Table of Contents

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Otto Meister

«In den wilden Bergschluchten
widerhallt ihr Pfeifen»

Als Zürcher Ingenieur beim Bau
der Yunnan-Bahn in Südchina 1903-1909

Mit einem biografischen Text von

Ursula Meister-Cardi,

aus dem Italienischen übersetzt

von Gabriela Zehnder

Herausgegeben von Sylvia Agnes Meister

und Paul Hugger

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Inhalt

Vorwort

Von Dr. Thomas Wagner

Otto Meister oder die Faszination des Fernen Ostens

Zur Biograie eines Wagemutigen

Von Ursula Meister-Cardi

Zu den Texten von Otto Meister

Von Paul Hugger

«Eine der interessantesten Bahnen Ostasiens»

Bericht über den Bau der Yunnan Railway

Von Otto Meister

«Die Kulis starben auch schon wie die Fliegen»

Briefe des Bahningenieurs Otto Meister aus Südchina

«Die ganze Nacht hörte das Geknatter nicht auf»

Mit dem Schiff auf dem Jangtsekiang während der Bürgerkriegswirren 1929

Von Otto Meister

Vorwort

Von Dr. Thomas Wagner

China ist in den letzten Jahren zunehmend ins Zentrum des wirtschaftlichen und kulturellen Interesses Europas gerückt. Es geht von diesem aufstrebenden und gleichzeitig traditionsreichen Land eine schillernde Faszination aus.

Dabei wird die Annäherung von Ost und West gemeinhin als Phänomen der jüngsten Geschichte aufgefasst und in Zusammenhang mit der Globalisierung genannt. Die vorliegende historische Publikation lässt die Entdeckung zu, dass diese Sichtweise so zu kurz gegriffen ist. Andererseits erzeugt gerade der rückwärts gerichtete Blick in die Vergangenheit in diesem Sinne einen erneuten Bezug zur Aktualität.

Als Präsident der Schweizerisch-Chinesischen Gesellschaft habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Projekte der Zusammenarbeit und des interkulturellen Austausches beider Länder zu ermöglichen, gleichsam zu katalysieren und darüber hinaus einem interessierten Publikum zugänglich zu machen.

Dieses Buch dokumentiert den Bau der Eisenbahnlinie von Lào Cai nach Kunming im heutigen China durch die Compagnie Française des chemins de fer de l’Indochine et du Yunnan ab 1898. Der Text fusst dabei auf Originaldokumenten des mitarbeitenden Schweizer Ingenieurs Otto Meister aus den Jahren 1903 bis 1909. Es ist Teil einer Würdigung, die dieser ungeheuren historischen Pionierleistung zukommt, die u.a. von Franzosen, Schweizern, Italienern und Chinesen verschiedenster Volksgruppen gemeinsam erbracht worden ist und die mit der Aufnahme des Baus in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes hoffentlich ihren Höhepunkt finden wird.

Als ich erstmals die zahlreichen Fotografien sowie das Tagebuch und die Briefe einsehen konnte, die die Familie Meister archiviert hatte, war ich von der Dimension der Konstruktion und der Tragweite der gesamten organisatorischen Unternehmung überrascht. Wie war es möglich, dass diese Eisenbahnlinie von 465 km Länge mit 155 Tunneln und 107 Brücken, durch völlig unwegsames Gelände unter widrigsten Umständen erbaut und bis heute voll funktionsfähig im Originalzustand erhalten, bei uns gänzlich unbekannt war?

Otto Meister hatte 1896 seinen Abschluss als Bauingenieur am Eidgenössischen Polytechnikum (der späteren ETH Zürich) gemacht. Er ist damit der gleichen Schule zuzurechnen wie der schweizerische Ingenieur Maurice Koechlin, dessen Pläne die Grundlage für den Bau des Eiffelturms bilden sollten. In zahlreichen Brücken der Eisenbahnlinie finden sich Bauteile desselben Stahlbausystems, das im Eiffelturm verwendet wurde. Insbesondere die Menschen-Brücke, die wegen ihrer Ähnlichkeit zum chinesischen Schriftzeichen für «Mensch» so genannt wird, geniesst in China grosse Berühmtheit (Nationalmonument der VR China). Sie lässt mit ihrer Kühnheit und elegant klaren Konstruktion den Geist spüren, der dem Polytechnikum in Zürich des späten 19. Jahrhunderts entsprang.

