Einleitung

Die amerikanische Kleinstadt Little Rock, im Südstaat Arkansas gelegen, wurde 1957 an den Rand des Bürgerkriegs gebracht. Nationalgardisten hinderten unter Androhung von Waffengewalt sieben Schülerinnen und Schüler daran, zum Schuljahresbeginn die örtliche Mittelpunktschule zu besuchen. Die Jugendlichen waren schwarz. Im Jahr zuvor hatte der oberste amerikanische Gerichtshof entschieden, dass auch die Südstaaten der USA die Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen aufzuheben hätten und entsprechend schwarze und weiße Kinder gemeinsam die Schulen besuchen sollten. Diesem Gerichtsurteil waren Klagen von historischer Bedeutung vorausgegangen: Rosa Parks hatte in Atlanta in einem Bus ihren Sitzplatz nicht für einen Weißen frei gemacht und wurde dafür zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; 1956 hatte der Vater eines schwarzen Grundschulkindes dagegen geklagt, dass seine Tochter einen wesentlich weiteren Schulweg machen musste, um eine schwarze Schule besuchen zu können, die ihr als einzige offen stand. Der Vater hatte Recht bekommen.

Dieses Gerichtsurteil war der unmittelbare Anlass für die Ereignisse in Little Rock. Die amerikanische Bundesregierung hatte die Südstaaten angewiesen, einen Plan für die zügige Umsetzung des Gerichtsurteils zu entwickeln und die Integration von schwarzen und weißen Schülern zu realisieren. Der Gouverneur von Arkansas setzte auf Verschleppung und Verzögerung dieses Prozesses, so dass es zur Eskalation am 23. September 1957 kam. Der amerikanische Präsident Eisenhower musste Bundestruppen nach Little Rock schicken, um den Schulbesuch der schwarzen Kinder gegen die örtliche Nationalgarde durchzusetzen. Es war die einzige große Krise in der Amtszeit Eisenhowers, die seine Präsidentschaft zeitweise gefährdet hat. Die weitere Entwicklung ist bekannt. In einem unendlich zähen Prozess wurde die Rassentrennung in amerikanischen Bildungseinrichtungen Schritt für Schritt zurückgedrängt. Militärgewalt wurde später nicht mehr dazu benötigt, aber immer wieder mussten die Gerichte Einzelfallentscheidungen treffen und mussten von staatlicher Seite Programme, meist in Form von Quotenregelungen, aufgelegt werden, um schwarzen Schülern und Studenten den gleichberechtigten Zugang zu Bildungseinrichtungen zu ermöglichen.

In Little Rock hat man auch die weiteren Folgen der erzwungenen Integrationspolitik beobachten können: Der Gouverneur ließ die öffentlichen Schulen schließen, um die Umsetzung des Bundesgerichtsurteils zu verhindern; und die weiße Bevölkerung gründete Privatschulen, um ihre Kinder nicht gemeinsam mit Schwarzen unterrichten lassen zu müssen. Lehrer, die sich für Rassenintegration einsetzten, wurden entlassen.

Bis heute, mehr als ein halbes Jahrhundert danach, klagen Bürgerrechtler in den USA darüber, dass im größten demokratischen Land der Welt faktisch immer noch nicht die Gleichheit des Bildungszugangs für Schwarze und Weiße gegeben sei, geschweige denn, dass die neu in den Blickpunkt der Benachteiligungsdiskussion getretenen Minderheiten, insbesondere die Amerikaner hispanischer Herkunft, die gleichen Bildungschancen hätten wie die weißen Amerikaner.

Jahrzehnte nach den Vorgängen in Little Rock stellt sich die Problemlage allerdings anders dar. Aus einer strukturellen Ungerechtigkeit ist ein quantitatives Ungleichgewicht geworden. Die strukturelle Ungerechtigkeit wurde vom Staat hergestellt: durch Gesetze, administrative Maßnahmen und am Ende auch durch Waffengewalt. Dass durch sie Grundfragen der Demokratie und der Verfassung berührt wurden, lag auf der Hand, auch wenn diese Fragen erst in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, fast 200 Jahre nach der Gründung der Vereinigten Staaten, als solche gesehen, politisch diskutiert und juristisch gelöst wurden.

