätzliche Probleme deutlich, die auch die weitere Suche nach Jesus bis in die Gegenwart begleiten.

b) Die Intention der „Apologie“

In seinem ausführlichen „Vorbericht“ gibt Reimarus als erste Intention seiner Schrift an, dass er sie lediglich für die „eigene Gemühts-Beruhigung“ verfasst habe. Sie möge „im Verborgenen, zum Gebrauch verständiger Freunde liegen bleiben; mit meinem Willen soll sie nicht durch den Druck gemein gemacht werden, bevor sich die Zeiten mehr aufklären“ (I 41). Die Zeit dafür sei noch nicht reif, „da solches ohne des Pöbels Ungestühm, und ohne Verwirrung in dem Staat und der Kirche abgehen könnte“ (I 56). Er hofft aber auf eine nicht mehr ferne Zeit, „daß die Welt eine Verschiedenheit der Meynungen mit mehrer Sanftmuht duldet“ (I 57). „Eine Scheydung beider Heerden, und eine völlige Freyheit, daß ein jeder seinem Gott nach seiner Erkenntniß, nach dem Glauben oder nach bloßer Vernunft, ungehindert und öffentlich dienen könne“, hält er für „das allereintzigste Mittel“, das für alle hilfreich wäre (I 58).10 Im Blick auf den Gebrauch seiner Schrift in dieser „Zeit der öffentlichen Trennung“, in der es immer noch „schwartze Beschuldigungen“ geben werde, nennt Reimarus sie „eine Apologie oder Schutzschrifft für die vernünftige Verehrer Gottes“ (I 59). Er ist sich seiner Leistung bewusst, für diese Verehrer sei ihre „Rechtfertigung hier schon mit der benöhtigten Überlegung, und Kenntniß von Sprachen und Sachen, so vorgearbeitet, als noch bisher von niemanden geschehen ist“ (I 60).

So unternimmt er es zunächst für sich selbst und Freunde, aus den eigenen entstandenen Zweifeln heraus „den Glauben, welcher mir so manche Anstöße gemacht hatte, von Grund aus zu untersuchen, ob er mit den Regeln der Wahrheit bestehen könne oder nicht“ (I 41). Bei dieser „mit einer gleichgültigen Wahrheits-Liebe“ (I 53) durchgeführten Untersuchung zeigt es sich, dass er nicht bestehen kann; und so wird schonungslos destruiert, „was uns sowohl in der Bibel selbst, und denen darin aufgeführten Personen, Reden und Thaten, als in dem daraus erbauten Glaubens-System, wiedersprechend, anstößig und ärgerlich vorgekommen ist“ (I 61).11 Diese Destruktion fällt so heftig aus, dass er bei späterer Veröffentlichung den Einwand erwartet: „Wie könnt ihr das eine Apologie oder Schutzschrifft heissen, was eigentlich in den heftigsten Anfällen auf die Jüdische und Christliche Religion besteht? Celsus und Porphyrius haben es ja vorzeiten nicht ärger machen können“ (I 60f.).12 Er begründet diese Heftigkeit mit seiner Existenz „in Statu passionis“ durch den noch bestehenden „angedrungenen Glaubens-Zwang“ (I 61) und vergleicht sein Unternehmen mit dem der frühchristlichen Apologeten (I 62).

Reimarus intendiert „eine allgemeine Religion für das gantze menschliche Geschlecht“. Eine solche „aus dem Christenthum zu machen“, müssten „die Herrn Theologi“ unternehmen (I 171). Er spricht sich entschieden dagegen aus, „alle, die anders denken, mit Gewalt und Zwangsmittel zum Beyfall und zum Glauben zu nöhtigen“, und formuliert positiv: „Wir müssen einander durch die Vernunft, welche allen Menschen und Völkern gemein ist, zu überführen suchen, und wo das nicht helffen will, einer des andern Schwachheit ertragen, und wegen der Verschiedenheit unsrer Meynungen von dem verborgenen unendlichen Wesen nicht aufhören, als Menschen, menschlich und gesellig mit einander zu leben“ (I 178). Für diese Sicht gilt Reimarus aller Respekt.13

c) Kriterien für die Prüfung positiver Religionen

Dass die Prüfung der ihm von Kindheit an eingepflanzten Religion als deren Destruktion ausfällt, ergibt sich nicht zuletzt aus ihrem angelegten Hauptkriterium, das Reimarus klar benennt: „Eine vernünftige Religion muß vor allen Dingen in jeder sogenannten Offenbarung der Grund- und Prüfe-Stein werden, als welche gewiß durch die Natur von Gott abstammet“ (I 54). Damit sind „andere unwiedersprechliche Wahrheiten“ verbunden, „besonders die unendliche Vollkommenheiten Gottes, seine Weißheit, Vorsehung, Güte und Allmacht, seine ewige Regeln des Natur- und Sittengesetzes“. Wenn etwas dem widerspricht, „so mag auch ein Engel vom Himmel der Prediger eines solchen Evangelii seyn, wir können ihm dennoch unmöglich glauben“ (I 55).14

