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Vorwort

 

»Gestern ist wieder eine zur Welt gekommen«

Die Geburt einer Königstochter galt im Männerstaat Preußen gewissermaßen als »Betriebsunfall« bei der »Produktion« von möglichst vielen Söhnen und potenziellen Thronfolgern. Entsprechend unwirsch reagierte daher Friedrich Wilhelm I., als 1720 bereits das fünfte Mädchen zur Welt kam, während es außer dem zarten Kronprinzen Friedrich noch keinen weiteren Sohn gab, der die ersten Jahre überlebt hatte. Mit seinem eigentümlichen Sinn für Humor erwog er, die Prinzessinnen entweder »zu versaufen« oder »Nonnen daraus zu machen«. Dabei plagte den königlichen Vater vor allem die Sorge, alle Töchter irgendwann einmal gut verheiraten zu müssen. Das mochte dann zwar für Preußen durchaus von Vorteil sein, kostete zunächst einmal jedoch eine Menge Geld, vor allem was die Mitgift der Prinzessinnen betraf.

Gleichgültig waren Friedrich Wilhelm I. seine sechs Mädchen jedoch keineswegs, selbst wenn Wilhelmine, die spätere Markgräfin von Bayreuth, das so empfunden haben mag. Aber wie in jeder anderen kinderreichen Familie waren auch am Berliner Hof die Sympathien durchaus unterschiedlich verteilt. Während der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. am meisten an August Wilhelm hing, der 1722 zur Welt kam, favorisierte Königin Sophie Dorothea hingegen ganz eindeutig ihren ältesten Sohn Friedrich, in den sie all ihre Wünsche und Hoffnungen hineinprojizierte. Und der Kronprinz wiederum hatte ein besonders enges Verhältnis zu seiner Schwester Wilhelmine.

So unterschiedlich die Sympathien verteilt waren, so verschieden waren auch die Charaktere. Wilhelmine, die älteste und bekannteste der sechs königlichen Schwestern, präsentierte sich von klein auf stolz und selbstbewusst, glaubte sie doch lange Zeit, später einmal Königin von England zu werden. Dass sie schließlich am vergleichsweise bedeutungslosen Bayreuther Hof landete, hat sie niemals richtig verkraftet. Doch sie hatte das Glück – und einen wohlwollenden Ehemann, der ihr in finanzieller Hinsicht freie Hand ließ –, sich in vielfacher Hinsicht kulturell betätigen zu können und durch rege Bautätigkeit zur eigentlichen »Schöpferin« von Bayreuth zu werden.

Ganz anders erging es der schönen Friederike, die bereits mit 15 Jahren Markgräfin von Ansbach wurde. Sie fand hier kein angemessenes Betätigungsfeld und führte ein eher trostloses Dasein, zumeist fern von ihrem Gemahl. Wie Kronprinz Friedrich seinerzeit richtig beobachtet hatte, hassten die Eheleute einander »wie die Pest«.

Charlotte wiederum, schon bald nach ihrer Heirat Herzogin von Braunschweig-Wolfenbüttel, erwies sich bereits als Kind  als überaus anpassungsfähig und war wohl diejenige der sechs Königstöchter, die Friedrich Wilhelm I. am liebsten hatte. Anders als ihre mitunter eitlen und kapriziösen Schwestern gab sich Charlotte natürlich und unkompliziert und umschiffte so mancherlei Klippen im schwierigen Gewässer der preußischen Königsfamilie. Sie gehörte zu den Ersten überhaupt, die ihr Interesse der gerade erst erwachenden deutschen Literatur zuwandten und schenkte 13 Kindern das Leben.

Sophies Ehe mit dem »wilden Markgrafen« von Brandenburg-Schwedt verlief ebenso unglücklich wie ihr gesamtes vergleichsweise kurzes Leben. Sie zog drei Töchter groß, von denen eine ihren Onkel Ferdinand von Preußen heiratete, hinterließ ansonsten aber nur geringe Spuren. Weitgehend in Vergessenheit geraten ist auch die ambitionierte Ulrike, die eine etwas glücklose »Karriere« als Königin von Schweden machte. Stolz und Ehrgeiz verstellten ihr den Blick auf die tatsächliche Situation des Landes und ihrer Untertanen, die die Preußin zum Schluss regelrecht gehasst haben.

Weniger verhasst als vielmehr gefürchtet war Amalie, die jüngste der preußischen Prinzessinnen, die nicht heiratete, sondern Äbtissin von Quedlinburg wurde. Wenngleich sie sehr belesen war und sich auch als Musikerin einen Namen machte, so war sie doch ganz ohne Zweifel das skurrilste Mitglied der ganzen Königsfamilie. Das lag zum Teil an ihrer sarkastischen Art, zum Teil aber auch an einer schweren Erkrankung, die ihre zweite Lebenshälfte überschattete.

Die sechs preußischen Prinzessinnen haben qualitativ wie quantitativ unterschiedliche schriftliche Zeugnisse hinterlassen, darunter zahlreiche Briefe an ihren königlichen Bruder, Friedrich den Großen. Während die Korrespondenz Friederikes und Sophies mit ihm von Distanz und Unterwürfigkeit geprägt ist, sind Charlottes Schreiben meist in freundschaftlich-vertraulichem Ton gehalten, obwohl es durchaus zu Spannungen zwischen den Geschwistern gekommen ist. Und Ulrike, wenngleich Königin von Schweden, korrespondierte mit ihrem ältesten Bruder keineswegs »auf Augenhöhe«. Amalie war eher schreibfaul, zumindest was die eigenen Familienmitglieder betraf.

Wilhelmine hingegen hat am häufigsten zur Feder gegriffen. Sie führte nicht nur einen regen und aufschlussreichen Briefwechsel mit ihrem königlichen Bruder, sondern verfasste auch ihre umfangreichen Memoiren, die freilich schon im Jahr 1742 enden. Wilhelmines Lebenserinnerungen sind ein überaus interessantes Zeitdokument, allerdings keineswegs immer glaubwürdig. Der Markgräfin unterliefen nicht nur chronologische Irrtümer, sie neigte auch zu erheblichen Übertreibungen und der Verherrlichung ihrer eigenen Person. Doch gerade damit hat sie sich wohl selbst am besten charakterisiert.

Die Beziehung Friedrichs des Großen zu seiner »Lieblingsschwester« Wilhelmine war nicht immer harmonisch, vor allem dann nicht, wenn die Markgräfin den königlichen Wünschen und Anordnungen zuwider handelte. Gleichwohl hatte er zu keiner anderen seiner Schwestern, vielleicht mit Ausnahme von Charlotte, ein ähnlich vertrauliches Verhältnis. Das galt auch im umgekehrten Fall, sie stützten sich gegenseitig. So etwas wie Nestwärme und Geborgenheit hat es am Berliner Königshof nämlich nicht gegeben.

