lea Streisand

Berlin ist eine Dorfkneipe

Texte von Berlins Königin der Lesebühnen

Edition Mundwerk
periplaneta

LEA STREISAND:

„Berlin ist eine Dorfkneipe“

E-Book-Version: 1.2

Ungekürzte, digitale Ausgabe der Printausgabe ISBN: 978-3-940767-78-3

© Periplaneta - Verlag und Mediengruppe, Edition Mundwerk, Februar 2012
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com - hq@periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, mechanische, elektronische oder fotografische Vervielfältigung, eine kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Der Printausgabe liegt eine CD bei, die auch als MP3 Download zu erwerben ist: LEA STREISAND MP3 Download

Korrektorat: Marion A. Müller, Nadine Heßdörfer

Cover und Autorinnenbilder: Thomas Iwainsky, www.extractdesign.com

Lesungsbilder: Sascha Bachmann, www.echtfotografie.de

Satz und Konvertierung: Thomas Manegold

WWW.PERIPLANETA.COM

Lea Streisand
Cover

Unsichtbare Filmstars

Ein Filmteam stand heute Nachmittag auf dem Mauerweg in Pankow.

„Können Sie bitte da an der Seite lang fahren?“, zwitscherte die junge Assistentin, die bestimmt nur dafür da war, pissige Radfahrer aus dem Weg zu räumen.

Auf der Grünfläche daneben saßen zwei Menschen unter einem Sonnenschirm am Frühstückstisch und drum herum standen etwa 20 andere Menschen mit so Puschelmikrophonen und Kameras und Abblendscheiben und im Hintergrund rauschte die S-Bahn vorbei.

„Manchmal geht mir dieses junge kreative Berlin so was von auf die Eier“, sage ich abends zu meinem Kollegen Ivo, „deshalb bin ich ja damals aus Prenzlauer Berg weg, weil ich nich mehr bei jedem Milchkaufen in irgendwelche Dreharbeiten reinrennen wollte.“

Ivo nickt und saugt einen Mund voll Bier aus der Flasche.

Ivo wohnt am Hackeschen Markt. Der rennt täglich irgendeiner Kamera ins Bild. Auf wie vielen Kilometern weggeschnittenem Film der wohl schon drauf ist? Allein bei Lola rennt ist es bestimmt eine halbe Stunde. Ivo, der unsichtbare Filmstar.

Neulich hat er mal so eine Filmtruppe richtig zusammengeschissen, erzählt er. „Da hatte ich eh schlechte Laune, an dem Tag. Und dann war wieder die halbe Straße gesperrt. Da hab ich die angeschnauzt, ‘ihr mit eurem Scheißfilm, für den sich keine Sau interessiert, den kein Schwanz gucken wird und der euch nur finanziell ruiniert! Könnt ihr nicht einfach HartzIV beantragen ohne vorher die halbe Stadt zu stressen?’“

Ivo trinkt aus. Die Pause ist vorbei.

Wir müssen zurück auf die Bühne.

Die Lesebühne Lokalrunde wird nämlich heute gefilmt von Alex TV. Ivo Lotion macht dann später Videos draus.

Vorhin hat er schon ein Interview mit mir auf der Straße gemacht. Arkonaplatz, Mitte, tolle Kulisse.

Bloß blöd, dass uns ständig Passanten ins Bild gerannt sind.

Muss Ivo nachher alles rausschneiden.

Heldensuche

Eine Legende

Legenden sind der Stoff, aus dem Träume gemacht werden. Und Bücher und Staaten. Die DDR gründete sich auf dem Mythos, ein Staat von Antifaschisten zu sein, die USA auf dem der Demokratie. Die BRD brauchte keinen Mythos, sie hatte das Wirtschaftswunder.

Identitäten werden auch aus Legenden gemacht.

Meine Mutter erzählt heute noch, wie ich mich am Tag vor der Einschulung auf einer Schaukel in den Himmel über Berlin schwang und johlte: „Hurra, morgen fängt der Ernst des Lebens an!“

Ernst war auch der merkwürdige Vorname des Mannes, dessen Legenden mich ab dem Folgetag begleiten sollten. Sein Konterfei blickte sorgenvoll über unsere Köpfe hinweg, wenn wir uns den rechten Daumen ins Auge piekten und mit dünnen Stimmchen „Immer bereit!“ schrieen, obwohl wir viel lieber „Freundschaft!“ gebrüllt hätten. Wer „Freundschaft!“ brüllte, war in der FDJ und mindestens vierzehn. Wer „Freundschaft!“ brüllte, hatte den Stimmbruch mindestens fast hinter sich. Ich sollte niemals „Freundschaft!“ brüllen, aber das erfuhr ich später.

