Die

Bremen-Polizei-Serie

1987-1996

 

 

von

Jürgen Alberts

 

 

 

 

Hintergründe, Recherchen und Reaktionen

 

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-991-9

MOBI ISBN 978-3-95865-

 

Urheberrechtshinweis:

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Dieser „elfte Band“ meiner Bremen-Polizei-Serie ist eine Vor-Veröffentlichung meiner Autobiografie: WILDER MANN LAUF – Mein Leben in Romanen, die 2016 zu meinem 70. Geburtstag erscheinen soll.

 

 

Vorwort

 

Nach den ersten Versuchen im Genre Krimi, zwei Hörspiele und drei Romane, spürte ich, dass ich mich in dieser Gattung ausgesprochen zuhause fühle. Einerseits hatte ich spannende Geschichten zu erzählen, andererseits lässt das Genre genügend Raum für die kritische Sicht auf die Gesellschaft. Und diese Sicht habe ich mir bis heute erhalten. Das Genre Krimi bietet auch Schutz, in die Fänge der bürgerlichen Kritik zu geraten. Wenn man mal davon absieht, dass es ein paar Kritikerpäpste gibt, die genau zu wissen scheinen, wie ein Krimi sein soll. (Ich studierte damals zwar nicht allzu oft die Feuilletons, aber eins wusste ich, auch die größten Dichter können bekommen eins übergebraten. Vernichtende Schläge, von denen sich manche nur schwer erholten.)

Nach langer Pause beim Romanschreiben, fast 15 Jahre, und einem Nicht-Krimi „Die zwei Leben des Maria Behrens“ (1981), wagte ich mich an ein Projekt, dass mich zwischenzeitlich zu überfordern drohte. Die Erfahrungen mit den Kriminalromanen „Gehirnstation“ (1984), „Entdeckung der Gehirnstation“ (1985) und „Tod in der Algarve“ (1985) gaben mir genügend Schwung, als erster deutscher Autor solch ein Vorhaben zu beginnen. (Und bis heute hat niemand etwas Ähnliches vorgelegt.)

Ohne Zweifel waren die schwedischen Krimiautoren Maj Sjöwall/Per Wahlöö mit ihrer 10er-Serie Vorbild für mein Romanprojekt. Ich habe deren Bücher damals „verschlungen“, nachdem ich schon während der Schulzeit die schwarze Serie der amerikanischen Autoren kennen gelernt hatte. Die Schweden demonstrierten für mich auf unterhaltende Weise, wie Literatur und Gesellschaftskritik sich gegenseitig befruchten können. Zusammen mit den früheren Lektüren von Edgar Wallace, Agatha Christie, Victor Gunn, Ross McDonald und den deutschen Kollegen: Huby, -ky, Martin, Werremeier hatte ich das Genre schon so weit „eingeatmet“, dass ich mich in der Lage sah, selbst zum Kriminalschriftsteller zu werden. (siehe den Vortrag im Nachwort: Wie kommt ein Autor zu seinem Genre?)

Ohne große Probleme konnte ich mit meinem Freund und Lektor beim Heyne-Verlag, Bernhard Matt, einen Vertrag über meine 10er-Serie aushandeln. Eine Liste von kurz skizzierten Plots reichte damals noch aus, um mit den großen Verlagen zu verhandeln. (Wenngleich ich nur 3-Buch-Verträge bekam, weil man es mir bei Heyne vielleicht doch nicht zutraute, jedes Jahr für den Bücher-Herbst einen Roman zu liefern. Um gleich eine weitere Frage zu beantworten, die mir oft bei Lesungen gestellt wurde: pro Roman bekam ich 6500 DM am Anfang, das steigerte sich auf 8500 DM als nicht rückzahlbarer Vorschuss. Die meisten Romane haben über die 6%-7% Tantiemen-Regelung weit mehr eingespielt.) Startauflagen damals waren 20.000 Exemplare – eine Zahl, von denen die meisten Kollegen heutzutage nur träumen.