In der Folgezeit wurde aus dem juristischen Problem ein Problem für Statistiker. Nachdem die strukturelle Ungleichheit beseitigt und der Zugang zu Schulen und Hochschulen prinzipiell für alle gesichert worden war, stellte sich das Problem auf einer anderen Ebene. Es musste die Frage aufgeworfen werden, ob den abstrakten juristischen Möglichkeiten auch die konkrete soziale Realität entsprach. Diese Frage war sowohl methodisch wie politisch wesentlich schwieriger zu beantworten als die nach den juristisch-administrativen Voraussetzungen des Schulbesuchs. In den USA wurden in den sechziger und siebziger Jahren, nicht nur im Bildungsbereich, die Modelle entwickelt, die dann auch in Europa übernommen wurden. Sie beruhten im Wesentlichen auf Quotierungen – auf der Forderung, dass in politischen, sozialen und Bildungseinrichtungen benachteiligte Minderheiten möglichst in der Proportion vertreten sein sollten, die ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht.

Es war ein weiter Weg von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Little Rock, die nur Teil einer viel breiter angelegten Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen waren, zu den ausgetüftelten Quotierungsregelungen der späteren Jahrzehnte. Dieser Weg ist nicht geradlinig verlaufen. Dass er politisch heftig umstritten war, liegt in der Natur der Sache; dass er bildungstechnisch und -philosophisch dort enden würde, wo er dann tatsächlich hinführte – nämlich in Proportions- und Quotenreglementierungen – war am Anfang nicht abzusehen. Seine Begleiterscheinungen haben selbstverständlich nicht nur politische und juristische, sondern auch intellektuelle Kontroversen provoziert.

Hannah Arendt, die große amerikanische Philosophin des 20. Jahrhunderts, hat einen hochkontroversen Beitrag zu diesem Thema in die Debatte eingebracht – Reflections on Little Rock, ein Essay, der nach langen Querelen erst 1959 in der Zeitschrift Dissent erscheint. Hannah Arendt nutzt den akuten Fall der Zutrittsverweigerung für Schwarze als Probe aufs Exempel ihrer politischen Theorie. Ihre Argumentation bewegt sich weitab vom Liberalismus ihrer intellektuellen Nordstaaten- und Ostküsten-Kollegen und selbstverständlich ebenso weitab vom Rassismus der Südstaatenpolitiker. Hannah Arendt folgt konsequent der in ihrem Hauptwerk Vita Activa entworfenen Linie einer Trennung der privaten, sozialen und politischen Sphären. Der Fall Little Rock erweist sich ihr als Musterbeispiel für die damit gegebenen Probleme: Was in der Sphäre des Politischen konsequent erzwungen werden muss, was in der Sphäre des Öffentlichen kontrovers diskutiert wird, kann in der Sphäre des Privaten beliebig gehandhabt werden. Dass die Rassentrennung in den USA sowohl illegitim wie letztlich illegal war, steht für Hannah Arendt außer Frage. Dass der Kampf um die Rassentrennung aber ausgerechnet an den Schulen und damit auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden soll, ist ihr so problematisch, dass sie die mit militärischen Mitteln erzwungene Desegregation strikt ablehnt. Das Foto eines schwarzen Mädchens, das von Polizisten durch ein Spalier hasserfüllter Kindergesichter geführt wird, wird Hannah Arendt zum Skandalon, an dem sich das moralische Versagen der weißen und schwarzen erwachsenen Eltern und Politiker offenbart. Es ist nicht nur ein moralisches Problem, wenn Erwachsene, Politiker und Eltern, schwarze wie weiße, ihre Kämpfe von Kindern ausfechten lassen. Hannah Arendt hat die entscheidende Frage gestellt: „Haben wir die Absicht, künftig unsere politischen Gefechte auf Schulhöfen austragen zu lassen?“ (Arendt, Little Rock, 265)

