Tessa Korber

Triste Töne

Roman

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Inhaltsübersicht

Orchestervorspiel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Danksagung

Informationen zum Buch

Über Tessa Korber

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Alle Figuren der Handlung sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig.

Das Innenleben des Wagnerschen Festspielhauses, insbesondere das unterirdische, habe ich in Anlage und Ausstattung den Bedürfnissen meiner Inszenierung angepaßt. Es entspringt, wie die Exzesse des Regietheaters selbst, allein meiner Phantasie.

»In Wirklichkeit aber handeln diese … Opern von der Tragik des Menschen, die nach Wagner darin besteht, daß er nicht weiß, ob er das Geld oder das Weib höher schätzen soll. Beides kann er nicht haben.«

Herbert Rosendorfer: Bayreuth für Anfänger

»Bei den Musikdramen Richard Wagners … tritt uns das kriminelle Element in womöglich noch stärkerem Maß entgegen.«

Ernst von Pidde: Richard Wagners »Nibelungen« im Licht des deutschen Strafrechts

»Diejenigen, die nach Bayreuth gehen, bereuen es nie, obwohl die Aufführungen dort oft alles andere als ergötzlich sind.«

Bernard Shaw: Wagner-Brevier

Orchestervorspiel

Über dem Bayreuther Festspielhaus wehte die blaue Fahne eines strahlenden Sommerhimmels. Touristen trabten ihrem Führer nach zwischen den verlassenen Kiosken hindurch, um den Bau herum, und ließen die Blicke über seine rötliche Fassade und das nachgeahmte Fachwerk wandern. Im Fenster der Eingangstür hing ein Schild in der Handschrift vergangener Jahrzehnte: Heute geschlossen wegen Proben. Die Neugierigen stiegen, also belehrt, in ihren Bus und fuhren wieder davon. Auspuffqualm wölkte zwischen die Bäume. In den Zweigen sangen die Amseln. Drinnen hatte sich schweigend das Ensemble zusammengefunden.

Der Regisseur des diesjährigen »Rings« hatte sie antreten lassen. Er hob die Hände wie ein Dirigent. Um seinen Hals mit dem kantigen Kehlkopf wand sich mehrfach ein schwarzes Strickband, das für einen Schal lächerlich schmal war. Rot und pockig leuchtete seine Haut zwischen den Schlingen auf, als würde sie von einer ewigen Gänsehaut gequält. Den Gesamteindruck körperlicher Vernachlässigung machte jedoch ein Gesicht wett, das allen geläufigen Vorstellungen von Vergeistigung entsprach: Die angegrauten Locken standen zu Berge, die tiefliegenden Augen blickten feurig, der edle Schwung der Hakennase wurde nur durch den Tropfen an ihrem geröteten, grobporigen Ende etwas entstellt. Die Trenchcoat-Ärmel des Maestros spannten, als er mit ausholenden Gesten seine Vision zu fassen versuchte.

»Also, ich stelle es mir vor als den Grundkonflikt zwischen bürgerlichem Besitzdenken und urtümlichem Eros, versteht ihr?«

Die Diva verschränkte ob des vertraulichen Du, wenn auch durch den Plural gemildert, die Hände vor der nicht unerheblichen Brust. Als Pluralis Majestatis hätte sie es vielleicht durchgehen lassen. Die Walküren begannen aufgeregt zu tuscheln. Siegmund runzelte die Stirn und gab sich Mühe, zu verstehen. Er war es gewohnt, sich Mühe geben zu müssen.

Der Regisseur fuhr fort: »Hunding und Sieglinde, Wotan und Fricka: Das sind in Konventionen verstrickte Paare, die die Lüge eines harmonischen bürgerlichen Seins leben, aus der alles, aber auch alles, radikal ausgeblendet wird, was das menschliche Leben in seinem Urgrund ausmacht, versteht ihr? Sex, Gewalt, Schmutz, Tod!« Die Finger des Regisseurs schlossen sich bedeutungsvoll um leere Luft. »Das ist der Grund, warum Hundings Hütte als Vorstadtreihenhaus gestaltet wird, mit Rasen und Garage, bonbonrosa und puppenhaft wie in ›Edward mit den Scherenhänden‹.«

Sieglinde, die bei den Proben immer eine Thermosflasche heißen Tees mit Honig dabei hatte, neigte sich Wotan zu. »Man merkt, daß er vom Kino kommt«, tuschelte sie.

Der Gott nickte hoheitsvoll. »Hat er überhaupt schon einmal eine Oper gemacht?« erkundigte er sich mit leise brummendem Baß.

»Und Hundings Schwert wird im Hifi-Turm stecken«, fuhr der Regisseur inspiriert fort. Seine Hände zeichneten immer größere Linien in den Raum.

Fricka neigte sich herüber und flüsterte: »Er hat ›Hamlet‹ als Singspiel inszeniert, mit mexikanischer Mariachi-Musik. So viel ich hörte, sollen am Ende alle in einem Morast versunken sein.«

»Na wunderbar, gib mir einen Schluck Tee!«

Sieglinde hob den Finger und fragte: »Ist das der Grund, warum Siegmund nackt vor mir steht?« Ihr Blick zu dem blonden Helden war nicht ohne Schadenfreude. Der stand da wie die Mauer beim Strafstoß und dachte an seine Geheimratsecken und all die Stunden im Bodybuilding-Studio, die er nie genommen hatte.