Die allererste Übersicht, in eine schwarze Kladde geschrieben, verweist auf mehr als zwanzig Themen, Fälle und Todesfälle, Stories und Plots. Aus der Zeit des BREMER BLATTES, dem alternativen Monatsblättchen, das ich 1976 zusammen mit einigen KollegInnen gestartet habe, hatte ich für den regionalen Hintergrund genügend Material gesammelt. (Von den Krawallen am WESER-Stadion bei der Rekrutenvereinigung am 6. Mai 1980 bis zu der Einkesselung der Demonstranten in einem Bahnhofstunnel während der Feiern zum 3.Oktober 1993). Die bundesrepublikanische Kulisse, die ebenfalls im Hintergrund erscheinen sollte, musste ich nachrecherchieren. Was meist im Institut für deutsche Presseforschung an der Bremer Universität geschah. (Herzlichen Dank für die Unterstützung.) Dort saß ich wochenlang und fischte nach Neben-Plots, Zitaten, kurzum Material, das ich einzubauen gedachte. Wie sich später herausstellte, waren nur etwa 10% der Fundstücke zu gebrauchen. Aber wer mit einem großen Schleppnetz fischt…

 

Auf blauen Karteikärtchen habe ich das gesamte Personal festgehalten – Alter, Aussehen, Charaktereigenschaften, Beruf, Freunde/Feinde, Erfahrungen etc. Da es manchmal role models gab, habe ich manchen Bekannten/Freund/Unsympath in den Romanen „verwurstet“. Heutzutage machen die blauen Kärtchen den Eindruck, als hätte ich auch nur ein Detail meiner Personen vergessen. Was niemals der Fall war. Ich wusste immer, mit wem ich es zu tun hatte, wenn Kommissar Lindow oder der Journalist Klaus Grünenberg in Erscheinung traten. Das Denunziantenpärchen Else und Otto Holzmann oder die beiden Streifenpolizisten Rapka und Kuhlebert, selbst die Nebenrollen waren mir stets präsent. Immer nach Fertigstellung eines Titels habe ich die blauen Kärtchen ergänzt und neuere Entwicklungen angefügt. Trotz der mehr als zwei Dutzend handelnden Personen habe ich die Kärtchen kaum gebraucht.

 

Die Materialmappe zu jedem Band umfasste immer eine Vielzahl von Artikeln, Fotokopien, Ausschnitten aus Magazinen, Unterlagen von polizeilichen Protokollen, Anklageschriften, Spickzettel und Notizen und, was ganz besonders war: zu jedem Buch gibt es den handschriftlichen Aufriss der einzelnen Kapitel, den ich - meist in einer Woche - gedanklich entwickelt habe. Struktur machen, habe ich dieses Verfahren genannt. Zwar bin ich während des Schreibens häufig davon abgewichen, aber es war wie bei einem Tanz auf dem Seil, es braucht ein Auffangnetz. Wenn mir nichts Neues einfiel, konnte ich mich in dieses Netz fallen lassen. Diese strukturellen Handlungsabläufe, die in den zehn Jahren detaillierter wurden und mir auch immer leichter von der Hand gingen, zeigen einen Handwerker, einen Konstrukteur, keinen Künstler, Literaten oder gar Dichter, jemanden, der sich darum bemüht, gesellschaftliche Entwicklungen, regional und bundesweit, und persönliche Erfahrungen seiner dramatis personae zusammenzubringen, um eine spannende Handlung zu konstruieren. Gisbert Haefs, mein geschätzter Kollege, schrieb über die Krimi-Reihe: „In seiner Bremen-Polizei-Serie legt Jürgen Alberts einen Beweis dafür vor, dass ein Polizeiroman spannend, straff und lakonisch sein kann.“

 

Der Anstoß

Was war der Auslöser, dass ich begann, mich so intensiv mit der Arbeitswelt Polizei zu befassen? In der „Schwarzen Beute Nr.2“, Reader zum Thema Kriminalroman, die im Rowohlt Verlag in lockerer Folge erschienen, habe ich 1988 über eine grundlegende Erfahrung geschrieben.