Dass Rosa Parks und ihre schwarzen Mitstreiter sich mit Mitteln des Widerstandes ihre Rechte erkämpft haben, passt gut in die Logik von Hannah Arendts politischer Philosophie. In dieser Philosophie stellt sich aber die Lage der ausgeschlossenen schwarzen Schulkinder ganz anders dar als die einer erwachsenen Bürgerrechtlerin im öffentlichen Raum. Hannah Arendts Argumentation folgt der Intuition, dass eine von Kindern besuchte Schule etwas Anderes ist als ein öffentliches Verkehrsmittel. Ihr erscheint die Schule als zumindest teilweise privater Bezirk, in dem andere Regeln gelten als im öffentlichen, vom Staat reglementierten Raum. Daraus folgte für sie, dass die Rassentrennung in der Schule eben hinzunehmen sei und dass der Kampf um ihre Aufhebung an anderer Stelle geführt werden müsse.

Mit dieser Argumentation hat Hannah Arendt wenige Anhänger gefunden. Sie kann aber den Blick dafür schärfen, dass Schule ein Sonderfall ist – auch ein Sonderfall der „Gerechtigkeit“. Gewiss ist sie zumindest in den Ländern der westlichen Welt ein öffentlicher Raum, der unter staatlicher Aufsicht steht. Aber sie ist eben auch eine Institution, in der sich Kinder und Jugendliche aufhalten und in dem der Staat teilweise quasi-familiäre, also private, Aufgaben wahrnimmt. Unter dieser Perspektive betrachtet scheint es zumindest nicht abwegig, die Durchsetzung gesetzlicher Regelungen mit anderen Maßstäben zu messen und mit anderen Mitteln zu betreiben als es in anderen öffentlichen Einrichtungen der Fall ist. Schulen sind pädagogische Einrichtungen mit halb öffentlichem, halb privatem Auftrag. Wo diese Besonderheit gefährdet oder gar missachtet wird, können nicht nur die Maßstäbe der Schule, sondern auch die der Gesellschaft leicht ins Wanken geraten.

Hannah Arendt hat gewusst, worüber sie redete. Die amerikanische Philosophin war eine deutsche Jüdin, die 1933, im Alter von 27 Jahren, aus rassistischen Gründen aus Deutschland vertrieben wurde. In den sechziger Jahren berichtete sie in einem Interview über ihre eigenen Erfahrungen mit der Rassendiskriminierung im vornationalsozialistischen Deutschland. Die Jüdin Arendt hatte Schulen des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik besucht. Sie konnte ähnliche Erfahrungen machen wie Schwarze in den Südstaaten der fünfziger und sechziger Jahre. Sie war damit konfrontiert, dass jüdische Kinder massive Diskriminierungen an deutschen Schulen erfahren mussten, höhere Schulen nur in sehr begrenztem Umfang jüdische Kinder aufnahmen und dass wissenschaftliche Karrieren für Juden starken Restriktionen unterlagen. Sie berichtet, dass sie schon als Schulkind von ihrer Mutter dazu angehalten wurde, sich gegen die antisemitische Rassendiskriminierung öffentlich und individuell zu wehren (Young-Bruehl, Arendt, 46f.). Hier ist der Grund gelegt worden für die Einsicht, dass Ungerechtigkeit in der Schule eine private und keine öffentliche Angelegenheit sei. Das sind die Erfahrungen, aus denen heraus Hannah Arendt ihre Überlegungen formulierte. Nicht von fehlender Sensibilität gegenüber der Bildungsdiskriminierung sind sie inspiriert, sondern im Gegenteil hervorgegangen aus einem Übermaß an biographischer Erfahrung, die ihr die Besonderheit politischer Emanzipation im Bildungsbereich deutlich gemacht hat.

