cover

 

 

 

René Paul Niemann

 

DER GRAUMACHER

 

SAXA LUQUUNTUR

 

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-145-6

MOBI ISBN 978-3-95865-146-3

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Kurzinhalt

Zweiter Weltkrieg: Unter unmenschlichen Bedingungen wird ein junges Mädchen in einer Nervenklinik gefangen gehalten. Jahrzehnte später stolpert Rita Toski, Volontä-rin bei einer Tageszeitung, im wahrsten Sinne des Wortes über eine verschollene In-schrift und gerät auf die Spur des Mädchens Mariana und ihres Peinigers. Sie ent-deckt, dass Mariana nur das erste in einer langen Reihe von Opfern war, und dass der mutmaßliche Serientäter noch immer aktiv ist. Den "Graumacher" umgibt ein dunkles Geheimnis, und Rita gerät selbst in seine Gewalt.

Ein Kriminalroman mit Gruseleffekten und abgründigen Szenarien.

1

Manchmal stolpert man unvermutet über einen Stein, den man vorher nie wahrgenommen hat, obwohl er seit tausend Jahren an der gleichen Stelle liegt. Der Stein, über den Rita Toski an diesem Morgen auf ihrem Weg zur Arbeit stolperte, war so ein Obstakel, grau und vage bis zur Unsichtbarkeit, aber dennoch sehr substantiell, schmerzhaft geradezu, und der Zusammenstoß mit ihm sollte von nachhaltiger Bedeutung sein.

Rita war spät dran. Sie hatte nach der kurzen Nacht den Weg aus dem Bett nicht rechtzeitig gefunden und war so sehr in Eile, dass sie hastig die Grafenstraße entlang stöckelte. Der Fußweg war holprig, die hochhackigen Sandalen waren neu und drückten am kleinen Zeh. Sie ärgerte sich, weil sie wusste, dass sie hektische Flecken auf den Wangen haben würde, wenn sie das Büro erreichte, und sie mochte es nicht, wenn ihre Souveränität die Politur verlor.

Gerade an diesem Tag hatte sie viel vor: Die wöchentliche Frühbesprechung, die jeden Montag anstand, würde in acht Minuten beginnen, während allein das Zurücklegen des Weges in normalem Schritttempo zwölf Minuten dauerte und mit diesen vermaledeiten Sandalen mindestens eine Viertelstunde beanspruchen würde. Es war wirklich ärgerlich ... es war zum Mäusemelken! ... denn ausgerechnet heute wurde die neue Aufgabenverteilung festgelegt, und wer nicht rechtzeitig da war, musste das nehmen, was übrig blieb, das, was keiner haben wollte, was für die nächsten drei Monate langweiligen Routinekram bedeutete … Datenauswertungen am PC ... oder Staub von alten Akten putzen ... oder das Magazin neu sortieren ... oder im Archiv versauern ... oder Erbsenzählen ... oder …

Genau in diesem Moment riss das dünne Riemchen von Ritas rechter Sandale. Sie kam ein wenig aus dem Tritt und wollte sich rasch an der Hauswand abstützen. Dies misslang jedoch, weil sie in der einen Hand ihre Tasche und in der anderen den vorsorglichen Regenschirm sowie abgezähltes Kleingeld für ein noch zu kaufendes Marzipancroissant trug. Sie stolperte einen halben Schritt vorwärts und ging höchst unsanft in die Knie. Mit der einen Handfläche gelang es ihr gerade noch, den Sturz abzufangen, bevor sie den Boden küsste. ... Scheiße, Scheiße, Scheiße! ... Die Hand tat höllisch weh, wenn auch nicht mehr als die Knie, die unter den zerfetzten Seidenstrümpfen ordentlich aufgeschürft waren.