Fricka kicherte.

»Der wird das Lächeln noch vergehen, wenn sie merkt, daß er sie in einen geblümten Hauskittel und Stützstrümpfe stecken wird«, flüsterte eine Walküre der Diva zu. Die lächelte grimmig. Der Regisseur ignorierte das Getuschel.

»Hände werden sich aus den blümchentapezierten Wänden recken«, fuhr er theatralisch fort und suchte ihnen die Szene vor Augen zu stellen. »Gräßliche, haarige, bemalte Arme, die sich winden und den Einbruch der Urgewalt kraß vor Augen führen. Stück für Stück entkleiden sie Siegmund für den folgenden Inzest. Sie selbst werden beschmiert sein mit Blut und Kot, ja, Kot …«

Das Ensemble hielt hörbar den Atem an. Der Regisseur überlegte: »… oder Schmutz«, fuhr er fort. »Ja, ich denke, Schmutz genügt.«

Alle seufzten erleichtert auf.

»Du!« Damit ging er heftig auf die Sieglinde zu, die erschrocken ihre Strickjacke schloß, »wirst schließlich die Wände deines verlogenen Heims mit Blut beschmieren, ehe du dich der Urgewalt seiner Umarmung ergibst.« Ohne hinzusehen, stach sein Finger in Richtung Siegmund.

Der zuckte zusammen und wurde immer kleiner. Dann schaute er auf die Uhr.

»Entschuldigung«, meldete er zaghaft, »Entschuldigung. Wenn ich kurz dürfte, es ist Zeit für meine Vitaminpillen.«

Der Regisseur schritt auf ihn zu und packte ihn bei den Schultern. »Blutrausch!« donnerte er, »Inzest! Es steckt alles in dir drin. Es steckt in uns allen.«

Siegmund wuchs ein wenig. Zuversichtlicher blickend, griff er nach seinem Mundspray.

»Und du!« Sein vibrierender Finger wies auf die Diva. »Du bist wie er. Urtümlich, ungestüm.«

Gelassen sah sie ihm entgegen und spielte mit ihrer goldenen Uhrkette, die sie sich wieder und wieder um den Finger wickelte. Ihr Blick wanderte durch den Probenraum.

»Aus dem Leib willst du es deinem verkommenen, verknöcherten Vater wühlen, daß er der Stimme der Leidenschaft folgen muß. Einst war es auch in Wotan, es war einmal in all unseren Zuschauern. Und du wirst es wieder wachrufen. Deine Brüste …«, mit heftiger Geste riß er sich ein nicht vorhandenes Gewand auf, »wirst du ihm darbieten.«

Plötzlich wandte er sich ab und fischte sich eine Zigarette aus der Packung. »Alles klar?« fragte er ruhig und in normaler Lautstärke.

Der Finger der Diva hatte aufgehört zu wickeln. »Ich bin Sängerin«, sagte sie sehr würdevoll, »keine Schauspielerin. Ich brauche keine Skandale, um jemanden wachzurütteln. Dafür habe ich meine Stimme.«

Sie hatte jedes »Ich« überdeutlich betont. Ihr Finger wickelte wieder, diesmal aber rasch und hektisch.

Der Regisseur schien sie nicht gehört zu haben, er schüttelte sein offenbar defektes Feuerzeug. Siegmund beeilte sich, ihm mit Streichhölzern zu Hilfe zu kommen, und lächelte schüchtern. Der Regisseur tätschelte ihm den Arm.

»Wenn du dich nicht traust«, sagte er dann unvermittelt, »nehmen wir eben was aus Gummi. Das macht die Geste sogar noch drastischer. Und deutlicher. Diese Übergröße.«

Der Umfang seiner Armbewegung ließ die anwesenden Götter blaß werden.

»Eva«, diktierte er umgehend seine Assistentin herbei. »Ruf doch mal im hiesigen Erotikshop an und frag, ob die so was haben!«

Es wurde eifrig notiert.

»Und jetzt das musikalische Zeug.« Der Regisseur machte ein wenig Platz für den Korrepetitor, der das Einsingen überwachen sollte und schon ungeduldig hinter ihm gewartet hatte. Seine brüderliche Umarmung vereinnahmte das dürre Männlein ganz, das sich freikämpfte und energisch den langen Hals reckte, um seine Schützlinge in den Blick zu bekommen. Doch der Regisseur wich nicht. »Maestro, die Truppe muß gelockert werden. Alle mal herhören«, hob er die Stimme noch einmal und klatsche in die Hände. »Ihr singt jetzt euren ersten Dreiklang, oder wie das heißt, auf die Silben Va-gi-na. Ja, nur zu, traut euch! Taut auf!«

»Mimimmimimimimi«, fistelte sich Siegmund warm.

Wenige Minuten später tönte es in allen Stimmlagen von der Bühne. Der Regisseur lächelte befriedigt.