 

Polizistenwut

Eine direkte Konfrontation und ein überraschender Ausgang

Zehn Jahre ist diese Geschichte her, und sie spielt in einer deutschen Großstadt; ich glaube, jetzt kann ich sie erzählen, ohne jemand zu gefährden. Dennoch wird der Mann, von dem diese Geschichte handelt, Angst haben, wenn er sie liest. Er wird die gleiche Angst haben, die er damals gehabt hat.

 

Eine ungewöhnliche Aussage

Gabriele G. erzählt von einem Bildungsurlaub, ausführlich wie immer, da sei auch ein Polizist gewesen, der habe dicke Backen gemacht: „Der ist bestimmt bereit auszupacken!“

Ich rufe den Mann an. Er macht einen sehr zögernden Eindruck, sehr bedächtig, sehr langsam. Er spricht nicht wie ein Polizist. Ich merke, dass ich feste Vorstellungen habe, wie ein Polizist sprechen muss. Ich frage Freunde, wie sie einen Polizisten beschreiben würden. „Einen Bullen?“, fragen sie zurück.

Wir vereinbaren einen Termin. Das Gespräch findet in seinem Wohnzimmer statt. Ich lasse einen Kassettenrecorder laufen, das Band wird er nach der Abschrift zurückbekommen. (Ich werde ihn nicht beschreiben, aus verständlichen Gründen, nenne ihn Korytowski, um ihm einen Namen zu geben.)

Herr Korytowski, Sie arbeiten bei der Polizei, seit zwanzig Jahren,

was machen Sie genau?

Korytowski: Ich bin Polizist. Verkehrsüberprüfung. Seit 19 Jahren,

19 Jahre und 4 Monate sind es genau.

Haben Sie immer in der Verkehrsüberprüfung gearbeitet?

Korytowski: Nach meiner Ausbildung da war ich erst auf Streife,

Innenstadt, fast fünf Jahre. Ich arbeite im Schichtdienst, drei Schichten, früh, mittel, spät, jeweils sieben Stunden. Muss mich immer wieder umstellen. Das ist das Schlimmste. Die Familie. Manchmal sehe ich meine Frau ein paar Tage nicht. Das ist schon schlimm.

Wie sieht das diese Woche aus, zum Beispiel, mit dem Schichtdienst?

Korytowski: Montags Spätschicht von 13 bis 20 Uhr, dienstags Frühschicht von 6 bis 13 Uhr, und abends dann Nachtschicht von 20 Uhr bis morgens um 6, Donnerstag frei, und Freitag dann geht's wieder von vorne los. Und kein einziges freies Wochenende im Monat. Mal ein freier Samstag, mal ein freier Sonntag. Das muss irgendwie aufhören, kaum zum Aushalten.

Frau G. hat mir gesagt, daß Sie bereit sind, Aussagen darüber zu machen, wie es bei der Polizei zugeht...

Korytowski: Wieso Aussagen?

Nein, nicht Aussagen, klar, sondern daß Sie aus eigener Anschauung sagen, was Sie dort erleben. Verstehen Sie, ich mache das doch nur, weil ich glaube, daß es etwas zu berichten gibt. Die Polizei ist nichtöffentlich, großes Schweigen.

Korytowski: Da gibt es einiges zu berichten.

Was stört Sie an der Polizei?

Korytowski: Viel, da stört mich sehr viel. Ich komme manchmal nach Hause, sitze zwei, drei Stunden im Sessel, kann an nichts anderes denken als an das, was ich am Tag erlebt habe. Ich darf dann nicht angesprochen werden. Meine Frau fragt mich, aber ich krieg den Mund nicht auf. Das ist der Job, der macht einen stumm, ich sehe Sachen... Zum Beispiel nachts, wenn da einer gejagt wird, hat nicht angehalten, als sie ihm die Kelle gezeigt haben, Fahrerflucht, wenn der dann gejagt wird, drei, vier Streifenwagen, und dann, wenn sie ihn haben, dann wird er geschlagen.