Reimarus setzt den Fall, „wenn es Gott gefallen hätte eine übernatürliche und seligmachende Offenbarung durch gewisse Mittelspersonen oder göttliche Boten an das menschliche Geschlecht zu bringen“, und folgert daraus: „so würde er solche dazu ausersehen, welche selbst den Endzweck hätten die ihnen offenbarte Religion allen Menschen so viel möglich kund zu machen und unter ihnen zu befördern“ (I 184).15 Ein solcher „Endzweck“ wäre aber nur mit einer vernünftigen Religion zu erreichen. Ihm dürfen die Boten auch „durch ihre Reden und Handlungen“, durch ethisches Fehlverhalten, nicht widersprechen (I 192), etwa dem von Reimarus oft genannten „Natur- und Völkerrecht“ nicht zuwiderhandeln. Sofern sie das dennoch tun, ist das von ihnen als Offenbarung Ausgegebene als „ein Betrug oder grober Irrthum“ zu werten (ebd.).

Ein weiteres wichtiges negatives Kriterium ist, dass „eine vorgegebene Offenbarung etwas enthält, das sich selbst klar und deutlich wiederspricht“ (I 54). Das gilt insbesondere für die Erzählung von Wundern. Für sie trifft nicht nur zu: „Der Schreiber kann mir keine positive Beweise der Wahrheit seiner Factorum geben“ (I 190). Reimarus meint, auch „den äussern und innern Wiederspruch einiger Wunder aus der Erzehlung selbst gantz klärlich“ erweisen zu können (I 191), wobei er sich ausschließlich auf die Ebene der Fakten bezieht. Darauf wird bei Besprechung der Evangelien näher einzugehen sein.

Von seinem Ansatz und seinen Kriterien her kann er schon vor der ausführlichen Besprechung nur vom Anreißen der ersten Kapitel der Bibel her feststellen, es habe „wohl der Geschichtschreiber selbst, geschweige die Helden, welche er aufführt, nicht einmal einen Begriff von der Seligkeit und seligmachenden Religion, oder von einer wahren Tugend und Frömmigkeit gehabt; weil keine Spuhr von der Seelen Unsterblichkeit und einem künftigen Leben in der gantzen Geschichte vorhanden ist, und weil er denen, welche Männer Gottes gewesen seyn sollen, viele schändliche Handlungen, als ob sie wohl und göttlich gethan wären, beylegt“ (I 193).

d) Kritik des Alten Testaments

Die Letztfassung seiner Apologie hat Reimarus als einen kritischen Durchgang durch die gesamte Bibel angelegt. So bespricht er im umfangreicheren ersten Teil das Alte Testament hinsichtlich der in ihm erzählten Geschichte und hinsichtlich der in ihm enthaltenen Lehren. Er findet an ihm kaum ein gutes Haar; und was an Gutem da ist, kommt woanders her: „Die Lehre von der Einheit Gottes, und dessen Anbetung ohne Bilder, welche Moses aus der geheimen Weißheit der Egyptischen Priester mitgebracht hatte, aber ohne vernünftige Gründe bloß als ein Gebot vortrug, hatte bey den Israeliten nicht eher Eingang, als bis sie in der Gefangenschaft mit vernünftigen Heyden umgegangen waren. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seelen und von den Belohnungen und Strafen nach diesem Leben haben die Juden nicht einmal von Mose und den Propheten empfangen, sondern von den Weltweisen der Heyden […] angenommen“ (I 112f.). Durch den eitlen „Tand Levitischer Cerimonien“ habe Mose „das Wesentliche der Religion gantz überschwemmt und verstellt“ (I 113), also auch die guten ethischen Forderungen.16 Aus der vernichtenden Kritik am Alten Testament sei nur Weniges hervorgehoben. Mose gilt als ein Trickbetrüger, der „das Volk glauben machte, alle seine Anschläge und Befehle kämen unmittelbar von Gott“, und der sich zudem „durch Mord und Blutvergiessen“ durchsetzte (I 283).17 Als das Volk gemäß Ex 17,1–6 nach Wasser schreit, konnte Mose „bald Raht schaffen“, da er die Gegend von seiner früheren Hirtentätigkeit her kannte „und dem Volke einen Bach anwies, der auf einer Seite aus dem felsigten Berge entsprung und der ihnen nicht sogleich in die Augen gefallen war. Aber, da er Wunder machen wollte: so muste das mit Ceremonie geschehen; als ob er den Bach jetzt erst durch das Schlagen seines Stabes hervorbrächte“ (I 355). Die Erzählung vom goldenen Kalb deutet Reimarus als einen Konflikt zwischen Mose und Aaron, der zu einem Kompromiss zwischen ihnen in der Machtaufteilung führte. Aaron erpresste Mose, zahlreiche Gesetze zu erlassen, die für die Priester vorteilhaft waren (I 390), „diese fetten und faulen Bäuche“ (I 393). Die mitziehende Wolken- und Feuersäule wird auf natürliche Weise erklärt (I 425ff.). Es handle sich um ein Feuer, „welches die Kunst der Priester, bey den Opfern, zum Betruge des abergläubischen Pöbels anzuwenden pflegte“ (I 437f.).