Es ist aber nicht allein die Dokumentation einer grossartigen Ingenieursleistung, die dieses Buch ausmacht, sondern die Lebendigkeit und Authentizität, die aus den Tagebuchtexten von Otto Meister sprechen und einen echten Einblick in die damalige Lebenswelt, sowohl in China als auch in der Schweiz, erlauben.

Eine ganz besondere Anerkennung und grossen Dank verdienen Sylvia Meister und Giorgio Hoch, die während mehrerer Jahre mit der erforderlichen Neugierde und mit enormem, persönlichem Einsatz die zahlreichen Dokumente zusammengestellt und ausgewertet haben. Dabei recherchierten sie insbesondere vor Ort auf Reisen in die VR China (Yunnan) und nach Paris.

Die Herausgabe dieses Werkes wird wesentlich dazu beitragen, dass die Pionierleistung des Schweizer Ingenieurs Otto Meister in Erinnerung bleibt.

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Otto Meister in seinem Büro in Shanghai, undatiert.

Otto Meister oder die Faszination des Fernen Ostens

Zur Biograie eines Wagemutigen

Von Ursula Meister-Cardi

Das vorliegende Buch beruht auf Briefen, Tagebüchern und Fotografien, die der Ingenieur Otto Meister, geboren am 16. August 1873 in Horgen, Schweiz, gestorben am 28. März 1937 in Shanghai, China, in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts aus dem Fernen Osten an die Familie und seinen Arbeitgeber in die Schweiz schickte. Sie führen uns zurück in die Zeit zwischen 1903 und 1910, als Otto Meister zunächst als subalterner Ingenieur und bald als Chefingenieur beim Bau der Eisenbahnlinie beschäftigt war, die vom Grenzgebiet zwischen dem französischen Tonkin (heute Vietnam) und der chinesischen Provinz Yunnan bis nach Kunming (heutige Hauptstadt von Yunnan) führen sollte. Fotos und Skizzen zeigen, wie schwierig das Unterfangen in dieser teils tropischen, oft unwegsamen Landschaft war. Im Anschluss an diese Arbeit fuhr Meister nach Japan, wo er von 1911 bis 1922 für die Firma Gebrüder Sulzer in Winterthur tätig war. Nach einer achtmonatigen Reise über Mexiko in die Schweiz übersiedelte Otto Meister mit seiner Familie nach Shanghai in China, um dort die südostasiatische Niederlassung der Firma Sulzer Brothers zu gründen, für die er von 1921 bis 1937 im gesamten südostasiatischen Raum zuständig war.1 Er wurde Zeuge des Chaos, das als Folge der revolutionären Unruhen jener Zeit herrschte, in der sich die Anhänger des nationalistischen Tschiang Kai Schek und des kommunistischen Mao Tse-tung bekämpften. Es ist ein Glücksfall, dass zahlreiche Objekte sowie Dokumente, Briefe, Tagebücher und Fotografien über die Generationen hinweg in der Familie Meister bewahrt worden sind.

Otto Meister hinterliess 874 Fotos auf stereoskopischen Glasplatten und an die tausend Papierabzüge; daneben Postkarten, Zeitungsausschnitte, Dokumente, Reisepässe, Studien- und Arbeitszeugnisse, ungefähr fünfhundert Briefe, drei Tagebücher und viele Lageberichte an die Firma Sulzer. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit, alles wurde fortlaufend aufgezeichnet: Jahrzehntelang verschickte er Dutzende von Briefen und Fotos, zunächst an die Eltern, dann an den Bruder Edy und seine Schwägerin Emmy, mit denen er besonders verbunden war, und in den letzten Jahren an seinen Sohn Freddy, der in Zürich Architektur studierte.

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Emil Meister und seine Tochter Lorly, Zürich Paradeplatz, 1898.

Eine Jugend im Herzen von Zürich

Ein strenger, fast nüchterner Mann, schlicht gekleidet, mit einfachem Lebensstil, präzise, pünktlich, ausgeglichen, vernünftig, kurz, ein Schweizer aus einer anderen Zeit, der mit beiden Füssen auf dem Boden stand: So beschrieb ihn sein Sohn Alfred Jutaro Meister, geboren 1913 in Mitsukaido, Japan, gestorben 1987 in Locarno, Schweiz.

