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Reinhard Lindner

Jana Hummel (Hrsg.)

Psychotherapie in der Geriatrie

Aktuelle psychodynamische und verhaltenstherapeutische Ansätze

Verlag W. Kohlhammer

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Diese Publikation wurde gefördert durch die Robert Bosch Stiftung.

 

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024834-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024835-9

epub:    ISBN 978-3-17-024836-6

mobi:    ISBN 978-3-17-024837-3

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Geleitwort

 

 

Der vorliegende Band enthält die Beiträge des Symposiums »Psychotherapie in der Geriatrie«, das vom 27. bis 28.09.2013 in der Medizinisch-Geriatrischen Klinik am Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie in Hamburg unter der Leitung von Reinhard Lindner und Jana Hummel mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart stattfand.

Das Inhaltsverzeichnis zeigt rasch, dass dieses Buch einen gut gelungenen Überblick zu Indikationen, aktuellen Entwicklungen sowie unterschiedlichen methodischen Verfahrensweisen psychotherapeutischer Arbeit mit geriatrischen Patienten bietet. Dies ist auch in den breiteren Zusammenhang epidemiologischer Entwicklungen gestellt und unterstreicht so die dringende Notwendigkeit der praktischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Thematik.

Weiter enthält dieses Werk jedoch auch Kapitel, die einerseits Bezüge zur eigentlich schon weit zurückliegenden und deshalb gewissermaßen langen Historie ärztlichen bzw. therapeutischen Bemühens um das Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist auch im höheren und sehr hohen Lebensalter aufzeigen, andererseits aber auch von der doch noch relativ jungen Geschichte teils recht mühsamer Annäherung und sehr bedächtiger Überwindung (inter-)disziplinärer Hindernisse berichten. Dieser Band kann und sollte auf jeden Fall dazu beitragen, dass aus allem eine Geschichte des Erfolgs wird.

Als deutlich »somatisch« orientiert ausgebildetem Arzt kamen jetzt bei der Lektüre einzelner Kapitel Erinnerungen an frühe Jahre des Studiums und der Assistentenzeit an der Medizinischen Universitätsklinik in Heidelberg. Diese Universitätsklinik hatte als eine der ersten in Deutschland ein Department-System und – aufgrund langer Tradition – eine eigene Abteilung für Psychosomatische Medizin, ebenso selbstverständlich wie eine Abteilung für Klinische Pharmakologie. Der junge Student war geradezu »begeistert« von den Vorlesungen und Seminaren von und mit Walter Bräutigam. Abendliche, um nicht zu sagen nächtliche Seminare bei Hubertus Tellenbach waren zugegebenermaßen besonders wegen der intellektuellen Herausforderung wahre Highlights, aber auch der Tiefe seelischen, psychischen Leids tatsächlich ein »Faszinosum«. Nach Jahren beruflicher Tätigkeit in der Geriatrie und möglicherweise mit eigenem Älterwerden kommen Erinnerungen hieran und beeindruckende Bilder aus dieser Zeit zurück. Warum?

Weil das Tun im klinischen Alltag bei Diagnostik und Behandlung multimorbider alter Menschen auf Basis einer ordentlich fundierten, heißt begründbaren geriatrischen Medizin auch bei möglichst umfassendem Blick auf die relevanten Dimensionen von Gesundheit von Fall zu Fall an Grenzen kommt. Verschiedene Erfahrungsberichte in diesem Buch verdeutlichen die Sinnhaftigkeit und den ergänzenden Nutzen psychotherapeutischer Arbeit für geeignete Patienten in der Geriatrie.

Es ist das Verdienst von Reinhard Lindner, sich seit mehreren Jahren mit beharrlicher Nachhaltigkeit für die Belange der psychischen Gesundheit älterer Patienten zu engagieren. Ich wünsche dem von Jana Hummel und ihm konzipierten und herausgegebenen Buch möglichst viele Leserinnen und Leser. Es trägt sicher bei zur Verbreitung von Kenntnissen über die Möglichkeiten der Psychotherapie im Alter generell und ihrem Einsatz speziell im Setting geriatrischer Kliniken.

 

Hamburg, im Juni 2014

 

Wolfgang von Renteln-Kruse

Chefarzt, Leiter der Geriatrischen Klinik im Albertinen-Haus, Hamburg

Vorwort

 

 

Psychotherapie in der Geriatrie – eine innovative Kooperation

Psychische Störungen sind ein wichtiger Faktor bei Prozessen des Alterns, wie auch beim Erleben und Verarbeiten körperlicher Erkrankungen im Alter. Über die Hälfte der über 70-Jährigen leiden unter psychopathologischen Symptomen. Über ein Drittel aller klinisch-geriatrischen Patienten haben eine psychosomatische/psychiatrische Komorbidität.

Obwohl die Europäische Union 2008 ein integratives Behandlungsmodell spezifischer Interventionen für psychische und körperliche Störungen im Alter forderte, sind geriatrische und psychosomatisch-psychotherapeutische Kooperationen noch immer sehr selten. Dies betrifft besonders die Diagnostik und Behandlung affektiver Störungen (einschließlich der Suizidalität), der pathologischen Trauer, der posttraumatischen und somatoformen Störungen sowie interpersoneller Konflikte und Krankheitsverarbeitungsstörungen (besonders bei Schmerzen und Multimorbidität). Dabei ist bekannt, dass psychische Störungen bei geriatrischen Patienten zu längeren stationären Liegezeiten, schlechteren Behandlungsergebnissen, höherer Morbidität und gesteigerten Ausgaben führen. Psychiatrische und psychosomatische Konsil-/Liaisondienste in geriatrischen Kliniken fördern die psychischen Funktionen und die poststationäre Unabhängigkeit, sie reduzieren die Verweildauer und die stationären Behandlungskosten. Als Kooperationsmodelle zwischen Psychotherapie und Geriatrie sind gemeinsame gerontopsychiatrisch-geriatrische Stationen, psychotherapeutische Interventionen in und aus der Neuropsychologie, einzelne, z. B. konsiliarische Inputs wie auch tagesklinische Behandlungserfahrungen bekannt. Der Einsatz von Richtlinienpsychotherapie in der Geriatrie ist dabei aber noch extrem selten.