Besonders negativ wird David dargestellt: „Man müste sich wundern, daß David bey dieser Lebensart so häuffige Psalmen gemacht habe, wenn wir nicht aus vielen andern Beyspielen wüsten, daß oft solche Menschen die ärgsten Bösewichter sind, welche am eifrichsten singen und beten; und wenn wir nicht in eben diesen Psalmen Davids allenthalben den Geist einer unersättlichen Rache, Verwünschung und Grausamkeit wieder seine Feinde, d. i. wieder den König und sein Haus, erblickten“ (I 568). „Tyrannen von diesem Charakter kommen so weit, daß sie sich nicht scheuen den offenbarsten Boßheiten einerley Anstrich gottesfürchtiger Bewegungsgründe zu geben“ (I 607). In dessen Person komme „der heßlichste Carakter zum Vorschein, den jemals ein böser Regent, Usurpatör, Tyrann und Wüterich bey einem heuchlerischen Schein in seinem Hertzen geführt haben mag“ (I 612).

An mehreren Stellen gibt Reimarus zusammenfassende Urteile über das Alte Testament ab, die an Eindeutigkeit und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen: „Summa, es ist keine Sprache und kein Buch auf der Welt, worin der Name Gottes so sehr gemißbrauchet würde, als die theocratische Sprache, und die Bücher der Hebräer. Nichts ist so himmelweit von der eigentlichen Beschaffenheit der Dinge selbst entfernet, als die Red- und Schreibart der Bibel A. T.“ (I 445) „Summa, in der gantzen Reihe dieser Geschichte findet man weder Ertzväter, Richter und Könige, noch Priester und Propheten, deren eigentlicher und ernstlicher Zweck gewesen sey, ein wahres Erkenntniß Gottes, Tugend und Frömmigkeit unter [den] Menschen auszubreiten; geschweige, daß man eine eintzige große, edelmühtige und gemeinnützliche Handlung darin antreffen sollte. Sie besteht in einem Gewebe von lauter Thorheiten, Schandthaten, Betrügereyen, Grausamkeiten, davon hauptsächlich der Eigennutz und die Herrschsucht die Triebfedern waren […] Bey solchen ipso facto abscheulichen Handlungen, ist folglich alles Vorgeben von übernatürlichen Erscheinungen Gottes und der Engel, von Offenbarungen und Befehlen des Herrn, von Wahrsagungen und Wundern, von der unmittelbaren Regierung des Höchsten unter dem Israelitischen Volk, ein bloßes Blendwerk, Betrug, und Mißbrauch des göttlichen Namens“ (I 678.679). „Es ist bisher aus dem Inhalt aller Bücher, welche die Juden für eine übernatürliche Offenbarung Gottes ausgeben, gezeigt worden, daß darin nur schlechte Begriffe von Gott, seinen Eigenschaften, seinen Erscheinungen, seinen Wundern, seinen Geboten und Satzungen, und von seiner gantzen Haushaltung in dem Geschlechte Israels gegeben sind; ungeachtet hier, nach dem Vorgeben, alles ausserordentlich und unmittelbar göttlich seyn sollte. Wenn man auch alle Stellen des A. T. welche zu einem gesunden System der theoretischen und praktischen Theologie, nach der besten Deutung, zu ziehen sind, zusammen sammlet: so liegt doch nichts als ein natürliches Erkenntniß Gottes darin, das durch tausend unanständige Vorstellungen, und besonders durch den ungeheuren Wust unnützer Cerimonien, verdunkelt und verstellt ist“ (I 721).