»Ich liebe Sie
trotz Ihrer Gepflogenheiten«

Das königliche Elternpaar Friedrich Wilhelm I. und Sophie Dorothea

 

Preußische Brautschau

Vierzehn Kinder! Einen besseren Beweis für ein harmonisches Ehe- und Familienleben schien es wohl kaum zu geben. Trotzdem haben Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. und seine Gemahlin Sophie Dorothea sehr eindrucksvoll das Gegenteil demonstriert. Selbst wenn fürstliche Ehen früher nur äußerst selten glücklich wurden, so spielten sich im Berliner Schloss mitunter doch recht drastische Szenen ab.

Eigentlich hatte der junge Kronprinz Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen eine ganz andere heiraten wollen: die schöne Caroline von Ansbach, eine Waise, die am Hof seiner Mutter Sophie Charlotte erzogen worden war. Zwar war sie fünf Jahre älter als er selbst, dafür aber entsprach sie so ganz dem Bild, das er sich von seiner zukünftigen Ehefrau machte: liebenswert, aber durchaus ernsthaft und sittenstreng. Doch mochte er auch heimlich von Caroline schwärmen, über seine zarten Gefühle konnte und wollte der schüchterne 17-Jährige nicht sprechen. Wie groß war deshalb die Enttäuschung, als Friedrich Wilhelm schließlich zu Ohren kam, dass ausgerechnet sein verhasster Vetter Georg August von Hannover der Glückliche sein sollte, der Caroline vor den Traualtar führen durfte! Nun aber war es zu spät. Im September 1705 heiratete die hübsche Ansbacherin den gleichaltrigen Welfenprinzen und nachmaligen König Georg II. von England. Friedrich Wilhelm war zwar ausgesprochen wütend, dass er den Kürzeren gezogen hatte, noch aber ahnte er nicht, wie viel Ärger ihm sein Rivale in Zukunft noch machen würde.

Das Thema »Ehe« war für den preußischen Kronprinzen damit vorerst erledigt. Sein Verhältnis zu Frauen gestaltete sich ohnehin etwas problematisch, nachdem er am Charlottenburger Hof seiner Mutter allzu viel Koketterie und Frivolität hatte erleben müssen, zumindest nach seinem streng calvinistischen Empfinden. Friedrich Wilhelms eigentliche Leidenschaft galt auch weniger dem weiblichen Geschlecht als vielmehr allem, was mit der preußischen Armee tun hatte, jener Armee, der er sein nahezu gesamtes Leben widmen sollte. Aus guten Gründen wurde er schließlich als »Soldatenkönig« bekannt.

Wäre es nach ihm selbst gegangen, so hätte er den Gedanken an eine Heirat am liebsten in die ferne Zukunft verbannt. Aber sein kränklicher Vater Friedrich I., Preußens erster König, drängte den einzigen Sohn inständig, eine Gemahlin zu finden und Nachwuchs zu zeugen. Der junge Friedrich Wilhelm spürte, wie ernst es dem Vater mit seinem Wunsch war und ließ sich schließlich erweichen. Eines jedoch stellte er unmissverständlich klar: Wenn er schon heiraten müsse, dann auf keinen Fall irgendeine fremde Prinzessin, sondern nur eine Frau, die ihm schon vorher bekannt war. Der Kreis dieser Kandidatinnen war nicht sonderlich groß. Und so fiel die Wahl schließlich auf seine ein Jahr ältere Cousine Sophie Dorothea von Hannover, die Schwester von Georg August.

Friedrich Wilhelms Mutter Sophie Charlotte, eine geborene Prinzessin von Hannover und Tante der Auserwählten, erlebte die Hochzeit ihres einzigen Sohnes nicht mehr. Die preußische Königin war bereits 1705 im Alter von nur 36 Jahren gestorben. Und doch schien ihr Geist über dieser Verbindung zu schweben, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter, Kurfürstin Sophie von Hannover, noch zu Lebzeiten angebahnt hatte, um die Achse Berlin– Hannover auch in Zukunft zu stärken.

Es war also keine Liebesheirat, die da stattfinden sollte. Die künftige Braut Sophie Dorothea wurde erst gar nicht nach ihrer Meinung gefragt. Das war auch nicht üblich. Hätte man es getan, wäre die Antwort wahrscheinlich »Um Gottes Willen! Nein bloß nicht« gewesen. Denn der preußische Vetter Friedrich Wilhelm entsprach nicht gerade dem Traumbild der verwöhnten Welfenprinzessin. Er brachte nicht nur gut zwei Zentner auf die Waage, sondern lief auch aus Protest gegen die ihm verhasste höfische Etikette wie ein einfacher Bauer herum. Entgegen den Gepflogenheiten seiner Zeit und Umgebung ließ er sich das Gesicht von der Sonne bräunen, trug keine Perücke, dafür vorzugsweise grobe Stiefel. Zudem hatte er einen regelrechten »Sauberkeitsfimmel« und legte größten Wert auf körperliche Hygiene, was in einer Zeit, in der Parfum und Puder die Rolle von Wasser und Seife übernommen hatten, als höchst ungewöhnlich galt.

Doch nicht nur das Äußere des Kronprinzen war gewöhnungsbedürftig. Viel schlimmer sah es in seinem Inneren aus. Von klein auf hatte er die höfische Gesellschaft mit fürchterlichen Wutausbrüchen malträtiert, Mutter und Erzieherinnen bisweilen zur Weißglut gebracht, seine Lehrer verprügelt und besonderen Spaß an derben Scherzen gehabt. Einmal erschreckte er einen Kammerherrn, der gerade aus dem Fenster guckte, so sehr, dass dieser das Gleichgewicht verlor und hinausstürzte, was der junge Kronprinz dann jedoch gleich zutiefst bereute. Denn in Friedrich Wilhelms Brust rangen gewissermaßen zwei Seelen um die Vorherrschaft, und eine davon war höchst empfindsam. Diese Seite jedoch offenbarte er nur ganz wenigen Menschen und wusste sie gut vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Das Bild des polternden Friedrich Wilhelm, des preußischen »Prügelprinzen«, erscheint daher ungleich größer als das eines kompromisslos ehrlichen, gottesfürchtigen und sittenstrengen jungen Mannes, der die gleichen Eigenschaften auch von seiner künftigen Frau erwartete.