In diesem Moment war ihre wertgeschätzte Souveränität wie weggeblasen. Schrecken und Schmerz jagten ihr heiße Tränen in die Augen, und sie war sich nicht sicher, ob der instinktiv ausgestoßene Fluch ihrem Mund nicht versehentlich laut entschlüpfte. Aus den Augenwinkeln blickte sie rasch in die Runde. Zum Glück war kein Mensch in der Nähe. Sie rappelte sich auf, begutachtete mit schmerzvollem Blick ihre Blessuren, die zerrissenen Strümpfe und natürlich die verwünschten Schuhe, die an allem Schuld waren. In diesem Zustand brauchte sie gar nicht mehr weitergehen. Es wäre witzlos gewesen, den Dauerlauf wieder aufzunehmen. Die Sandale war unbrauchbar, und ihr blieb nichts übrig, als so rasch wie möglich nach Hause zurückzueilen, sich zu verpflastern und umzuziehen. An kurze Röcke war in den nächsten Wochen nicht zu denken. Außerdem brannten die zerschundenen Knie wie Feuer.

Der Inhalt ihrer Tasche hatte sich über dem Bürgersteig verteilt. Hier und da blinkte eine Münze des Croissantgeldes. Sie rückte die Sandale so gut wie möglich wieder zurecht und machte sich leise ächzend daran, ihre verlorenen Habseligkeiten zusammenzuklauben, verärgert über die unelegante Figur, die sie vermutlich dabei abgab. Auch ihre Kosmetikutensilien hatten großflächig das Weite gesucht. Das Fläschchen mit dem Nagellack war zerbrochen; ein schillernder Fleck in Perlmuttblau schmückte das Fußwegpflaster, wie ein herzförmiges Stückchen Himmel, das in den Schmutz gefallen war. Das war zwar optisch sehr reizvoll, vor allem aber ausgesprochen ärgerlich, denn das Zeug war nicht billig gewesen und sie bekam Luxus nicht geschenkt. Noch verärgerter war sie freilich, als sie bemerkte, dass auch ihr neuer Lippenstift, Coralle des Isles Pacifiques, nach dem sie wochenlang alle Parfümerien und Kosmetikabteilungen abgesucht hatte, verschwunden war. Der Tag hatte kaum begonnen und war schon gründlich verdorben!

Wütend stampfte sie auf und ließ die Augen schweifen. Zur Rechten der Rinnstein, durchweichte Papiertaschentücher, Hundekot, eine fettige Hamburgerschachtel ... Auf der anderen Seite die Hauswand aus dicken Quadersteinen, das hässlichste Gebäude der Straße, vielleicht auch der ganzen Stadt, düster wie gewisse Träume, abweisend und streng. Die unproportional kleinen Fenster zwinkerten wie missgünstige Augen, irgendwie schief und natürlich vergittert – wie konnte es anders sein – als ob jemand Lust gehabt hätte, hier freiwillig einzusteigen. Weiter unten, in engen Nischen, welche mit alten Eisenrosten abgedeckt waren, befanden sich die dämmerschlafenden Kellerfenster, deren obere Kanten noch ein Stückchen unterhalb des Bürgersteigniveaus lagen.

Natürlich! Der blöde Rost! Jetzt war klar, wohin der Lippenstift entschwunden war. Rita ärgerte sich noch mehr, denn der Rost sah massiv und schwer aus, als wäre er seit Jahrzehnten nicht bewegt worden. Er war so dreckig und schmierig, dass schon der Gedanke, ihn anzufassen und hochzuhieven, nur Widerwillen hervorrief. Sie ging in die Hocke und spähte ins Halbdunkel. Tatsächlich, dort unten, einen knappen Meter unter ihren Füßen, lag das vermisste Kleinod im Dreck.

Der Tag war sowieso schon versaut, und nun kam es auch nicht mehr darauf an, ob sie sich noch weiter mit Schmutz besudelte oder die Nägel abbrach. Sie zwängte ihre gepflegten Finger durch den Rost und zerrte und zog, aber wie vermutet war das ganze Ding wirklich schwer wie Blei und außerdem im Laufe der Jahrhunderte durch Dreck und Oxidation mit dem es umgebenden Stein so gut wie verwachsen. So ging es nicht.