e) Ausfälle gegen das Judentum

Wer so über das Alte Testament urteilt, von dem ist auch keine positive Einschätzung des Judentums zu erwarten. Dabei muss es als fast selbstverständlich gelten, dass Reimarus die traditionell christliche negative Sicht der Pharisäer teilt. Nach ihm verkehrten sie „das thätige Wesen der Verehrung Gottes und der Liebe des Nächsten in eine betrügliche Werkheiligkeit der äusserlichen Gebräuche, dabey sie die großen Pflichten versäumten und allerley Boßheiten ausübten“ (II 14). Außer diesem mehrfach erhobenen Vorwurf heuchlerischer Scheinheiligkeit und fehlender Nächstenliebe (II 28.35.36.155) bezichtigt er sie, sie hätten „eine allegorische Erklärungsart (erfunden), nebst den Traditionen, dadurch sie alles aus allem herauszubringen wusten“ (I 807; ähnlich I 726).

Dieses negative Urteil über die Pharisäer weitet Reimarus auf das Judentum insgesamt aus, nicht nur auf das antike. Dabei finden sich auch Aussagen, die man nicht anders als antisemitisch bezeichnen kann. Im Anschluss an das im vorigen Absatz zuerst gebrachte Zitat hatte er, nachdem vorher schon die Sadduzäer als Epikuräer charakterisiert worden waren, gefolgert: „Mit einem Worte, die Jüdische Religion war im Grunde verdorben“ (II 14). Schon lange vorher hatte er im Blick auf die Gegenwart von „der so sehr verdorbenen Jüdischen (Religion)“ gesprochen (I 63). Unter dem Stichwort „Aberglauben“ kann er Heidentum und Judentum nebeneinander stellen (I 151). Nach ihm gilt, dass „noch bis auf den heutigen Tag das Gesetze Mosis, und dessen peinliche Beobachtung bey den Juden, die wahre und eintzige Ursache ihres Verfalls und alles bisher fortdaurenden Elendes der armen Leute bleibt, und ferner bleiben wird“ (I 475). Er zeigt Unverständnis gegenüber der Aussage von der Erwählung: „Ich konnte es schwerlich zusammenreimen, daß Gott ein so halsstarrig verkehrtes Volk, aus so vielen weiseren und lenksameren Völkern, zu seinem Eigenthum und Liebling sollte erwehlet haben“ (I 51). Die „stoltze Meynung der Juden, daß sie ein auserwehltes Volk Gottes wären“, ist bloßes „Jüdisches Vorgeben“ (I 264; vgl. 347).

Bestimmte von ihm negativ gedeutete Phänomene des Alten Testaments lässt Reimarus typisch für das jüdische Volk bis in seine Gegenwart sein. Das in Dtn 18,22 genannte Merkmal eines echten Propheten wüssten „die Juden […] umzukehren, nämlich nach ihrer Weise, durch Betrug: denn sie sind alle ächte Söhne der Rebecca“. Diese – „auf Arglist, Verstellung und Betrug bedacht“ – verschaffte Jakob den Segen seines Vaters. „Aber den Hebräern ist alles gerecht und göttlich, was zu ihrem Vortheil ist“ (I 251). Der in Ägypten zu großer Macht aufgestiegene Josef wird als ärgster „Schinder und Korn-Jude“ bezeichnet (I 261; in Variation I 674 wiederholt). Die dem Volk Israel nach Ex 1 in Ägypten aufgezwungene Sklavenarbeit wird von Reimarus als Maßnahme der ägyptischen Könige gedeutet, „dem müssigen Volke, damit es keine Unruhen anfangen sollte, Arbeit und Verdienst anzuweisen […] Aber saure Arbeit stand den würdigen Vätern der jetzigen Juden gar nicht an“ (I 327f.). Die Reinheitsvorschriften „dringen bloß auf eine Reinlichkeit, die in der Einbildung besteht, und dabey ein Jude dennoch, auch äusserlich, ein Schwein und wahrer Schmutzhammel seyn konnte“ (I 408). Reimarus bezeichnet die Israeliten als „die sklavische feige Nation“ (I 329); nach ihm gab es „kein boßartiger Volk auf der Welt“ (I 441) und sind die biblischen Wunder „Erfindungen des lügenhaftesten und boßhaftesten Volks das je auf Erden gewesen ist“ (II 378). Mose habe durch sein natur- und völkerrechtswidriges Verhalten „sein Volk […] zu Feinden des menschlichen Geschlechts“ gemacht (I 475). Nach Darstellung des Konflikts zwischen Josef und seinen Brüdern resümiert er: „Mit einem Worte, die gantze Race taugt nicht“ (I 258) Diese Aussage wiederholt er ausführlicher im Rückblick auf die gesamte im Alten Testament erzählte Geschichte und die in ihr handelnden Personen: „Sobald man anfängt ihre Handlungen an sich selbst, und von dem Vorgeben göttlicher Erscheinungen und Befehle entblößt, zu betrachten: so erstaunt man über alle verübte Greuel dieser würdigen Vorfahren der heutigen Juden; der beste unter ihnen ist wie ein Dornstrauch, die gantze Race taugt nichts, von ihrem ersten Vater Abraham her“ (I 673f.).18 Von dem Beginn bei Abraham „bis auf Mosen macht sich die gantze Stammlinie, durch Gewinnsucht, schändliches Gewerbe, Ränke, Mord und Straßenraub, Hurerey, Ehebruch, Schinderey und Unterdrückung anderer Menschen, stinkend und verhaßt“ (I 814).