Die Juden im Deutschland des „Dritten Reiches“ und die Schwarzen in den USA in den fünfziger Jahren wurden Opfer einer staatlich organisierten, politisch gewollten und juristisch sanktionierten Bildungsdiskriminierung. Hier handelt es sich um Fälle, wie sie im modernen Bildungswesen nur vereinzelt, historisch aber häufig anzutreffen sind. Dass bestimmte Bevölkerungsgruppen per definitionem vom Zugang zu bestimmten Bildungseinrichtungen ausgeschlossen sind, ist ein Phänomen, das es immer wieder gegeben hat. Betroffen waren die Juden im „Dritten Reich“, die Schwarzen in verschiedenen Kolonialländern Afrikas und insbesondere in Südafrika, betroffen waren schließlich die Frauen, deren formal definierter Zugang zu den höheren Bildungseinrichtungen und vor allem den Universitäten sich erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts, dann aber sehr zügig durchsetzte. Formelle, staatlich legitimierte und juristisch legalisierte Restriktionen beim Bildungszugang wurden zumindest in der westlichen Welt im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend, in großen Teilen auch vollständig abgebaut.

Nur sehr langsam hat sich das Thema dann verlagert. Die Klage über formelle Bildungsrestriktionen – zu der auch soziale Exklusion durch Schulgeldforderungen für höhere Schulen gehörten – wurde in jüngerer Zeit abgelöst durch die Klage über eine proportionale Bildungsungerechtigkeit.

Dass damit eine ganz neue Problemlage entstand, ist nicht jedem von Anfang an klar gewesen. Denn es handelte sich hier nicht nur um eine graduelle, sondern um eine grundsätzliche Verschiebung und Neudefinition des Phänomens „Bildungsungerechtigkeit“. Auch der Adressat der Beschwerden hat sich gewandelt. Die frühen Beschwerden über mangelnde Zugangsmöglichkeiten zu höheren Bildungsgängen mussten sich immer an den Staat oder seine Institutionen richten, weil entweder er die Bildungsungleichheit gesetzlich geschaffen oder aber zumindest durch die mangelnde Bereitstellung entsprechender Einrichtungen ermöglicht hatte. Der Adressat der neuen Bildungsbeschwerden hingegen ist nicht mehr der Staat, sondern die Gesellschaft. Die Akteure müssen die Erfahrung machen, dass sich mit diesem Adressatenwandel die Problemlage nicht nur anders, sondern ungleich komplexer und unübersichtlicher darstellte.

Das hat die merkwürdige und bedenkliche Folge, dass eine der Urfragen des öffentlichen Diskurses, die Frage nach der „Gerechtigkeit“, im Bildungsbereich nur noch von Experten behandelt – wenn auch keineswegs beantwortet – werden kann. Die Frage, was Bildungsungerechtigkeit sei und wer unter ihr zu leiden habe, wird inzwischen weitgehend den Statistikern überlassen, an deren Diskussionen sich Bildungspolitiker allenfalls noch als Trittbrettfahrer beteiligen. Aber die Diskursvorgaben stammen von statistischen Experten. Sie haben sich ihre eigenen Differenzmerkmale konstruiert, die von den staatlichen Bürokratien als Grundlage bildungspolitischen Handelns übernommen wurden. Am Ende ist damit aber eine politische Frage vorweggreifend beantwortet worden, die erst noch politisch und auch philosophisch diskutiert werden müsste.

Denn das Thema der Bildungsgerechtigkeit hat viele Facetten; und nur die wenigsten lassen sich angemessen mit den Mitteln der Statistiker abarbeiten. Es wird für die Weiterentwicklung der deutschen Schule viel davon abhängen, ob es gelingt, dem Thema die Komplexität zurückzugewinnen, die ihm im Rahmen des Pisa-Diskurses verloren gegangen ist. Davon handelt dieses Buch.