Mit einem Taschentuch säuberte Rita ihre Hände und schaute sich um. Ihr Aufzug war inzwischen wirklich desolat. So sehr sie sich auch bemühte, elegant vor dem Rost zu hocken, ihr Rock rutschte dabei höher als polizeilich erlaubt. Gleichzeitig wurde die Straße belebter. Der Pendlerbus war angekommen und hatte an der Straßenecke Dutzende arbeitseifriger Vorstadtbewohner abgesetzt. Flink erhob sie sich. Wahrscheinlich war es das Klügste, rasch an die schwere Tür zu klopfen, die sich zwanzig Meter weiter über den drei breiten Portalstufen erhob. Sie würde bitten, von drinnen das Kellerfenster öffnen zu dürfen, um ihren Lippenstift einzusammeln. Vielleicht ließ man sie auch das Badezimmer benutzen, damit sie ihre Hände und die Knie ein wenig säubern konnte. Leise schimpfend raffte sie ihre Siebensachen zusammen. Der rechte Knöchel schmerzte beim Auftreten. Schamhaft hielt sie sich die Handtasche so vor die Knie, dass die zerfetze Strumpfhose den Blicken der Vorbeieilenden verborgen blieb.

Die Tür war massiv und dunkel vor Alter – wie ein Berg, der sich erhob. Und verschlossen wie der Berg Sesam blieb sie auch, düster und schweigend, gleichgültig den Händen gegenüber, die an ihr klopften. Rita fand keinen Zaubertrick, der ihr Einlass verschaffte. Die Klingel funktionierte offensichtlich nicht, und der altmodische Türklopfer, der einen dröhnenden Lärm verursachte, zeigte ebenso wenig Wirkung. Nichts regte sich. Überhaupt schien das ganze Haus schon seit langer Zeit verlassen zu sein, und als sie nun darüber nachdachte, musste sie sich eingestehen, dass sie noch niemals in den ganzen Jahren, die sie es kannte, eine Menschenseele hier hatte ein- und ausgehen sehen. Es war ihr nur nie richtig zu Bewusstsein gekommen, so wie man die selbstverständlichen Dinge im Leben oft zu übersehen pflegt. Wer weiß schon aus dem Stegreif, ob die Zahnbürste, mit der man sich dreimal täglich die Zähne schrubbt, grün oder blau ist? Solche Dinge eben. Dieses Gebäude war zwar das größte und klobigste des ganzen Straßenzuges, aber trotzdem beinahe unsichtbar, grau wie der Stolperstein, keinen Gedanken wert, still wie ein Grabmal im Herbst, trotz aller Bemühungen des Junimorgens, es aus seiner Reserve zu locken. In der Hochsommerhitze, wenn die Mittagssonne knallte, war es angenehm, in seinem Schatten zu gehen. Das war alles, was Rita über das Haus wusste.

Ein letztes Mal betätigte sie mit Kraft und einer reichlichen Portion Überdruss den Türklopfer, obwohl schon klar war, dass sie nur Schweigen ernten würde, als schlüge sie in ein steinernes Gesicht, das sich nicht verzog, hermetisch und lautlos hinter einer dicken Schicht aus grauem Staub, die alles zu dämpfen schien. Nur ihre eigene Hand fühlte die Wucht der Schläge.

Missmutig machte sie sich zurück auf den Weg zu ihrer Wohnung, mit etwas gestelzten Schritten, denn sie gab sich Mühe, die defekte Sandale mit den Zehen festzukrallen, um nicht barfuß gehen zu müssen.

 

Zuhause hätte Rita sich nun rasch umkleiden und doch noch ins Büro eilen können, um zu retten was vielleicht noch zu retten war, und mit Hilfe der mitleiderweckenden Folgen ihres Sturzes eventuell noch eine annehmbare Aufgabe für die nächsten Wochen herauszuschlagen. Stattdessen wühlte sie unter ihrem Küchentisch in der Werkzeugkiste auf der Suche nach einem dicken Schraubenzieher, der sich bei Bedarf auch als Hebel oder als kleine Brechstange einsetzen ließ. Hartnäckigkeit war eine ihrer gepriesensten Tugenden. Manchmal konnte sie sogar so hartnäckig sein, dass aus der Tugend ein Ärgernis wurde. In Jeans und Turnschuhen fühlte sie sich etwas getröstet, als würden die Wunden schneller heilen, wenn man sie nicht sah. Die Seidenstrümpfe waren mitsamt den Sandalen auf direktem Wege in der Tonne gelandet. Sie steckte den Schraubenzieher in ihre Handtasche.