Und hier lag bereits das erste Problem. Sophie Dorothea war nämlich die Tochter des Kurprinzen Georg Ludwig von Hannover, der 1714 als Georg I. den englischen Thron besteigen sollte. Von seiner Gemahlin, die wie die Tochter Sophie Dorothea hieß und unter dem Namen »Prinzessin von Ahlden« zu trauriger Berühmtheit gelangte, hatte er sich schon vor Jahren getrennt. Nachdem die Prinzessin nämlich lange genug unter der notorischen Untreue ihres Gemahls gelitten hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und hatte eine Affäre mit dem attraktiven Grafen Philipp Christoph von Königsmarck begonnen. Die Liebesgeschichte flog natürlich auf, die Ehe wurde geschieden und Mutter Sophie Dorothea aus Hannover verbannt. Sie verbrachte die vielen Jahre bis zu ihrem Tod 1727 unter strengster Bewachung auf dem Wasserschloss Ahlden und durfte ihre beiden Kinder Georg August und Sophie Dorothea nicht mehr wiedersehen.

Die zwei wuchsen nun bei ihrer Großmutter Sophie in Hannover auf, die auch gleichzeitig die Großmutter des preußischen Kronprinzen war. Deshalb war schon der kleine Friedrich Wilhelm oft in Hannover zu Besuch gewesen und hatte so Cousin und Cousine mit der Zeit recht gut kennen gelernt. Während er den fünf Jahre älteren Georg August seit Kindertagen aus tiefstem Herzen hasste und ihm von daher so manche Tracht Prügel verabreichte, stand er Sophie Dorothea eher indifferent gegenüber. Sie hatte sich mit der Zeit zu einem recht hübschen jungen Mädchen entwickelt, das freilich nach seinem Geschmack ein wenig zu viel Wert auf Äußerlichkeiten legte, auf Kleidung, Schmuck und Schminke ebenso wie auf aufwändige höfische Feste – lauter Dinge also, die dem schlichten und sparsamen Friedrich Wilhelm zuwider waren. Hinzu kam ein gewisser Hang zur Koketterie, den er bei ihr zu erkennen glaubte, möglicherweise ein Erbteil ihrer – aus seiner Sicht – liederlichen und sittenlosen Mutter. Alles in allem aber erschien ihm die junge Frau im Vergleich zu einer völlig unbekannten Prinzessin offenbar als das »kleinere Übel«. Der Hochzeit stand damit nichts mehr im Wege.

Vater Friedrich I. und Großmutter Sophie von Hannover freuten sich ganz besonders, als der 18-jährige Friedrich Wilhelm und die 19-jährige Sophie Dorothea am 28. November 1706 im Berliner Schloss vor den Traualtar traten. Bereits ein Jahr später brachte die Kronprinzessin den erhofften Thronerben zur Welt, der nach seinem stolzen und überglücklichen preußischen Großvater den Namen Friedrich erhielt. Doch der kleine Prinz wurde nur ein Jahr alt und starb ausgerechnet im Mai 1708, als sich die jungen Eltern gerade zu einem Besuch in Hannover aufhielten. Schon bald zeigte sich zudem, dass diese Verbindung nahezu eine einzige Katastrophe werden würde. Der unerfahrene Ehemann, von zwiespältigen Gefühlen gequält, verfolgte seine Frau mit rasender Eifersucht und es kam zu allerlei hässlichen Szenen, obwohl sich Sophie Dorothea offenbar keiner Schuld bewusst war. Friedrich Wilhelm schmollte und tobte, wenn »sein Fiekchen«, wie er Sophie Dorothea zu nennen pflegte, scheinbar mit anderen Männern flirtete. Einmal schnitt er ihr im Zorn sogar die Haare ab, damit sie sich nicht mehr aufreizend-modisch frisieren konnte. Ein klärendes Gespräch aber war unmöglich, denn Friedrich Wilhelm zog es vor, seiner Frau wortlos den Rücken zu kehren und tagelang kein Wort an sie zu richten, bis endlich der Zorn verraucht war. Die Kronprinzessin sah schließlich nur noch eine einzige Möglichkeit für ein gemeinsames Zusammenleben: das ständige Heucheln von Liebe und Zuneigung und gemeinsamen Überzeugungen. »Ich liebe Sie trotz Ihrer Gepflogenheiten«, schrieb sie ihrem Gemahl am 16. September 1710, »ich liebe Sie viel zu sehr, ich bin überzeugt, dass Sie Ihr Benehmen einmal bitter bereuen werden.« Doch zu einer ehrlichen Aussprache zwischen den Ehepartnern ist es niemals gekommen. Beide verharrten in einem Zustand der Sprach- und Hilflosigkeit und Sophie Dorothea versuchte fortan, alles hinter dem Rücken ihres Gemahls durchzusetzen, Liebe und Loyalität vorzugeben, tatsächlich aber ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Das sollte fatale Folgen haben.

Schauplatz: Das Berliner Schloss

Leider gibt es den Schauplatz des königlich-preußischen Ehe- und Familiendramas heute nicht mehr: das Berliner Schloss. Es wurde am 3. Februar 1945 beim schwersten Bombenangriff auf die Stadt von zahllosen Spreng- und Brandbomben getroffen und brannte vier Tage lang, ohne dass Löschversuche unternommen werden konnten. Obwohl ein Wiederaufbau möglich gewesen wäre, schließlich waren die Hauptmauern noch gut erhalten, beschloss der Ministerrat der DDR im Juli 1950, die Schlossruine zu sprengen und abzutragen. Das wichtigste Andenken an das alte Preußen sollte radikal ausgemerzt werden. So ging die wechselvolle 500-jährige Geschichte des Berliner Stadtschlosses zu Ende, vorläufig zumindest.

Im Jahr 1443 hatte der Brandenburger Kurfürst Friedrich II. »Eisenzahn« (1440  1470) direkt an der Spree eine Burg anlegen lassen, im cöllnischen Teil der bis dahin eher unbedeutenden märkischen Doppelstadt Berlin-Cölln. Von dort aus konnten die Hohenzollern nun einen wichtigen Handelsweg kontrollieren, der über die damals noch hölzerne Lange Brücke führte. Die mittelalterliche Burg wich einem Renaissanceschloss, das jedoch keine wirkliche Bedeutung erlangte. Erst der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640  1688), der Großvater des »Soldatenkönigs«, machte das Schloss zum Mittelpunkt der Stadt Berlin. Der während des 30-jährigen Krieges ziemlich zerfallene Prunkbau wurde zunächst gründlich restauriert. Die größten und wichtigsten Umbauten aber erfolgten während der Regierungszeit Friedrichs I. (1688/1701  1713). 1699 wurde der bedeutendste deutsche Barockarchitekt Andreas Schlüter zum Schlossbaumeister ernannt. Unter ihm wurde das Berliner Schloss zur großartigsten Barockresidenz Deutschlands. Nach seiner Krönung zum ersten König »in« Preußen 1701 hielt Friedrich I. feierlichen Einzug. Damals gab er auch jene kunstvolle Arbeit in Auftrag, die später als »Bernsteinzimmer« bekannt werden sollte. Während seines Krönungsaufenthalts in Königsberg hatte er die Kunst der Bernsteinverarbeitung eingehend bewundert und einen bekannten Bernsteinschneider beauftragt, großformatige Paneelen herzustellen, gewissermaßen die Keimzelle des späteren Bernsteinzimmers. Sie wurden zur Täfelung eines Raumes im Berliner Stadtschloss verwendet, dem »Tabakskollegium«. Friedrich Wilhelm I. schätzte den Bernsteinschmuck aber so gering ein, dass er nicht lange zögerte und die wertvollen Paneelen 1717 Zar Peter dem Großen zum Geschenk machte – wofür er im Gegenzug 55 »lange Kerls« bekam.