Ottos Vater, Emil Meister (1847–1921), war ein Nachkomme der Familie Meister aus Zürich, deren Stammbaum bis ins Jahr 1400 zurückverfolgt werden kann.2 Ottos Vater hatte 1881 ein kleines Bijouteriegeschäft am Münsterhof 16 eröffnet, das sich ab 1897 am Paradeplatz befand. Das Unternehmen wurde mit der Zeit auf drei Verkaufsstellen erweitert, unter anderem um ein Uhrengeschäft, das heute an der Bahnhofstrasse von den Enkeln und Urenkeln weitergeführt wird. Die Mutter, Elisa Hess von Wald (1852–1884), die aus einer wohlhabenden, alteingesessenen Familie des Zürcher Bürgertums stammte, starb wenige Monate nach der Geburt des achten Kindes. Emil heiratete 1888 in zweiter Ehe Julie Aeschlimann von Burgdorf (1861–1937).

Otto, der älteste der neun Brüder, die das Kleinkindalter überlebten, zeigte keinerlei Neigung, das Geschäft seines Vaters zu übernehmen, wohl wegen seines Unabhängigkeitsdrangs und jener Abenteuerlust, die ihn in den Orient führen sollten. Bereits in den ersten Jahren nach dem Studium zum Bauingenieur am Polytechnikum Zürich, das er 1896 abschloss, sammelte er wichtige Arbeitserfahrungen: Für die Zürcher Firma Zschokke war er zunächst kurze Zeit in Zell und Aarau und dann bis 1899 bei einem Brückenbauprojekt in Randers, Dänemark, beschäftigt. Schon aus dieser Zeit existiert ein in Stenographie abgefasstes minuziöses Tagebuch. Von 1899 bis 1903 arbeitete er in Spanien, auf den Trockendocks im Seearsenal von Carraca in der Nähe von Cadiz. Als im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung in Europa in den Kolonialgebieten bauliche Grossprojekte entstanden, sah Otto Meister darin neue Möglichkeiten von ganz anderen Dimensionen für sich und verliess Europa in Richtung Ferner Osten. Sein Ziel war die Grossbaustelle der französischen Eisenbahnlinie im heutigen Vietnam und China.

Zwischen Arbeit und Abenteuer: Bahnbau im südchinesischen Bergland

Die Reise an Bord des Motorschiffs «Jarra», das am 16. Juni 1903 von Marseille Richtung Indischer Ozean in See gestochen war, dauerte zwei beschwerliche Monate (u.a. durch den Suezkanal, an dem noch Arbeiten in Gang waren) bis Hanoi, von wo ihn ein Schaufelraddampfer den Roten Fluss hinauf bis nach Lào Cai brachte.

Lào Cai war Umschlagplatz für Menschen, Material und Versorgungsgüter zwischen der praktisch fertiggestellten Eisenbahnlinie Hanoi–Lào Cai und der neuen Teilstrecke Lào Cai–Yunnansen (Kunming). Von dort aus erreichte er mit schwer beladenen Mauleseln und auf kleinen Yunnan-Pferden – er, der grossgewachsene Schweizer! – Mitte August 1903 schliesslich Mong-tse, wo der französischer Konsul Auguste François residierte. Damit begann sein Einsatz als Ingenieur beim Bau der Eisenbahnlinie Lào Cai–Yunnansen für die Compagnie Française des chemins de fer de l’Indo-Chine et du Yunnan. Frankreich hatte 1898 die Rechte erhalten, in Yunnan Eisenbahnlinien zu bauen, in der Provinz Handel zu treiben und Konsulatssitze einzurichten. Das Eisenbahnprojekt war lanciert worden, um das französische Tonkin mit dem Süden Chinas zu verbinden und so den Handel mit Indochina zu fördern und das Erzvorkommen in Yunnan für Frankreich nutzen zu können. Letzteres stellte sich als Fehlschlag heraus, denn die Erzlager erwiesen sich als nicht sehr ergiebig, weder in Bezug auf die Qualität noch die Quantität. Neben Tee war in jenen Jahren Opium die einzige Ware, für die sich für der Transport wirklich lohnte.