Das vorliegende Buch unternimmt eine Synopse bestehender Ansätze zum Verständnis psychischer Probleme, Störungen und Konflikte bei körperlichen Erkrankungen Hochbetagter und der bisherigen Erfahrungen mit verschiedenen psychotherapeutischen Angeboten. Derzeit ist mit wissenschaftlicher Evidenz nachgewiesen, dass sowohl psychodynamische als auch verhaltenstherapeutische Verständnisansätze und Therapieformen bei hochbetagten Patienten wirksam sind. Aus diesem Grund werden die aktuellen Ergebnisse und Behandlungsansätze aus diesen psychotherapeutischen Schulen präsentiert, ergänzt durch klinische Erfahrungen und Forschungsergebnisse aus der Musik- und Tanztherapie.

Auch wenn hier nicht der Anspruch auf Vollständigkeit psychotherapeutischer Ansätze mit multimorbiden Hochbetagten erhoben werden kann, so hoffen die Herausgeber, einen Überblick über die Versorgungslage, -angebote und -inhalte bei dieser Patientengruppe zu geben, der für Psychotherapeuten, Neuropsychologen, Geriater, Psychiater und Psychosomatiker wie auch anderen praktisch mit Hochbetagten arbeitenden Professionellen anregend ist. Zudem aber möchten sie zu weiteren wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere im Bereich der Psychotherapie- und Versorgungsforschung, anregen. Die Erforschung der Effektivität psychotherapeutischer Behandlungen im hohen Lebensalter und bei Multimorbidität kann die stichhaltige Grundlage für die Erweiterung der Versorgungsleistungen der Kostenträger bieten. Bereits die in diesem Buch präsentierten Ergebnisse weisen darauf hin, dass sowohl ambulante als auch stationäre Behandlungsangebote nicht nur gesundheitsförderlich, sondern kostensparend sein können. In diesem Buch befassen sich einige Arbeiten mit den richtungsweisenden ambulanten (aufsuchenden) und stationären (konsiliarischen) psychotherapeutischen Angeboten.

Die Herausgeber bedanken sich bei den Autoren für die intensive und fruchtbare Zusammenarbeit, die nun in diesem Buch einen Ausdruck findet. Sie bedanken sich bei Prof. Dr. Wolfgang von Renteln-Kruse, Chefarzt der Medizinisch-Geriatrischen Klinik Albertinen-Haus, und Herrn Ralf Zastrau, Geschäftsführer der Albertinen-Krankenhaus/Albertinen-Haus gGmbH für ihre Förderung der Zusammenarbeit von Geriatrie und Psychosomatik in ihrem Haus, bei Herrn Dr. Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag sowie der Lektorin Frau Anita Brutler für die intensive Begleitung des Erscheinungsprozesses dieses Buches. Wir bedanken uns auch bei der Robert Bosch Stiftung für die vielfältige finanzielle Unterstützung von Forschungsprojekten der Herausgeber im Rahmen des Forschungskollegs Geriatrie als auch für die Unterstützung eines wissenschaftlichen Symposiums zum Thema »Psychotherapie in der Geriatrie« im September 2013 und des Erscheinens dieses Buches.

Ein besonderer Dank aber gilt unseren älteren Patienten, die es uns durch ihr Vertrauen erst ermöglichen, ihre Situation zu verstehen, sie zu begleiten und ihnen in ihren oftmals konflikthaften und schwierigen Lebenssituationen zu helfen.

 

Hamburg und Mannheim, im Juni 2014

 

Reinhard Lindner und Jana Hummel

Inhalt

 

 

  1. Geleitwort
  2. von Wolfgang von Renteln-Kruse
  3. Vorwort
  4. Teil I Psychotherapie und Geriatrie – eine psycho-somatische Annäherung
  5. 1 Gerontologie und Psychotherapie im hohen Alter
  6. Andreas Kruse
  7. 2 Von den »Problemen einer integrierten psychiatrischen Tätigkeit im Allgemein-Krankenhaus« (1971) zur Psychotherapie in der Geriatrie (2014) – Weiterentwicklungen in klinischer Erkenntnis, Forschung und Versorgung?
  8. Hartmut Radebold und Reinhard Lindner
  9. 3 Epidemiologie psychischer Erkrankungen im höheren Lebensalter
  10. Jana Volkert und Martin Härter
  11. Teil II Indikationen zur Psychotherapie bei Multimorbidität
  12. 4 Erhalt der sozialen Teilhabe
  13. Gabriela Stoppe
  14. 5 Grundlagen der Psychotherapie Hochaltriger – zur These sekundärer Strukturdefizite
  15. Meinolf Peters
  16. 6 »Es ist besser, Schmerz zu empfinden als gar nichts zu fühlen« – der ältere depressive Mensch in der psychotherapeutischen Praxis
  17. Eike Hinze
  18. 7 Psychotherapeutische Ansätze bei Demenz
  19. Daniel Kopf
  20. 8 Suizidalität in der geriatrischen Klinik
  21. Uwe Sperling
  22. Teil III Formen der Psychotherapie mit Hochbetagten
  23. 9 Psychotherapeutische Interventionen im geriatrischen Klinikalltag – ein Erfahrungsbericht
  24. Susanne Wilfarth
  25. 10 Psychotherapie bei Depression im Pflegeheim
  26. Eva-Marie Kessler und Sabrina Agines
  27. 11 Aufsuchende psychodynamische Psychotherapie bei Hochbetagten
  28. Reinhard Lindner
  29. 12 Verhaltenstherapeutische Interventionen in Akutgeriatrie und in der geriatrischen Rehabilitation – ein Erfahrungsbericht
  30. Ulrike Müller-Wilmsen
  31. 13 »Konnten Sie Ihre Ängste und Bedenken mit der Schwester oder dem Pfleger besprechen?« Zur Zufriedenheit geriatrischer Patienten mit einem psychosomatischen Konsil-/Liaisondienst
  32. Reinhard Lindner und Ronald Foerster
  33. 14 Psychotherapie mit multimorbiden, depressiven geriatrischen Patienten – zur Studie »AIDE – Acute Illness and Depression« und zur aktuellen Versorgungssituation
  34. Jana Hummel
  35. 15 Verhaltenstherapeutische Behandlung der Suizidalität bei Hochbetagten
  36. Sylvia Schaller
  37. 16 Leib-seelische Netzwerke – Psychoanalytische Musiktherapie mit einer schwierigen, hochgradig dementen Patientin
  38. Barbara Dehm-Gauwerky
  39. 17 Atmosphären therapeutisch gestalten – Musiktherapie als ästhetische Arbeit im Bereich Demenz
  40. Jan Sonntag
  41. 18 Tanz-, Bewegungstherapie im Alter
  42. Iris Bräuninger
  43. Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
  44. Stichwortverzeichnis