Von diesen Zitaten her ist es alles andere als wahrscheinlich, dass die von Reimarus vorgenommene Herausstellung Jesu als eines Juden und dessen Einzeichnung in die jüdische Religionsgeschichte von ihm positiv gewertet wurden.19 Es ist zwar grundlegend für den zweiten Teil der Apologie, die Destruktion des Neuen Testaments, dass Jesus von dem unterschieden und abgehoben wird, was seine Schüler nach seinem Tod propagierten. Aber Reimarus differenziert auch innerhalb des Redens und Wirkens Jesu selbst; und alles, was davon spezifisch jüdisch ist – und das ist das meiste –, unterzieht er einer teils äußerst scharfen Kritik. Sowohl diese Kritik als auch der herausgestellte judenfeindliche Impetus sind aus den von Lessing edierten Fragmenten nicht erkennbar. Sie erschließen sich erst aus der Lektüre der gesamten Apologie.

f) Unterscheidung der Lehre Jesu von der der Apostel

Dass die Lehre der Apostel nach Jesu Tod von Jesu eigener Lehre zu unterscheiden ist, kann seit der Herausgabe des letzten, des siebten Fragments „des Wolfenbüttelschen Ungenannten“ durch Lessing gelesen werden: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“.20 In dieser Unterscheidung mag mit Recht der Beginn der Suche nach dem „historischen“ Jesus gesehen werden, wobei Reimarus diesen Begriff noch nicht gebraucht; er spricht einfach von „Jesus“, manchmal auch von „Christus“. Sie erscheint bereits programmatisch im ersten Teil der Apologie – man müsse darauf achtgeben, „was Christus selbst, und was die Apostel gelehret haben“ (I 165; vgl. 126f.171) – und bildet ein wesentliches Element des zweiten. In den Schriften der Evangelien und Apostel sei zu finden, „was Jesus, als der Meister und Urheber des Christenthums, was seine Jünger nach dessen Tode gelehret und gethan haben“ (II 12; vgl. 20). Schüler pflegen ihre eigenen Systeme zu haben und können nicht nur von ihrem Lehrer, sondern auch untereinander abweichen. Im Vergleichen ist nach Übereinstimmungen zu suchen. „Jesus zwar hat selbst nichts geschrieben“; aber mit den Evangelien liegen „vier Zeugen“ vor. „Darin müssen wir das Lehrgebäude, was Jesu eigen war, wo es anders noch zu finden ist, suchen“ (II 21f.; vgl. 23).