Passiert so etwas häufiger?

Korytowski: Oft, fast immer. Muss sich die Aggression entladen, meistens sind die ja betrunken, wollen den Führerschein nicht verlieren, fahren durch und denken, sie könnten entkommen, ich halt mich da raus, aber die anderen...

Haben Sie das in der Zeitung gelesen, oder war es in der Illustrierten, von den beiden Polizisten, die in Itzehoe das Mädchen in der Zelle vergewaltigt haben?

Korytowski: Ja, das hab ich gelesen, hab den Artikel zu Hause liegen. Schlimm. Aber da ist es wenigstens rausgekommen, die Frau hat sich gewehrt, Anzeige gemacht. Aber die meisten...

Kennen Sie auch so einen Fall?

Korytowski: Nein, nicht direkt. Wenn so ein Penner, ich meine, so ein Alkoholiker nachts aufs Revier gebracht wird, den sie aufgegabelt haben, keinen richtigen Wohnungsnachweis, keine feste Adresse, und wenn der nicht richtig spurt, der kriegt eins in die Fresse. Es gibt Reviere, die sind bei uns bekannt dafür, da wird geschlagen, das wissen alle. Wenn ich früh meinen Dienst antrete und dorthin fahre, da ist ein Kollege, der denkt ähnlich wie ich, manchmal hat er das sogar mitmachen müssen, sonst sind Sie ein Waschlappen. Der spricht mich direkt an, natürlich nur, wenn wir alleine sind: „Mensch, heute Nacht, ich halt das nicht mehr aus.“ Das sagt er schon seit zwei, drei Jahren. Hat sich wegbeworben, aber es hat bis jetzt nicht geklappt.

Haben Sie eigentlich immer so über Ihren Beruf gedacht, ich meine, fast zwanzig Jahre...

Korytowski: Nein, natürlich nicht.

Wissen Sie noch, wann sich das geändert hat, wann Sie angefangen haben, Ihren Beruf mit Abstand zu betrachten. Gibt es da ein Beispiel?

Korytowski: Schwer zu sagen, das liegt schon Jahre zurück. Einmal, aber das ist schon lange her, am Fußballstadion, als es da jeden Samstag zu Krawallen kam, mussten wir Kontrolle von Fans machen. Da kamen die Kollegen zurück und haben sich gerühmt, haben geprahlt, den und den haben wir geschnappt. Da wurde ich auch mal eingesetzt, obwohl ich gar keinen Dienst hatte, war auch ein anderes Revier. Ich bin dahin. Anfangs war alles ganz friedlich, einige hatten Schlagwerkzeuge dabei, die mussten wir ihnen abnehmen, und plötzlich kommt der Befehl, jemand festzunehmen, der hatte gar nichts getan, kam da an, wollte ins Stadion, ich wurde abkommandiert, festnehmen. Als der uns kommen sah, begann er zu laufen, wir hinterher, und dann auf ihn, ich hab auch zugeschlagen. Einfach drauf, vier zu eins. Ich hab das Bild noch vor mir, wie ihm das Blut am Kopf runterlief, helles rotes Blut, wie ein Strahl schoss es heraus. Ich hab tagelang drüber nachgedacht…

Aber so was passiert doch bei jeder Demonstration: Knüppel frei und draufhauen.

Korytowski: Bisher hatte ich Glück, bin noch nicht eingesetzt worden, wo was los war. Hab mich nie darum gerissen.

Glauben Sie, dass es Ihren Kollegen Spaß macht, den Knüppel zu schwingen und auf die Demonstranten einzudreschen?

Korytowski: Nein, bestimmt nicht. Einigen vielleicht, aber das sind nur ein paar, die meisten haben Schiss, die haben mehr Angst als die Demonstranten.

Das nehme ich Ihnen nicht ab, wenn ich das so sehe, wie die zur Sache gehen.

Korytowski: Sie irren sich, was Sie sehen, das sind nur die draufschlagenden Polizisten, was Sie nicht sehen, ist der Mann, der den Befehl gibt: Knüppel frei. Die Demonstranten können doch nach Hause gehen oder sich unbeteiligt hinstellen, zusehen, wenn sie eins drüber gekriegt haben, wir haben dann nicht Dienstschluss. Was glauben Sie, warum die Verletztenziffern bei der Polizei so hoch sind? Da meldet sich jeder, der auch nur den kleinsten Kratzer hat, um nicht mehr weitermachen zu müssen. Gut, es gibt einige, die sehen das als Mutprobe an, manche hassen auch die Demonstranten, aber das sind nur wenige.

Aber warum, meinen Sie, ist die Polizei so brutal, der Name ‚Bulle‘, den ich auch nicht mag, kommt nicht von ungefähr?

Korytowski: Den meisten ist das nicht bewusst, was sie da tun, erst mal sind die im Recht. Und dann wissen sie, wenn die anderen nicht parieren, dann können sie körperliche Zwangsmaßnahmen anwenden. Die Frage: ist das überhaupt richtig, die stellt sich doch kaum einer. Befehl von oben. Muss eine Kundgebung von NDP-Leuten geschützt werden? Müssen Atomgegner mit Gewalt von einem Bauplatz geräumt werden? Wie hat das zu geschehen? Das fragt sich keiner. Und mit den Bauchschmerzen müssen Sie selbst fertig werden, dürfen nicht mal zeigen, daß Ihnen das nahegeht.

 

WESER-Kurier vom 29. 1. 1987

Der 33-Jährige Ladendieb war bereits durch das Handgemenge mit den Kaufhaus-Detektiven so geschwächt, dass er hilflos am Boden lag. Als die Polizei eintraf, versuchte eine 43-Jährige Frau, einen Beamten anzusprechen. Doch der habe nicht mit sich reden lassen, die Passanten mit einer Handbewegung weggescheucht und barsch erklärt: „Gehen Sie weg.“ Ein älterer Herr sei sogar zu Boden geschubst worden.

Der Ladendieb habe völlig entkräftet an einer Schaufensterscheibe gelehnt und sei kaum ansprechbar gewesen. Dennoch, so die Frau weiter, sei er von den Beamten geknebelt, geboxt und an den Haaren gezogen worden. Schließlich habe ein Polizist seinen Fuß auf die Brust des Mannes gestellt, während sein Kollege dem Ladendieb ins Gesicht schlug. „Vielen von uns liefen die Tränen über das Gesicht“, erinnerte sich die Frau.

 

Korytowski: Haben Sie mal jemand verprügelt, bis er geblutet hat?

Wie kommen Sie darauf?

Korytowski; Dann können Sie sich nicht vorstellen, was es heißt, Menschen so abzurichten, dass sie das in Kauf nehmen, tun müssen. Und Sie können sich auch nicht vorstellen, mit was für Gefühlen man hinterher dasteht, um damit klarzukommen.

 

Das Gespräch dauerte mehr als zwei Stunden, ich kann natürlich hier nur wenige Auszüge wiedergeben. Der Tenor war fast immer: Brutalität und Amtsanmaßung, alles hinter den Kulissen, selten wird etwas bekannt. Schon während des Gespräches denke ich an den V-Effekt, Verwertung, wo kann ich diese freimütigen Aussagen eines Polizisten unterbringen, gleichzeitig wird damit meine eigene Betroffenheit und Wut geringer.

 

Journalistische Routine oder Rücksicht auf den Informant?

Was einer recherchiert hat, das wird er so schnell nicht wieder hergeben, es sei denn in veröffentlichter Form.

Ich habe die Bänder abgetippt, eine gekürzte Fassung hergestellt, dem Polizisten die Toncassetten zurückgegeben und, wie ausgemacht, den Artikel, damit er überprüfen kann, was ich geschrieben habe. Zwei Tage höre ich gar nichts.

Dann kommt ein Anruf: Wir müssen uns sehen.

Bedingung: nicht bei ihm zu Haus.

Ich denke, zu seinem eigenen Schutz wird das besser sein.

Wir treffen uns in einem Café.

Korytowski spricht über die immer weitere Aufrüstung der Polizei, damals waren Hundestaffeln in Mode gekommen, die speziell darauf trainiert wurden, Demonstranten zu beißen, bei Hausbesetzungen in West-Berlin wurden sie später eingesetzt. Korytowski ist darüber empört. Auch über die chemische Keule.

Ich mache Notizen, stelle Fragen, lasse wieder das Tonband laufen.

 

Warum sind Sie Polizist geworden?

Korytowski: Wie man so etwas wird, die einen wollen Lokführer werden, die anderen Maschinenbauer, wieder andere Polizisten. Ich wollte kein Polizist werden, aber es gab keine andere Lehrstelle. Ich hatte auch nichts dagegen, mein Vater hat mit einem Bekannten gesprochen, der wohnte uns schräg gegenüber, war bei der Kripo. Und dann haben die mich angemeldet. Direkt nach der Hauptschule. Anfangs fand ich das prima. Nach einem Jahr Bereitschaft wurde ich Wachtmeister, mit Urkunde, die hatte ich jahrelang im Wohnzimmer hängen, jetzt liegt sie auf dem Speicher. Mit 25 wurde ich Polizeihauptwachtmeister, dann drei Jahre später Beamter.

Wie war die Ausbildung?

Korytowski: Beschissen! Aber das sag ich heute, damals fand ich sie toll. Wir durften in Uniform zu zweit durch die Straßen gehen und hatten uns nur eine Frage einzuprägen: Darf der das? Das ist ein Gefühl, wenn man so durch die Straße geht. Wir durften nicht einschreiten, klar, aber trotzdem, wir fühlten uns groß. Darf der Autofahrer dort parken? Darf die Frau die Straße an dieser Stelle überqueren? Darf der Lebensmittelhändler seine Ware auf der Straße aufstellen? Ein Machtgefühl, Macht über andere Menschen, die verleitet. Das war erst nur ein Spiel. Welcher Paragraph ist anzuwenden, welche Verordnung. Und dann die Uniform, die kommt dazu. Sie können, müssen natürlich nicht, Sie können jederzeit jeden kontrollieren, Fahrzeuge stoppen, Führerscheine beschlagnahmen, Türen zu jeder Tag- und Nachtzeit öffnen. Law-and-order, so läuft das. Und von Verständnis für die Probleme des einzelnen Bürgers steht in den Dienstvorschriften nichts drin.

Aber Sie sind doch oft wie Sozialarbeiter eingesetzt, bei Randgruppen, Leuten, die mit der Realität nicht fertig werden.

Korytowski: Die interessieren uns nur, wenn sie Gesetze übertreten.

 

Ich merke, dass Korytowski über den Artikel reden will, aber er traut sich nicht. Ich lasse ihn eine Zeitlang zappeln, dann frage ich nach seiner Meinung.

Er wird bleich, ist entsetzt. So könne das auf keinen Fall erscheinen. Ich habe zwar seinen Namen weggelassen, aber natürlich wörtliche Zitate verwandt. Die müssen alle verschwinden, sagt er.

Ich gerate ins Schwitzen, dann bleibt von dem Artikel nichts mehr übrig.

Korytowski hat bestimmte Ausdrücke verwandt, z. B. sagt er, dass die Polizei oft „menschenfeindlich“ handelt. Das müsse auf jeden Fall raus. Denn das hat er mal auf einer Personalversammlung gesagt. (Ich habe dieses Wort hier mit einem Synonym ausgetauscht, in Wirklichkeit ging es um eine andere Bezeichnung.) Wir diskutieren. Er will auch, dass ich herausbringe, was das für ein Scheißjob ist — und nicht nur, wie brutal die Polizei (unkontrolliert von der Öffentlichkeit) zuschlägt.

Ich verspreche, den Artikel zu verändern, so wenig wie möglich Zitate von ihm zu verwenden. Selbstverständlich bekommt er ihn wieder zu lesen, bevor ich den Text veröffentliche.

Und eins habe ich auch zugesagt: Ich will auf keinen Fall riskieren, dass er wegen der Veröffentlichung Schwierigkeiten bekommt, dann soll der Artikel lieber nicht erscheinen.

 

Der Spiegel 33/1987

Im Mai letzten Jahres machten sich zwölf Rocker auf den Weg ins Ruhrgebiets-Städtchen Wetter, wo im Kneipenkino K&K ein fetziges Rockkonzert gegeben wurde. Doch bei ihrer Ankunft hielt nur noch die Polizei die Stellung - vorzeitiger Abbruch nach Randale. Rund siebzig Beamte, darunter ein komplettes Team des Dortmunder Spezialeinsatzkommandos (SEK), riegelten das Lokal ab. Hunde knurrten, nervöse Spannung herrschte.

Dennoch versuchte der Hamburger Lagerarbeiter Frank Mönch, 22, ein Hüne von fast zwei Metern Größe und 96 Kilo Gewicht, sich durch die Sperre zu mogeln, als er hinter der Polizeikette einen Kumpel entdeckte. Vier Beamte bildeten einen Greiftrupp, um Mönch „aus der Menge zu isolieren“ (Polizeibericht). Weil er bei der Festnahme „wie wild um sich schlug und trat“, setzten die Polizisten einen „Würgegriff“ an, schließlich wurde „sein Widerstand durch einen gezielten Schlag gebrochen“. Späterer Befund des Arztes: „Platzwunde über rechter Augenbraue, zwei Risswunden über dem linken Jochbein und eine Risswunde im rechten Augenwinkel.“

 

Auf dem Nachhauseweg denke ich lange über die Zusage nach, mal halte ich sie für richtig, dann wieder für falsch; nur weil ein Polizist Angst hat, kann ich doch nicht wichtige Informationen über den Polizeialltag unterdrücken.

 

Die Veröffentlichung lässt auf sich warten

Ich hatte vor, die Entwicklung Korytowskis in den Mittelpunkt meiner Reportage zu stellen — weil so, an der individuellen Biographie eines Polizisten, der Prozess der Distanzierung vom eigenen Berufsstand deutlich werden konnte; jetzt musste ich umdisponieren, allgemeiner werden.

Ich versuchte, die Einwände meines Gesprächspartners zu berücksichtigen, ohne den Artikel zu entschärfen.

 

taz vom 11. 8.1987

Nach anstrengendem Dienst war für die Polizisten der Düsseldorfer Wache Garath Entspannung angesagt: „Kampf-Saufen“, Mann gegen Mann. Diese Sitten kamen jetzt anlässlich eines Mordprozesses gegen zwei Polizisten zutage. Die Enthüllungen über die polizeiinternen Trunkenheitsorgien haben den eigentlichen Gegenstand aus der Öffentlichkeit vorübergehend verdrängt. Die beiden angeklagten Polizisten sollen unter Ausnutzung ihrer polizeilichen Kenntnisse über die Homosexualität eines 53-Jährigen das Opfer in einen einsamen Waldweg gelockt haben, um ihn auszurauben und gemeinsam zu ermorden. Ihre Beute: 30 Mark und 37 Pfennig.

 

Tagelang bekomme ich Korytowski nicht ans Telefon, seine Frau ist einmal dran, sie sagt, er habe momentan keine Zeit. Ich spüre die Ausrede.

Ärgere mich wieder über meine Zusage, meinen Informanten zu schützen.

Dann erwische ich ihn, bringe ihn dazu, mit mir einen Termin zu machen, wieder in einem anderen Café, lege ihm den Artikel vor.

Korytowski liest und liest, es dauert mindestens eine halbe Stunde, bis er überhaupt etwas sagt. (Auf jeden Fall muss ich meinen Kassettenrecorder ausgeschaltet lassen.)

Er lehnt ab.

«Wer gibt mir die Garantie, dass ich nicht meinen Job los bin, wenn das erscheint.»

Ich kann ihm die Garantie nicht geben.

Wir sitzen da, sehen uns an, schweigen, manchmal minutenlang. Korytowski spricht von Angst, ich versuche, ihm Mut zu machen. Ich biete ihm eine letzte Möglichkeit an: Der Artikel wird so geschrieben, als habe ich mit mehreren Kollegen gesprochen, deren Namen ich zwar anonymisiere, aber der Trick muss zu seinem Schutz erlaubt sein. Mir ist nicht wohl bei der Sache. Korytowski ist erleichtert.

Wir trennen uns.

Wieder eine Nachtschicht, der Artikel wird länger und gaukelt vor, dass mehrere Polizisten über die alltägliche Brutalität auf den Revieren ausgepackt hätten.

Zugleich bitte ich um ein Interview mit dem Polizeipräsidenten. Das wird für den nächsten Tag gewährt.

Der PP spricht von:

— einigen Vorfällen, die aber nun wirklich die Ausnahme darstellen

— der Kriminalitätsrate, die bei der Polizei im Durchschnitt genauso hoch sei wie in der gesamten Bevölkerung

— der Konfrontation der Ordnungshüter mit den „unordentlichen Verhältnissen“, er meint damit Randgruppen, Demonstranten u. ä.

— schwarzen Schafen, die man nicht hochspielen dürfe — die Polizei sei durchaus in der Lage, sie herauszufinden und «unschädlich zu machen»

— die Kameraderie sei längst nicht mehr so wie noch vor 20, 30 Jahren.

Ein Interview, wie es zu erwarten war, die üblichen Ausflüchte, Vernebelungen.

Dennoch baue ich einiges in meinen Text ein und stecke ihn Korytowski in den Briefkasten.

 

Der überraschende Ausgang einer langen Recherche

Ein paar Tage später kommt Korytowski mit seiner Frau in meine Wohnung. Er hat sie zur Verstärkung mitgebracht. Er legt das Manuskript auf den Tisch und sagt, es habe keinen Zweck, ihm fehle der Mut. Er ist den Tränen nah. Seine Frau erzählt, dass er zwei Nächte nicht schlafen konnte, dass er immer wieder grübelt, was passiert, wenn sie ihn erwischen. Korytowski kann sich seine Wut nicht erlauben, darf sie nicht rauslassen, muss in falsch verstandener Kameradschaft den Ärger runterschlucken. Wir stehen da, reden kaum noch.

Zehn Minuten später sind die beiden gegangen. Ich habe versprochen, dass die Reportage nicht erscheint.

 

Bürgerrechte & Polizei in: CILIP Heft 2.6,1987

Zwischen 1980 und 1984 gab es 75 Todesfälle als Folge polizeilichen Schusswaffeneinsatzes. Nur in 41 Fällen kam es zu förmlichen staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren, von denen 14 zu einer Anklage führten. In vier Fällen sprachen Gerichte den Angeklagten frei, zehn Fälle führten letztinstanzlich zu einer Verurteilung. Neben drei Geldstrafen wurden sieben Haftstrafen zur Bewährung ausgesprochen, so dass in keinem einzigen Fall ein Polizist wegen tödlichen Schusswaffeneinsatzes den Dienst quittieren musste.

 

Im BREMER BLATT, unserem alternativen Monatsblättchen, erschien über dieses Zusammentreffen mit einem Polizisten nur eine kurze Notiz von zehn Zeilen. „An dieser Stelle sollte ein Artikel über einen Polizisten stehen, der es nicht mehr aushält…“