Auf Andreas Schlüter folgte Eosander von Göthe als neuer Architekt, der den Umfang des Schlosses mit einem Erweiterungsbau nach Westen hin verdoppelte. Er konnte sein Werk jedoch nicht vollenden, weil sein königlicher Auftraggeber 1713 starb und dessen Sohn und Nachfolger den verschwenderischen Baumeister umgehend entließ. Trotz aller Sparsamkeit aber ließ Friedrich Wilhelm I. das Schloss doch noch vollenden. Allerdings verzichtete er dabei auf jeglichen Prunk im Inneren. Viele prächtige Deckengemälde ließ der nüchterne Preußenkönig sogar weiß übertünchen. Sie wurden erst bei Restaurierungsarbeiten 1850 zufällig entdeckt und wieder freigelegt. Im Jahr 1715 war der Schlossbau weitgehend vollendet. 1728 erfolgte allerdings aufgrund eines Staatsbesuchs des sächsischen Königs Augusts des Starken der Einbau der prunkvollen »Polnischen Kammern«. Der preußische Hofmaler Antoine Pesne hat zu diesem Anlass eine Ölskizze angefertigt, auf der die gesamte, damals noch nicht ganz komplette, Familie des Preußenkönigs zu sehen ist. Noch aber lag das Ereignis in weiter Ferne. Ein Jahr nach dem Tod des kleinen Kronprinzen brachte Sophie Dorothea zunächst einmal ihr zweites Kind zur Welt. Es war ein Mädchen, das man Wilhelmine nannte und das es später als Markgräfin von Bayreuth zu einiger Berühmtheit brachte.

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»Sie war die geborene Fürstin«

WILHELMINE

Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth

(1709  1758)

Wilhelmines Kindheit – ein einziges Martyrium?

Eigentlich war es ja eine herbe Enttäuschung, als anstatt des erhofften Thronfolgers am 3. Juli 1709 »nur« eine Tochter das Licht der Welt erblickte, Wilhelmine. Sophie Dorothea wird daher sicher froh gewesen sein, ihrem kronprinzlichen Gemahl nicht ins Gesicht sagen zu müssen, dass sie nun doch keinem »kleinen Grenadier« das Leben geschenkt hatte, denn Friedrich Wilhelm befand sich gerade im Feldlager, wo er seinen Militärdienst versah.

Trotz allem aber zeigte sich der Kronprinz über Sophie Dorotheas schriftliche Nachricht erleichtert, dass dieses Kind, mochte es auch nur ein Mädchen sein, gesund zur Welt gekommen war. Nach dem Tod des Sohnes war es Sophie Dorothea nämlich körperlich und seelisch eine Zeit lang sehr schlecht gegangen. Sie kränkelte, verlor erheblich an Gewicht und schien kaum noch in der Lage zu sein, ein weiteres Kind auszutragen. Am Berliner Hof verbreitete sich das Gerücht, die Kronprinzessin sei unfruchtbar, ein Gerücht, das von interessierter Seite eifrig geschürt wurde. Teilen der Hofpartei war nämlich wenig daran gelegen, später einmal Friedrich Wilhelm auf dem preußischen Thron zu sehen. Sie ahnten wohl, dass er als König vieles anders machen würde als sein prunkliebender Vater und fürchteten um ihre eigenen Vorteile. Und so redeten sie Friedrich I. ein, dass von seinem einzigen Sohn wohl kein Nachwuchs mehr zu erwarten sei, dafür müsse er schon selber sorgen. Derart verunsichert entschloss sich der gutmütige Monarch tatsächlich, ein weiteres Mal zu heiraten und ehelichte im November 1708 die junge Sophie Luise von Mecklenburg-Schwerin-Grabow. Es wurde eine unglückliche Ehe, die nicht nur kinderlos blieb, sondern dem König auch die wenigen Jahre vergällte, die er noch zu leben hatte.

Der Preußenkönig freute sich vorbehaltlos über die Geburt seiner kleinen Enkelin Wilhelmine und wird insgeheim erleichtert gewesen sein, dass seine Schwiegertochter sehr wohl noch imstande war, Kinder zu bekommen. Die Hoffnung auf einen Thronfolger musste man also nicht aufgeben.

In ihren berühmt gewordenen Memoiren schildert Wilhelmine ihre Kindheit als einziges Martyrium. Besonders schlecht kommt dabei der Vater weg, ein prügelnder Tyrann, der den Kindern mitunter ins Essen spuckte und sie auch ansonsten hungrig  vom Tisch aufstehen ließ. Aber war es wirklich so? Selbst wenn damals am Berliner Hof alles andere als ein liebevolles Klima herrschte und die Königskinder allesamt des Öfteren den Stock zu spüren bekamen, so sind doch Wilhelmines Lebenserinnerungen offenbar maßlos übertrieben. So ungewöhnlich streng und herzlos wie sie uns heute erscheinen mögen, waren die Erziehungsmethoden Friedrich Wilhelms I. nämlich gar nicht. Auch in anderen Familien war die Kindheit damals alles andere als ein Zuckerschlecken, zumal in fürstlichen Kreisen. Zum einen schuf allein die hohe Kindersterblichkeit eine größere Distanz zwischen den Eltern und ihrem Nachwuchs. Der Tod und das Sterben waren allgegenwärtig, ebenso freilich auch der Glaube an ein Jenseits, an ein Leben nach dem Tod – und das keineswegs nur in einem himmlischen Paradies. Und hier lag ein zentraler Punkt. Friedrich Wilhelm glaubte nämlich an einen Gott von alttestamentarischer Strenge, einen Gott, der zürnte und strafte und der zur ewigen Verdammnis verurteilen konnte. In den einschlägigen Erziehungsanweisungen der Zeit musste zudem der Erbsünde Rechnung getragen werden. Demnach war der Mensch – und damit auch das Kind – von Natur aus schlecht. Die elterliche Gewalt war somit religiös begründet, Prügel galten geradezu als hervorragendes Erziehungsmittel. Man nahm es durchaus ernst mit der biblischen Vorschrift, keinesfalls mit der Rute zu sparen, wenn man sein Kind liebte. Im Gegenteil: Körperliche Strafen waren unumgänglich, wollte man die Seele des Kindes retten. Nachsicht hingegen galt als Werkzeug des Teufels. So dachte man zumindest in streng gläubigen pietistischen Kreisen. Wenn man die Kindheit der preußischen Prinzen und Prinzessinnen vor diesem Hintergrund betrachtet, so wird sie zwar nicht gerade in ein milderes Licht getaucht, doch man versteht zumindest, dass Friedrich Wilhelm bei weitem kein roher Sadist gewesen ist, der aus reiner Lust an der Gewalt auf den Nachwuchs einprügelte, sondern dass er eigentlich nur »das Beste« für seine Kinder wollte: ihnen Höllenstrafen und ewige Pein ersparen. Hinzu kam natürlich sein cholerisches Temperament.