Mering, im Sommer 2010

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Bildung und Gerechtigkeit

1.1 Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsarmut

Das Problem der Gerechtigkeit ist alt. Es begleitet die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen. Das Problem der „Bildungsgerechtigkeit“ hingegen ist neu, ernsthaft diskutiert wird es wohl erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Zum festen Bestand der politischen Diskussion wurde es in Deutschland – unter dem Begriff der „Chancengleichheit“ – in den siebziger Jahren. Im Zug der Pisa-Studien schließlich setzte sich der Begriff der „Bildungsgerechtigkeit“ durch, der heute debattenbeherrschend geworden ist. Der Begriff hat eine enorme politische Durchschlagskraft gewonnen, geklärt ist seine Bedeutung jedoch nicht. Er wird eher intuitiv verwendet und ist damit ziemlich beliebigen Deutungszugriffen ausgesetzt. Ungeachtet dieser Unschärfe des Begriffs der „Bildungsgerechtigkeit“ besteht in der öffentlichen Wahrnehmung allgemein Konsens, dass das deutsche Bildungswesen „ungerecht“ sei. Das lässt sich auf vielfältige Weise belegen. Man kann statistische Zahlen aneinander reihen, man kann Einzelbeobachtungen anführen oder man kann die Strukturen des Schulsystems mit intuitiven Gerechtigkeitsvorstellungen konfrontieren.

Insbesondere die Pisa-Studien haben maßgebliche Datengrundlagen für diese Diskussion bereitgestellt. „Bildungsgerechtigkeit“ ist dadurch sehr schnell ein fest etablierter Terminus der Bildungsdiskussion geworden, aber der Begriff gehört nicht zur Systematik des Pisa-Designs. Die Pisa-Studien stellen zwar immer wieder „Disparitäten“ in der Verteilung von Kompetenzen auf soziale Herkunftsverhältnisse fest, aber sie vermeiden weitgehend eine Gerechtigkeitsdebatte, die immer nur mit einem moralischen Zungenschlag geführt werden könnte. Bezeichnend ist allerdings die Ausnahme: Im Vorwort zur ersten Pisa-Studie wird ausdrücklich die Frage nach der „Bildungsgerechtigkeit“ gestellt – vielleicht ist das einer der ersten Belege für das Vorkommen dieses Wortes. Dieses Vorwort stammt aber von einem Politiker – dem Vorsitzenden des Pisa-Beirats und vormaligen Hamburger Staatsrats für die Schulen Dr. h.c. Hermann Lange (Pisa 2000, 14).

Ein prominenter und immer noch nicht vergessener Vorläuferbegriff der Bildungsgerechtigkeit ist die „Chancengleichheit“. „Chancengleichheit“ war das Leitmotiv der Bildungspolitik in den westlichen Gesellschaften seit den sechziger Jahren. Es hat eine große politische Gestaltungskraft erlangt und bei der Formierung der Bildungseinrichtungen eine maßgebliche Rolle gespielt. Das Konzept als solches ist aber unter Fachleuten immer umstritten gewesen und auch sachlich unscharf geblieben – was wahrscheinlich eine Voraussetzung für seinen politischen Erfolg war. Die grundsätzliche Problematik spitzte sich auf die Frage zu, ob „Chancengleichheit“ darin bestehe, alle Schüler gleich zu behandeln oder sie radikal verschieden, nämlich entsprechend ihren jeweiligen Bedürfnissen, zu fördern (Hellekamp/Musolff, Schule, 6–9). Dieser Konflikt ist unentschieden geblieben, so dass das Konzept Chancengleichheit am Ende dem Konzept „Bildungsgerechtigkeit“ weichen musste.