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Postkarte aus Madrid mit der Ankündigung seiner Stelle bei der Compagnie Française des chemins de fer de l’Indo-Chine et du Yunnan, 23. April 1903.

1903 war die Linienführung der französischen Eisenbahnlinie also bereits abgesteckt, und sie wurde mit nur leichten Abweichungen auch danach gebaut. Es war keine einfache Route, wenn sie auch weniger unwegsam war als die von den Engländern entworfene: Das Gebiet war aufgrund des feucht-heissen Klimas besonders im südlichen Teil unerschlossen, wild und beinahe unbewohnt. Die Eisenbahnlinie führte durch tiefe, verwinkelte Gebirgsschluchten, in denen sich oft auch die Karawanen mit dem Nachschub verirrten. Man musste Wege anlegen, um das Material zu transportieren, provisorische Brücken oder Flosse bauen, um Flüsse und Sümpfe überwinden zu können. Die geografischen Gegebenheiten erschwerten auch die Versorgung: Da die Gegend praktisch unbewohnt war, konnte nichts vor Ort gekauft werden, und das gesamte Material musste mit Trägern und Lasttieren herangeschafft werden.

Als Meister im provisorischen Camp von A-Pet-Soun in Südyunnan angelangt war, übernahm er den ihm zugeteilten Abschnitt der Eisenbahnlinie. Dieser lag in einem gesundheitlich höchst problematischen Gebiet, heimgesucht von unzähligen Mücken, sogenannten Beri-Beri, und periodisch wiederkehrenden Epidemien, die immer wieder viele Menschenleben hinwegrafften. Während der Regenzeit herrschte im südlichen Teil der Region aufgrund der Nähe zu den Flüssen Mekong (auch Roter Fluss genannt) und dem Nanxi Hé ein tropisches Klima, «heiss, feucht und ungesund». Diese klimatischen Bedingungen prägten die Flora und die Fauna, die Topografie und damit auch die Arbeits- und Lebensbedingungen. Unvorstellbar hart waren letztere insbesondere für die Arbeiter, die nicht lange durchhielten und laufend abgelöst werden mussten. Meister schildert all das sehr farbig, auch das Verhältnis zwischen den Bauunternehmern und den Ingenieuren und wiederum deren schwierige Beziehungen zu den chinesischen Arbeitern. Angesichts der Umstände verwundert es nicht, dass viele Arbeiter zu fliehen versuchten, zumal sie oft aus fernen Regionen des riesigen chinesischen Reichs stammten.

Die Lebensbedingungen verbesserten sich im Laufe dieser Jahre, je weiter man beim Bau gegen Norden vordrang; das Klima in den Bergen war frischer und die Luft weniger schwül. Nachdem Otto Meister zum Ingenieur Sektionschef ernannt worden war, wurde die Arbeit für ihn interessanter. Das galt für die Planung ebenso wie für die Leitung der komplexen Projekte von Tunnels und Brücken, die in jenem unwegsamen Gebiet mit all den Schluchten und reissenden Flüssen eine besondere Herausforderung darstellten. Darunter war auch die heute zum Wahrzeichen gewordene sogenannte «Menschen-Brücke».

Daneben berichtet Meister in seinen Briefen von Aufständischen, Banditen und Dieben aller Art. Und von Generälen oder Präfekten, die in vollem Pomp vorbeizogen – auf prunkvollen Sänften mit grossen roten Sonnenschirmen und einem Gefolge von Offizieren und Dienern mit reich verzierten Uniformen und seltsam geformten Hüten – und auf ihrem Weg eine Reihe von abgehauenen Köpfen zurückliessen, die sie in den Strassen der Stadt an Stangen aufspiessen oder an der Stadtmauer in Holzkäfigen aufhängen liessen.