»Hast du gemerkt, wie sie mit den Rosetten gezuckt haben, als ich Kot sagte?« flüsterte er seiner Assistentin zu, die errötend zu Boden sah.

Da meldete sich die Diva. In betont gepflegter Aussprache und mit zuckersüßem Lächeln fragte sie: »Darf ich etwas früher gehen, wenn ich statt dessen Fo-tze singe?«

Der Regisseur zeigte eine grienende Grimasse und winkte sie hinaus.

»Zicke«, flüsterte Fricka voller Neid.

Die Diva rauschte ab.

»So ein Pinscher«, empörte sie sich auf dem Weg in die Garderobe. »Gummibrüste! Dieser ahnungslose Ignorant! Ah, ich könnte ihn umbringen.« Sie knallte die Tür so heftig zu, daß sie wieder aufsprang, und schüttelte ihre Fäuste gegen die Vorsehung und den Gott des Regietheaters. »Aber ich werde singen, ich werde ihm zeigen, was Oper bedeutet.« Energisch ließ sie sich vor ihrem Spiegel nieder und griff zum Pinsel. »Sie hat ein völlig nichtssagendes Gesicht, findest du nicht?«

»Wer?« fragte ihr Gatte, der wie immer in einer Ecke der Garderobe saß und in ein Magazin vertieft war.

»Na, die Sieglinde.« Die Diva pinselte hektisch. »Dünn wie lascher Tee und ohne jede Bühnenpräsenz.«

»Du weißt doch, wie sehr ihre blühenden Kopftöne gelobt werden.« Gelangweilt blätterte er um und schaute dabei auf. Im Dunkel des Flurs sah er undeutlich ein Gesicht, verschwommen und blaß wie auf einer alten Fotografie. Es kam ihm vage bekannt vor. Er schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben, und strich seine Zeitung glatt. »Hat sie nicht an der Met gesungen?«

Die Diva schnaubte: »Ich sage dir, mit der zweiten Besetzung wären wir besser dran.«

Siegmund schmetterte mit rotem Gesicht. Fricka streikte. Sieglinde trank ihren Tee.

»Sie trifft die hohen Töne nicht mehr«, zischelten die Walküren böse. »Nur deshalb singt sie nicht mit. Wir werden noch die zweite Besetzung brauchen.«

Der Korrepetitor fuchtelte mit seinen Armen wie ein Ertrinkender. In seinen Augen stand die verzweifelte Frage: Klang so Wagner heute in Bayreuth?

»Die hast du ja ganz schön schockiert«, meinte die Assistentin in schüchterner Anerkennung, während sie dem Regisseur seinen Kaffee brachte.

Er lächelte selbstgefällig und betrachtete das Geschehen auf der Bühne.

»Über die Idee, den Siegmund nachher auch als Siegfried einzusetzen, würde ich aber noch mal nachdenken«, meinte sie, stirnrunzelnd über seine Schulter blickend.

»Alles derselbe Heldentypus bei Wagner«, gab der Regisseur knapp zurück. »Familienähnlichkeit.« Er grinste.

Sie legte den Kopf schief. »Ja, aber er ist so gar nicht der Typ.«

Ihr Meister geruhte nicht zu antworten.

»Und das mit den Schweinedärmen«, wagte sie einzuwenden, »muß das denn sein?«

»Die Menschen erwarten von mir, daß ich sie provoziere«, sagte der Regisseur gelassen. »Man darf sein Publikum nicht enttäuschen. Da bestehen gewisse Verpflichtungen. Wenn die Leute sich nicht aufregen, woher sollen sie dann wissen, daß es Kunst ist?«

»Ich meine nur, weil wir das doch schon in der ›Iphigenie‹-Verfilmung gemacht haben.«

Der Regisseur zog hastig die Ärmel seines Trenchcoats zurecht und hob das Kinn. »Keine Sorge, das hier ist Bayreuth. Da funktioniert das noch. Und wenn nicht, haben wir immer noch Plan B.«

Hunding folgte gedankenverloren den Anweisungen des Korrepetitors. Er wiederholte stetig sein obszönes Mantra und geriet in eine Art des Wohlbehagens, bis Wotan ihn mit dem Ellbogen anstieß.

»Einer aus der Familie, glaub ich«, brummte er vergnügt und wies mit dem Kinn auf eine undeutliche Gestalt in den Kulissen. »Ich wette, der würde uns am liebsten alle umbringen.«

Darin jedoch täuschte er sich. Die Person im Halbdunkel wollte nur einen einzigen Menschen töten.

1

»Nein, nein und nochmals nein!« Kriminalkommissarin Jeannette Dürer tippte abschließend auf der Tastatur ihres Computers herum. Eine Reihe von Frauengesichtern erschien. »Dicke Damen mit Helm und Doppelkinn, die eine Lanze schwingen, ich bitte dich!«

Ihr Kollege Martin Knauer neigte sich über ihre Schulter. »Die da könnte es sein«, meinte er. Sein Kugelschreiber machte auf dem Bildschirm ein klickendes Geräusch.

Ungeduldig wedelte Jeannette ihn beiseite und schüttelte den Kopf. Sie hatten noch nicht gefunden, was sie suchten.