Erst einmal intonierte ich im Schulchor inbrünstig Unsere Heimat und Der kleine Trompeter und fühlte mich geborgen in diesem Staat, in dem doch alle Menschen eine Familie, weil Brüder waren.

Die Heldentaten der Genossen Lenin und Thälmann las ich in meinen Schulbüchern. Auf den Bildern dazu waren Männer mit eckigen Gesichtern unter runden Mützen und Frauen mit Kopftüchern und Mädchen mit Haarschleifen und Jungen mit Hosenträgern. Das waren die Guten, das verstand ich.

Ich wollte zu den Guten gehören, soviel war auch klar. Das Problem war nur, dass ich außerhalb der Schulbücher keine Menschen finden konnte, die zu den Bildern passten. Es gab keine Jungs mit Hosenträgern und kein Mädchen, das noch halbwegs bei Verstand war, machte sich solche Schleifen ins Haar. Männer mit Mützen und Frauen mit Kopftüchern gab es, aber das waren unsere Großeltern, nicht Mutti und Vati wie in den Büchern.

Ich hatte damals schon begriffen, dass meine Oma die Mutter meiner Mutter war. Dass meine Schulbuchhelden längst ausgestorben waren, das durchschaute ich nicht.

„Mama, ich möchte zur Republikgeburtstags-Parade!“, teilte ich meiner verdutzten Mutter deshalb eines Tages beim Frühstück mit.

„Wieso das denn?“, fragte sie und versuchte dabei nicht ganz so entsetzt zu klingen, wie sie in Wirklichkeit war. Schließlich gehörten meine Eltern zur Opposition, zu den sogenannten Konterrevolutionären, die den Staat von innen aushöhlen wollten. Ihre Stasiakten verstopften damals schon die Behördenregale, und wegen der wöchentlichen Treffen meiner Eltern mit ihren Freunden in unserem Wohnzimmer wurden bald neue Archivare angestellt.

„Häkelrunden“ nannte mein Vater diese Versammlungen. Aber ich ahnte schon damals, dass dabei kein Garn verknüpft wurde. Wissen konnte ich es nicht. Ich wurde ja immer ins Bett geschickt. Meine Eltern hatten Angst, dass ich alles in der Schule erzählen würde. Und diese Angst war nicht ganz unberechtigt. Hätte mich damals jemand als Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit geworben, hätte ich wahrscheinlich sofort zugestimmt. Einfach nur, damit endlich mal jemand alle meine Geschichten anhören würde. Aber IM konnte man auch nicht werden, bevor man nicht mindestens einmal offiziell „Freundschaft!“ gebrüllt hatte.

Es war das reine Elend.

Was sollte meine arme Mutter mit ihrem ideologisch versauten Kind schon machen? Sie ging mit mir auf die Geburtstags-Parade. Es war todlangweilig. Der Genosse Honecker stand da und fächelte sich eine laue Genugtuung zu, ich wedelte mit einem roten Papierwimpel und wusste nicht, was ich da sollte: Die Panzer waren laut, die Kapellen auch, das war’s. Ich stand hinter der Absperrung und wartete auf das erhabene Gefühl, das mich beim Kleinen Trompeter manchmal überkam. Kam aber nichts. Stattdessen wurde mir kalt. Ich tauschte mein rotes Winkelement gegen einen Stiel Zuckerwatte und trottete enttäuscht nach Hause. „Mama, da müssen wir nicht noch mal hingehen“, teilte ich meiner erleichterten Mutter mit.

Ein paar Mal ging ich mit meinem Vater zum Fußball. Da verstand ich zwar auch nicht, worum es ging, aber ich durfte dazugehören. Die Männer auf den Tribünen hatten Helden. Und dann gleich elf Stück. Mich störte nur, dass die pausenlos rannten und ständig umfielen. Meine Helden stellte ich mir anders vor. Nicht nassgeschwitzt mit hässlichen Frisuren, sondern groß. Mit großen Idealen.

In der Vierten kam Magda in unsere Klasse. Magda war kein Pionier, Magda war katholisch. Deshalb durfte sie beim Pioniernachmittag nicht mitbasteln. Sie glaubte nicht an Ernst Thälmann, sie glaubte an Gott.

Ich hatte schnell den Verdacht, dass dieser Gott viel cooler war als Ernst Thälmann. Frau Reinecke bekam nämlich dieselbe Falte über dem rechten Auge, wenn Magda von ihrem Gott erzählte, wie wenn sie jemanden beim Benutzen eines Tintenkillers erwischte. Und Tintenkiller waren schließlich so ziemlich das Coolste was ging.