Gegen Ende der Bauzeit verfolgte die chinesische Regierung zunehmend das Ziel, das Monopol der ausländischen Eisenbahngesellschaften zu brechen, sodass Angestellte, deren Verträge abgelaufen waren, durch chinesische Arbeitskräfte ersetzt wurden. Die chinesische Revolution von 1900–1911, angeführt vom ersten grossen chinesischen Revolutionsführer Sun-Yat-Sen, führte das Ende der Manchu-Dynastie herbei und steht in historischem Zusammenhang mit den Volkserhebungen 1905 in Indien (gegen die Engländer), 1905 in Russland, 1907 in der Türkei und 1908 in Persien. Mit dem Fall der Manchu-Dynastie und der Entmachtung der im gesamten, riesigen Gebiet stationierten Regierungsbeamten wurde das Verwaltungssystem, einschliesslich des Eisenbahnsektors, von der Krise erfasst. In diesem administrativen und politischen Chaos entschloss sich Otto Meister, China zu verlassen.

Japan, die grosse Liebe

Mit Sicherheit hielt sich Otto Meister ab Januar 1911 in Tokio auf. In einem Brief aus diesem Jahr schrieb er an seinen Vater, er warte in Tokio auf eine Antwort aus Berlin bezüglich eines Arbeitsangebots. Gleichzeitig spielte er mit dem Gedanken, nach Südamerika zu gehen, was er einige Jahre später mit einer Reise durch Mexiko verwirklichen sollte.3

In der Zwischenzeit knüpfte er wichtige Beziehungen, und in den höheren Kreisen der Schweizer Diplomatie zog man ihn als Berater in Chinafragen hinzu. Im gleichen Jahr schrieb er einen Brief an den Schweizer Botschafter in Tokio, der von ihm wissen wollte, wie die Lage für die chinesische Bevölkerung, die Ausländer und insbesondere die Schweizer aussehe und ob es seiner Meinung nach möglich sei, in China ein Schweizer Konsulat zu eröffnen. Meister kam zum Schluss, dass es angesichts der jüngsten Ereignisse und der ständigen Unruhen schwierig sein dürfte für ein so kleines Land, ein Konsulat aufrechtzuerhalten ohne eine Militärmacht im Rücken, die es beschütze.4

Danach kehrte er für einige Monate in die Schweiz zurück und fand eine Anstellung bei der Firma Sulzer in Winterthur, die Dampf- und Dieselmotoren für Schiffe und die Industrie herstellte und die ihn mit der der Auslandsvertretung für China, Japan und Indochina betraute. Ab 1911 war er in Tokio stationiert und von 1913 bis 1922 in Kobe, bevor er endgültig nach Shanghai übersiedelte.

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Otto Meister mit Chiyo Ishizuka in Shanghai, undatiert.

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Chiyo Ishizuka mit Sohn Alfred «Freddy» Jutaro, Kobe 1918.

Er verbrachte ein ruhiges Jahrzehnt in Japan, das sich allmählich modernisierte. In seinen Berichten erscheint es als ein Land mit zauberhaften Landschaften, mit Gärten, die das perfekte Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur darstellen, und Tempeln, die von Parkanlagen mit zahllosen wunderschönen Pflanzen und Blumen umgeben sind. In den ersten Jahren seines Japanaufenthalts lernte er in Tokio Chiyo Ishizuka kennen, die zu seiner Lebensgefährtin wurde und mit der er einen gemeinsamen Sohn hatte, Freddy Jutaro.

Chiyo war eine für die damalige Zeit sehr gebildete Frau, die Englisch sprach und für die Botschaften übersetzte. Chiyo war in verschiedenen japanischen Künsten bewandert, so im Schreiben, Zeichnen, in der Musik und in der Kunst, der Teezeremonie. Diese hat in der japanischen Tradition eine tiefe spirituelle Bedeutung. Ihr eigentlicher Zweck ist es, eine Atmosphäre der Harmonie und Gelassenheit für Geist und Körper zu schaffen, wie eine Aufnahme von Chiyo mit einer Schwester und Sohn Freddy Jutaro dokumentiert (nächste Seite). Chiyo spielte das Koto, ein traditionelles japanisches Musikinstrument ähnlich einer grossen Zither, und beherrschte Ikebana (japanisch für «lebende Blumen»), die Kunst des Blumenarrangierens. Chiyos Vater soll einer Samurai-Familie entstammen, würdevoll blickt er auf dem Familienfoto von 1920 in die Kamera (nächste Seite). Wer das Bild aufgenommen hat, kann man am westlichen Hut erraten, der auf der Bank liegt …

Zur Absicherung seiner Familie hatte er eine Lebensversicherung in kanadischen Dollars abgeschlossen, die allerdings infolge der Inflation der 1920er-Jahre fast ihren ganzen Wert einbüsste. In späteren Jahren gelang es ihm dann, aus der Schweiz heraus ein Haus in Japan zu finanzieren. Chiyo fühlte sich ihrem Land so sehr verbunden, dass sie die Inseln zeitlebens nicht verliess und die Schweiz, anders als ihr Sohn Jutaro, nie kennenlernte.