Dass zwischen Jesus und den Aposteln unterschieden werden muss, ergibt sich für Reimarus zwingend aus dem in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums verheißenen „Geist der Wahrheit“, der sie „alles lehren“ werde: „Also war das Principium ihres Systems nicht bloß Jesu Wort und Lehre, sondern der ihnen beywohnende heilige Geist, welcher sie nach Jesu Tode von Dingen belehret hätte, die jener ihnen in seinem Leben auf Erden nicht gesagt. Also war das System der Apostel von dem System ihres Meisters in vielen Stücken unterschieden; und sie bedienen sich des heiligen Geistes, nebst ihres eigenen Willkührs, dieses und jenes neuerlich zu ordnen“ (II 22). Weiter macht Reimarus Beobachtungen an widersprüchlichen Aussagen im Text des Neuen Testaments, die die genannte Unterscheidung für ihn notwendig machen. Folgende Punkte seien genannt: Nach Jesus sollte „nicht ein Tüttel vom Gesetz vergehen“ (II 22). „Die Apostel haben hingegen das gantze Levitische Gesetz abgeschafft“ (II 23). Die Benennung Jesu als „Sohn Gottes“ bezeichnet ihn im jüdischen Kontext als davidischen Messias (II 43). „Die Apostel […], besonders Johannes und Paulus, wollten ihn nach seinem Tode gerne über alle Menschlichkeit erheben und vergöttern“ (II 46f.; vgl. den gesamten Zusammenhang S. 43–54). „Es ist ein [offenbarer] Wiederspruch zwischen der beständigen Hofnung der Jünger auf eine zeitliche Erlösung, auf ein weltlich Reich, und zwischen solchen Reden Jesu, die einen geistlichen leydenden Erlöser anzeigen“ (II 141). Der Fehlschlag ersterer durch Jesu Kreuzigung führte zu letzteren (II 142). Reimarus stellt Daten zusammen, „da Jesus den Gewaltthätigkeiten der Juden gerne entwich, und nicht zeigte daß es seine Absicht sey zu leyden und zu sterben, sondern vielmehr seinem Tode so viel möglich zu entgehen“ (II 150). Daher entstammen die Ankündigungen von Leiden und Sterben einem späteren „System“. Die offene Verkündigung der Messianität Jesu (II 150f.152) und der feierliche Einzug in Jerusalem mit seiner Proklamation als König (II 153) widersprechen den Stellen über die Geheimhaltung und die Ankündigung des Leidens. Das und noch mehr lässt es Reimarus evident erscheinen, dass zwischen der Lehre Jesu und der der Apostel nach seinem Tod unterschieden werden muss. Von daher hält er sich für fähig „einzusehen, was unter der neuen Tünche der Apostel für eine wahre Gestalt verborgen sey. Sie haben der Erzehlung eine Farbe von ihrer neuen Erfindung geben wollen; aber doch das alte System, welches sie auf die Facta selbst gegründet hatten, nicht gantz verdunkeln oder auslöschen können“ (II 145). „Last uns diese neue Übertünchung rein wegwischen: so wird der rechte eigentliche Carakter Jesu augenscheinlich wieder ans Licht kommen“ (II 153f.).

g) Die Lehre Jesu

Im autobiographischen Rückblick innerhalb des „Vorberichts“ gibt sich Reimarus bei seinen beginnenden Zweifeln an seinem „angeerbten Glauben“ von vornherein überzeugt von den „erhabenen und herrlichen Lehren Jesu“ (I 51.52). Er identifiziert „die wahre einfache und thätige Religion Jesu“ als „die Tugend, Frömmigkeit und allgemeine Menschen-Liebe“ (I 56) und bekräftigt „die herrlichen Lehren Jesu, welche auf eine eigene Sinnes-Änderung, auf eine hertzliche Liebe Gottes und des Nächsten, auf ein thätiges Wesen dringen“ (II 516). Jesus habe „nichts anders als eine vernünftige praktische Religion gelehret“ (I 64);21 und so schließt Reimarus den „Vorbericht“ mit der Aufforderung ab: „Last uns unserm Schöpfer, nach bester Einsicht der gereinigten Vernunft, und unserm Nebenmenschen, nach allen natürlichen und bürgerlichen Pflichten, in Ruhe und Frieden dienen!“ (I 64) Was Jesus allein gelehrt habe, steht von vornherein fest; es entspricht der „besten Einsicht der gereinigten Vernunft“ und besteht in der Erfüllung der „natürlichen und bürgerlichen Pflichten“.