Als sie gerade im Begriff war, die Wohnungstür wieder hinter sich zuzuschlagen, klingelte das Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Benedikte, die ebenfalls ein Volontariat beim Nordwest-Kurier absolvierte. Als sie sich vor einem guten Jahr zum ersten Mal begegnet waren, hatte jede in der anderen ein notwendiges Übel gesehen, mit dem man sich zwar arrangieren musste, das vor allem aber Konkurrenz bedeutete. Rita hielt Benedikte für eine verwöhnte Göre aus betuchtem Hause, die gewohnt war, alles zu bekommen, wenn sie nur laut genug meckerte. Außerdem hatte Benedikte eine so unsagbar unbekümmerte Art, das von in ihrem Nachnamen zu betonen, als müssten alle gewöhnlichen Sterblichen vor ihr in die Knie sinken. Benedikte von Barenburg-Rysum, deren Blut bei der richtigen Beleuchtung ein klein wenig bläulich schimmerte.

Benedikte hingegen sah in Rita das typische Produkt einer kleinbürgerlichen Erziehung auf der Basis antiquierter Rollenstereotypen, das sich niemals mit eigenen Zähnen und Krallen durchbiss, das sich schlichtweg weigerte, unangenehmen Dingen die Stirn zu bieten, und das in Notfällen große Kulleraugen machte und die kindliche Unterlippe vorschob, bis sich jemand erbarmte und ihr die ungeliebten Lasten abnahm.

Vielleicht hatten beide nicht völlig unrecht mit der Beurteilung der jeweils anderen. Es war schon schlimm genug, dass sie sich ein winziges Büro teilen mussten und sich quasi von früh bis spät vor Augen hatten, aber es war eine regelrechte Strafe gewesen – oder ein gezielter Fußtritt des Schicksals – als sie im letzten Winter gemeinsam in dem engen Fahrstuhl des Pressehauses steckengeblieben waren und dort eine unendlich lange Nacht zusammen hatten verbringen müssen. Zuerst hatten sie sich angeschwiegen, sich dann gegenseitig mit verbalem Dreck beworfen und einander schließlich ihre Lebensgeschichten erzählt. Erst einmal angefangen, hatten sie solange geredet, bis um halb sechs in der Frühe der Fahrstuhl einen Ruck gemacht und sich langsam bis ins Erdgeschoss gesenkt hatte, wo ein völlig verblüffter Hausmeister dabei gewesen war, die verkantete Tür mit einer Stange auseinanderzuhebeln. Nach diesem Vorfall und mit ein wenig mehr Ein- und Nachsicht hatten die beiden sich zusammengerauft und seither angenehme wie unangenehme Aufgaben geteilt.

Benediktes Begrüßung war ungehalten und ohne Preluden. „Was ist los mit dir, du Pflaume? Ich hatte in Erinnerung, dass wir uns gemeinsam eintragen wollten!“

„Tut mir echt leid, ich glaube, ich bin heute mit dem falschen Fuß aufgestanden...“ Rita sprach langsam und lehnte sich mit dem Rücken einen Moment gegen die kühle Flurwand, um den Knöchel zu entlasten. Übelkeit überkam sie wie eine prickelnde, kleine Welle, die über ihrem Nacken und ihren Schultern zusammenschlug. Sie bemerkte einen leicht salzigen Geschmack in ihrem Mund. „Lohnt es sich noch, dass ich vorbeikomme?“

„Dir wird wohl nichts anderes übrigbleiben, oder willst du blau machen? Die Besprechung ist allerdings gelaufen, das dürfte dir ja klar sein. Ging alles ganz fix. Ich bin ab nächster Woche im Außendienst.“

Reflexartig schloss Rita die Augen, der Geschmack nach Meerwasser verstärkte sich, und für einen Sekundenbruchteil sah sie einen schlingernden, dunklen Schatten hinter ihren Lidern, der wie ein lebendiges Wesen in die Ferne zu laufen schien. In ihren Ohren summte es. Dann war es vorbei.