Martin Knauer runzelte die Stirn, gab ihr nach einem zweiten Blick aber recht. Das Bild zeigte nicht ihre Tote. Er reckte die Arme wie ein Dirigent, ließ die Finger knacken und machte sich daran, sanft, aber nachdrücklich den verspannten Nacken seiner Partnerin zu massieren, die konzentriert auf den Bildschirm starrte, wo ein Gesicht das andere ablöste.

»Überleg es dir halt noch mal, hmmm?« fragte er sanft brummend. »Es könnte doch ganz witzig werden.«

Die Sekretärin steckte den Kopf zur Tür herein. »Wenn ihr zwei Turteltauben dann bald mal fertig seid? Doktor Greif läßt ausrichten, daß er allein mit der Obduktion beginnt, wenn ihr nicht in fünf Minuten in der Gerichtsmedizin erscheint.«

Jeannette und Martin schauten gleichzeitig auf ihre Armbanduhren.

»Verdammt.« Sie stieß sich mit den Händen an der Tischkante ab und rollte mit ihrem Bürosessel gegen Martins Schienbeine, der prompt lauthals fluchte. »Wie konnte ich das vergessen.« Schon war sie auf dem Weg zur Tür. Im Gehen angelte sie nach ihrem Rucksack. »Daran bist nur du mit deinem Gebettel schuld«, hielt sie ihrem Kollegen vor.

»Gebettel?« Martin folgte ihr im Laufschritt. Über die Gänge des Polizeipräsidiums rief er ihr nach: »Ich habe es nicht nötig zu betteln. Ich biete dir die einmalige Möglichkeit, einen Abend in der Gesellschaft des CSU-Vorsitzenden zu verbringen.«

Als sie wenig später durch die Tür des Obduktionsraums traten, stritten sie noch immer. Doktor Greif, der Gerichtsmediziner, schaute kurz auf, als sie hereinkamen, und stellte noch einmal die laut kreischende Säge aus.

»… stundenlang …«, schimpfte Jeannette Dürer gerade. Sie hörte ihre in der plötzlichen Stille unverhältnismäßig laute Stimme und verstummte.

»So lange wird es wohl nicht dauern«, begrüßte Doktor Greif sie mit sarkastischer Stimme. »Wenn Sie beide dann soweit wären.« Er schaltete die Säge wieder ein.

Jeannette fingerte ungeduldig an den Bändern herum, die Martins Kittel hinten schlossen und sich partout nicht verknoten ließen. Martin Knauer nutzte die Gelegenheit, dem ganzen Geschehen den Rücken zu kehren, bis es wieder stiller wurde. Nein, dachte er, als er sich das Bild vorstellte, das ihn gleich erwarten würde. Er würde sich niemals an den Anblick gewöhnen.

»Haben Sie schon einen Namen?« erkundigte der Arzt sich, als der Sägevorgang abgeschlossen war, und klappte die Schädeldecke auf.

Jeannette schüttelte den Kopf. »Wir gehen gerade die Dateien mit den registrierten russischen Prostituierten durch.«

»Eine Russin, so? Interessant, wie kommen Sie darauf?« fragte Greif.

»Wir haben ein Foto in ihrer Jackentasche gefunden«, erklärte Jeannette. »Es war ins Futter gerutscht. Auf seiner Rückseite befindet sich ein Adressenstempel mit kyrillischen Buchstaben.«

Greif nickte und wandte sich wieder seinem Objekt zu. »Mal sehen, was ich Ihnen sagen kann.« Er neigte sich über das Gewebe und verstummte.

Den Blick hartnäckig weit über Augenhöhe auf einen Punkt an der Rückwand fixiert, wo die breiten Rohre des Abzugssystems verliefen, nahm Martin mit stockender Stimme den Faden ihres Gesprächs wieder auf. Zu versuchen, Jeannette doch noch zu überzeugen, bot eine gute Ablenkung.

»Von wegen lebensfernes Getue. Da sind menschliche Urerfahrungen drin verarbeitet«, brachte er als Argument gegen ihren letzten Einwand vor. So hatte sein Freund Josef ihm das jedenfalls erklärt.

»Urerfahrung?« Jeannette schüttelte ungläubig den Kopf. »Die einzige Erfahrung, die da drin steckt, ist die tödlicher Langeweile.« Sie schnaubte. »Erfahrung, ich bitte dich. Gehört es etwa zu deinen Erfahrungen, daß sich Sterbende stundenlang gegenseitig ansingen?«

Sie wurden unterbrochen von einem lauten Rülpser, der aus der Kehle der Toten drang. Jeannette riß alarmiert den Kopf hoch. Selbst die Assistenten des Arztes zuckten zurück.

»Hoppla«, sagte Doktor Greif gelassen und wandte sich dem Brustkorb zu. »Das kann schon mal passieren, wenn sie noch Luft in der Speiseröhre haben.« Er lächelte die beiden Polizisten an.

Martin wurde blaß und stürzte hinaus.

Jeannette warf Greif einen Blick zu, der besagte, daß alles ganz allein seine Schuld sei, und stürmte ihrem Kollegen nach.