Dass Jesus „nichts als eine vernünftige praktische Religion“ vertreten habe, trifft allerdings auch nach der eigenen Darstellung des Reimarus nicht zu. Danach hat Jesus sehr viel mehr gelehrt. Die Betonung der „vernünftigen praktischen Religion“ hat die Funktion, sie als das einzig Wesentliche herauszustellen. Reimarus differenziert also innerhalb der Lehre Jesu. Er stellt selbst ausdrücklich fest: „Selbst in der Lehre Jesu ist nicht alles von einem Schlage. Er zeigt sich uns zuvörderst, wenn wir annoch die positive Religion der Juden ausgesetzt seyn lassen, in zweyerlei Gestalt: einmal, sofern er eine allgemeine Religion prediget, und ein Lehrer des gantzen menschlichen Geschlechts ist; zweytens aber, sofern er besonders das verdorbene Judenthum reformiren, und so weit als nach der Mosaischen Verfassung möglich war, zu einer vernünftigen Religion lenken wollte“ (II 25). In den Evangelien findet er das in der programmatischen Verkündigung Jesu nach Mt 4,17 wieder. In der Aufforderung: „Bekehret euch“ sieht er „nichts als eine vernünftige praktische Religion“ enthalten, „die aller Hochachtung würdig“ und auch „dem gantzen menschlichen Geschlechte“ dienlich sei. Mit dem begründenden Satz: „Das Himmelreich ist nahe herbey kommen“ trete Jesus dagegen „der besondern positiven Religion der Juden näher“ (II 121). Man darf dieses „verkündigte nahe Himmelreich als eine besondere Hofnung Israels […] mit den allgemeinen Vorschrifften, welche auch allen übrigen Völkern und Menschen heilsam und nöhtig sind, nicht […] vermengen“ (II 27).22 Letztere könnten wir „auch uns gesagt seyn lassen“; denn sie „enthalten eine so vernünftige, lautere erhabene, heilige und praktische Religion, die ein jeder seinem Schöpfer, seinen Nebenmenschen und seiner eigenen Glückseligkeit schuldig ist in Ausübung zu bringen“ (II 27). Sie haben „mit der übrigen Geschichte (Jesu) keine nohtwendige Verbindung, sondern sie sind und bleiben allemal, ihres Inhalts wegen, praktische Wahrheiten einer geläuterten Religion, welche jedem Menschen nöhtig und nützlich sind“ (II 540). Sie entfaltet Reimarus an Texten der Evangelien, besonders an der matthäischen Bergpredigt (II 27–38). Ausdrückliche methodische Überlegungen darüber, was in den Evangelien Jesus, was den Evangelisten zuzuschreiben ist, finden sich bei Reimarus nicht. Lediglich an einer Stelle meint er im Blick auf Johannes, man müsse „das übertriebene Mystische weglassen, und auf des Evangelisten Rechnung schreiben“, weil man sonst „Jesu ungereimte oder unverständliche Reden antichten“ würde (II 66).

Was den anderen Teil der Lehre Jesu angeht, so zeichnet Reimarus Jesus konsequent in das Judentum ein. Diese Lehre „ist von einem Juden, denen übrigen Juden, mit Jüdischen Redensarten vorgetragen, und setzet die damals herrschende Meynungen und Gewohnheiten der Juden voraus. Man muß sich also gantz in das damalige Judenthum, und dessen eingeführte Ausdrücke, hineinbegeben, und alle Ideen, die unser Catechismus mit gewissen Worten verknüpffet, solange aus dem Sinn schlagen, wenn man den wahren Verstand der hierhergehörigen Worte Jesu erreichen, und von der vorgelegten Frage richtig urtheilen will“ (II 40f.). Für Reimarus hat das zugleich den für ihn wichtigen Effekt, dass die kirchlich-dogmatische Lehre über Jesus vergeblich und zu Unrecht versucht an Jesus anzuschließen. Er stellt dar, dass die Begriffe „Himmelreich“ und „Gottesreich“ von Jesus wie von seinen Zeitgenossen weltlich verstanden wurden von einem Reich, in dem Recht und Gerechtigkeit hergestellt sind, dass Jesus sich als davidischer Messias für dieses Reich begriff, dass die Bezeichnung Jesu als „Sohn Gottes“ in diesen messianischen Kontext gehört (II 41–54.135–139). Es sei Jesu „Wille und Absicht gewesen, des Volkes Erwartung eines weltlichen Erlösers jetzt lebendig zu machen, und auf sich zu ziehen“ (II 139). Ob die auf Israel bezogene national-politische Messiaserwartung dem „historischen“ Jesus zugeschrieben werden muss, sei dahingestellt. In den Texten der Evangelien ist sie jedenfalls deutlich genug bezeugt. Das hat Reimarus klar gesehen – im Unterschied zu vielen späteren Jesussuchern und Auslegern des Neuen Testaments. Ebenfalls im Unterschied zu vielen nach ihm hat Reimarus an in den Evangelien gebotenen Aussagen Jesu und an seinem dort dargestellten Verhalten aufgezeigt, dass dieser nichts am „Gesetz“ aufgehoben hat (II 98–101).

Es muss allerdings deutlich wahrgenommen werden, dass dieser zweite Teil der Lehre Jesu, der jüdische, von Reimarus alles andere als positiv gewertet wird. Er gilt für ihn schon deshalb als erledigt, weil dieses erwartete messianische Reich nicht eingetroffen und Jesus in dieser Hinsicht gescheitert ist. Im Blick auf Jesu Jünger, die bis zu seinem Tod die Erwartung dieses Reiches teilten, spricht er einmal vom „eingebildeten Himmelreich“ (II 165). Die Taufe Jesu durch Johannes nach Mt 3,13–17 versteht er so, „daß diese beide Vettern eine abgeredete Rolle mit einander spielen wollten“ (II 156).23 Die in der Taufgeschichte erwähnte Himmelsstimme sei eine jüdische bat kol, die Theologen doch als Betrug gelte; und ein Betrug werde auch hier inszeniert (II 80–84.124–127). Weiter sei Jesu Schriftauslegung nicht besser als die der Pharisäer. Seine Argumentation für die Auferstehung gegen die Sadduzäer wird ausführlich kritisiert (I 808–813). „Summa, der Beweis aus diesem Spruche gegen die Sadducäer hinkt auf allen Seiten“ (I 812).24 Auch an anderen Stellen übt er Kritik an Jesu Schriftauslegung.25

„Jesu Betragen bey seinen Wundern“ findet Reimarus, womit er „nicht zu viel“ zu sagen meint, „sehr zweydeutig“ (II 135). Er zeigt die Unmöglichkeiten der Wundererzählungen als eines tatsächlichen Geschehensablaufs auf (II 131–133), kritisiert, dass Jesus keine Wunder „thun wollte vor denen, welche die Sache zu untersuchen Lust hatten“ (II 133). „Es brauchte ja nur ein eintzig wahres, öffentlich geschehenes, recht untersuchtes Wunder, um die Menschen, welche davon Augen-Zeugen waren, von der göttlichen Kraft zu überführen“ (II 133f.) „Könnten schlauere Leute nicht denken: Ey! nun besorgt er, die Sache mögte ordentlich und genauer untersucht werden. Vor dem Volke hat er Taube, Blinde, Lahme, Kranke, Aussätzige, Besessene, Rasende u.d.gl. geheilet. Sollten das auch wohl Leute gewesen seyn, die sich ihm zu willen nur so stelleten?“ (II 132f.) In einer Zusammenfassung nimmt er diesen Verdacht noch einmal auf. Was diesbezüglich erzählt wird, war „vor dem Pöbel“ geschehen und ist „auf die Rechnung des Aberglaubens und der Leichtgläubigkeit damaliger Zeiten“ zu setzen (II 157).

Am heftigsten kritisiert Reimarus den Einzug Jesu in Jerusalem und seine Aktion im Tempel. „Und zuletzt äussert sich, bey seinem feyerlichen Einzuge in Jerusalem, die ohnmächtige Intention, durch seine Jünger, und durch eine aufgebrachte Menge Volks, für den verheissenen König Israels öffentlich ausgerufen zu werden, und die Verfassung des äusserlichen Gottesdienstes und Kirchenregiments mit Ungestühm zu ändern“ (II 149). Reimarus hält das für „ein unerlaubtes, weitaussehendes, aufrührerisches Unternehmen“, womit Jesus „den Jüdischen Gerichten noch überdem vollkommenes Recht über sich“ gebe, „daß er nicht unschuldig litte und stürbe“, und führt dafür Joh 11,48 an (II 153; vgl. 155f. 161). „Denn hier war es nicht bloß auf die Besserung der Religion und Sitten, sondern auf den Umsturtz der ganzen Jüdischen Verfassung angesehen“ (II 158). In der näheren Ausführung (II 159–163) über diesen „unzeitigen Versuch“ (II 172) sagt Reimarus wenig Schmeichelhaftes über Jesus, der, nachdem er „vorhin immer bange gewesen ergriffen zu werden, und sich alsdenn verborgen hatte“, sich jetzt zu dieser öffentlichen Aktion „erdreistete“, weil er sich wohl „zu sehr mit dem Beystande des Volkes geschmeichelt“ habe (II 159). Die Lobrufe beim Einzug und die der Kinder im Tempel waren von Jesus inszeniert: „Also war der Zuruf sein Wille, und nichts unterscheydet ihn von einem angestifteten Geschrey, das seine Jünger und deren Kinder auf seine Anordnung machen musten“ (II 160).

Angesichts dessen stellt Reimarus fest: „Es ist in Wahrheit zu bedauren, daß Jesus nicht das Bekehrungs-Werk zu seinem eintzigen Zweck und Geschäfte gemacht hat, weil er so viel erbauliches und herrliches davon zu sagen wuste, und ohnzweiffel noch weit mehres in der Absicht hätte sagen können. Aber die Bekehrung war nur eine Vorbereitung zu seiner Haupt-Absicht, ein Reich aufzurichten“ (II 147).26so fern dieselbe nicht besonders in das Judenthum einschlägtallgemein