Teil I  Psychotherapie und Geriatrie – eine psycho-somatische Annäherung

1        Gerontologie und Psychotherapie im hohen Alter

Andreas Kruse

1.1       Was alte Menschen geben können – Entwicklungspotenziale in der Verletzlichkeit des hohen Alters

In seiner am 15. März 2013 gegebenen Audienz für die Kardinäle, zwei Tage nach seiner Wahl zum Papst, äußerte sich Papst Franziskus auch zum Wesen des Alters. Nachfolgend sei die entsprechende Passage seiner Rede angeführt:

»Liebe Mitbrüder, nur Mut! Die Hälfte von uns steht in fortgeschrittenem Alter: Das Alter ist – gern drücke ich es so aus – der Sitz der Weisheit des Lebens. Die Alten haben die Weisheit, im Leben ihren Weg zurückgelegt zu haben wie der greise Simeon, wie die greise Anna im Tempel. Und genau diese Weisheit hat sie Jesus erkennen lassen. Schenken wir diese Weisheit den jungen Menschen: Wie der gute Wein, der mit den Jahren immer besser wird, so schenken wir den jungen Menschen die Weisheit des Lebens. Mir kommt in den Sinn, was ein deutscher Dichter über das Alter gesagt hat: ›Es ist ruhig das Alter und fromm.‹ Es ist die Zeit der Ruhe und des Gebets. Und es ist auch die Zeit, den jungen Menschen diese Weisheit zu geben.« (Papst Franziskus 2013, S. 25 f.)

Diese Charakterisierung ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Zunächst wird – ein Gedicht Friedrich Hölderlins (1770–1843) aufgreifend – das Alter als »Zeit der Ruhe und des Gebets« gedeutet: »Es ist ruhig das Alter und fromm«, so heißt es in Hölderlins Gedicht »Meiner verehrungswürdigen Großmutter zu ihrem 72. Geburtstag«. Papst Franziskus gilt als ein Hölderlin-Kenner, und die Tatsache, dass er aus den zahlreichen Deutungen des Alters, die Friedrich Hölderlin in seinem Schrifttum vorgenommen hat, gerade diese auswählt, weist darauf hin, dass er die Ruhe (»ruhig«) und das Gebet (»fromm«) als zentrale psychologische und religiöse Merkmale des Alters ansieht. Doch treten zwei weitere Aspekte hinzu, und diese geben der gewählten Charakterisierung aus einem weiteren Grund besonderes Gewicht: Das Alter wird als »Sitz der Weisheit des Lebens« beschrieben, wobei diese Weisheit des Lebens auf den Erlebnissen, Erfahrungen und Begegnungen gründet, die Menschen im Laufe ihrer Biografie gewonnen haben, wie auch auf der Reflexion dieser biografischen Stationen. Nur so lässt sich die Aussage: »Die Alten haben die Weisheit, im Leben ihren Weg zurückgelegt zu haben« deuten. Diese Weisheit bildet eine potenzielle Stärke oder Ressource des Alters, und zwar vor allem in den Beziehungen zwischen den Generationen, wenn es nämlich heißt: »Und es ist auch die Zeit, den jungen Menschen diese Weisheit zu geben.«

Wir finden hier Bausteine einer Anthropologie des Alters, die nicht nur für das Verständnis des Alters bedeutsam sind, sondern die uns auch helfen, die Potenziale einer Psychotherapie des hohen Lebensalters (neuntes, zehntes Lebensjahrzent) klarer zu umschreiben: Diese können zum einen darin gesehen werden, die Ich-Integrität zu fördern und psychische Prozesse anzustoßen, die in der gerontologischen Forschung mit dem Begriff der »Gerotranszendenz« (Erikson 1998; Tornstam 1989) umschrieben werden: Zu nennen sind hier vor allem die differenzierte Wahrnehmung des eigenen Selbst, die Integration von persönlicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Verwirklichung kosmischer Bezüge, in die die eigene Existenz eingebettet ist, sowie die Integration in eine Generationenfolge, innerhalb derer man nicht nur empfängt, sondern auch gibt.

Bleiben wir noch kurz bei Friedrich Hölderlin stehen. Zunächst sei ein Abschnitt aus jenem Gedicht – »Meiner verehrungswürdigen Großmutter zu ihrem 72. Geburtstag« – angeführt, dem die Aussage des Papstes entnommen ist:

Manches hab ich versucht und geträumt und habe die Brust mir

Wund gerungen indes, aber ihr heilet sie mir, O ihr Lieben! und lange, wie du, o Mutter! zu leben

Will ich lernen; es ist ruhig das Alter und fromm.

Kommen will ich zu dir; dann segne den Enkel noch einmal,

Dass dir halte der Mann, was er, als Knabe, gelobt.

Im Kontext dieses Abschnittes wird noch deutlicher, wie die Aussage »Es ist ruhig das Alter und fromm« zu verstehen ist: In der Art und Weise, wie ältere Menschen leben, können sie jüngeren Menschen Vorbild sein. Für die Psychotherapie bedeutet dies: Als jüngerer Psychotherapeut kann man schon dadurch, dass man geistiges und emotionales Interesse an der Art und Weise zeigt, wie ein älterer Mensch sein Leben gestaltet – auch das Leben in Grenzsituationen –, dazu beitragen, dass dieser sein Alter bei aller Verletzlichkeit, mit der das hohe Alter konfrontiert, annimmt (Kessler 2013). Und es sollte nicht übersehen werden, dass die konzentrierte Betrachtung der Lebensführung und Lebensgestaltung alter Menschen den jüngeren Menschen selbst bereichern kann (Kruse 2013a).

In seiner aus sechs Strophen bestehenden Ode »Abendphantasie« verwendet Friedrich Hölderlin eine ähnliche, gleichzeitig eine etwas anders gerichtete Formulierung. In dieser Ode heißt es:

Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt

Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja, Du ruhelose, träumerische!

Friedlich und heiter ist dann das Alter.

Das Alter erscheint hier als Zielpunkt des Lebens, und Friedrich Hölderlin drückt aus, wie er sich die Ausgestaltung dieses Zielpunkts vorstellt: friedlich (im Sinne des Friedens mit anderen Menschen, im Sinne des Frieden mit sich selbst – hier durchaus im Sinne der Ich-Integrität zu verstehen) und heiter (im Sinne einer optimistischen, positiven Einstellung gegenüber der eigenen Zukunft), wobei er das »Glühen« der Jugend dem »Frieden« und der »Heiterkeit« des Alters gegenüberstellt. Hier wird ein bemerkenswertes geistig-emotionales Potenzial des Alters beschrieben, dessen Verwirklichung angesichts der Verletzlichkeit als eine schöpferische Leistung zu deuten ist (Lehr 2011) – die, wie Studien übereinstimmend zeigen, von der überwiegenden Mehrzahl alter Menschen tatsächlich gezeigt wird (Kessler und Staudinger 2010). Diese Haltung kann sich, wie in der Theorie der sozioemotionalen Selektivität (Carstensen und Lang 2007) angenommen, dabei vor allem in emotional intimen Beziehungen zeigen, die in besonderer Weise geeignet sind, positive Emotionen anzustoßen. Mit dieser Haltung wird auch ein Zielzustand der Psychotherapie mit alten Menschen beschrieben: die Lösung innerer und äußerer Konflikte, die Ausbildung oder weitere Stärkung der subjektiven Überzeugung, das eigene Altern gestalten zu können, sowie der gefasste Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft (Heuft 2010; Radebold 2009). In einem derartigen psychologischen und sozialen Kontext kann sich das von Hölderlin beschriebene Gefühl der Heiterkeit (als Ausdruck der Überwindung von Grenzen sowie der Bejahung des Lebens in seiner Verletzlichkeit und Endlichkeit) einstellen. Es ist bemerkenswert, dass Paul Celan (1920–1970) in einem – in seinem Nachlass gefundenen – Gedicht ebenfalls das Wort »heiter« verwendet:

ICH LOTSE DICH hinter die Welt,

da bist du bei dir, unbeirrbar,

heiter

vermessen die Stare den Tod,

das Schilf winkt dem Stein ab, du hast alles

für heut Abend.

Der hier gewählte Ort des Wortes »heiter« lässt uns dessen Gehalt noch besser verstehen: Heiter zu sein ist nicht mit »guter Stimmung« gleichzusetzen; vielmehr ist hier mit diesem Wort die Verbindung von Gefasstheit, Zufriedenheit und Optimismus auch bei dem Blick auf die eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit gemeint. Vergänglichkeit und Endlichkeit bilden das zentrale Thema des von Celan verfassten Gedichts; zugleich aber die Fähigkeit, diese innerlich zu überwinden: Damit nähert man sich dem theoretischen Konzept der »Gerotranszendenz«, das die innere Überwindung der Vergänglichkeit und Endlichkeit als eine der Bedingungen für die vermehrte Ausbildung der kosmischen Orientierung des Menschen versteht.

Die Gleichzeitigkeit von Entwicklungspotenzialen und Verletzlichkeit im hohen Alter, die sich in der Hinsicht ausdrücken lässt, dass Entwicklungspotenziale in der Verletzlichkeit des Lebens erkennbar sind, bildet eines der für die Psychotherapie in diesem Lebensabschnitt zentralen Themen (Maercker 2002). Dabei sind die Entwicklungspotenziale auch, wenn nicht sogar primär in den Beziehungen zu anderen, vor allem zu jüngeren Menschen zu sehen – ganz wie dies in der Rede von Papst Franziskus ausgedrückt wird. Die Weitergabe von Lebenswissen (Rentsch 2013) bildet hier eine Domäne des Alters, die auch in der Psychotherapie fruchtbar gemacht werden kann, sodass wir sagen können: Der Reichtum an biografischem Material muss sich nicht als nachteilig für eine Psychotherapie auswirken, sondern kann diese sogar befruchten – in der Hinsicht, als sich alte Menschen im psychotherapeutischen Kontakt auch als Gebende erleben, deren Lebenswissen, deren Rat von anderen Menschen – in diesem Falle vom Psychotherapeuten – geschätzt wird. Die auf Dionysios von Halikarnassos zurückgehende Aussage: »Meine Leiden werden zu Lehren werden für die anderen« (pathemata paideumata genesetai tois allois) erweist sich auch in diesem Kontext als bedeutsam. Die Befruchtung ist nicht nur auf Seiten des Psychotherapeuten erkennbar, sondern auch auf Seiten des alten Menschen selbst.

Neben der Weitergabe von Lebenswissen ist ein weiterer Aspekt zu nennen, der gerade mit Blick auf die Entwicklungspotenziale im Alter – auch in der Verletzlichkeit – als wichtig erscheint: Es ist die Sorge des Menschen für und um Andere. In einer gerade abgeschlossenen Studie zu den »Daseinsthemen« (diese beschreiben zentrale Anliegen und Orientierungen des Individuums) im hohen Alter (85 Jahre +) konnten wir N = 400 Frauen und Männer ausführlich zu Biografie, Gegenwart und Zukunft interviewen (Kruse 2014). Dabei zeigte die daseinsthematische Analyse der Gegenwart und Zukunft, welches Gewicht die subjektiv erlebte Sorge für und um Andere im Erleben alter Menschen besitzt: Diese Sorge gilt ihnen als Ausdruck eines mitverantwortlichen Lebens und dieses wiederum als Ausdruck der Teilhabe. Mit dem Begriff der Sorge ist hier gemeint, dass man Andere aktiv unterstützt (»Sorge für«) oder dass man sich innerlich intensiv mit der Lebenssituation Anderer beschäftigt, dass man sich in deren Lebenssituation hineinversetzt und darüber nachdenkt, wie man diese durch eigenes Handeln fördern kann (»Sorge um«). Nicht wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Untersuchung, die keine Möglichkeiten mehr sahen, für Andere zu sorgen und sich um Andere zu sorgen, berichteten, dass sie das Gefühl hätten, »aus der Welt gefallen zu sein«. Der aktive Beitrag zu einer »Sorgestruktur« (oder einer »sorgenden Gemeinschaft«) ist für das Lebensgefühl des Menschen auch im hohen Alter von grundlegender Bedeutung.

In Arbeiten des Philosophen Emmanuel Levinas (1995) wird der unbedingte Anspruch des Anderen hervorgehoben, der dem eigenen Anspruch vorgeordnet sei. Die zentrale Stellung des Subjekts wird hier zugunsten des unbedingten Anspruchs des Anderen aufgegeben. Bevor ich zu mir selbst komme, so Levinas, steht mir der Andere gegenüber; dieser besitzt die Qualität der unbedingten vorausgehenden Verpflichtung – und erst durch den Anderen komme ich zu mir selbst. Dieser unbedingten Inanspruchnahme durch den Anderen ist das Subjekt unterworfen, weswegen Immanuel Levinas den lateinischen Begriff »subjectum« im Sinne von »subjactum« – nämlich »unterworfen« – übersetzt. Diese Anthropologie bildet eine bemerkenswerte Grundlage für ein tieferes Verständnis der Lebenssituation alter Menschen, die in der Verwirklichung von freundschaftlich gemeinter Sorge eine Möglichkeit finden, die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit anzunehmen und in dieser schöpferisch zu leben – wobei die vertiefte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst Wissen und Erkenntnisse zutage fördert, die in die Beziehung zu anderen Menschen (vor allem nachfolgender Generationen) eingebracht werden und diese in besonderer Weise befruchten können: ein wichtiges Fundament der freundschaftlich gemeinten Sorge.

Diese Aussage ist mit Blick auf die Psychotherapie wichtig, beschreibt sie doch eine weitere wichtige Zielsetzung: den Menschen darin zu unterstützen, sich auch sorgend (und zwar im positiven Sinne des Wortes) anderen Menschen zuzuwenden, zu erkennen und vor sich selbst anzuerkennen, wie viel er bzw. sie anderen Menschen geben kann – wobei sich die Formen verwirklichter Sorge von Person zu Person erheblich voneinander unterscheiden können, je nach materiellen und ideellen Ressourcen, über die das einzelne Individuum verfügt. Damit verwirklichen alte Menschen auch das Motiv der Generativität, das heißt der Bereitstellung eigener Ressourcen für nachfolgende Generationen mit dem Ziel, diese in ihrer Entwicklung zu unterstützen und in deren Leben »fortzuleben« (McAdams, Josselson und Lieblich 2006).

1.2       Introversion, Offenheit und Generativität als zentrale Orientierungen des hohen Alters

Die psychologische Betrachtung des hohen Alters führt uns zu drei grundlegenden Orientierungen in dieser Lebensphase: Die erste bildet die Introversion, das heißt: die vertiefte Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, die zweite die Offenheit, das heißt, die Empfänglichkeit für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse, die aus dem Blick auf sich selbst wie auch aus dem Blick auf die umgebende soziale und räumliche Welt erwachsen, die dritte schließlich die Generativität, das heißt, die Überzeugung, sich in eine Generationenfolge gestellt zu sehen und in dieser Generationenfolge Verantwortung zu übernehmen. (Es sei betont, dass die Konstrukte »Introversion« und »Offenheit« hier nicht – wie zum Beispiel in persönlichkeitspsychologischen Beiträgen von Costa und McCrae – als stabile »Eigenschaften«, sondern vielmehr als Haltungen oder Orientierungen verstanden werden, die unter dem Einfluss der Lebens- und Entwicklungsbedingungen auch intraindividuell erheblich variieren können.)

Warum werden diese drei Orientierungen betont? Die mehr und mehr in das Zentrum des Erlebens tretende Begrenztheit und Endlichkeit der eigenen Existenz erfordert eine konzentrierte, vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst (Introversion). Das hohe Alter kann als eine Lebensphase gedeutet werden, in der das Potential zur Introversion – verstanden als vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst – mehr und mehr in das Zentrum rückt (Coleman 2010). In der Introversion drückt sich zum einen das in der Biografie gewonnene Lebenswissen und das Wissen über sich selbst aus, in ihr differenziert sich zum anderen dieses Lebenswissen wie auch das Wissen über sich selbst. In einer Arbeit über die Selbsterkenntnis im Alter umschreibt der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) diesen Prozess wie folgt:

»Gegen das Ende des Lebens nun gar geht es wie gegen das Ende eines Maskenballs, wann die Larven abgenommen werden. Man sieht es jetzt, wer diejenigen, mit denen man, während seines Lebenslaufs, in Berührung gekommen war, eigentlich gewesen sind. Denn die Charaktere haben sich an den Tag gelegt, die Taten haben ihre Früchte getragen, die Leistungen ihre gerechte Würdigung erhalten und alle Trugbilder sind zerfallen. Zu diesem allen nämlich war Zeit erfordert. – Das Seltsamste aber ist, dass man sogar sich selbst, sein eigenes Ziel und Zwecke, erst gegen das Ende des Lebens eigentlich erkennt und versteht, zumal in seinem Verhältnis zur Welt, zu den andern. Zwar oft, aber nicht immer, wird man dabei sich eine niedrigere Stelle anzuweisen haben, als man früher vermeint hatte; bisweilen auch eine höhere; welches dann daher kommt, dass man von der Niedrigkeit der Welt keine ausreichende Vorstellung gehabt hatte und demnach sein Ziel höher steckte, als sie. Man erfährt beiläufig, was an einem ist« (Schopenhauer 1924, S. 52).

Die tiefe, konzentrierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst – im Sinne der differenzierten Wahrnehmung des Selbst, im Sinne des differenzierten Rückblicks auf das eigene Leben und schließlich des gefassten und hoffenden Blicks auf die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit (hoffend in der Hinsicht, Sterben und Tod innerlich »unversehrt« zu überstehen) – ist bedeutsam für ein schöpferisches Leben im hohen Alter (Lehr 2011). »Schöpferisch« meint hier, dass sich das Selbst ausdrücken und mitteilen kann (Selbstaktualisierung), ja, dass es sich sogar weiter differenzieren kann (Aktualgenese), wobei die Selbstaktualisierung – auf Arbeiten des Neurologen und Psychoanalytikers Kurt Goldstein (1947) zurückgehend – als eine grundlegende Tendenz des Psychischen zu begreifen ist, sich auszudrücken und mitzuteilen, die Aktualgenese – auf Arbeiten des Psychologen William James (1890) Bezug nehmend – als das über die gesamte Lebensspanne gegebene Potenzial der Psyche, sich unter dem Einfluss neuer Anregungen und Aufgaben weiterzuentwickeln. Die reflektierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst bildet diesem Verständnis zufolge eine bedeutende Grundlage für Prozesse der Selbstaktualisierung und der Aktualgenese, und diese Prozesse bilden ihrerseits ein Fundament der positiven Lebenseinstellung wie auch der gefassten und hoffenden Einstellung zur eigenen Endlichkeit.

Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die Psychotherapie? Entscheidend ist hier zunächst, dass die Selbstaktualisierung und Aktualgenese auch als Potenziale des hohen Alters (und eben nicht nur früherer Lebensabschnitte!) verstanden werden – woraus sich positive Behandlungsperspektiven auch für alte Menschen ergeben. Zudem sollte sich die Psychotherapie zunehmend für – von außen betrachtet – kleine und kleinste Veränderungsprozesse sensibilisieren, die aus einer Innenperspektive signifikante Veränderungen darstellen können: Zu nennen ist zum Beispiel das an Intensität zunehmende Motiv, sich anderen Menschen zuzuwenden, weil man sich dies allmählich wieder zutraut, zu nennen ist weiterhin das wachsende Motiv, sich wieder den kreativen Bereichen der eigenen Person zuzuwenden, zu nennen ist schließlich das stärker werdende Motiv, in einer anderen – differenzierteren, gefassteren – Art und Weise über das eigene Alter (einschließlich seiner Verletzlichkeit) zu denken. Wichtig ist hier, dass von dem Psychotherapeuten und dem psychotherapeutischen Prozess neue Anregungen ausgehen, die die Selbstaktualisierung aufgreifen und die Aktualgenese in Gang zu setzen vermögen.

Die vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst wird dabei durch die Offenheit des Menschen für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse gefördert. Diese Offenheit für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse – mithin für seelische, geistige und spirituelle Prozesse – bildet ein zentrales Thema in den Briefen Francesco Petrarcas. Von besonderer Bedeutung für das Verständnis seiner seelischen und religiösen Entwicklung ist jener im Jahre 1336 an den Augustinermönch Francesco Dionigi gerichtete Brief, in dem er seine Erlebnisse bei der Besteigung des Mont Ventoux in Südfrankreich beschreibt. In diesem Brief ist zu lesen:

»Was du heute so oft bei der Besteigung dieses Berges erfahren hast, wisse, dass dies dir und vielen widerfährt, die das selige Leben zu gewinnen suchen. Aber es wird deswegen nicht leicht von den Menschen richtig gewogen, weil die Bewegungen des Körpers offensichtlich sind, die der Seele jedoch unsichtbar und verborgen« (Petrarca 1995, Absatz 12, S. 13).

Robert Peck (1968) umschreibt die Offenheit mit dem Begriff der »kathektischen Flexibilität«, die sich im höheren Lebensalter vor allem in der »Transzendierung des Körperlichen«, im hohen Alter in der »Transzendierung des Ichs« ausdrücke. Ein Mangel an kathektischer Flexibilität, so Robert Peck, führe hingegen dazu, dass das Individuum im Körperlichen verhaftet sei, sich also ganz auf körperliche Prozesse konzentriere – damit verbunden sei eine deutlich verringerte Sensibilität für seelische, geistige und soziale Prozesse. Dieser Mangel an kathektischer Flexibilität sei auch dafür verantwortlich zu machen, dass das Individuum im eigenen Ich verhaftet sei, sich nicht über sich selbst hinaus entwerfe und damit auch keine Sensibilität für das Fortleben in nachfolgenden Generationen und die spirituellen Kräfte der menschlichen Existenz entwickle (Sulmasy 2002).

Hans Thomae (1951) charakterisiert das Konstrukt der »Offenheit« in seiner Schrift »Persönlichkeit – eine dynamische Interpretation« wie folgt:

»So könnte man etwa als Maßstab der Reife die Art nehmen, wie der Tod integriert oder desintegriert wird, wie das Dasein im Ganzen eingeschätzt und empfunden wird, als gerundetes oder unerfüllt und Fragment gebliebenes, wie Versagungen, Fehlschläge und Enttäuschungen, die sich auf einmal als endgültige abzeichnen, abgefangen oder ertragen werden, wie Lebenslügen, Hoffnungen, Ideale, Vorlieben, Gewohnheiten konserviert oder revidiert werden. Güte, Gefasstheit, Abgeklärtheit sind Endpunkte einer Entwicklung zur Reife hin, Verhärtung, Protest, ständig um sich greifende Abwertung solche eines anderen Verlaufs. [. . .] Güte, Abgeklärtheit und Gefasstheit sind nämlich nicht einfach Gesinnungen oder Haltungen, die man diesen oder jenen Anlagen oder Umweltbedingungen zufolge erhält. Sie sind auch Anzeichen für das Maß, in dem eine Existenz geöffnet blieb, für das Maß also, in dem sie nicht zu Zielen, Absichten, Spuren von Erfolgen oder Misserfolgen gerann, sondern so plastisch und beeindruckbar blieb, dass sie selbst in der Bedrängnis und noch in der äußersten Düsternis des Daseins den Anreiz zu neuer Entwicklung empfindet« (Thomae 1951, S. 164).

Die kathektische Flexibilität bzw. Offenheit bildet dabei auch eine entscheidende Grundlage für die Definition und Verwirklichung von Therapiezielen der Psychotherapie im hohen Alter (wie auch in anderen Lebensabschnitten): Zum einen ist sie selbst als generelles Therapieziel zu verstehen, zum anderen ist deren Ausprägungsgrad entscheidend für Umfang und Tiefe der spezifischen Therapieziele. Die Förderung von kathektischer Flexibilität und Offenheit ist dabei an die Fähigkeit des Behandelnden und des Behandelten gebunden, die seelisch-geistigen (und spirituellen) Qualitäten des hohen Alters in der spezifischen Art und Weise, wie sich diese im individuellen Falle darstellen, differenziert wahrzunehmen, an- und auszusprechen. Dies bedeutet auch, über Aspekte des menschlichen Lebens in einer veränderten Art und Weise zu denken und zu sprechen: so zum Beispiel über die begrenzte Lebenszeit (die auch als Anstoß verstanden werden kann, neue – zeitlich nicht zu weit ausgreifende – Ziele zu definieren), so zum Beispiel über die abnehmende Anzahl sozialer Interaktionspartner (die auch als Anstoß verstanden werden kann, sich auf einige wenige Interaktionspartner zu konzentrieren und in diesen Kontakten vermehrt emotionale Bedürfnisse zu leben).

Nicht nur die Introversion und die Offenheit erscheinen als bedeutende Merkmale des hohen Alters, sondern auch das Verlangen, sich in eine Generationenfolge gestellt zu sehen und damit Lebenswissen und reflektierte Erfahrungen an nachfolgende Generationen weiterzugeben – dies immer auch im Bewusstsein des in den vorangehenden Generationen liegenden eigenen Ursprungs (Biggs und Haapala 2010). Dieses Verständnis von Generativität (Integration des Rückblicks auf die vorangegangenen Generationen und des Vorausblicks auf die nachfolgenden Generationen) lässt sich veranschaulichen mit den Worten des englischen Theologen und Schriftstellers John Donne (1572–1631), in dessen 1624 veröffentlichter Schrift »Devotions upon emergent occasions« zu lesen ist:

»All mankind is of one author, and is one volume; when one man dies, one chapter is not torn out of the book, but translated into a better language; every chapter must be so translated. No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main. Any man’s death diminishes me, because I am involved in mankind. Therefore, do not send to know for whom the bell tolls, it tolls for thee« (Donne 1624/2008, S. 97).

Allerdings muss das Individuum die Möglichkeit haben, sein Lebenswissen, seine reflektierten Erfahrungen einzubringen, sich für andere Menschen zu engagieren, etwas für nachfolgende Generationen zu tun: Sozialräume müssen so gestaltet sein, dass sich entsprechende Gelegenheitsstrukturen entwickeln und festigen können (Schmitt und Hinner 2010). Eine derartige Sozialraumgestaltung ist gerade angesichts der Tatsache wichtig, dass höchstbetagte Menschen – auch bei aller seelisch-geistigen und sozialkommunikativen Kompetenz – nicht selten Einschränkungen in ihrer Mobilität aufweisen und somit auf eine Umweltgestaltung angewiesen sind, die ihnen hilft, diese Mobilitätseinschränkungen wenigstens in Teilen auszugleichen.

1.3       Intentionalität und Daseinsthematik

In ihrem 1933 erschienenen klassischen Werk »Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem«, das in Deutschland den Beginn psychologischer Lebenslaufforschung markiert, stellt Charlotte Bühler mit Blick auf eine Psychologie des Lebenslaufs fest, dass

»[. . .] ein wirkliches Verständnis der Vorgänge bei Bedürfnis und Aufgabe weder durch ein Studium einzelner, aus dem Lebensganzen herausgerissener Handlungen noch aber durch das bloße Bemühen um die Entstehung dieser Vorgänge in der Kindheit zu erlangen ist. Vielmehr [. . .] [sei es] unbedingt erforderlich, aus dem Ganzen und vor allem vom Ende des menschlichen Lebenslaufs her zu erfassen, was Menschen eigentlich letztlich im Leben wollen, wie ihre Ziele bis zu diesem letzten gestaffelt sind« (Bühler 1933, S. VII).

Nach Charlotte Bühler ist das Individuum durch seine Intentionalität, seine aktive und kreative Hinordnung auf Ziele, charakterisiert; im Zentrum ihres Interesses steht dabei das »integrierende Selbst«, das diese Hinordnung erst ermöglicht. Gestaltungsfähigkeit und Gestaltungswille des Individuums – in der frühen psychologischen Forschung mit dem Begriff der »Plastik« (Stern 1923) in der psychologischen Forschung mit dem Begriff der »Selbstregulation« umschrieben (Brandtstädter 2007) – enden nicht mit einem bestimmten Lebensalter, sondern bilden ein über die gesamte Lebensspanne bestehendes Entwicklungspotenzial.

Zentrale Bedeutung für das Erleben, Verhalten und Handeln gewinnt weiterhin die thematische Analyse der Persönlichkeit, sind es doch immer auch die persönlich bedeutsamen Themen, die dem Erleben, Verhalten und Handeln der Person eine individuelle Gestalt und Richtung geben: die subjektive Deutung einer Situation wie auch der Umgang mit dieser sind durch die daseinsthematische Struktur beeinflusst. Erleben, Verhalten und Handeln in solchen Situationen, die den Kern der Person berühren, lassen sich nur verstehen, wenn aufgezeigt werden kann, in welcher Beziehung diese Situation zur thematischen Struktur dieser Person steht. Diese Aussage ist zum Beispiel bei einer psychologischen Analyse des individuellen Sinnerlebens wichtig: Eine Situation wird in dem Maße als stimmig erfahren, in dem sie mit der daseinsthematischen Struktur des Individuums übereinstimmt – wobei sich die daseinsthematische Struktur aus der Gesamtheit aller Daseinsthemen bildet, die für das Individuum aktuell (in der gegenwärtigen Situation), temporär (über weitere Zeiträume hinweg) oder bleibend Bedeutung (über einen Lebensabschnitt hinweg) besitzen (Kruse und Schmitt 2011):

»Eine dynamische Interpretation der Persönlichkeit kann von hier aus als Lehre von der Interaktion aktueller, temporärer und chronischer thematischer Strukturierungen angesehen werden« (Thomae 1968, S. 498).

Für die Psychotherapie im Alter ergibt sich aus den zur Intentionalität und daseinsthematischen Struktur getroffenen Aussagen eine grundlegende Anforderung: das Individuum darin zu unterschützen, den eigenen Lebenslauf auf Ziele und Werte hin zu befragen, die verwirklicht werden konnten, die unverwirklicht blieben, die neu definiert werden mussten. In diesem Kontext kommt auch – rückblickend – jenen Situationen besondere Bedeutung zu, in denen das eigene Leben als stimmig erlebt wurde. Vor dem Hintergrund dieser Reflexion können Prozesse angestoßen werden, die ihrerseits die weitere Selbstdifferenzierung in Richtung hin zur Ich-Integrität fördern und die zugleich das Individuum darin unterstützen, auch in Phasen erhöhter Verletzlichkeit – verbunden mit dem zunehmend intensiveren Erleben eigener Endlichkeit – bei sich selbst seelisch-geistige, zum Teil auch spirituelle Qualitäten wahrzunehmen, die helfen, die eingetretene Grenzsituation innerlich zu überwinden (Erikson 1998).

1.4      Abschluss

In diesem Beitrag steht die seelisch-geistige Dimension des alten Menschen im Zentrum, wobei für das Verständnis des hohen Alters von großer Bedeutung ist, diese Dimension mit der erhöhten körperlichen (zum Teil auch kognitiven) Verletzlichkeit in diesem Lebensalter zusammen zu schauen. Die erhöhte Verletzlichkeit schließt die schöpferischen Kräfte des Menschen – die seelischen, die geistigen, die spirituellen – nicht aus, sondern vermag diesen in Teilen eine neue Richtung zu geben: »Schöpferisch zu sein« meint in der Konfrontation mit der Verletzlichkeit immer auch, Grenzsituationen innerlich zu überwinden, wobei im Prozess dieser innerlichen Überwindung eine bemerkenswerte Fortsetzung, wenn nicht sogar Vertiefung des eigenen Werkes – des gelebten Lebens wie auch des in diesem Leben Geschaffenen – vonstattengehen kann. Wenn wir nun noch einmal die Potential- und Verletzlichkeitsperspektive zusammenschauen und nach einem Beispiel suchen, das für seelische und geistige ebenso wie für spirituelle Entwicklungspotentiale bei hoher körperlicher Verletzlichkeit spricht, so fällt der Blick auf den Komponisten Johann Sebastian Bach (1685–1750). In dem Buch »Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach – Psychologische Einblicke« (Kruse 2013b) werden die körperliche, die seelische, die geistige und die spirituelle Entwicklung dieses Komponisten in den letzten Jahren seines Lebens ausführlich dargestellt. Johann Sebastian Bach litt in diesen Jahren an einem Diabetes mellitus Typ II (dieser wurde durch eine Skelettanalyse bei der Umbettung des Leichnams Anfang der 1950er Jahre nachgewiesen), der seinerseits mit Schädigungen der Nervenzellen und Sinneszellen einherging; weiterhin waren bei ihm stark ausgeprägte motorische Läsionen erkennbar, die ihn mehr und mehr daran hinderten, seine Kompositionen selbst aufzusetzen (hier war er auf die Unterstützung durch seine Schüler angewiesen); schließlich traten eine Erblindung sowie ein Schlaganfall hinzu. Trotz dieser körperlichen Verletzlichkeit unterrichtete Johann Sebastian Bach Schüler (was damals hieß, diese bei sich aufzunehmen) und arbeitete an zwei Werken, die mit zu den größten gehören, die in der europäischen Kompositionsgeschichte je geschaffen wurden: der Kunst der Fuge (BWV 1080) und der Missa in h-Moll (BWV 232). Die h-Moll-Messe führte er zum Abschluss, die Kunst der Fuge blieb unvollendet, da sich Bach am Ende seines Lebens intensiv mit der h-Moll-Messe befasste und nicht mehr die Zeit fand, den 14. Kontrapunkt in Gänze niederzuschreiben (bzw. niederschreiben zu lassen). Die Kunst der Fuge wird in der Musikwissenschaft auch aufgrund ihres »experimentellen« Charakters als ein außergewöhnliches Werk eingestuft (Johann Sebastian Bach entfaltet in diesem Werk die unterschiedlichsten Fugentechniken, er entwickelt in diesem Werk geradezu eine »Fugenlehre« für nachfolgende Musikergenerationen), die h-Moll-Messe erfährt ihrer umfassenden Gesamtanlage, der Vielfalt der Kompositionsformen, der eindrucksvollen Passung von Wort und Musik und ihrer ästhetischen Wirkung wegen eine derartige Bewertung. Nun muss man wissen, dass sich Johann Sebastian Bach am Ende seines Lebens vor allem mit dem Credo in unum deum und dem Confiteor in unum baptisma beschäftigt hat, also mit zwei Teilen der Missa, die in besonderer Weise auf seinen Glauben an den Großen Gott verweisen. In beiden Sätzen baut er über das jeweilige Cantus-firmus-Motiv eine Fuge auf, die jeden Hörer in ihren Bann zieht: Hier wird das Ich glaube (credo), hier wird das Ich bekenne (confiteor) mit einer musikalischen Kraft deklamiert, dass man nie glauben würde, ein körperlich hoch verletzlicher, die Endlichkeit schon sehr deutlich spürender Mensch hätte diese Sätze geschrieben. Die darin zum Ausdruck kommende, seelisch-geistige Energie kontrastiert mit der immer schwächer werdenden körperlichen Leistungsfähigkeit. Dies zeigt, dass selbst im Angesicht des eigenen Todes Entwicklungsschritte vollzogen werden können – so bei Johann Sebastian Bach die Bekräftigung seines Glaubens an den Großen Gott bei zunehmender Gewissheit, bald zu sterben.

Literatur

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