In der öffentlichen Wahrnehmung nicht richtig durchgesetzt hat sich schließlich das Konzept der „Bildungsarmut“, das allerdings in der Fachwelt gut etabliert ist. Jutta Allmendinger hat 1999 analog zur ökonomischen Diskussion „Armut“ als einen Begriff der Bildungswissenschaft definiert. Ihr methodischer Ansatz liefert das Muster, nach dem heute über Bildungsgerechtigkeit diskutiert wird. Allmendinger ging davon aus, dass die Knappheit an einem erstrebenswerten Gut, sei es Geld oder sei es Bildung, als „Armut“ zu definieren sei und dass man diese Armut auch messen könne. Bei Geld liegt die Mess- und Zählbarkeit auf der Hand. Auch „Bildung“ lässt sich, allerdings nur gegen den Widerstand einer traditionellen Pädagogik, quantifizieren, indem man den Erwerb bestimmter Bildungszertifikate auszählt und zurückbezieht auf die Schichtzugehörigkeit der Schüler (Allmendinger, Bildungsarmut, 38–40).

Die wesentlichen bildungspolitischen Neuerungen in der Bundesrepublik der letzten Jahrzehnte wurden vom Impuls der „Bildungsgerechtigkeit“ oder zuvor dem der „Chancengleichheit“ getragen. Beide Konzepte sind deutlich von einem sozialen, wenn nicht moralischem Anspruch inspiriert; das macht sicherlich einen guten Teil ihres Erfolgs aus. Konkurrierend, wenn auch weniger prominent, gab es allerdings auch ein anderes Motiv der Bildungsreformen: die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik. Schüler sind eben nicht nur Menschen, die Menschenrechte für sich beanspruchen können, sondern auch Wirtschaftssubjekte, die ökonomische Leistungen erbringen müssen.

1.2 Disparitäten im Bildungswesen

Durch die Pisa-Studien hat die Diskussion um Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit keine neue Richtung, aber einen neuen Schub erhalten. Die Grundidee ist leicht einsichtig: Man testet Schüler in Bezug auf die von ihnen erworbenen Kompetenzen und bildet Rangfolgen. Die Pisa-Studien messen nicht – wie frühere statistische Schulerfolguntersuchungen – Zertifikate, sondern Kompetenzen, aber neu ist das Verfahren grundsätzlich nicht. Seit den sechziger Jahren verlässt sich die deutsche Diskussion auf solche Statistiken. Als erster hat Friedrich Edding – übrigens ein gelernter Historiker – vom seinerzeit neu gegründeten Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Deutschlands Schulwesen in Zahlen gefasst und mit anderen Ländern verglichen. Seitdem sind Statistiken die Basis der deutschen Bildungsdiskussion geworden, und seitdem hat sich die Neigung durchgesetzt, als Wirklichkeit nur noch das zu akzeptieren, was zahlenmäßig erfasst und grafisch aufbereitet werden kann (Vogel, Wohlstandskonflikte, 171). Damals wurden Abiturzeugnisse gezählt, gemäß dem von Dahrendorf 1965 formulierten und bis heute nachwirkenden Satz, dass die Qualität eines Bildungswesens an der Zahl seiner Abiturienten gemessen werden müsse (Dahrendorf, Bildung, 30f.). Dem Wissenschaftler stellt das keine ernsthaften Probleme. Abschlusszeugnisse zu zählen, ist vergleichsweise leicht, auch wenn man hier die Tücken der Statistik keinesfalls unterschätzen darf. Gerade das deutsche Schulwesen mit seiner Vielzahl von Schularten wirft große Probleme der Zuordnung auf.