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Chiyo Ishizuka (Mitte) mit ihrem Sohn Alfred und ihrer Schwester, etwa 1915.

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Vater Ishizuka mit seinen vier Töchtern und Enkel Alfred, Tokio 1918.

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Chiyo mit Alfred in Shanghai, undatiert.

Ottos berufliche Tätigkeit für die Auslandvertretung erlaubte es ihm, alle drei bis vier Jahre in die Schweiz zurückzukehren. Die Reisen dauerten jeweils zwei Monate. waren beschwerlich und voller Zwischenfälle. Die Route führte entweder von Kobe über den den Suezkanal nach Marseille oder in die entgegengesetzte Richtung: über den Pazifik nach San Francisco und New York oder durch Mexiko und Panama) und von dort nach England.

Rückkehr zwischen den Fronten

Am II. April 1914 reiste Otto Meister von Kobe in die Schweiz, diesmal über die Hawaii-Inseln, San Francisco, Mexiko und Panama und von dort mit einem Schiff nach Avonmouth, England, wo er am 5. Juli ankam. Es war eine Geschäftsreise: Seine Mission war es, sich nach möglichen Handelsräumen und Absatzmärkten für die Schweizer Industrie umzusehen, die zu den führenden Maschinenproduzenten gehörte. In Meisters Tagebuch finden sich Einträge zu Gesprächen sowohl mit dem Schweizer Konsul von Mexico City als auch mit einem Schweizer Stoffhändler. Die beiden Landsleute beschrieben ihm die Lage folgendermassen: Im Norden von Mexico City kämpften Regierungstruppen gegen nicht näher benannte «Rebellen»; im Süden wüteten die Zapatistas; von Westen her rückten die Rebellen von Manzanillo und Guadalajara vor, und im Osten hatten die Amerikaner Vera Cruz besetzt – ein Bürgerkrieg schien unvermeidlich. Elemente des Nationalismus und des Sozialismus vermischten sich auf wirre, undurchsichtige Art und Weise. Meisters Tagebuch ist ein einmaliges Dokument, in dem von allerlei kleinen Vorfällen aufgrund der sich ausbreitenden mexikanischen Revolution von Zapata und Pancho Villa berichtet wird, aber auch das Bild von kleinen, farbenfrohen Dörfern und Städtchen Zentralamerikas mit ihren Bewohnern gezeichnet wird und in dem die Gegensätze zwischen den reichen Grossgrundbesitzern und der armen Bevölkerung deutlich werden.

Auf seiner Eisenbahnreise durch den Süden Mexikos durchquerte er die Region von Juchatan, die Heimat der Chiapas-Indianer: «Die Leute hier, fast alles echte Indianer, sollen noch ganz ursprünglich sein und ihre Gewohnheiten unverändert beibehalten haben. Ein schöner, kräftiger, wohlgebauter Schlag, sympathische Gesichter. Die Leute sollen aber arbeitsscheu und sehr kriegerisch gesinnt sein und sich viel lieber als Soldaten anwerben lassen als arbeiten. Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe & Treue werden ihnen nachgerühmt.»

Meister kam 1994 zum Schluss, dass sich Mexiko nicht für Schweizer Investitionen eignete. Die Revolution richtete sich gegen die Kolonialherren, und so zogen die Europäer ihr Kapital vermehrt ab. Eine etwas makabre Geschichte, die Meister detailliert aufgeschrieben hat, zeigt deutlich das Gemisch aus Arglosigkeit und Gewalt, Ideologie und Verwirrung, aus Anpassung und Verzweiflung, die vielleicht typisch für alle Revolutionen ist und die Meister aus seiner privilegierten Warte mehr von der anekdotischen Seite her nahm: