cover
cover

Vorwort

 
 

Im März 2001 ergab eine Umfrage des Münchner Instituts für Jugendforschung, dass 35 % aller Jugendlichen den Namen Petra Kelly mit der Popgruppe gleichen Namens, der Kelly-Family, in Verbindung bringen und von der frühen Galionsfigur der GRÜNEN ganz offensichtlich noch nie etwas gehört haben.

Ähnlich würde es möglicherweise jenen Bahnreisenden ergehen, die im ICE »Else Lasker-Schüler« über Wuppertal nach Berlin fahren. Manch einer mag vielleicht noch wissen, dass es sich dabei um eine deutsche Lyrikerin handelt, doch welch merkwürdige Frau sich hinter dem Namen verbirgt, ahnen sicherlich die wenigsten.

Beim Namen Romy Schneider scheint den meisten ganz spontan »Sissi« einzufallen, obwohl die Schauspielerin ihr Leben lang versucht hat, dieses süßliche Image los zu werden, das – wie sie selbst sagte – »wie Grießbrei« an ihr zu kleben schien.

Gehört hat man die meisten Namen schon einmal: Charlotte Corday, Mata Hari und natürlich Agatha Christie – die Mörderin, die Spionin, die berühmte Krimiautorin –, doch warum sie so wurden, wie sie schließlich waren, ist nicht immer geläufig.

Im Folgenden sollen daher zehn ungewöhnliche Frauen aus zwei Jahrhunderten ein wenig ausführlicher vorgestellt werden, ungewöhnlich in zweierlei Hinsicht: Manche von ihnen waren vielleicht ganz einfach nur seltsam, wie jene Franziska Schanzkowski, die sich ein Leben lang als Zarentochter Anastasia ausgegeben hat. Andere hingegen erscheinen durchaus bemerkenswert – oder auch beides zugleich, die sprichwörtlichen Kerzen, die an beiden Enden brannten und entsprechend früh erloschen sind. So vertrat gewiss nicht nur Romy Schneider die Maxime: »Ich gehe immer aufs Ganze!«

Dass diese Frauen dabei nicht immer Rücksicht auf sich selbst und vor allem auf andere genommen haben, liegt wohl in der Natur der Sache. Gemeinsam war ihnen allen, dass sie den Weg, den sie für sich als einzig richtigen erachtet hatten, konsequent zu Ende gingen, auch wenn nicht alle von ihnen das Ziel erreichten, das sie sich einmal erträumt haben mochten. Doch sie haben ihr Leben so gelebt, dass die Bilanz am Schluss vielleicht ähnlich ausgefallen ist wie die von Edith Piaf: »Ich bereue nichts und würde noch einmal genau dasselbe tun.«

Charlotte Corday

»Das Ziel heiligt die Mittel« 
Die Frau, die den Revolutionär Marat in der Badewanne erstach

Die Einzelgängerin

Zu denjenigen Frauen, deren Namen untrennbar mit der Französischen Revolution verbunden sind, gehört zweifelsohne auch Marie Anne Charlotte Corday d’Armont, die als Charlotte Corday in die Geschichte eingegangen ist. Daher soll sie auch hier so genannt werden, obwohl sie eigentlich Marie gerufen wurde und so auch ihre Briefe unterzeichnete.

Nahezu jeder kennt wohl das berühmte Bild des Malers Jacques-Louis David, auf dem der ermordete Jean-Paul Marat über den Badewannenrand hängend dargestellt wird, Papier und Feder noch in der Hand haltend. Seine Mörderin hingegen, eine junge Frau von knapp 25 Jahren, ist immer ein wenig konturlos geblieben und hat es nie geschafft, als strahlender Racheengel in die Geschichte einzugehen oder gleich einer alttestamentarischen Judith gar zum Mythos zu werden. Ganz im Gegensatz zu einigen ihrer Zeitgenossinnen war Charlotte Corday eine nach außen hin völlig unauffällige Erscheinung, die bis zu ihrer spektakulären Bluttat niemals politisch aktiv geworden war.

Zahllose andere Frauen hatten sich hingegen auf die eine oder andere Art durchaus an den revolutionären Aktionen beteiligt, am Sturm auf die Bastille ebenso wie am Marsch auf Versailles, als die Pariser Marktfrauen im Oktober 1789 mit Hacken und Piken bewaffnet zum Schloss Ludwigs XVI. zogen, um gegen die ständig weiter steigenden Brotpreise zu demonstrieren. Die privilegierteren Damen wie Germaine de Staël (1766  1817), Sophie de Condorcet (1764  1822) oder Olympe de Gouge (1748  1793) fanden derweil ein Betätigungsfeld in den zahlreichen Pariser Salons, jenen bevorzugten Foren politischer Debatten, die zwar von Männern dominiert, von schönen und geistreichen Damen jedoch nicht selten inspiriert wurden.

Dabei zählte es freilich keineswegs zu den Zielen der Französischen Revolution, die Gleichberechtigung der Frau voranzutreiben, im Gegenteil. Man hielt es eher mit dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712  1778), der schlichtweg der Meinung war: »Wenn es nur vernünftige Männer auf der Welt gäbe, so bliebe jedes gelehrte Mädchen ein Leben lang eine alte Jungfer.« Die meisten Frauen waren da natürlich ganz anderer Meinung: Wenn sich die Herren Revolutionäre schon anschickten, die Welt aus den Angeln zu heben, dann wollten sie nicht weiterhin im Abseits stehen: »Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen«, schrieb die Schriftstellerin Olympe de Gouge in ihrer »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin«, »sie muss gleichermaßen das Recht haben, die Tribüne zu besteigen.«

Eine Tribüne hat Charlotte Corday, eine junge Frau aus der Provinz, niemals bestiegen, auch gar nicht besteigen wollen, und in ihrem kurzen Leben keinen einzigen Pariser Salon betreten. Die Emanzipation der Frau gehörte ohnehin nicht zu den Themen, mit denen sie sich beschäftigte, wenn sie abends bei Kerzenlicht die Werke der Philosophen der Aufklärung las und sich darüber ihre Gedanken machte. Auch sie fühlte den brennenden Wunsch nach einer besseren, gerechteren Welt, die am 14. Juli 1789 tatsächlich anzubrechen schien. Doch Charlottes anfängliche Hoffnungen wichen nach einiger Zeit einem unbändigen Hass auf die Wortführer der Revolution, insbesondere auf Jean-Paul Marat, den sie für den Schlimmsten und Blutrünstigsten von allen hielt. Ganz langsam wuchs daher in ihr der Wunsch, den teuflischen Journalisten zu liquidieren und durch diese Tat das französische Volk zu retten – so wie Judith einst mit der Ermordung des Holofernes das hebräische Volk gerettet hatte.

Das Klosterfräulein

Charlotte wurde am 27. August 1768 als Kind einer verarmten Adelsfamilie in einem kleinen Ort mit Namen St. Saturnin-des-Ligneries in der Normandie geboren. Zusammen mit vier Geschwistern wuchs sie auf dem elterlichen Gut in recht bescheidenen Verhältnissen auf, die insbesondere der Vater Jacques-François jedoch nicht so einfach hinzunehmen gewillt war. Als gebildeter Mann war auch er von den Ideen der Aufklärung durchdrungen, doch scheint er eher ein Träumer und romantischer Utopist gewesen zu sein als ein Mann der Praxis. Auf jeden Fall verbrachte er seine Zeit mit der Abfassung zahlloser Pamphlete und Resolutionen, um so gegen die weitere Verarmung des Landadels anzukämpfen, vergeblich 

Charlotte war also schon recht früh mit den Grundzügen des aufklärerischen Gedankenguts vertraut gewesen. In der Familie wurde viel gelesen, und man war stolz darauf, dass der Dichter Pierre Corneille zu den Vorfahren der Mutter zählte.

Als Charlotte neun Jahre alt war, zog die Familie nach Caen, da sich der Vater, des tristen Landlebens überdrüssig, hier offenbar bessere Chancen erhoffte. Doch dann kam alles anders: Bei der Geburt eines weiteren Kindes starb Charlottes Mutter mit 45 Jahren, und der Witwer stand plötzlich mit zwei kleinen Mädchen allein da, mit denen er im Grunde nichts anzufangen wusste. Die älteste Schwester war schon vor einigen Jahren gestorben, und die beiden Söhne besuchten inzwischen die Militärakademie. Blieben also noch Charlotte und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Eléonore zu versorgen. Doch Jacques-François Corday hatte Glück: Das Benediktinerinnenkloster Abbaye-aux-Dames in Caen, das einst von Mathilde, der Gemahlin Wilhelm des Eroberers, gegründet worden war, erklärte sich bereit, die beiden Halbwaisen bei sich aufzunehmen. Hin und wieder nämlich wählten die Klosterfrauen unter den vielen mittellosen Töchtern des Landadels einige wenige aus, die dann kostenlos die Klosterschule besuchen durften.

Es scheint, als habe sich Charlotte in der ruhigen und kontemplativen Atmosphäre ausgesprochen wohlgefühlt. Denn als sie ihre Schulausbildung beendet hatte, beschloss sie, nicht zu ihrem Vater zurückzukehren, sondern im Kloster zu bleiben. Nachdem sie sich zunächst als Spitzenklöpplerin betätigt hatte, um zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen, wurde sie schon bald von der Äbtissin gebeten, als ihre Privatsekretärin zu fungieren. Man mochte die ruhige und nachdenkliche Charlotte, die nicht viel sprach, aber alle ihr aufgetragenen Arbeiten sorgsam und zuverlässig erledigte. Es war ein friedliches und beschauliches Leben, abgeschirmt von den Geschehnissen auf der Welt, die nur hin und wieder durch die dicken Klostermauern drangen. Vielleicht war dies der Grund, warum Charlotte schließlich den Entschluss fasste, Nonne zu werden. Es ist freilich auch möglich, dass sie es nur tat, um weiterhin versorgt zu sein. Denn zum Heiraten fehlte ihr nicht nur die notwendige Aussteuer, sondern auch, so scheint es, die rechte Lust. Und Frauenklöster waren ja bekanntlich seit je nicht nur Orte frommer Besinnung, sondern ebenso beliebte Unterkünfte für unversorgte Töchter. Doch es sollte ohnehin alles anders kommen, denn das friedliche Leben endete ziemlich abrupt. Nachdem eine »Regulierungskommission« in Frankreich bereits seit 1766 einschneidende Programme ausgearbeitet hatte, die in der Folgezeit zur Aufhebung von zahlreichen Konventen führten, wurden am 13. Februar 1790 im Zuge der Französischen Revolution sämtliche Klöster (mit Ausnahme der krankenpflegenden Orden) aufgelöst und so stand Charlotte mit 21 Jahren völlig allein und mittellos auf der Straße, denn eine Entschädigungszahlung vom Staat erhielten nur ehemalige Nonnen.

In dieser verzweifelten Situation fand Charlotte schließlich Aufnahme bei einer entfernten Verwandten, Madame de Bretteville, die ebenfalls in Caen lebte. Hier verbrachte sie die nächsten drei Jahre, doch es war ein recht eintöniges Leben, das sie führte. Hin und wieder brachten Verwandtenbesuche ein wenig Abwechslung in ihren Alltag, doch meistens vertrieb sie sich die Zeit mit Lektüre und Briefeschreiben oder erledigte für ihre Tante ein paar kleine Gefälligkeiten. Und auch wenn sich gewiss der eine oder andere Verehrer für das stille Mädchen mit den aschblonden Haaren und sanften Gesichtszügen interessiert haben wird, so gab es doch keine engeren Männerbekanntschaften in Charlottes Leben und sie hatte Zeit, viel zu viel Zeit zum Lesen, Träumen und Nachdenken.

Bücher als einzige Freunde

Charlottes einzige Freunde waren und blieben die Bücher, allen voran die Schriften der Aufklärer Locke, Montesquieu und Rousseau, die damals in ganz Frankreich weite Verbreitung fanden. Die Lehre von der Gewaltenteilung, die verhindern sollte, dass die Staatsgewalt in den Händen eines Einzelnen ruhte, schien auch Charlotte der einzig richtige Weg zu sein, Frankreich zu einem ähnlich freien Land zu machen, wie es die Vereinigten Staaten von Amerika bereits waren. Dort hatte man schließlich bereits 1776 mit der Unabhängigkeitserklärung bewiesen, dass die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz nicht länger eine Utopie bleiben musste!

So hatten es auch die Schriften des aus Genf stammenden Jean-Jacques Rousseau (1712  1778) gelehrt, die besagten, dass alle Staatsgewalt beim souveränen Volk ruhe und es die vornehmste Aufgabe des Staates sei, den Menschen, die sich zusammengeschlossen hatten, zu dienen – nicht sie zu unterdrücken und sich an ihnen zu bereichern.

Dieses Gedankengut erfüllte Charlotte mit großer Hoffnung, und vorübergehend hatte es ja tatsächlich so ausgesehen, als würde es den Hauptakteuren der Französischen Revolution gelingen, die Ideen von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« in die Praxis umzusetzen. Aus den Zeitungen erfuhr Charlotte vom Sturm auf die Bastille, von der Aufhebung der Adelsprivilegien und der Erklärung der Menschenrechte. Doch nur wenige Monate später, als sie das Kloster verlassen musste, hatte sie sich bereits fragen müssen, warum man ihr die Freiheit nahm, dort zu leben, wo sie wollte. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben war für Charlotte mit einem freiwilligen Aufenthalt im Kloster nämlich durchaus vereinbar. Wo sonst auf der Welt genoss man als Frau mehr Unabhängigkeit? Das Leben im Kloster garantierte eine sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich abgesicherte Existenz ohne Bevormundung durch den Mann, frei zudem von den üblichen Alltagssorgen. Und es bot den Klosterfrauen in der Regel genügend Zeit zur Lektüre, zum Schreiben oder Malen.

Waren es zunächst persönliche Erfahrungen gewesen, die die junge Frau zunehmend skeptischer werden ließen, so war es später die zunehmende Radikalisierung der Revolution, die sich für Charlotte nach der Verhaftung Ludwigs XVI. abzuzeichnen begann. Dafür hasste sie die Anführer Robespierre und Danton, ganz besonders aber Jean-Paul Marat, der mit seinen aggressiven Parolen ihrer Meinung nach der Schlimmste von allen war. Wer war dieser Mann?

Jean-Paul Marat – ein »blutgieriger Tiger«?

Jean-Paul Marat, geboren am 24. Mai 1743 in Boudry/Neuchâtel in der Schweiz, war Journalist und Herausgeber des Journals »L’ami du peuple« (»Der Volksfreund«), eines von zahllosen einschlägigen Blättern, die damals in Paris erschienen, um den revolutionären Eifer der Bevölkerung anzustacheln. Er war ein ungewöhnlich vielseitig begabter Mann, der seinerzeit in Bordeaux und Paris Medizin studiert und anschließend in London als Arzt gearbeitet hatte. Die politischen Verhältnisse in Frankreich hatten ihn freilich schon damals beschäftigt. 1774 veröffentlichte er in London »The Chains of Slavery« (»Die Ketten der Sklaverei«), eine leidenschaftliche Verdammung der Regierungen auf dem Kontinent als einzige Verschwörung von Königen, Adel und Klerus. 1777 kehrte er zurück nach Frankreich, wo er sich zunächst als Tierarzt beim Grafen von Artois verdingte, später dann zum Arzt von dessen Leibgarde avancierte. Damals erwarb er sich nicht nur den Ruf als ausgezeichneter Lungen- und Augenspezialist, er veröffentlichte auch verschiedene Abhandlungen zum Thema Elektrizität und Optik, von denen einige auch ins Deutsche übersetzt wurden. Bei aller Genialität war er ein ruheloser Geist, der stets nach neuen Betätigungsfeldern suchte, besessen zudem von dem Wunsch, Frankreich durch die Revolution umzukrempeln.

Marat arbeitete – auch und gerade – als Journalist mit der Intensität des verzehrenden Ehrgeizes: »Ich habe von 24 Stunden nur zwei für Schlaf übrig«, bekannte er, »in drei Jahren habe ich noch keine Viertelstunde Muße gehabt.« Da konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass er für seine Umgebung nur schwer zu ertragen war, zumal ihn eine unheilbare chronische Hautentzündung plagte, von der er nur zeitweise Linderung fand. Und doch litt er nicht unerheblich darunter, als exzentrischer Choleriker verachtet zu werden. Im »Journal de la République« vom 14. Januar 1793 schrieb er: »… wenn die Feinde der Freiheit nicht aufhören, mich zu verleumden, indem sie mich als Hitzkopf, Träumer und Wahnsinnigen darstellen, als Menschenfresser, blutgierigen Tiger, als Ungeheuer, und das, um bei der Nennung meines Namens Grauen hervorzurufen und das Gute zu verhindern, das ich tun möchte und könnte. Geboren bin ich mit einer empfindsamen Seele, einer feurigen Phantasie, einem aufbrausenden, offenen und zähen Charakter, einem aufrechten Herzen, einem Geist, der für alle lodernden Eigenschaften empfänglich ist …«

Doch von einer »empfindsamen Seele« oder einem »aufrechten Herzen« vermochte Charlotte Corday bei Marat nicht die geringste Spur zu entdecken. Nach der Lektüre seiner zahllosen Pamphlete, die er in besessener Tag- und Nachtarbeit zu produzieren pflegte, und die immer unverblümter zur Vernichtung der Gegner aufriefen, kam sie zu der Überzeugung, dass er in Wahrheit sehr wohl jener »blutgierige Tiger« war, als den ihn seine Feinde bezeichneten. Und diese Ansicht kam nicht von ungefähr: »500 oder 600 abgeschlagene Köpfe hätten euch Ruhe, Freiheit und Glück gesichert«, schrieb Marat im »Volksfreund« bereits am 26. Juli 1790, »eine falsch verstandene Menschlichkeit hat eure Arme gelähmt und euch gehindert, Schläge auszuteilen … Sobald eure Feinde einen Augenblick lang triumphieren, wird das Blut in Strömen fließen.« Bei Marat, so empfand es Charlotte, schien nicht Tinte, sondern Blut aus der Feder zu fließen, so furchterregend waren seine wortgewaltigen öffentlichen Aufrufe zu Gewalt, Rache und Terror. Dieser Mensch, diese Geißel der Menschheit, der er in ihren Augen war, konnte und durfte das Volk nicht länger zu Gewalttaten aufrufen, Gewalttaten, die inzwischen sogar das friedliche Caen erreicht hatten.

Terror in Caen

Nachdem die Jakobiner in der Nationalversammlung endgültig die Oberhand gewannen, wurde Ludwig XVI. im August 1792 abgesetzt und eingekerkert. Frankreich war jetzt eine Republik, allerdings nicht die Republik, von der einst nicht nur Charlotte Corday und Vater Jacques-François geträumt hatten. Vollends schockiert war Charlotte, als der König am 21. Januar 1793 hingerichtet wurde. So weit hätte es niemals kommen dürfen!

Ihre Brüder hatten angesichts der radikalen Entwicklung das Land bereits verlassen, und Charlotte vorgeschlagen, ihrem Beispiel zu folgen, aber sie zog es trotz allem vor, in der Heimat zu bleiben. Doch die blutigen Ausschreitungen hatten mit dem Tod des Königs ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht, denn die Revolutionäre bekämpften sich nun gegenseitig, die radikalen Jakobiner (so genannt, weil sie im früheren Jakobskloster ihre Sitzungen abhielten) und die gemäßigten Girondisten (von denen die meisten aus dem Département Gironde stammten). Schließlich setzten sich die Radikalen unter der Führung von Robespierre, Danton und Marat vollends durch. Und sie wollten das Leben des französischen Volkes völlig umgestalten. Alles, was an die Monarchie erinnerte, sollte ausgemerzt werden, und wenn es sein musste, mit blutiger Gewalt! Doch die »500 oder 600 abgeschlagenen Köpfe«, die Marat einst gefordert hatte, brachten keineswegs die erhoffte »Ruhe, Freiheit und Glück«, im Gegenteil. Die bedrängten Girondisten flohen aus Paris und fanden Zuflucht in Caen, das nun zum nördlichen Stützpunkt der »Föderalistischen Reaktion« gegen die Jakobiner wurde. Und so kam auch Charlotte Corday zum ersten Mal mit der Revolution und ihren Auswirkungen direkt in Berührung. In ihrem Heimatort besuchte sie nun die Veranstaltungen der Girondisten und erfuhr von ihrem Plan, eine Armee zum Marsch auf die Hauptstadt aufzustellen. Und zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie mit ihren Gedanken und ihrem Hass auf die Jakobiner keineswegs allein dastand, einem Hass der noch größer wurde, als sie den Terror mit eigenen Augen zu sehen bekam: Bei einem Aufruhr in Caen wurde ein Neffe ihrer früheren Äbtissin erschlagen und enthauptet, und Charlotte musste entsetzt mit ansehen, wie dessen Kopf gleich einer Trophäe durch die Straßen getragen wurde. Auch der gemäßigte Stadtverwalter wurde vor den Augen seiner Frau und seines Kindes von aufgebrachten Radikalen massakriert. Es schien nur einen Ausweg zu geben: Gleiches musste mit Gleichem vergolten, dem Blutvergießen durch eine Bluttat ein Ende gesetzt werden.

Mehr und mehr begannen Charlottes Gedanken um den wünschenswerten Tod jenes Mannes zu kreisen, der mit seinen hitzigen Pamphleten Schuld an der ganzen Entwicklung zu sein schien: Jean-Paul Marat, der »blutgierige Tiger«. Was Charlotte nicht wusste: Tatsächlich hatte Marat nur geringen Einfluss auf das Geschehen, all seinen Furcht erregenden Aufrufen zum Trotz. Spätestens seit Anfang April 1793 konzentrierte sich die ganze Macht auf Robespierre, Marat hingegen war krank und verließ zu diesem Zeitpunkt kaum noch sein Haus. Ohnehin war er nicht das Ungeheuer, als das er gemeinhin dargestellt wurde. Er soll etliche Menschen vor der drohenden Hinrichtung bewahrt haben und war ganz entgegen seinen aggressiven Aufrufen zumindest zu diesem Zeitpunkt doch eher nachsichtig. Seit 1792 lebte er mit der jungen Simone Evrard zusammen, die sich liebevoll um den gleichwohl schwierigen Patienten kümmerte.

Doch da Charlotte ihre politischen Kenntnisse nur aus der Zeitungslektüre bezog, überschätzte sie die Einflussmöglichkeiten des Publizisten Marat ganz erheblich. In ihren Gedanken sah sie den Bösewicht stets vor sich und malte sich aus, was zur Zeit wohl im fernen Paris vor sich gehen mochte. Zeit dazu hatte sie schließlich zur Genüge.

Derweil hatten etliche Einwohner von Caen damit begonnen, ihre Sachen zu packen und die Stadt zu verlassen, um nicht auch zu Opfern des Terrors zu werden. Charlotte hingegen hatte keine Angst vor dem Tod. Was war ihr Leben schon wert? »Ich habe das Leben immer nur geschätzt nach dem Nutzen, den es bringen könnte«, sollte sie kurz vor ihrer Hinrichtung sagen. Der Kontakt zu Vater und Geschwistern war weitgehend abgerissen, sie besaß keine eigene Familie, um die sie sich kümmern und auf die sie Rücksicht hätte nehmen müssen und hatte keine wirklich sinnvolle Aufgabe. Welchen Sinn hatte es also, weiter zu leben? Welchen Sinn angesichts des ganzen Elends und Blutvergießens? Irgendwann in dieser Zeit muss sich Charlotte Corday in die abstruse Idee verrannt haben, doch noch etwas aus ihrem scheinbar »nutzlosen« Leben zu machen, etwas ganz Großartiges sogar: Sie wollte zur Retterin des französischen Volkes werden! Ihr untätiges Dasein in der Abgeschiedenheit, der mangelnde Kontakt zu anderen Menschen war, wie es scheint, der ideale Nährboden für das allmähliche Anwachsen ihres Sendungsbewusstseins. Ähnlich wie eine Ulrike Meinhof in unserer Zeit, war schließlich auch Charlotte Corday von einem fanatischen Idealismus beflügelt, dem Glauben, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein und für eine gerechte Sache und bessere Welt zu kämpfen – wenn es sein musste, auch mit einer tödlichen Waffe.

Ein Küchenmesser für 40 Sous

Unter den flüchtigen Girondisten, die im Juni 1793 nach Caen gekommen waren, war auch Charles Jean-Marie Barbaroux (1767  1794), ein charismatischer Redner und zudem ein ausgesprochen attraktiver Mann, der sich vor den Annäherungsversuchen junger Frauen kaum zu retten wusste. Eines Tages stand auch Charlotte Corday vor ihm, eine sanfte und introvertierte blondlockige Frau, züchtig bekleidet mit weißer Haube und dem zeitüblichen Brusttuch. Natürlich war Charlotte weit davon entfernt, dem schönen Barbaroux irgendwelche Avancen zu machen. Stattdessen bat sie ihn um einen Empfehlungsbrief an einen Deputierten in Paris, den sie um Hilfe für eine emigrierte Freundin bitten wollte. Der freundliche Barbaroux konnte natürlich nicht ahnen, dass diese Freundin nur in Charlottes Phantasie existierte und riet ihr daher, sich an Monsieur Duperret zu wenden, einen der letzten Girondisten in der Hauptstadt, die noch nicht gefangen, geflohen oder umgebracht worden waren. Damit hatte Charlotte den begehrten Passierschein in der Tasche!

Am 9. Juli bestieg Charlotte Corday die Postkutsche, die sie nach Paris bringen sollte. Sie unterbrach ihre Reise nur einmal in Argentan, um ihren Vater aufzusuchen und ihm mitzuteilen, sie sei auf dem Weg nach England, wohin auch ihre Brüder emigriert waren. Er solle sich daher, falls er nun längere Zeit nichts mehr von ihr höre, keine unnötigen Sorgen machen. Damit stand der Weiterfahrt nach Paris nichts mehr im Wege.

Charlotte Corday kam zum ersten Mal in ihrem Leben in die französische Hauptstadt, doch die junge Frau aus der Provinz bewegte sich hier mit einer geradezu traumwandlerischen Sicherheit. Als Erstes mietete sie sich ein Zimmer im Hôtel de la Providence in der Rue des Vieux Augustins Nr. 17. Dort ging sie in aller Ruhe noch einmal den Plan durch, der in den zurückliegenden Wochen immer konkretere Gestalt angenommen hatte: Marat musste sterben, und zwar nach Möglichkeit auf besonders spektakuläre Weise. Charlotte hatte sich ausgemalt, ihn am 14. Juli, dem Jahrestag der Revolution, vor aller Augen bei den Feierlichkeiten auf dem Marsfeld zu erstechen. Auf diesen dramatischen Auftritt musste sie jedoch verzichten. Marat war ernsthaft krank, verließ das Haus kaum noch und ging auch nicht mehr zur Nationalversammlung, geschweige denn zu einem gut besuchten Volksfest. Sie hatte also keine andere Wahl, als den verhassten Journalisten zu Hause aufzusuchen. Die Adresse herauszufinden, war nicht weiter schwierig: Ein gesprächiger Mietkutscher verriet ihr, dass Marat in einem Haus an der Rue de Cordeliers Nr. 30 wohnte (heute Rue de l’Ecole de Médecine). Nun fehlte nur noch die Mordwaffe, und die besorgte sich Charlotte Corday völlig problemlos in einem Haushaltswarengeschäft am Palais Royal: ein Küchenmesser mit Ebenholzgriff und 20 cm langer Klinge, für das sie 40 Sous bezahlte.

Mord im Badezimmer

Am Morgen des 13. Juli 1793 machte sich Charlotte auf den Weg zu Marats Haus, das Messer griffbereit in ihrem Brusttuch verborgen. Es war ein großes dunkles Gebäude, in dem Marat die erste Etage bewohnte. Eine junge Frau öffnete ihr die Tür, Marats Lebensgefährtin Simone Evrard, die der unangemeldeten frühen Besucherin freilich unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie sie nicht einlassen könne, nicht jetzt und auch nicht später. Marat sei krank und könne niemanden empfangen. Enttäuscht fuhr Charlotte zurück in ihr Hotel und beschloss, ihren Besuch zuvor schriftlich anzukündigen und auch den Grund dafür zu erklären: »Ich komme aus Caen. Sie, der Sie unser Volk lieben, werden interessiert sein, von den Komplotten zu erfahren, die dort geschmiedet werden. Ich erwarte ihre Antwort.« Tatsächlich wurde in der Normandie ein solcher »Marsch auf Paris« vorbereitet, doch war die Zahl der Beteiligten viel zu gering, um sich gegen die Revolutionsheere durchsetzen zu können. Doch das konnte Marat schließlich nicht wissen.

Nachdem Charlotte den Brief abgeschickt hatte, verspürte sie eine wachsende Unruhe. Ohne auf eine Antwort zu warten machte sie sich daher noch am gleichen Tag erneut auf den Weg in die Rue des Cordeliers und wieder wurde sie von Simone zunächst abgewiesen. Doch dann hörte sie plötzlich eine männliche Stimme aus dem Hintergrund: Marat bat Simone, die Besucherin hineinzulassen. Charlotte betrat die düstere Wohnung, die nur spärlich möbliert war und einen eher armseligen Eindruck machte. Viel freilich sah sie nicht, denn Simone geleitete sie unverzüglich ins Bad, seit geraumer Zeit Marats bevorzugtes »Arbeitszimmer«. Seine Hautkrankheit hatte sich in der letzten Zeit derart verschlimmert, dass er nur noch Linderung verspürte, wenn er in warmem Wasser saß, dem Salz und Medikamente beigemischt waren. Es scheint, als habe es sich bei Marats Krankheit um eine Art Skrofulose gehandelt, die sich unter anderem durch ein Gesichtsekzem sowie eine auffällige Anschwellung der Oberlippe äußert.

Da also sah sie ihn nun von Angesicht zu Angesicht, den »blutrünstigen Tiger«, und er sah tatsächlich so Furcht erregend aus, wie Charlotte es sich vorgestellt hatte: ein kleiner und überaus hässlicher Mann, dessen großer Mund mit der charakteristisch vorstehenden Oberlippe besonders abstoßend wirkte. Ein feuchtes Handtuch bedeckte seine Schultern, und um den Kopf hatte er einen bunten essiggetränkten Lappen gebunden. Quer über die Wanne lag ein Brett, auf dem sich Papier, Feder und Tinte befanden, und Marat schien gerade dabei zu sein, ein neues Pamphlet für seine Zeitung zu verfassen.

Marat empfing Charlotte ganz unerwartet höflich und bot ihr sogar einen Stuhl an. Was denn in Caen eigentlich los sei, wollte er von ihr wissen, und nachdem Charlotte Platz genommen hatte, begann sie, von dem geplanten Komplott zu erzählen und die Namen der Aufständischen zu nennen. Marat schrieb derweil eifrig mit und meinte schließlich zufrieden: »Sie werden bald guillotiniert sein.« Dieser Satz war das Stichwort für Charlotte. Mit Schaudern hatte sie in den Zeitungen von der angeblich »humanen« Enthauptungsmaschine gelesen, die erstmals im April 1792 eingesetzt worden war. Seitdem standen Guillotinen im ganzen Land und waren schon fast zum wichtigsten Symbol der Revolution geworden. »Sie werden bald guillotiniert sein« – bei diesen Worten zog sie das Küchenmesser aus ihrem Dekolleté und stieß es Marat mit solcher Gewalt in die Brust, dass es die Halsschlagader durchtrennte und das Blut aus der Wunde spritzte. Er konnte nur noch nach Simone rufen und starb Sekunden später in deren Armen.

Charlotte Corday blieb wie in Trance am Tatort stehen. Simones Hilferufe hatten die Nachbarn alarmiert, und schon bald war Marats Wohnung voller Menschen. Und nur kurze Zeit später kam auch die Polizei, die Charlotte verhaftete und abführte. »Ich habe meine Pflicht getan«, sagte sie lakonisch, »nun sollen sie die ihrige tun«.

Am nächsten Tag berichtete auch die »Gazette française« über den Mord und die Mörderin: »Die Frau hat nicht versucht, die Flucht zu ergreifen. Sie blieb ruhig sitzen und wartete, bis man sie festnahm. Das Ereignis hat hier lebhafte Empörung verursacht und man fürchtet, dass es schreckliche Folgen haben könnte.« Charlotte freilich war vom Gegenteil überzeugt. In ihren Augen hatte sie durch den Mord das Leben vieler Menschen gerettet und Frankreich auf diese Weise Frieden gebracht. Wie die alttestamentarische Judith hatte auch sie sich durch eine List Zutritt zu ihrem Opfer verschafft und war so zu einer wahrhaftigen Heldin geworden!

»Das Ziel heiligt die Mittel«

Charlotte Corday wurde in die Conciergerie gebracht, jenes düstere Pariser Staatsgefängnis auf der Ile de la Cité, in dem später auch Königin Marie Antoinette auf ihre Hinrichtung warten sollte. In der Gefängniszelle schrieb sie die letzten Briefe, in denen sie ihre Tat rechtfertigte. Barbaroux erklärte sie darin selbstbewusst: »Das Ziel heiligt die Mittel«, und auch dem Vater berichtete sie nicht ohne Stolz von ihrer vermeintlichen Heldentat: »Verzeihen Sie, mein lieber Papa, dass ich ohne Ihre Erlaubnis über mein Dasein verfügt habe. Ich habe viele unschuldige Opfer gerächt, habe vielen anderen unglücklichen Ereignissen vorgebeugt; wenn sich dem Volk erst die Augen öffnen, wird es froh sein, von einem Tyrannen befreit zu sein. Wenn ich Ihnen einzureden versuchte, ich führe nach England, so geschah dies, weil ich hoffte, das Incognito zu wahren, aber ich habe die Unmöglichkeit erkennen müssen.«

Dass Charlotte ihre »Heldentat« ursprünglich hatte anonym ausführen wollen, muss freilich bezweifelt werden. Die Tatsache, dass sie sowohl Pass als auch Taufschein bei sich trug, widerspricht ihren Beteuerungen ganz eindeutig. Nein, Charlotte wollte schon als »Racheengel« in die Geschichte eingehen und gleich einer Jeanne d’Arc zur nationalen Lichtgestalt werden.

Sie ahnte nicht im Geringsten, dass die Rolle der »Lichtgestalt« eher von demjenigen ausgefüllt wurde, den sie soeben ermordet hatte. Jetzt nämlich, nach seinem Tod, wurde der zuvor eher unbeliebte Marat geradezu kultisch verehrt. Nachdem Simone Evrard dafür gesorgt hatte, dass der Leichnam einbalsamiert wurde, konnte Marat trotz der sommerlichen Hitze am 15. Juli öffentlich aufgebahrt werden. Gewaltige Scharen von Trauernden nahmen von dem toten Journalisten Abschied und in einem am gleichen Tag stattfindenden Trauerumzug trugen leicht hysterisch wirkende Frauen Marats Badewanne und Schreibzeug gleich heiligen Reliquien durch Paris. Am 16. Juli, dem Tag seiner Beerdigung, schien der Zug der Trauernden gar kein Ende zu nehmen. Vorübergehend entstand ein regelrechter Marat-Kult, der seinen Höhepunkt erreichte, als am 21. September 1794 seine sterblichen Überreste ins Panthéon überführt wurden, jene Ruhmesstätte, die den »großen Männern vom dankbaren Vaterland gewidmet« worden war.

Inzwischen wurde Charlotte Corday der Prozess gemacht. Sie stand zwar zu ihrer Tat, bekannte sich aber nicht schuldig: »Ich tötete einen Mann, um Hunderttausend zu retten«, erklärte sie dem Gericht in unerschütterlicher Ruhe und der sicheren Überzeugung, die Opfer gerächt und weiteren Terror verhindert zu haben. Auch zweifelte sie nicht im Geringsten daran, dass ganz Frankreich hinter ihr stand, denn auf die unvermeidliche Frage ob es mögliche Hintermänner gäbe, antwortete sie: »Ja, alle rechtschaffenen Menschen in Frankreich«, gab aber gleichzeitig an, dass niemand von ihren Plänen gewusst hatte. Das Gericht vermochte Charlottes Ausführungen verständlicherweise nicht zu folgen und verurteilte sie zum Tod durch die Guillotine.

Nach dem Urteil bat Charlotte Corday, man möge ihr einen letzten Wunsch erfüllen und ihr einen Maler schicken, der sie porträtieren sollte, ein Abschiedsbild für ihre Familie, wie sie sagte. Das wurde ihr auch gewährt, und der Maler Jean-Jacques Hauer zeichnete in der kurzen ihr verbleibenden Zeit das Bild einer sanften jungen Frau mit melancholischem Blick, das so ganz und gar nicht zu ihrer Bluttat zu passen schien. Es ist anzunehmen, dass Charlotte Corday genau das beabsichtigte: ihre Darstellung als schuldlose Jungfrau, die im Namen einer höheren Macht gehandelt hatte.

Jean-Jacques Hauer war Zeuge, als in den frühen Morgenstunden des 19. Juli der Henker in Charlottes Todeszelle kam, ihr die Haare abschnitt, ein rotes Hemd überstreifte und sie zu einem Karren brachte, der im Hof bereits auf ihren Abtransport zum Schafott wartete. Nur kurze Zeit später wurde sie auf der Place de la Révolution (heute: Place de la Concorde) hingerichtet. Sie starb, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wie unheilvoll sich ihre Tat für die Girondisten auswirken würde, deren Sache sie doch hatte vertreten wollen.

Zwei Mitglieder des Nationalkonvents – darunter der Maler David, der das berühmte Bild des toten Marat geschaffen hat – untersuchten den Leichnam und stellten fest, dass Charlotte Corday noch Jungfrau gewesen war. Der Sinn dieser Maßnahme ist freilich überaus rätselhaft.

Die Folgen des Mordes

Durch ihren Mord an Marat hatte Charlotte Corday nach eigenem Bekunden »Hunderttausend retten« wollen. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Nun rollten die Köpfe erst recht, und die Ermordung der »Kultfigur« beschleunigte nur die Errichtung des Terrorregimes, weil er über das Rachebedürfnis eine willkommene Legitimation lieferte. Nachdem Danton 1794 auf dem Schafott geendet und Robespierre seinen Platz im Wohlfahrtsausschuss eingenommen hatte, ließ er in ganz Frankreich Revolutionstribunale errichten, von denen Monarchisten, Girondisten, Dantonisten, Mönche und Priester sowie missliebige Leute aus den eigenen Reihen im Schnellverfahren verurteilt und hingerichtet wurden.

Doch auch auf ihre Geschlechtsgenossinnen wirkte sich der Mord an Marat verhängnisvoll aus. Hatten die Frauen zu Beginn der Revolution noch geglaubt, mehr Rechte zu erhalten, so mussten sie diese Hoffnungen nun endgültig begraben. Der Mord an Marat war vielmehr das Signal einer breit angelegten Pressekampagne gegen die politischen Aktivitäten von Frauen. Noch im Oktober desselben Jahres beschloss die Nationalversammlung daher, den »Patriotischen Frauenclubs« und sonstigen Engagements ein Ende zu setzen, »weil es eine Frau war, die das Unglück Frankreichs verursachte«. Fortan sollten sich Frauen nicht mehr in die Politik einmischen, sondern sich ausschließlich der Familie widmen, so, wie es auch Rousseau gefordert hatte. Was blieb, war die »Gleichheit auf dem Schafott« 

Ein spätes »Denkmal« ist Charlotte Corday freilich doch noch gesetzt worden. 1968 verfasste der Dramatiker Peter Weiss das Theaterstück »Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade«. Doch auch hier tritt sie keinesfalls als strahlender Racheengel auf, sondern gleicht einer Schlafwandlerin, die erst durch die Zurufe ihrer Mitspieler dazu ermuntert werden muss, endlich zur Tat zu schreiten.

Sarah Bernhardt

»Ich will sterben, wenn ich nicht die größte Schauspielerin der Welt werden kann« 
Die Magierin auf der Theaterbühne

Sarahs Fenstersprung

Neben ihrer Kollegin Eleonora Duse war Sarah Bernhardt nicht nur die berühmteste Schauspielerin der Belle Époque, sie besaß auch all jene Eigenschaften, die noch heute einen Weltstar auszeichnen: Begabung, Ausstrahlung und natürlich die unvermeidlichen Starallüren. Sie war launisch, gab sich kapriziös und es störte sie auch keineswegs, wenn gemunkelt wurde, sie habe auf ihren Gastspielreisen ständig einen Sarg dabei. Stattdessen ließ sie sich in makaberer Pose darin fotografieren.

Diesen Sarg gab es tatsächlich. In jungen Jahren war Sarahs Gesundheitszustand derart Besorgnis erregend gewesen, dass ihre Umgebung glaubte, das Kind werde an der Schwindsucht sterben. Auch die Heranwachsende selbst plagte sich mit derart düsteren Gedanken, und um sich auf den scheinbar bevorstehenden Tod vorbereiten zu können, wünschte sie sich einen mit weißem Satin ausgeschlagenen Rosenholzsarg. Die Mutter erfüllte ihrer Tochter den seltsamen Wunsch und Sarah scheint hin und wieder tatsächlich darin geschlafen zu haben. Später tauchte der Sarg in der Legende immer wieder auf, doch auf ihre Tourneen hat sie ihn nun doch nicht mitgenommen.

Derart morbide Vorlieben hatte Sarahs Mutter wohl nicht. Die schöne Holländerin Judith van Hard galt als eher lebensfroher Mensch. Ihrer Arbeit als Putzmacherin überdrüssig war die junge Frau nach Paris gekommen, um dort einer lukrativeren Beschäftigung nachzugehen und ihren Lebensunterhalt als Kurtisane zu verdienen. Die Geburt der kleinen Henriette-Rosine am 23. Oktober 1844 war gewissermaßen ein »Betriebsunfall«, der die Mutter freilich nur vorübergehend zwang, vom Ersparten zu leben. Der verantwortungsvolle Vater, offenbar der Jurastudent Edouard Bernard, zahlte nämlich die stattliche Summe von 100 000 Francs an Alimenten für die uneheliche Tochter, sodass für den Unterhalt der Kleinen bestens gesorgt war. Um aber möglichst rasch wieder ihrem einträglichen Gewerbe nachgehen zu können, suchte Judith, die sich jetzt vornehm Madame Bernard nannte, nach einer Amme für ihr kleines Mädchen. So zog Sarah, wie man das Kind jetzt rief, ins ferne bretonische Quimperlé, wo sie die nächsten zwei Jahre verbrachte.

Mittlerweile kamen Judiths Verehrer ausschließlich aus der besseren Gesellschaft, so dass sie es sich leisten konnte, für Tochter und die verwitwete Amme ein Haus in Neuilly zu erwerben, das nur etwa eine Stunde von Paris entfernt lag, wo sie selbst lebte. Dort konnte sie Sarah jetzt hin und wieder besuchen, ohne dass sie freilich sonderlich an ihrem Kind interessiert war. Nicht lange, und der Kontakt brach daher völlig ab. Als Judith nämlich von einer längeren Reise, die sie mit einem ihrer Liebhaber unternommen hatte, wieder zurückkehrte, fand sie das Haus in Neuilly verwaist, Amme und Tochter waren spurlos verschwunden. Da sich Judith so lange nicht mehr hatte sehen lassen, konnte sie auch nicht wissen, dass Sarahs Amme unterdessen wieder geheiratet und mit Ehemann und Pflegekind umgezogen war.

Sarah lebte jetzt in der ärmlichen Hausmeisterwohnung ihrer Pflegeeltern und fühlte sich ausgesprochen unglücklich. Sie vermisste das schöne Haus und den blühenden Garten, denn hier musste sie auf der schmutzigen Straße spielen. Doch der Zufall wollte es, dass eines Tages eine vornehme Kutsche vorbeikam – und in der saß Tante Rosine, die Schwester ihrer Mutter, die sie früher häufiger in Neuilly besucht hatte! Doch so groß die Freude über das unverhoffte Wiedersehen auf beiden Seiten auch gewesen sein mochte, Tante Rosine hatte keine Lust, ihre kleine schmutzige Nichte mitzunehmen, mochte das Kind auch noch so sehr betteln und toben. Insbesondere der Galan an Rosines Seite wandte sich angewidert ab und wäre am liebsten unverzüglich weiter gefahren, doch eine kleine Panne hatte den Kutscher zu einer vorübergehenden Unterbrechung der Reise genötigt. Unterdessen waren auch Sarahs Pflegeeltern durch das Geschrei des Kindes aufmerksam geworden und brachten das wütende Mädchen zurück in die Wohnung. Sarah freilich dachte überhaupt nicht daran, sich in ihr tristes Schicksal zu fügen: Noch nämlich stand die Kutsche auf der Straße. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang sie aus dem Fenster im ersten Stock – und blieb mit einer schweren Gehirnerschütterung und zerschmetterter Kniescheibe auf dem Pflaster liegen. Jetzt endlich erbarmte sich Tante Rosine, hob die verletzte Nichte auf und brachte Sarah zurück zu ihrer Mutter nach Paris.

Szenen auf und hinter der Bühne

Judith Bernard war keineswegs erfreut, als sie ihre kleine Tochter wiedersah, doch wohl oder übel musste sie die verletzte Sarah in ihrer eleganten Pariser Wohnung unterbringen. Die Verletzungen heilten nur langsam, und die magere Kleine blieb ohnehin ein kränkliches Kind, dessen trockener Husten das Schlimmste befürchten ließ. Doch Judith überließ ihr blasses Mädchen den Dienstboten und beschäftigte sich lieber mit der rosigen kleinen Jeanne, die sie vor kurzem zur Welt gebracht hatte. So blieb Sarah ein einsames, schweigsames und mürrisches Kind, das seine Umgebung freilich von Zeit zu Zeit mit heftigen Wutanfällen außer Fassung brachte.

Mit acht Jahren wurde Sarah in ein Pensionat in Auteuil gegeben, um endlich Lesen und Schreiben zu lernen, und die Mutter kam nur zwei Mal auf Besuch vorbei. Das blieb auch so, als Sarah zwei Jahre später auf die angesehene Klosterschule Grandchamps in Versailles überwechselte, die sie nur deshalb besuchen durfte, weil der Duc de Morny, Judiths Liebhaber, das Kind eigens empfohlen hatte. Judith, wenngleich jüdischer Abstammung, hielt es wohl mit Heinrich Heine (1797  1856), der den Übertritt zum christlichen Glauben einmal als »Entréebillet zur europäischen Kultur« bezeichnet hatte. Auch Sarah wurde daher in katholischem Glauben erzogen, getauft und ging 1856 schließlich auch zur Kommunion. Nach langer Zeit fühlte sich das Kind hier zum ersten Mal wieder geborgen. Die frommen Schwestern behandelten sie freundlich und auch die katholische Religion faszinierte sie zutiefst, auch wenn sie ihre jüdische Herkunft niemals vergessen hat. Am liebsten wäre sie in Grandchamps geblieben, doch nach Ende ihrer Schulausbildung musste die 14-Jährige zur Mutter nach Paris zurückkehren.

Inzwischen hatte Sarah eine weitere (Halb-)Schwester bekommen, Régina, die sich eng an die Älteste anschloss. Behaglicher war die Atmosphäre im Hause Bernard freilich keineswegs geworden. Die Kinder waren nach wie vor auf sich selbst gestellt, und Sarah, die mit Wehmut an ihre Zeit in Versailles zurückdachte, empfand ihr Leben nun wieder als ausgesprochen trostlos. Ihr temperamentvolles Naturell, das die Nonnen in Grandchamps ein wenig zügeln konnten, brach sich erneut Bahn. Nach einem offenbar besonders heftigen Wutanfall meinte Duc de Morny, nach wie vor Judiths fester Begleiter, Sarah solle doch am besten Schauspielerin werden. Das junge Mädchen, nach wie vor leidenschaftlich religiös, reagierte auf diesen Vorschlag zutiefst entsetzt, denn Schauspielerin war um die Mitte des 19. Jahrhunderts alles andere als ein ehrenhafter Beruf. Doch auch Mutter Judith war äußerst skeptisch. Ihre älteste Tochter war mit ihrer dünnen Figur und dem krausen rotblonden Haar nicht gerade das, was man damals als Schönheit zu bezeichnen pflegte. Doch Morny ließ sich von seiner Idee nicht abbringen, mochte er sie zunächst auch im Scherz geäußert haben. Er lud Sarah gemeinsam mit ihrer Mutter ein, sich eine Vorstellung in der Comédie Française anzusehen, jenem renommierten Pariser Nationaltheater, das einst von Ludwig XIV. gegründet wurde und in dem schon der große Molière aufgetreten war.

Der Abend wurde für Sarah zu einer Offenbarung: »Was sich da hob«, schrieb sie später in Hinblick auf den roten Vorhang, »war der Vorhang vor meinem Leben.« Man gab »Britannicus« von Racine und Sarah vergaß für eine Weile alles um sich herum, die Mutter, Morny und auch das exklusive Publikum, das sich im ehrwürdigen Hause Molières versammelt hatte.

Sarahs Bedenken waren plötzlich verschwunden. Jetzt wollte auch sie Schauspielerin werden! »Mit jener lebhaften Übertreibung, mit der ich mich an jedes neue Unternehmen mache«, wie es in ihren Memoiren heißt, nahm sie Sprechunterricht. Morny hatte nämlich wieder einmal seine Beziehungen spielen lassen und so der 14-jährigen Sarah die Möglichkeit verschafft, beim Konservatorium vorzusprechen. Dort zeigte sich, dass das junge Mädchen nicht nur über Beziehungen, sondern tatsächlich auch über ein erstaunliches Talent verfügte. Sarahs ausdrucksvoller Vortrag beeindruckte die Jury derart, dass man sie unverzüglich aufnahm.

Jetzt freilich war Sarah nur eine von vielen, und keinesfalls die Beste, so eifrig sie auch an sich arbeiten mochte. Bei der Abschlussprüfung schaffte sie es lediglich auf den zweiten Platz und war derartig enttäuscht, dass sie zumindest vorübergehend mit dem Gedanken spielte, den Traum von der Schauspielerei aufzugeben und stattdessen einen reichen älteren Verehrer zu heiraten, den ihr die Mutter ans Herz gelegt hatte.

Vielleicht wäre sie für die Theaterbühne tatsächlich verloren gewesen, hätte ihr kurze Zeit später nicht ein Bote einen Brief überbracht, dessen Absender kein Geringerer war als der Verwaltungsdirektor der Comédie Française! Sarah sollte am folgenden Tag zu einer Besprechung vorbeikommen. Es ist anzunehmen, dass wieder einmal der Duc de Morny dahintersteckte, denn Sarah wurde tatsächlich genommen, wenn auch nur zur Probe und mit einem Gehalt, das kaum für drei warme Mahlzeiten pro Woche reichte.

Sarah Bernhardt (unterdessen waren ein h und ein t zu ihrem Nachnamen hinzugekommen) debütierte im August 1862 als Iphigenie im gleichnamigen Stück von Racine. Vielleicht lag es an dem heftigen Lampenfieber, das sie ein Leben lang plagen sollte, dass dieser erste Auftritt eher enttäuschend ausfiel. Sie sprach viel zu schnell und undeutlich und lief zum Schluss weinend in ihre Garderobe. Publikum und Kritiker waren ein wenig ratlos und auch der Direktor der Comédie fürchtete, mit Sarahs Engagement einen großen Fehler begangen zu haben, zumal ihre Auftritte hinter der Bühne wesentlich beeindruckender waren als diejenigen auf derselben. Schon bald nämlich waren Sarahs Wutausbrüche auch im altehrwürdigen Hause Molières gefürchtet und ein bedauernswerter Pförtner bekam ihr heftiges Temperament besonders schmerzhaft zu spüren: Die Jungmimin schlug ihm ihren Sonnenschirm auf den Kopf und fügte ihm eine stark blutende Platzwunde zu.

Es dauerte nicht mehr lange, und Sarah Bernhardt sollte am 15.