„Hast du mich mit eingetragen?“ Der kleine Schimmer Hoffnung in ihrer Stimme wollte nicht recht glänzen.

„Du weißt genau, dass das nicht geht! Jeder muss sich selbst einschreiben und zwar in persönlicher Rücksprache mit der Fluse … – Wir hätten es so schön haben können! Und du versetzt mich einfach und lässt mich blöd dastehen. Und nun habe ich stattdessen Thomsen, diese Lusche, auf der Pelle, und das ist eine echte Strafe!“

„Und ich?“ ... bitte nicht Erbsenzählen oder Büroklammerflechten oder Akten abstauben...

„Archiv!“, sagte Benedikte mit einer Spur von Gehässigkeit. „Muss dir doch klar sein! Wer nicht kommt zur rechten Zeit ...“

„Erspare mir diese Sprüche ...“ Rita seufzte, ihre schönen Augen verfinsterten sich. Benedikte konnte eine echte Zicke sein, und wenn sie die beleidigte Leberwurst spielte, war sie unausstehlich. Es war in der Welt anscheinend unvermeidlich, dass die besten Kerne immer von den stacheligsten Schalen umgeben waren.

Einen Moment fühlte sich Rita zutiefst deprimiert. Ihre Stirn war wieder kühl, aber kleine Schweißtropfen standen darauf. Der Juni hatte gerade begonnen und war dabei, seine blütenreiche Pracht zu entfalten, und nun konnte sie bis September als bleiche Kellerpflanze im Archiv umherhuschen und sich zu Tode langweilen.

„Mach dir nichts draus“, stichelte Benedikte, immer noch nachtragend. „Ich habe gehört, es soll einen schönen Herbst geben!“

„Bist du nachher noch im Büro?“

„Heute nicht mehr. Ich muss gleich los, mit Gerdes, und Thomsen natürlich. Eine Tour über die Dörfer. Einweihung des neuen Schützenvereinsheims in Oldenbrok und zwischendurch Apfelkuchenprüfen im Landgasthof ... Übrigens werden wir mit Gerdes´ Cabrio fahren. Du weißt schon: Wind in den Haaren, Sonne auf der Nase ... Nicht, dass das von Bedeutung wäre, ich wollte es nur erwähnen.“

Rita schwieg verbittert. Der ideale Sommerauftrag! Und sie vermasselte sich selbst die Gelegenheit, weil sie ausgerechnet heute auf hohen Absätzen durch die Gegend hatte stöckeln müssen! Und nun stattdessen das Archiv, Dunkelheit, Enge und Staub … Der Gedanke bedrückte sie mehr, als sie rational nachvollziehen konnte.

„Ja, dann muss ich mich wohl auf den Weg machen ...“

Auch ihre Zunge fühlte sich lahm an. Ihre Hand, mit der sie gegen die Tür des leerstehenden Hauses geschlagen hatte, kribbelte, als würde sie sie in einen Ameisenhaufen halten. Sie betrachtete sie gedankenversunken. Trotz Wasser und Seife schien noch immer ein Grauschleier daran zu haften ... Dann riss sie sich abrupt aus der trägflüssigen Benommenheit los, die sie einzulullen versuchte, und schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn! Sie brauchte dringend frische Luft. Der Flur erschien ihr enger als sonst und die Hand pulsierte.