Auch dass die Kinder wochenlang am Tisch des Vaters gehungert hätten, wie Wilhelmine in ihren Memoiren schreibt, entbehrt jeglicher Grundlage. Gewiss, Friedrich Wilhelm I. war äußerst sparsam, insbesondere nach dem Tod seines königlichen Vaters Friedrich I. im Februar 1713. Zwar hatte er ihm als pietätvoller Sohn noch die prunkvolle Beisetzung ausgerichtet, die der Verstorbene sich gewünscht hatte, doch dann machte er noch im gleichen Jahr den berühmten »Strich durch den Etat«, mit dem er auch den größten Teil des überdimensionierten Hofstaats auflöste. Das Berliner Schloss wurde nur so weit wie nötig fertiggestellt, doch ärmlich wirkte es deswegen nicht. Zwar erinnerten die schmucklosen persönlichen Gemächer Friedrich Wilhelms eher an Kasernenstuben, aber die Repräsentationsräume des Berliner Schlosses brauchten den Vergleich mit anderen Residenzen nicht zu scheuen. Die Lustgärten in Berlin und Potsdam aber verwandelte der neue König in Exerzierplätze. Auch die prachtvollen Feierlichkeiten, die Friedrich I. so gerne zelebriert hatte, hörten vollends auf. Fortan herrschte am Berliner Hof strikte Sparsamkeit. Das hieß aber nicht zwangsläufig, dass man auch am Essen sparte. Der korpulente junge König liebte die Tafelfreuden viel  zu sehr, als dass er sich und seine Familie hätte hungern lassen. Allerdings bevorzugte er einfache Hausmannskost, die zwar preiswert, jedoch nicht unbedingt jedermanns Geschmack war. Verwöhnte Gaumen vermissten also bestenfalls die Vielfalt der Delikatessen, satt wurde die Königsfamilie allemal. Da aber die Ausgaben für die täglichen Speisen 3313 Taler nicht überschreiten durften, waren auserwählte Köstlichkeiten tatsächlich nur knapp bemessen, sodass nicht jeder zugreifen konnte. Immerhin aber gab es für die Kinder am Ende jeder Mahlzeit Biskuits und Zuckerbrot.

»Nie haben sich Geschwister so zärtlich geliebt« –
Wilhelmine und Friedrich

Inzwischen hatte sich die preußische Königsfamilie weiter vergrößert. Nachdem 1710 ein Sohn geboren wurde, Friedrich Wilhelm, der bereits im kommenden Jahr wieder starb, erblickte am 24. Januar 1712 jener Knabe das Licht der Welt, der einmal als »Friedrich der Große« in die Geschichte eingehen sollte. Im Jahr darauf schenkte Sophie Dorothea wieder einem Mädchen das Leben. Doch Charlotte Albertine starb nur wenige Monate später, aber da war die Königin schon wieder schwanger, diesmal mit einer Tochter namens Friederike.

Damit hatte Sophie Dorothea zur Genüge bewiesen, dass sie alles andere als unfruchtbar war, ein Umstand, der sich nicht unerheblich auf ihr Selbstbewusstsein auswirkte. Im Familienkreis nannte man sie daher heimlich »Olympia«. Wilhelmine hat ihre Mutter folgendermaßen beschrieben: »Die Königin ist niemals schön gewesen, sie ist pockennarbig und ihre Züge sind keineswegs klassisch. Ihre Haut ist weiß, ihre Haare dunkelbraun, ihre Figur ist eine der schönsten, die es je gab. Ihre edle und majestätische Haltung flößt allen, die sie sehen, Ehrerbietung ein; ihre große Weltgewandtheit und ihr glänzender Geist deuten auf mehr Gründlichkeit, als ihr eigen ist. Sie hat ein gutes, großmütiges und mildreiches Herz; sie liebt die schönen Künste und Wissenschaften, ohne sich allzu sehr mit ihnen befasst zu haben. Jeder hat seine Fehler, sie ist nicht frei davon. Sie verkörpert allen Stolz und Hochmut ihres hannoveranischen Hauses. Ihr Ehrgeiz ist maßlos, sie ist grenzenlos eifersüchtig, argwöhnisch und rachsüchtigen Gemüts und verzeiht nie, wo sie sich für beleidigt hält.«

Als Wilhelmine fünf Jahre alt war, trat ein Ereignis ein, das ihre gesamte Jugendzeit maßgeblich beeinflussen sollte: Ihr Großvater mütterlicherseits, Georg Ludwig aus dem Hause Hannover, wurde König von England. Und das kam so: Bereits im Jahr 1701 hatte das englische Parlament ein Gesetz beschlossen, nach dem nur noch protestantische Angehörige des Hauses Stuart den Thron besteigen durften, den Act of Settlement. Da die Linie Karls I. (1600  1649) mit dem Tod Königin Annes in absehbarer Zeit aussterben würde, hatte man sich um die Nachfolge rechtzeitig Gedanken machen müssen. Als potenzielle Kandidaten kamen nur die protestantischen Nachfahren von Karls Schwester Elisabeth Stuart in Frage. Aber fast alle Kinder, die die als »Winterkönigin« bekannt gewordene Engländerin seinerzeit geboren hatte, waren mittlerweile tot, und die Enkel kamen aus verschiedenen Gründen – sie waren entweder katholisch oder außerehelich – nicht in Frage. So blieb letztlich nur noch eine Kandidatin übrig: Sophie von Hannover, die gemeinsame Großmutter Sophie Dorotheas und Friedrich Wilhelms, ein Kind aus der Ehe Elisabeth Stuarts mit Friedrich V. von der Pfalz, dem glücklosen »Winterkönig«.

Doch die greise Sophie schaffte es nicht mehr auf den Thron. Sie starb am 8. Juli 1714 im Alter von 83 Jahren auf ihrem Witwensitz Herrenhausen, wo sie ihre letzten Lebensjahre weitgehend mit der Anlage des berühmt gewordenen Barockgartens verbracht hatte. Und so wurde nach dem Tod Königin Annes wenige Wochen später Sophies ältester Sohn als Georg I. neuer englischer König. Und Sophie Dorotheas Bruder, der mit der schönen Caroline von Ansbach verheiratete Georg August, war zum Prinzen von Wales aufgestiegen. Für die ambitionierte preußische Königin schienen sich damit großartige Chancen aufzutun, zumal der englische Thronfolger zwei Kinder hatte, die altersmäßig gut zu Wilhelmine und dem kleinen Friedrich passten. Allmählich nahm ein ehrgeiziges englisch-preußisches Doppelheirats-Projekt in Sophie Dorotheas Kopf Gestalt an, das sie in den nächsten Jahren hartnäckig verfolgen sollte.

Noch aber steckten die englischen wie die preußischen Protagonisten in den Kinderschuhen. Königin Sophie Dorothea sorgte unterdessen für weiteren königlichen Nachwuchs: 1716 kam Charlotte zur Welt, 1717 ein kleiner Prinz namens Friedrich Wilhelm, der nur zwei Jahre alt wurde, 1719 folgte Sophie, ein Jahr später Ulrike.

Wilhelmine wurde zu einer vielseitig gebildeten Prinzessin erzogen: »Die Leti gab sich unendlich viel Mühe, meinen Geist zu bilden; sie lehrte mich die Anfangsgründe der Geschichte und Geografie und suchte zugleich, mir gute Manieren beizubringen. Die vielen Menschen, die ich sah, halfen dazu, dass ich bald weltgewandt wurde; ich war sehr lebhaft und jeder unterhielt sich gern mit mir.« So schrieb Wilhelmine später selbstbewusst in ihren Memoiren. »Die Leti« war ihre langjährige Gouvernante, die den Erziehungsauftrag offenbar so ernst nahm, dass sie ihn notfalls auch mit Gewalt durchsetzte: »Aber da sie durch Güte bei mir nichts ausrichtete, geriet sie in einen grässlichen Zorn, schlug mich auf den Arm und stieß mich die Estrade hinab«, heißt es an einer Stelle der Memoiren, »diese Szene wiederholte sich am folgenden Abend, nur mit viel größerer Heftigkeit; sie warf mir einen Leuchter an den Kopf, der mich hätte töten können; mein Gesicht war ganz blutig … So verging der ganze Winter und ich wurde keinen Tag mehr in Ruhe gelassen und mein armer Rücken erhielt täglich sein Teil … Hiebe und Stöße waren mein täglich Brot.«

Ob sich die unglaublichen Misshandlungen der kleinen Prinzessin tatsächlich so ereignet haben oder ob Wilhelmine maßlos übertreibt, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Tatsache ist jedoch, dass ein Hang zu Selbstmitleid und Selbstüberschätzung die gesamten Memoiren durchzieht, was Wilhelmine stets in einem besonderen Licht dastehen lässt. Das gilt auch für die folgende Schilderung: »Ich zählte erst acht Jahre. Mein zartes Alter gestattete mir keinen Anteil an den Dingen, die sich zutrugen. Ich war den ganzen Tag von meinen Lehrern in Anspruch genommen und meine einzige Erholung war, mit meinem Bruder (Friedrich) zusammen zu sein. Nie haben sich Geschwister so zärtlich geliebt. Er war geistreich, seine Gemütsart war finster. Er dachte lange nach, bevor er antwortete, aber dafür antwortete er richtig. Er lernte sehr schwer und man erwartete, dass er einmal mehr Verstand wie Geist an den Tag legen würde. Ich hingegen war außerordentlich lebhaft und schlagfertig und besaß ein erstaunliches Gedächtnis; der König liebte mich mit Leidenschaft. Keinem seiner anderen Kinder zeigte er sich so aufmerksam wie mir.« Letzteres entspricht wohl eher Wilhelmines Wunschdenken als der Wirklichkeit.

Ganz ohne Zweifel war Friedrich Wilhelm tief in seinem Herzen ein liebender Vater, der sich jedoch eifersüchtig zeigte, wenn er glaubte, dass die Kinder der Mutter näher standen. Denn die verstand es meist äußerst geschickt, den Nachwuchs auf ihre Seite zu ziehen und für eigene Interessen zu instrumentalisieren. Das betraf besonders die beiden Ältesten, Wilhelmine und Kronprinz Friedrich. Der kleine Fritz war leider ganz und gar nicht nach den Vorstellungen seines Vaters geraten. Zart gebaut, eher ängstlich und kränklich war er schon rein äußerlich das genaue Gegenteil des robusten Soldatenkönigs. Der aber wollte – notfalls mit Gewalt – aus dem Sohn einen »echten Kerl« machen, der später einmal in der Lage sein sollte, seinem Land zu dienen und Preußen zu beherrschen. Auch die Vorliebe des Kindes für Bücher und Musik war dem Vater ein Dorn im Auge, schien sie ihn doch daran zu hindern, seine militärischen Pflichten zu erfüllen. Fatalerweise verbündeten sich Mutter und Schwester gemeinsam mit Friedrich gegen den Vater. Auf ihrem Schloss Monbijou im Norden Berlins, jenem Refugium, das Friedrich Wilhelm seiner Gemahlin kurz nach der Thronbesteigung zum Geschenk gemacht hatte, wurde ein pädagogisches Kontrastprogramm abgespult: Hier durfte der Kronprinz alles das tun, was der Vater so hasste: elegante französische Kleidung tragen, Querflöte spielen oder sich mit seiner Bibliothek befassen.

Wilhelmine, die die musischen Interessen ihres kleinen Bruders teilte, nahm den Kronprinzen nun auch emotional unter ihre Fittiche und gab ihm all das Verständnis und die Liebe, die Vater und Mutter aus unterschiedlichen Gründen nicht geben konnten. Sophie Dorothea war ihren Kindern nämlich nur dann zugetan, wenn die genau das taten, was sie wollte – und der königliche Vater verlangte meist das Gegenteil. Weil sich Wilhelmine aber so eindeutig auf die Seite von Mutter und Bruder gestellt hat, ist kaum anzunehmen, dass Friedrich Wilhelm die älteste Tochter wirklich »mit Leidenschaft geliebt« haben soll. Tatsächlich war das Verhältnis der beiden von Anfang an eher schlecht. Wilhelmines Eigenschaften, ihr Stolz, ihre Eitelkeit, ihre Neigung, auch ernste Dinge spöttisch zu behandeln, standen den Vorstellungen des Königs diametral entgegen. Er verlangte von seinen Kindern, von den Töchtern allemal, Ehrlichkeit, Demut und Bescheidenheit, lauter Dinge also, die in Wilhelmines Leben keine herausragende Rolle spielten. Am meisten geliebt hat Friedrich Wilhelm ganz ohne Zweifel seinen zweiten Sohn August Wilhelm, der 1722, also zehn Jahre nach der Geburt des Kronprinzen, zur Welt kam und mit seinem fröhlichen und unkomplizierten Wesen das Herz des Preußenkönigs im Sturm eroberte.

Der englische Traum – geplatzt!

Das Jahr 1720 markiert einen wichtigen Einschnitt in Wilhelmines Leben. Die Kindheit der 11-Jährigen wurde offiziell für beendet erklärt, was sich rein äußerlich daran zeigte, dass die Prinzessin von nun an die Kleidung der Erwachsenen trug und auch so behandelt wurde. Damit verließ eine altkluge und reichlich eingebildete Wilhelmine die Kinderstube. Wenig später ersetzte man auch die Leti, ihre verhasste Erzieherin, durch eine neue Gouvernante, das sanfte Fräulein Dorothea von Sonsfeld, das dem Schützling bis weit ins Erwachsenenalter hinein zur Seite stehen sollte. »Sie war vierzig Jahre alt, als sie bei mir eintrat«, schrieb Wilhelmine in ihren in den 1740er-Jahren verfassten Memoiren, »ich liebe und verehre sie wie eine Mutter. Sie ist noch heute bei mir, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird uns nur der Tod trennen … Die Königin ließ ihr bei meiner Erziehung gänzlich freie Hand … Ich fing an, mich des Lesens zu befleißigen, und es wurde bald meine liebste Beschäftigung. Sie feuerte mich so geschickt an, dass ich auch an anderen Studien Interesse fand. Ich lernte Englisch, Italienisch, Geschichte, Geografie, Philosophie und Musik. In kurzer Zeit machte ich erstaunliche Fortschritte. Ich lernte jetzt mit solchem Eifer, dass man meiner übergroßen Lernbegierde einen Zaum anlegen musste …« Es war durchaus nicht selbstverständlich, dass eine Prinzessin damals eine solch umfassende Ausbildung erhielt wie am Berliner Hof. Oft war  der Unterricht fürstlicher Töchter eher oberflächlich und beschränkte sich auf das Nötigste, ein wenig Konversation, etwas Lektüre, Musik und Handarbeit schienen für das Leben an der Seite eines hochherrschaftlichen Gemahls meist ausreichend.

Neun Jahre waren inzwischen vergangen, seit Wilhelmines Großvater den englischen Thron bestiegen hatte. Seitdem hatte Königin Sophie Dorothea der Gedanke an eine Eheverbindung zwischen ihren und den Kindern ihres Bruders nicht mehr losgelassen: Wilhelmine sollte den zwei Jahre älteren Friedrich Ludwig, den künftigen Prinzen von Wales, heiraten und Friedrich sich mit der 1711 geborenen Amalie vermählen. Die Königin war von Anfang an ganz besessen von dieser Idee und schaffte es schließlich sogar, dass auch Friedrich Wilhelm I. dem Plan wohlwollend gegenüberstand. Nachdem schon seine Großmutter Sophie Charlotte eine geborene Hannoveranerin gewesen war, hätte es sich um eine Verbindung mit dem Welfenhaus in der dritten Generation gehandelt. Ganz so leicht war Sophie Dorotheas Wunschtraum aber dann doch nicht zu verwirklichen. Am englischen Hof ihres Bruders gab es nämlich eine anti-preußische Partei, die die Realisierung des Projekts mit allen Mitteln verhindern wollte, zunächst einmal, indem sie üble Gerüchte in die Welt setzte. So wurde unter anderem kolportiert, Wilhelmine, die potenzielle Braut, habe einen Buckel! Als mehrere englische Hofdamen zur Klärung des wahren Sachverhalts 1722 nach Berlin reisten, zog Sophie Dorothea offenbar alle Register, um zu demonstrieren, wie makellos ihre älteste Tochter gebaut war. Sie ließ die 13-Jährige wie Vieh vorführen: »Ich musste mich vor ihnen ausziehen und ihnen meinen Rücken zeigen, um ihnen zu beweisen, dass ich nicht buckelig sei. Ich war sehr erbost über all dies, und zum Unglück ließ mich die Königin, damit ich zierlicher erscheine, so entsetzlich einschnüren, dass ich ganz schwarz im Gesicht wurde und mir der Atem ausging.«

Im Oktober 1723 kam Englands König Georg I. schließlich höchstpersönlich nach Berlin, um seine Enkelin in Augenschein zu nehmen und zu überprüfen, ob sie tatsächlich eine »gute Partie« für den künftigen Thronfolger sein würde. Sein Urteil fiel wohl zur Zufriedenheit aus, denn bereits am 9. Oktober wurde ein Schriftstück unterzeichnet, das die so lang ersehnte Doppel-Verlobung bestätigte. Wilhelmine und Sophie Dorothea glühten vor Stolz, und der Königin scheint es in ihrer freudigen Erregung völlig entgangen zu sein, dass sie wieder einmal in anderen Umständen war und ihr zwölftes Kind erwartete. Zur allgemeinen Überraschung erblickte am 9. November die kleine Amalie das Licht der Welt, die letzte der preußischen Königstöchter, aber keineswegs das letzte Kind. 1726 wurde Heinrich geboren, vier Jahre später dann noch Ferdinand, das »Nesthäkchen« der Familie.

Die Euphorie über die gelungene Doppel-Verlobung war jedoch nur von kurzer Dauer. Denn so wie es am englischen Hof eine anti-preußische Partei gab, hatte sich in Berlin schon längst eine anti-englische Gruppierung gebildet, angeführt von dem kaiserlichen Gesandten Friedrich Heinrich von Seckendorff (1673  1763) und dem preußischen Minister Friedrich Wilhelm von Grumbkow (1678  1739). Je einflussreicher diese Partei wurde, umso mehr verringerten sich Sophie Dorotheas und Wilhelmines Hoffnungen auf eine baldige englische Heirat. Vielleicht hat es die Prinzessin daher schon geahnt: Als ihr Großvater 1727 überraschend starb und nunmehr ihr Onkel als Georg II. König von England wurde, war das Projekt schon so gut wie geplatzt. Der nämlich hatte nicht allzu viel Lust, sich noch enger mit seinem preußischen Vetter Friedrich Wilhelm zu verbinden, der ihn doch in Kindertagen so oft verprügelt hatte. Und Friedrich Wilhelm seinerseits grollte noch immer heimlich, dass ihm der Hannoveraner damals die Frau weggeschnappt hatte: Caroline, inzwischen englische Königin und Mutter der beiden potenziellen Heiratskandidaten. Politisch gesehen mochte vielleicht einiges für die Doppelhochzeit und die damit verbundene engere Einbindung Preußens ins Lager der Westmächte sprechen, doch die familiären Fronten waren derart verhärtet, dass an eine Doppel-Hochzeit nicht mehr zu denken war. Und damit hatte sich Sophie Dorotheas schöner Traum in Wohlgefallen aufgelöst.

Ein neuer Heiratskandidat: »der dicke Johann Adolf«

Der Familienstreit wäre vielleicht nicht eskaliert, hätte sich Sophie Dorothea einfach mit der Entscheidung ihres Gemahls abgefunden. Doch das konnte sie nicht. Zäh und verbissen hielt sie auch weiterhin an dem Heiratsprojekt fest, denn was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das wollte sie nun mit aller Macht durchführen, selbst wenn alle Vernunftgründe dagegen sprachen.

Es lässt sich unschwer vorstellen, wie vergiftet die Atmosphäre am Berliner Hof ohnehin schon war. Doch als die Königin den Kronprinzen auch noch zwang, heimlich seiner englischen »Verlobten« Amalie zu schreiben und zu versprechen, keine andere als sie zu heiraten, und als der Vater von diesem Brief erfuhr, nahm die Tragödie ihren Lauf. Für die inzwischen 18-jährige Wilhelmine begann damit eine regelrechte Zitterpartie, denn sie wusste genau, dass ihr der Preußenkönig nun einen anderen Ehemann aufzwingen würde. Tatsächlich gab Friedrich Wilhelm vor, gleich zwei Heiratskandidaten für seine Älteste an der Hand zu haben, die soeben zu Besuch am Berliner Königshof waren. Der eine war August der Starke, sächsischer Kurfürst und König von Polen, mittlerweile 57 Jahre alt und von seinem berühmt-berüchtigt ausschweifenden Leben gezeichnet. Nicht gerade der Traum eines jungen Mädchens. August war seit dem Tod seiner Gemahlin Christiane Eberhardine von Brandenburg-Bayreuth zwar Witwer, aber nicht unbedingt auf Brautsuche.

Als Alternative bot sich Herzog Johann Adolf von Weißenfels an, nach den Worten Sophie Dorotheas »ein lumpiger Niemand, der nur von der Gnade des Königs von Polen lebt«. Sie fürchtete angeblich, es nicht überleben zu können, sollte dieser »Niemand« tatsächlich ihr Schwiegersohn werden. In Wilhelmines Erinnerung soll sich damals folgendes zugetragen haben: »Der reizende Gatte, den man mir zugedacht, kam am Abend des 27. September 1728 an. Der König meldete es alsbald der Königin und befahl ihr, ihn wie einen Prinzen, der als ihr Schwiegersohn ausersehen sei, zu empfangen, da beschlossen sei, mich sofort zu verloben. Dies veranlasste eine neue Szene und zum Schluss verharrten wieder beide auf ihrem Standpunkt … Die Königin sagte mir erzürnt, dass sie wohl merke, wie ich schon eingeschüchtert und entschlossen sei, den dicken Johann Adolf zu heiraten; dass sie mich aber lieber tot als mit ihm vermählt sähe und mich tausendmal verfluchen würde, wenn ich fähig wäre, mich so weit zu vergessen. Ja, mit ihren eigenen Händen möchte sie mich erdrosseln, wenn ich zu einer solchen Absicht fähig wäre.«

Was die Königin aber fast noch mehr gegen ihre Tochter aufbrachte, war die Tatsache, dass Wilhelmine plötzlich gar keine Lust mehr zu haben schien, den Prinzen von Wales zu heiraten, um einmal Königin von England zu werden. Ganz offensichtlich nämlich hatte der Preußenkönig dafür gesorgt, dass seiner Tochter brisante Informationen über den englischen Thronfolger zugespielt wurden. Wie die Prinzessin selbst mitteilt, war sie inzwischen darüber unterrichtet, dass auch Friedrich Ludwig einem ziemlich ausschweifenden Lebensstil huldigte, der nicht unbedingt ihren Vorstellungen entsprach: »Ich ahnte wohl, dass der Prinz von Wales sich nicht für mich eignete, da er nicht alle Eigenschaften besaß, die ich forderte. Andererseits entsprach mir der Herr von Weißenfels nicht minder. Von dem großen Missverhältnis zwischen uns abgesehen, war auch der Altersunterschied zu groß, ich zählte 19, er 43 Jahre. Sein Gesicht war eher unangenehm als sympathisch, er war klein und schrecklich dick; er war weltgewandt, insgeheim aber brutal und bei alledem von sehr lockeren Sitten. Man stelle sich vor, wie mir im Herzen zumute war!«

Natürlich kam diese Ehe nicht zustande. Es hat ohnehin nicht den Anschein, als habe es Friedrich Wilhelm wirklich ernst gemeint. Tatsächlich handelte es sich wohl eher um einen seiner groben »Scherze«, eine Drohung, mit der er Tochter und Ehefrau gefügig machen wollte. Warum hätte er Wilhelmine auch mit einem Habenichts verheiraten sollen? Alle Töchter, die er  in den nächsten Jahren unter die Haube brachte, heirateten Männer, von denen sich der Preußenkönig politische Vorteile versprach. Schließlich war nichts anderes Sinn und Zweck fürstlicher Ehen.

Die erste der Königstöchter, die vor den Traualtar trat, war die erst 15-jährige Friederike gewesen, die 1729 den Markgrafen von Ansbach heiratete und so den preußischen Erbanspruch auf die kleine Markgrafschaft festigte.

Verlobung mit Friedrich von Bayreuth

Die Stimmung im Berliner Schloss war unterdessen um keinen Deut besser geworden: »Die Leiden des Fegefeuers konnten den unseren nicht gleichkommen«, schrieb Wilhelmine in ihren Memoiren. Erschwerend kam hinzu, dass der Preußenkönig damals unter heftigen Gichtanfällen litt, die ihn körperlich und seelisch gleichermaßen quälten: »Der arme König hatte große Schmerzen, und seine schwarze Galle, die sich in sein Blut ergossen hatte, war der Grund an seiner üblen Laune.« Wilhelmine selbst erkrankte nach Friederikes Hochzeit an den Pocken und schwebte wochenlang zwischen Leben und Tod. Doch wider Erwarten erholte sie sich allmählich von der schweren Krankheit und zu ihrer großen Freude blieben – ganz anders als bei ihrer Mutter – keine entstellenden Narben im Gesicht zurück.