Deshalb sagte ich zu meiner Mutter: „Mama, ich will auch einen Gott haben!“

„Aber du hast doch Kleopatra“, sagte meine Mutter zerstreut. Kleopatra war ein Meerschwein, das den ganzen Tag nur verängstigt in einer Ecke seines Käfigs hockte und den Boden zukackte, wenn es nicht gerade lautstark sein eigenes Haus zerfraß.

„Aber Kleopatra ist langweilig“, nörgelte ich, „ich will lieber einen Gott!“

Meine Mutter gab schließlich nach und schickte mich in die Christenlehre. Zu den Evangelen, nicht zu den Katholiken. Sie sagte, ich solle erst mal gucken, ob das was für mich ist. Sie hoffte wohl, ich würde genauso schnell die Lust an diesem Gott verlieren, wie vorher meine Begeisterung für Flöte, Gitarre und Klavier schlagartig nachgelassen hatte, sobald ich begriff, dass man Instrumente auch üben musste.

Der Gott, den sie bei der Christenlehre hatten, war nicht so bunt wie der von Magda, aber immerhin hatte ich erreicht, dass ich bei den Pioniernachmittagen in der Schule nicht mehr mitbasteln durfte. Das war insofern ungünstig, als dass ich damit meine wichtigste Geschenk-Produktionsstelle verlor, aber dafür gehörte ich jetzt zu den coolen Nichtbastlern.

Die Christen waren nette Menschen: Sie trugen Strickpullover und bequeme Sandalen, lächelten viel und sangen noch mehr: „Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag“. Erklärungen hatten die Christen nicht. Das war nicht das „Ihr seid alle Sünder und werdet in der Hölle schmoren“, was ich erwartet hatte. Man sollte nur anständig bleiben.

Aber anständig war ich sowieso.

Ich meine, hallo, ich war zehn Jahre alt!

Die Zeiten wurden aufregender. Die wöchentlichen „Häkelrunden“ meiner Eltern zogen sich immer tiefer in die Nacht hinein. Es wurde heftig diskutiert und laut gelacht, so dass kein Mensch dabei schlafen konnte. Eine freudig ängstliche Nervosität kam auf. Es war ein bisschen wie ewiger Heiligabend und die Bescherung rückte immer näher.

Manchmal kam mein Vater abends nicht nach Hause und meine Mutter machte sich große Sorgen, weil die Leute anfingen zu demonstrieren und manchmal festgenommen wurden.

Manchmal gingen sie auch beide demonstrieren.

Vor der Gethsemanekirche.

Dort standen sie im Herbst ´89 und das Wachs der Kerzen lief ihre kalten Fingerknöchel hinunter.

„Wie lange muss der Demonstrant eigentlich stehen bleiben?“, fragte meine frierende Mutter und mein Vater, der zu dieser Zeit in Leipzig studierte und schon mehr Konterrevolutionserfahrung hatte, erklärte: „Ein Demonstrant steht so lange, bis die Polizei kommt. Und dann lässt er sich nicht erwischen!“

Das haben sie mir später erzählt, denn mich hatte man zu diesem wichtigen Anlass mal wieder ins Bett geschickt. Angeblich hatten sie Angst um mich. Ich vermute, sie machten sich Sorgen, dass ich anfangen würde, Pionierlieder zu singen und sie bis auf die Knochen blamieren würde.

Am 4. November ’89 musste ich auch zuhause bleiben. Ich saß vor dem Fernseher und suchte die Menschenmasse auf dem Alex nach meinen Eltern ab. Ich sah nur fremde Leute, die laut irgendetwas riefen, was ich nicht verstand. Aber ich verstand, dass diese Leute ihre Helden gefunden hatten und dass ich wieder nicht mitmachen durfte.

Die DDR machte zu. Das Leben ging weiter.

Lenin und Ernst Thälmann wurden verschrottet. Ich weiß noch, wie sie das Denkmal am Platz der Vereinten Nationen abrissen.

Unter den Lehrern brach eine große Ratlosigkeit aus. Vor allem Frau Reinecke wusste überhaupt nicht mehr, was sie uns beibringen sollte und ließ uns stattdessen tagelang mit ihren Meerschweinchen spielen.

Ich ging weiter zur Christenlehre. Dort freundete ich mich mit Maria an. Magda war auf eine andere Schule gekommen. Maria war Hippie und Vegetarierin. Sie trug alle T-Shirts, die sie besaß, übereinander und darüber eine bunte Kollektion an Holz- und Glasperlenketten.