„Was ist los mit dir?“, fragte Benedikte in weiter Ferne. „Bist du überhaupt noch da?“

„Ja.“

„Was hast du? Muss ich mir Sorgen machen?“

„Nicht nötig … Ein kleines Kreislaufproblem, das legt sich gleich wieder.“

„Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Ja ja, geht schon.“

„Dann würde ich mich an deiner Stelle beeilen. Die Fluse hat schon gefragt, wo du bleibst. Sie will euch heute Vormittag noch eine kostenlose Führung durch die Katakomben zuteilwerden lassen, damit ihr morgen gleich richtig loslegen könnt.“

„Uns? Wer hat denn noch das große Los gezogen?“

„Delius, der arme Tropf ... Und weißt du, was das Beste ist? Er hat sich f r e i w i l l i g gemeldet. Er hat eine Pollenallergie oder Heuschnupfen und hat sich für den Sommer extra was ausgesucht, wo er sich in luftleere Räumen verkriechen kann.“

„Dann bin ich ja wenigstens nicht die Einzige“, sagte Rita düster, wobei sie sich allerdings nicht sicher war, ob in den langen Dunkelstunden des Archivs das Alleinsein nicht der Gesellschaft von Delius vorzuziehen war. Wortkarg beendete sie das Gespräch, denn jede weitere Vertiefung in das Thema hätte nur dazu beigetragen, ihr den Tag vollends zu verleiden. Noch immer flimmerten schwarze Partikel vor ihren Augen. Sie griff nach ihrer Tasche und der Strickjacke und beeilte sich, der klaustrophobischen Umarmung ihres Flures zu entkommen.

 

Der Lippenstift blinkte unschuldig golden vor sich hin, gebettet im Staub der Jahrhunderte. Rita ließ sich auf die Knie nieder und klemmte den Schraubenzieher zwischen das Eisen und den Stein. Der Rost knirschte und bewegte sich nur schwerfällig. Schmierige Erdklumpen lösten sich ab. Mit beiden Händen fasste Rita zu und schob das gelockerte Gitter ein Stückchen zur Seite, gerade weit genug, um den Arm hindurchzustrecken und nach dem Lippenstift angeln zu können. Leider reichte ihre Hand nicht ganz bis zum Boden. Ein paar lächerliche Zentimeter fehlten. Also blieb ihr nichts übrig, als den Rost ganz wegzuschieben und tiefer in das staubige Loch einzutauchen. Schließlich hielt sie den Lippenstift in ihrer Hand, zusammen mit verstaubten Spinnweben. Angeekelt wischte sie sie ab. Als sie das zerknüllte Papiertaschentuch in die Tiefe fallen lassen wollte, bemerkte sie ein weiteres Blinken, etwas fahler, silbrig und unscheinbar. Da sie sowieso schon schmutzig war, ließ sie es sich nicht nehmen, auch nach diesem Objekt zu fischen. Es entpuppte sich als ein altes Zweimarkstück, das vor Jahren hier gelandet sein musste. Kein großer Schatz, aber immerhin.

Die Straße war menschenleer. Mittagszeit, müde Stunde. Das war gut so, denn Ritas Neugier war erwacht. Sie stand auf. Im Rinnstein hatte sie einen Stock gesehen. Dieses dreckige kleine Loch war ein echtes Zeitfenster, fast so etwas wie ein kleines Tor in die Vergangenheit. Alles, was jemals hineingerollt war, hatte hier sein Grab gefunden, konserviert unter zentimeterdickem Modder, in dem hier und da schon Unkrautpflänzchen sprossen und Käfer krabbelten. Ein eigenes kleines Biotop, so abgeschieden und verborgen, dass es sich ohne weiteres auch auf dem Mond hätte befinden können.

Sie summte vor sich hin wie früher beim Spiel im Sandkasten und stocherte in den Ecken herum. Eine Spinne verkroch sich. Sonst nur Schmutz, vergilbte Zigarettenkippen, Schnipsel von altem Silberpapier und ein unscheinbares Metallteil, das sich auf den ersten Blick nicht identifizieren ließ. Mit zwei Fingern hob sie es auf. Es war ein altes Taschenmesser, ziemlich klobig, eindeutig zu groß, um durch die Löcher des Rostes zu passen. Also musste es durch das Kellerfenster in die Nische gelangt sein. Die Scheiben waren so dreckig, dass sie kaum als solche zu erkennen waren. In einem der schmalen Flügel fehlte das Glas, und der Rahmen war mit groben Brettern zugenagelt. Die Gitterstäbe, die das Fenster zusätzlich sicherten, waren stark korrodiert, aber noch sehr solide. Ein Stab fehlte.

Die Sonne stand mittlerweile im Zenit, und als die dicke Wolke, die aussah wie ein gelbliches Federbett, sich verzog, leuchtete sie geradewegs in das kleine Verlies hinein. In diesem Moment erkannte Rita, dass die linke Seitenwand der Nische, die aus einem einzigen grauen Block zu bestehen schien, nicht ganz glatt war. Mit der Hand wischte sie über den Stein. Unter einer Schicht von Straßenruß waren Einkerbungen zu erahnen, wie ungelenke Hieroglyphen, von denen einige mit ein bisschen Fantasie sogar Ähnlichkeit mit lateinischen Buchstaben haben mochten. Sie waren von ungeübter Hand mit irgendeinem provisorischen Werkzeug und in offensichtlich mühevoller Arbeit in die Wand geritzt.

Rita nahm nochmals das alte Messer in die Hand und betrachtete es eingehend. Die ausgeklappte Klinge war völlig oxidiert, brüchig vor Rost. Die Spitze war abgebrochen, das ehemals scharfe Metall ganz rund geschabt. Der Griff bestand aus feuchtem Holz, das unter der Dreckkruste Spuren starker Abnutzung zeigte, als habe es ewig lange in der gleichen Hand geruht. War es möglich, mit einem solchen Werkzeug Stein zu gravieren?

Sorgfältig wickelte sie das Messer in ein Papiertuch und steckte es in ihre Hosentasche, wenngleich sie in diesem Moment kaum hätte sagen können, wozu das dienen sollte. Sie hatte glücklicherweise nicht den Tick, ihr eigenes Tun ständig vor sich selbst rechtfertigen zu müssen, was ihr einen gesunden Pragmatismus verlieh, den böse Zungen und beschränkte Lehrer gelegentlich als eine milde Form von Stoizismus bezeichneten. Oftmals handelte sie, bevor sie zu denken begann, in der unausgesprochenen Überzeugung, dass alles, was sie tat, früher oder später schon einen Sinn ergeben würde. Einen Moment lang war sie drauf und dran, sich ganz in die Nische hinunterzulassen, um den Staub aus den Gravuren besser entfernen zu können. Es waren tatsächlich Buchstaben, und an einer Stelle ...

In diesem Moment spürte sie eine Hand auf der Schulter. Es war der starke Arm des Gesetzes. Rita errötete, denn der Polizeibeamte war jung und gutaussehend, und sie selbst schmutzig und zerzaust bis unter den Scheitel. Sie öffnete ihre Faust und zeigte ihm den Lippenstift, erläuterte lächelnd ihr Missgeschick mit der Sandale, und der Polizist half ihr, das Gitter wieder über das Loch zu schieben.

Als der Beamte ging, blickte sie mit leisem Unbehagen noch einmal zurück. Die Sonne lag schon wieder hinter einer Wolke, grauer und schwerer als die andere. Trotz der Strickjacke fühlte sie eine Gänsehaut auf den Armen. Ihr Mund war trocken. Nun lag alles wieder im Dunkeln. Der graue Steinblock versteckte sich. Die Schriftzeichen waren unleugbar vorhanden, aber von dieser Warte aus so unsichtbar wie der Staub unter ihren Schuhen.

„Verrückt ...“, murmelte Rita gedankenverloren.

 

Unter dem schiefergrauen Dach des großen, alten Hauses saß ein dunkelgraues Ding, das sich versteckte, das dann und wann leise lachte, das sich hurtig und geschwind bewegte wie ein Luftzug, und dessen Hand so kalt war wie ein Stein. Die Augen waren leblos, milchig wie Opal, sie fürchteten das Tageslicht. Ein Geschöpf der Nacht, mit Fledermausohren, die alles hörten, mit langen, dünnen Fingern, die alles ertasteten, und mit einem großen Herzen, das über alle Maßen liebte. Seine Knochen waren dünn und biegsam wie die einer Katze, und seine Seele so grau wie der Staub. Nichts erinnerte mehr an den Menschen, der es vor langer Zeit gewesen war.