Sie fand ihn in den Waschräumen, tief über ein Waschbecken gebeugt. Mitleidig stellte sie sich neben ihn und strich beruhigend über seine Schultern, bis der Anfall vorbei war. »Das nimmt dich ganz schön mit, was?« meinte sie verständnisvoll.

Martin stierte mit tränenden Augen in den Spiegel. Er war ein Schatten seiner selbst.

»Jeannette, bitte!« Seine Stimme brach. Sie hielt ihm ein Taschentuch hin, und er schneuzte sich. »Ich meine, du hast ja wenigstens keine theoretischen Vorbehalte gegen die Sache«, fuhr er dann mit kräftigerer Stimme fort. »Du wirst dich nicht wegen irgendwelcher Harmonien aufregen. Du bist kein Hasser.« Er wandte sich zu ihr um. »Du hast überhaupt keine Ahnung davon. Deshalb wirst du nicht so leiden.« Sein Blick wurde flehend. »Jeannette! Im Namen unserer Freundschaft.«

Langsam und endgültig schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nicht, Martin.« Als sie den waidwunden, verständnislosen Blick in seinen Augen sah, nahm sie seine Hände in ihre. Langsam und deutlich erklärte sie ihm: »Ich kann nicht, weil du selbst darauf bestanden hast, daß ich Josef gegenüber behaupte, ich wäre am nächsten Donnerstag völlig unabkömmlich. Erinnerst du dich?«

Martin stöhnte. Ja, er erinnerte sich. Er selbst hatte den Dienstplan manipuliert, um für Donnerstag eingeteilt zu sein. Jeannette hatte er eingeschärft, niemandem etwas davon zu sagen, vor allem nicht seinem Lebensgefährten Josef Brunner. Und sollte Josef anrufen und fragen, ob sie nicht mit Martin die Schicht tauschen könnte, müsse sie das absolut von sich weisen. Und genau das hatte Jeannette getan. Sie hatte recht, er saß in der eigenen Falle.

Jeannette konnte sich das mitleidige Lächeln derer, die sich selbst in Sicherheit befinden, nicht verkneifen. Sie riß etwas Toilettenpapier ab und wischte ihrem gebeutelten Freund und Kollegen liebevoll einen Rest Erbrochenes aus dem Mundwinkel.

»Ist es denn so schlimm?« fragte sie.

Martin nickte nur.

»Acht Jahre.« Er schnaubte verächtlich. »Acht Jahre hat Josef auf die Karten gewartet. Weißt du, was das bedeutet?«

»Fünf Jahre länger, als ihr zusammen seid.« Jeannette warf das Taschentuch fort. Zum ersten Mal war sie aufrichtig erleichtert, daß der sympathische Doktor Brunner damals nicht sie, sondern ihren Freund Martin zu seinem Liebsten erkoren hatte. Wie peinlich war es ihr in den ersten Monaten gewesen, einem Mann eine Liebeserklärung gemacht zu haben, der seinerseits auf Männer stand. Zum Glück war ihre Beziehung dadurch nicht beschädigt worden, im Gegenteil. Sie und Martin waren sich vielmehr nähergekommen, waren von Kollegen zu echten Freunden geworden, eine Freundschaft, die Josef mit einschloß. Ja, seit Josef und Martin auch noch Jeannettes geschiedener Schwester Tanja samt ihren drei Kindern ein neues Heim besorgt hatten, waren sie alle zu einer regelrechten Sippe zusammengewachsen. Die zwei so verschiedenen Haushalte lebten nun in den beiden Hälften des Doppelhauses, das Josef von seinen Eltern geerbt hatte. Tanjas Kinder nannten beide Männer mit gleicher Begeisterung Onkel. Und Jeannette kam trotz ihrer Vorbehalte gegen das Landleben oft und gerne bei den sechsen in Dechsendorf vorbei. Keinesfalls aus sentimentaler Familienanhänglichkeit, wie sie betonte, sondern um Josefs wunderbare Küche zu genießen.

Vielleicht war das der Grund, warum Frau Dürer sen., die sich sonst intensiv um die Belange ihrer erwachsenen Töchter zu kümmern pflegte, sich in letzter Zeit so selten dort blicken ließ. Ein schwules Vermieterpaar, das mochte ja noch angehen. Aber überflüssig gemacht zu werden mitsamt den mitgebrachten Tupper-Gaben voller Schweinebraten, Kloß und Kraut, das ging zu weit. Sie hatte an Josef, der formvollendet höflich war, noch nicht ein Wort gerichtet.

»Frag doch meine Mutter«, sagte Jeannette daher spontan, als sie an diesem Punkt ihrer Gedankenkette angekommen war.

Martin schaute sie an, und zum ersten Mal seit langem mußte er lächeln. Dann kicherte er und brach mit Jeannette gemeinsam in lautes Gelächter aus, das von den Kacheln des großen Raumes widerhallte.

»Das kann ich ihm nicht antun«, keuchte er schließlich und wischte sich die Augen. Jeannette grinste.

»Aber meine Schwester könnte Josef mitnehmen«, spann Jeannette ihre Überlegungen weiter. »Die ist sicher dankbar um jede Gelegenheit, mal aus ihrem Alltagstrott herauszukommen.«

»Die bräuchte einen Babysitter«, grübelte Martin. »Das übernehmen gewöhnlich wir, aber wir fallen ja aus.« Er hob hoffnungsvoll den Kopf. »Könntest du nicht …?«

Jeannette verneinte. »Aus den bekannten Gründen.«

Martin nickte fast synchron mit ihr. Richtig, das alte Problem. »Es ist echt zum Aus-der-Haut-Fahren.« Er hieb mit der Faust gegen die Wand. Putz bröckelte.

»Was is denn hier los? Mecht mer a weng randaliern, oder was?« Ein Putzmann war hereingeschlurft und stützte sich drohend auf seinen Schrubber. Sein fragender Blick wanderte von einem zum anderen.

Jeannette stellte sich schützend vor ihren Freund.

»Er hat Karten für Wagners ›Ring‹ in Bayreuth«, erklärte sie.

Der Putzmann pfiff anerkennend.

»Sei bedankt, mei lieba Schwan.« Dann tunkte er ohne weiteren Kommentar den Schrubber ein und widmete sich seiner Putzarbeit.

Verdutzt schauten die beiden Kommissare sich nach ihm um, als sie hinausgingen. Er hatte begonnen, eine aufrüttelnde Melodie zu trällern, untermalt vom Klingeln von Jeannettes Handy. Jochen Böhm von der Spurensicherung meldete sich.

»Wir haben einen Namen«, klang seine Stimme abgerissen aus dem Hörer.

»Kannst du das wiederholen? Der Empfang ist so schlecht.« Jeannette zog ihren Notizblock heraus und legte ihn auf Martins Schulter. »Sie haben den Namen der Russin«, flüsterte sie ihm erklärend zu. »Halt doch mal still!« Aufmerksam schrieb sie mit und sagte schließlich laut. »Danke, Jochen, gute Arbeit.«

Aus dem Handy kam ein hustendes Lachen.

»Ich dachte mir, daß du das sagen würdest. Willst du auch ihre Adresse?«

Jeannette notierte auch das.

»Was ist denn das bei euch für ein Lärm?« fragte Böhm unter Scheppern und Knistern. Jeannette wandte sich nach dem singenden Putzmann um. Eine Toilettenspülung rauschte.

»Wagner, glaube ich«, sagte sie. Im Handy blieb es still. Aber Jeannette konnte förmlich hören, wie Jochen Böhm die Augenbrauen hochzog.

Martin zupfte sie dringlich am Ärmel.

»Ist das Jochen?« erkundigte er sich leise. »Gib ihn mir mal, ich muß ihn was fragen.« In seiner Stimme lag neue Hoffnung.

»Wenn du meinst. «Jeannette schüttelte mitleidig den Kopf. »Ich warte im Wagen.«

2

»Und?«

Martin Knauer ließ sich mit Schwung in den Sitz fallen.

»Er hat nein gesagt.«

Eine Weile fuhren sie schweigend.

»Wölkernstraße«, meinte er dann, als er in die lange, belebte Geschäftsstraße einbog. Die Reifen rutschten über die Straßenbahnschienen. »Wie lange waren wir da schon nicht mehr im Kino?«

Jeannette schaute aus dem Fenster und hing ihren Gedanken nach. Viele Filme hatten sie hier bereits gemeinsam gesehen. Sie mochte die Kinofassade mit ihrem altmodischen Kranz aus weißen Glühbirnen, der die Ankündigungen rahmte. »Ist überhaupt verdammt lange her, daß wir einen gemeinsamen Abend verbracht haben, was?«

»Das bringt das Familienleben mit sich«, bestätigte Martin. »Fahr langsamer, es muß jetzt gleich kommen!«

Jeannette manövrierte sie durch den dichten Verkehr auf der chaotisch zugeparkten Fahrspur. Die Straßenbahn klingelte vorbei. Martin reckte den Kopf. Geschäft um Geschäft glitt vorüber, typische Vorstadtläden, altmodisch, bunt, geschmacklos und voller Leben. Dann kam die Leuchtreklame des Kinos.

»Du, ab Donnerstag wiederholen sie ›The Incredible Hulk‹. Mensch«, fuhr er fort, als Jeannette, die nach einer Parklücke suchte, nicht reagierte, »der ist von Ang Lee.«

»Mir war ›Sinn und Sinnlichkeit‹ lieber.«

»Aber die Split-Screen-Technik ist besser eingesetzt als bei Greenaways ›Sturm‹ damals«, wandte Martin ein.

Jeannette hatte einen freien Platz in zweiter Reihe vor einem Döner-Imbiß entdeckt und steuerte energisch darauf zu.

»Trotzdem, ich kann nicht begreifen, warum jemand gerade eine Monsterstory zu einem Avantgarde-Erlebnis machen muß.«

Martin ereiferte sich, aber Jeannette winkte ab.

»Vergiß es, Donnerstag sitzt du mit Josef in der ›Walküre‹. Und du wirst ihn damit sehr glücklich machen.«

Martin antwortete nicht. Er sprach nicht, als sie ausstiegen und den zwischen Ladeneingängen versteckten Eingang zu dem Mietshaus fanden. Er schwieg während des gesamten Aufstiegs in dem alten Treppenhaus, das irgendwann im Lauf seiner Geschichte mit braunen Linoleumböden, einem abwaschbaren beigefarbenen Ölanstrich und Wohnungstüren in Alurahmen verschandelt worden war. Auf den lichtarmen Treppenabsätzen starben Yuccapalmen und Aspidistren vor sich hin. Ein seltsam ranziger Geruch lag in der Luft, entströmte dem Boden und dem Gemäuer, in Jahrzehnten entstanden und unwandelbar.

Nummer sechs im dritten Stock hatte noch seine schöne alte Holztür mit dem Glasfenster, doch lag sie unter einem dicken Farbanstrich verborgen. »Pfeuffer« stand auf dem handgeschriebenen, schon reichlich mitgenommenen Schildchen, das jemand neben den Klingelknopf geklebt hatte.

Jeannette und Martin mußten nicht läuten. Die Tür stand offen und gab den Blick frei auf einen engen Flur, in dem Jochen Böhms Team bereits an der Arbeit war. Martin, noch immer verstimmt, schob sich an ihr vorbei. Er grüßte mit einem stummen Nicken die hin und her wimmelnden Kollegen, hob die Füße und kletterte sorgsam über ein paar Markierungen, um sich umzusehen.

Jeannette tat es ihm gleich. Sie trat langsam ein, noch immer mit derselben Scheu, der ein Hauch neugieriger Erwartung beigemischt war, die sie immer umfing, wenn sie in den ganz privaten Kosmos eines fremden Menschen eindrang. Es war wie der Schritt durch eine verbotene Tür. Nie wußte man, was einen erwartete. Ein wenig fühlte sie sich jedesmal wieder wie beim ersten Schritt auf die Oberfläche des Mondes. Und manche der Erfahrungen waren wirklich außerirdisch.

»Das ist ja widerlich«, sagte sie mit aufrichtigem Ekel.

Martin kam aus der Küche herüber und blickte ihr über die Schulter.

»Geschmackssache«, meinte er und musterte gelassen das überdimensionale Bett mit dem gepolsterten Kopfteil in kreischrotem Plüsch und der metallisch-rosafarben glänzenden Steppdecke. Der Boden war mit dickem Flokati ausgelegt, an den Wänden hingen Blätter aus Autokalendern mit barbusigen Schönheiten.

»Handschellen!« Jeannette wies auf den Nachttisch und hob mit spitzen Fingern hoch, was dort lag. »Vergoldet.«

»Dann haben wir es hier wohl mit dem Arbeitszimmer zu tun«, meinte Martin Knauer. Der Raum in seiner schreienden, billigen Obszönität stand in krassem Gegensatz zum Rest der Wohnung: einem Wohnzimmer, das von der braunen Auslegware über das klobige Blümchensofa und die Schrankwand aus Eichenimitat bis hin zu den üppigen Stores an den Fenstern tiefste Biederkeit atmete, einer picobello aufgeräumten Einbauküche und einem zweiten Schlafzimmer mit der frösteligen Atmosphäre des überzeugten Kaltschläfers. Darin stand neben Schrank, Nachttisch und Gardine ein Einzelbett.

Die Schlafstätte von Ewa Stepakowa fanden sie in einem fensterlosen Nebenraum der Küche, der ehemals wohl als Speisekammer gedient hatte. Es war nicht mehr als eine Liege, das Nachthemd so sorgfältig gefaltet und unter das Kopfkissen gebettet wie im Mädchenpensionat. An die Wand darüber war ein Bildchen aus einer Hochglanz-Illustrierten gepinnt, die Reklame für ein teures Marken-Parfum. Ewas tatsächliche Besitztümer waren bescheidener. Sie befanden sich in einem eintürigen Sperrholzspind, der den Rest des Raumes einnahm: eine abgeschabte kunstlederne Reisetasche mit geflicktem Griff auf dem Schrankboden, ein paar Plastikkleiderbügel mit den Aufdrucken eines billigen Kaufhauses, aus dem auch die daran hängenden, nagelneuen Kleider stammten, wie die Etiketten verrieten. An den Unterseiten der drei Paar Schuhe hafteten noch die Preisaufkleber. Darüber ein Wochensatz Unterwäsche. In einem Kulturbeutel, an dem ebenfalls das Preisschild noch klebte, fand sich neben einer neuen Haarbürste, einer Seifenschale und einem Schwamm eine angebrochene Flasche Chanel No. 5. Es fehlte nur wenig. Ewa Stepakowa war sparsam mit ihrem Schatz umgegangen.

»Der Mistkerl hat sie offenbar gezwungen, hier zu hausen.«

»Außer, es ging ans Bumsen«, stellte Martin lakonisch fest. »Dann folgte offenbar der Szenenwechsel in das Liebesnest nebenan.«

»Glaubst du, daß nur er …?« fragte Jeannette.

Martin zuckte mit den Schultern. »Steht kaum zu vermuten, oder? Vielleicht helfen uns die Videos weiter.«

Sie beendeten ihre Inspektion der traurigen Kammer und gingen in das rote Plüschzimmer zurück, wo sich neben einem Fernseher samt Recorder auch eine ganze Zahl Videokassetten befanden. Die Hüllen wiesen die meisten von ihnen als Pornos aus.

»Siegfried privat«, las Martin und lachte. »Das muß ich Josef mitbringen. Dann überlegt er es sich vielleicht.« Er schaute auf. »Stell dir vor: Der blonde Recke mit Brünnhilde beim …« Er brach ab, als er Jeannettes Blick sah, und stellte die Liebesabenteuer des Nibelungenhelden zurück.

Es waren auch eine ganze Reihe selbstbespielter Kassetten in Pappumschlägen dabei; nach Daten sortiert. Martin Knauer suchte das jüngste Datum heraus und legte das Band ein. Die Spurensicherer kamen dazu, als er den Fernseher anschaltete.

Übergangslos füllte das monotone Klatschen von Bauchspeck auf Pobacken den Raum, begleitet vom ebenso monotonen Keuchen der Frau. Jemand räusperte sich. Jeannette verschränkte die Arme.

»Ist sie das?« fragte Martin.

Jeannette nickte. Im Gegensatz zu ihm hatte sie Ewa Pfeuffer-Stepakowa bei der Obduktion ausführlich betrachtet. Obwohl die Frau in dem Film nur von schräg hinten zu sehen war, war sie doch leicht zu identifizieren. Man konnte das rote Feuermal an ihrer Hüfte gut erkennen, den mageren Rücken, in einem Moment auch das Profil mit der seltsam gebogenen Nase.

»Das spielt eindeutig hier«, meinte sie und wies auf das gut sichtbare Kopfteil des Bettes. »Sogar der Fleck auf der Tapete ist zu sehen.«

Jochen Böhm nickte. »Aber der Mann da ist nicht Pfeuffer, nach allem, nach der Beschreibung, die die Nachbarn gegeben haben, zumindest.«

»Gibt’s kein Foto?« fragte Jeannette.

Jemand kam mit einer gerahmten Studioaufnahme aus dem Wohnzimmer. Pfeuffer und die Stepakowa, mit Brautstrauß.

»Quod erat demonstrandum«, sagte Jeannette, gab das Bild zurück und drückte die Stopptaste der Fernbedienung. In die Männer an der Tür kam Leben. Einer nach dem anderen wandten sie sich verlegen wieder ihrer Arbeit zu.

»Er hat sie also weitervermietet«, überlegte Jeannette laut. »Vermutlich hat er die Kamera gehalten, vielleicht Kopien der Filme verkauft.«

»Und sie ermordet, als sie aufmüpfig wurde?« spann Martin den Faden weiter.

»Oder er Frischfleisch wollte. Die nächste aus dem Katalog. Es ist einfach zum Kotzen.« Jeannette knipste unnötig heftig den Lichtschalter aus.

»Katalog?« fragte Martin.

Jeannette nickte.

»Jochen sagt, er hat sie aus dem Katalog eines – wie heißt das? – Eheanbahnungsinstituts, das auf Osteuropäerinnen spezialisiert ist.«

»Ich frag mich, warum er sie erschlagen hat«, meinte Martin nachdenklich. »Er hätte doch einfach die Scheidung einreichen können. Sie war noch keine zwei Jahre da. Die Ausländerbehörde hätte sie ihm sogar abgeholt.«

»Mach mich nicht wütend«, schnaubte Jeannette und marschierte auf den Ausgang zu. »Wieso sind hier eigentlich alle Türen eingetreten?« fragte sie im Hinausgehen, an niemand Bestimmten gewandt.

»Das ist typisch für Alkoholikerwohnungen«, erklärte Martin. »Man erkennt sie an den kaputten Zimmertüren, den Veilchen der Frauen, die drin wohnen, und …«

»… am Geruch«, fügte Jeannette hinzu und stieß angeekelt die Luft aus. »Ich hab es manchmal wirklich satt, weißt du.«

Sie verließen das Mietshaus in der Nürnberger Südstadt, dessen vom Ruß geschwärzter Fassade niemand ansah, was für eine Privathölle es in seinem unauffälligen Inneren beherbergt hatte.

Auf dem Weg zum Wagen legte Martin aufmunternd den Arm um sie. »Wenigstens hast du mich«, sagte er.

Jeannette mußte lachen.

»Ja, du bist wahrhaftig der Trost jeder Weiblichkeit.« Sie überließ sich kurz seiner Umarmung und barg den Kopf an seiner Schulter, dann löste sie sich und gab ihm einen Klaps, um auf der Fahrerseite einzusteigen.

»Jedenfalls bist du der rettende Hort der Dürer-Frauen«, sagte sie. »Warte, ich besorge uns noch einen Döner!«

3

Zurück im Revier, mit fettigen Fingern und Zwiebelatem, blätterte Jeannette am Bildschirm in einem der Kataloge, die Ewa Stepakowa nach Deutschland gebracht hatten. Galerien von Bildern zeigten heiratswillige junge Russinnen, lächelnde Gesichter, hinter denen eine Jeannette unverständliche Sehnsucht stehen mußte.