Die Pisa-Studien wählen einen anderen statistischen Ansatz. Sie zählen nicht Zertifikate, sondern messen Kompetenzen. Das Ergebnis ist aber im Hinblick auf die „Bildungsgerechtigkeit“ das gleiche. Der Kernsatz der Pisa-Studien, der das deutsche Schulsystem so in Bewegung gebracht hat, lautet: In Deutschland ist die „Kopplung von sozialer Lage der Herkunftsfamilie und dem Kompetenzerwerb der nachwachsenden Generation ungewöhnlich straff“ (PISA 2000, 393). In der späteren Version lautet er, „dass in keinem OECD-Staat die Steigung des sozialen Gradienten so steil war wie in Deutschland“ (PISA 2003, 252). In keinem anderen Industrieland, so lässt sich das zusammenfassen, sind die Schulabschlüsse im gleichen Maße abhängig von der sozialen Herkunft wie in Deutschland. Wie das unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit bewertet werden kann, ist wieder eine andere Frage. Die Pisa-Studien selbst geben dazu keine Auskunft. Sie machen eine statistische Aussage über die „tatsächlichen sozialen Ungleichheitsverhältnisse“ im Bildungsbereich (Baumert/Stanat/Watermann, Vorwort, 9), aber nicht über deren moralische Qualität, Hier schlägt ein klassisches Problem der modernen Wissenschaftstheorie durch, die Einsicht nämlich, dass aus dem „Sein“ kein „Sollen“ abgeleitet werden kann. Aus dem Befund ungleicher Verteilung von Bildungserfolgen lässt sich nicht die Aussage ziehen, dass diese Verteilung ungerecht sei und geändert werden solle. Denn eine solche ungleiche Verteilung kann unter meritokratischen Gesichtspunkten durchaus als „gerecht“ empfunden werden, wenn ihr nämlich unterschiedliche Leistungen der Individuen zugrunde liegen.

Genau die Aussagen, die in der öffentlichen Diskussion der Pisa-Studien die dominierende Rolle spielen, werden in den Studien selbst sorgfältig vermieden. In den Pisa-Studien findet sich nicht die Aussage, dass „Geld“, ökonomisches Kapital, einen nachweisbaren Einfluss auf den Bildungserfolg von Schülern habe, es findet sich nicht die Aussage eines kausalen Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg und es findet sich schließlich auch nicht die Aussage, dass das deutsche Schulsystem „ungerecht“ sei. Dass Kinder ungleiche Bildungsergebnisse erzielen, ist leicht beweisbar. Dass die Ungleichheit dieser Ergebnisse auf ungleichen Bildungschancen beruht, ist heute unstrittig, aber sehr viel schwerer zu beweisen. Nach dem aktuellen Diskussionsstand, der einen jahrzehntelangen Vorlauf hat, kann man wohl nur sagen, dass die Gründe für ungleiche Chancenverteilung nicht dingfest zu machen sind – die in der Wissenschaft gerne verwendete Formulierung der „Multikausalität von Bildungsungleichheiten“ ist nur eine vornehmere Variante dieses Befundes (Becker/Lauterbach, Bildungsungleichheiten, 21).

Aber auch wenn sich keine Kausalzusammenhänge ausmachen lassen, so hat sich die wissenschaftliche Diskussion doch grundsätzlich darauf verständigt, dass milieutheoretische Modelle den plausibelsten Erklärungsansatz für unterschiedliche Bildungserfolge bieten. Dagegen spielt der jahrhundertelang übliche Rückgriff auf angeborene Begabungen oder die biologisch-natürliche Intelligenzausstattung in der Diskussion seit Jahrzehnten kaum noch eine Rolle, auch wenn dieses Argument gelegentlich erneuert wird (Ruschin, Chancengleichheit, 176–178).

1.3 Bildungsverlierer

Dass Kinder aus verschiedenen sozialen Milieus statistisch gesehen unterschiedliche Bildungserfolge erzielen, ist seit langem gut belegt. Auch die Pisa-Studien bestätigen nur noch einmal den Befund, dass die unteren sozialen Schichten im Bildungswesen unter besonderer „Kompetenzarmut“ leiden (Solga/Powell, Gebildet, 182). Was aber „untere soziale Schichten“ sind, ist eine Frage, die sich leichter stellen als beantworten lässt. In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich sehr schnell die Auffassung durchgesetzt, dass die Verteilung von Bildungschancen entlang der traditionellen Scheidelinie zwischen „arm“ und „reich“ verläuft“. Ganz falsch ist diese Auffassung nicht, aber richtig ist sie erst recht nicht. Denn dass bei der Bildungsbeteiligung in Deutschland andere Faktoren wirksam sind als nur die materielle Ausstattung der Herkunftsfamilien, weiß man seit langem.

Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe potenzieller Verlierer des Bildungsprozesses. Die Grenzlinien verlaufen zwischen regionalen, konfessionellen, geschlechtsspezifischen, schichtspezifischen und neuerdings auch sehr stark ethnographischen und kulturellen Demarkationsmerkmalen (Ruschin, Chancengleichheit, 60–62). Im Laufe der bundesrepublikanischen Schulgeschichte haben sich verschiedene Verlierergruppen diskurspolitisch durchgesetzt. In den siebziger Jahren waren es zunächst neben den katholischen Landarbeitermädchen, die bildungspolitisch aber nie so richtig ernst genommen wurden, vor allem die „Arbeiterkinder“. Diese Gruppe wurde später ausgeweitet zu Unterschichtkindern, dann kam eine nochmalige Ausweitung zu den soziologisch recht diffusen „bildungsfernen Schichten“. Sehr langsam und eigentlich erst im Gefolge der Pisa-Diskussion kamen auch die Migrantenkinder als Opfer von Deprivilegierungen in den Blick, bis die Pisa-Studien dann die allgemeine Formel von der „sozialen Herkunft“ fanden, die eher statistisch als soziologisch definiert wird. In diesen wechselnden Zuschreibungen lassen sich die Schwierigkeiten erkennen, bildungsbenachteiligte „Sozialschichten“ klar zuzuordnen.

Statistische Zuschreibungen sind auch immer Festlegungen. Sie können leicht genau diejenigen Effekte hervorrufen, welche von den Statistikern und den ihnen folgenden Politikern gerade vermieden werden wollen: „Das fortschreitende Zählen und Abspalten der jeweils Schwächsten und derer, die in bestimmten sozialpolitischen Konstellationen isoliert sind, dient der systematischen Vertiefung von Ungleichheit und es löst das gesellschaftliche Leben administrativ auf – in Splitter und Partikel“ (Aly/Roth, Erfassung, 17).

Die Pisa-Studien haben der Frage nach der Definition von Verlierer- und Gewinnergruppen große Aufmerksamkeit geschenkt. Am Ende läuft das Problem auf die Frage hinaus, was „soziale Herkunft“ sei und wie sie empirisch zu erfassen ist. Im gedanklichen Grundansatz folgen die Studien dem in den siebziger Jahren entwickelten und in den neunziger Jahren in der deutschen Soziologie langsam rezipierten Modell von Pierre Bourdieu. In seiner berühmten Studie über Die feinen UnterschiedeLes fins gens – aus den siebziger Jahren hat Bourdieu in quantitativen und qualitativen Reihenuntersuchungen jene „feinen“ Unterschiede benannt, durch die sich soziale Schichten in einer modernen Wohlstandsgesellschaft voneinander unterscheiden. Bourdieu nimmt soziale Zuordnungen der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft nicht in erster Linie nach ihrem ökonomischen Status, sondern nach ihrem „Habitus“ vor. Dieser Habitus konstituiert sich aus drei Arten von „Kapital“: aus dem „ökonomischen Kapital“, dem materiellen Besitz also; dem „sozialen Kapital“, das sind die sozialen Beziehungen, in die ein Gesellschaftsmitglied eingebunden ist; und schließlich aus dem „kulturellen Kapital“, die kulturellen Ressourcen, auf die er zurückgreifen kann (Bourdieu, Unterschiede, 196).

Bildungswilligkeitsmaß