„Iiih, Siebziger!“, rief mein Vater, als ich mit meiner ersten Schlaghose nach Hause kam. Ich hörte auf, Fleisch zu essen, wütete in Plattenregalen und Kleiderschränken meiner Eltern und gab mein gesamtes Geld für Müll aus, wie meine Oma es nannte. „Kind, so kannste doch nich rumlaufen“, sagte sie immer, „du siehst aus wie ein mottenzerfressener Bettvorleger!“

Die Fotos von damals beweisen, dass sie recht hatte.

In Maria hatte ich endlich meine Heldin gefunden. Ich vergötterte sie. Was Maria machte, war cool, was Maria sagte, war Gesetz.

Dann ging Maria zu Hare Krishna. „Harry Kirschner“, sagte mein Vater. Die Hare Krishnas waren bunt gekleidet, kochten gut und sangen stundenlang dieselben Lieder, bis alle dieses erhabene Gefühl ergriff, das ich früher nur beim Kleinen Trompeter erlebt hatte. Ich chantete mir jeden Abend vor dem Einschlafen den Mund fusselig. Mit einer Holzperlenkette, die ich nach Marias Vorgaben aufgefädelt hatte. Ansonsten bestand mein Gottesdienst darin, das Om-Zeichen auf alle Schulbänke und Klotüren zu malen, die mir vor die Nase kamen.

Eines Tages erklärte Maria mir, dass sie jetzt in den Tempel gehen werde. Natürlich kam ich mit. Wir schliefen auf Isomatten auf dem Fußboden, standen um vier Uhr morgens auf, beteten den ganzen Tag und hörten uns Predigten von grauhaarigen Männern an, die uns erklärten, man müsse sich mit der linken Hand den Arsch abwischen, Sex vor der Ehe sei Sünde und Frauen seien durch die Augen schön und Männer durch den Geist. Maria saß verzückt da und hörte zu. Und vielleicht war das der Moment, in dem ich beschloss, mit der Heldensuche aufzuhören.

Agenten ohne Arbeit

Wir schreiben das Jahr 007. Ein Haufen Agenten steht auf der Straße. Dem Callcenter, in dem sie bis gestern gearbeitet haben, wurde von seinem größten Arbeitgeber gekündigt. Fristlos. Weil der Arbeitgeber sich lieber ein eigenes Callcenter aufbauen möchte – mit zwei ehemaligen Mitgliedern der hiesigen Geschäftsführung – aber ohne uns. Verstehen muss man das nicht. Auf jeden Fall sind nun sechzig studentische und zehn feste Mitarbeiter arbeitslos – nein, freigestellt.

„Was heißt denn das: freigestellt?“, fragt Katja und rührt in ihrem Kaffeegetränk.

Eigentlich dürfen wir keine gefüllten Tassen mit nach unten nehmen, weil das Flecken auf der Treppe macht. Am Platz durfte man auch keinen Kaffee trinken und Saft auch nicht, nur Wasser. Wegen der Technik.

„Aber ob ich nun Wasser oder Apfelsaft in den Computer schütte, ist doch dann auch egal“, hab ich immer argumentiert. Ich habe sogar angeboten, nur Apfelschorle zu trinken, die ist schließlich zur Hälfte aus Wasser. Rauchen durften wir schon seit einem Jahr nur noch draußen.

Hannes zieht an seiner Zigarette: „Freigestellt“, sinniert er. „Klingt irgendwie nach offener Beziehung: Statt Schluss zu machen, darf nun jeder mit jedem ins Bett.“

„Bis einer schwanger wird“, ergänzt Katja.

Ich erinnere mich an ein schriftliches Streitgespräch zwecks Unterhaltszahlungen mit meinem nächsten männlichen Vorfahren.

Er: „Du bist jung, stark und schön. Du kannst Geld verdienen.“

Ich: „Auf der Oranienburger nehmen sie auch nicht mehr jede.“

Er: „Du hast doch den Bausparvertrag. Was ist mit dem Arbeitgeberanteil?“

Ich: „Keine Ahnung. Wer soll den zahlen? Die Lesebühnen? Das Callcenter? Die Zeitung? Ich zahl nicht mal Steuern.“

Er: „Schick mir eine Aufstellung deiner Einnahmen und Ausgaben, dann können wir über einen Kredit reden. Auch kleine Kommunen müssen sich Prüfungen gefallen lassen.“

Ich: „Ich bin keine Kommune, ich bin deine Tochter.“

Mündliche Anweisung des weiblichen Gegenparts, nach wiederholter Geldübergabe: „Mach dein Studium fertig, damit du endlich HartzIV beantragen kannst.“

Hannes hat aufgeraucht. Wir stehen immer noch rum. Im Schatten der Firma, die uns verstoßen hat. Telefonnummern werden ausgetauscht. Falls wir uns nicht mehr sehen.