HANNA-LINN HAVA: „Schneewittchens Geister“

1. Auflage, August 2014, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege

© 2014 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Franziska Dreke
Cover: Holger Much - www.holgermuch.de
Satz & Layout: Thomas Manegold - www.manegold.de

print ISBN: 978-3-943876-75-8
epub ISBN: 978-3-943876-37-6
E-Book-Version:1.1


Für Daan Oriah Israel







periplaneta

1: Die kurze Geschichte von Karl-Heinz

Und: von Damen

Und: von einem Schneewittchen

Die Kirchenglocken läuteten mit lärmendem Crescendo den frühen Morgen ein, um auch noch den letzten Ungläubigen an den verpassten Sonntagsgottesdienst zu erinnern, was vermutlich die wenigsten mit einem reuigen Gewissen strafte, aber dafür immerhin mit unsanft gestörtem Schlaf.

Karl-Heinz Ernst Fritz blubberte vor gehässigem Lachen über seinem dünnen lauwarmen Morgenkaffee. Fritz stellte in diesem Fall den Nachnamen in einer Reihe einsilbiger Männernamen dar, welche bereits auf einen Charakter schließen ließen, der nicht zu den liebreizendsten gehörte. Dafür waren sie zu kurz, zu hart, zu deutsch und zu viele.

Dennoch – ein Name ist bekanntermaßen kein Fluch, und so hätte in der kleinen, sonnenbeschienenen Küche auch ein graugelockter, barfüßiger Senior vor einem samtschwarzen, heißen Espresso sitzen und fröhliche Melodien pfeifen können, bevor er mit einem zärtlichen Telefonanruf seine Geliebte geweckt hätte, um sie auf einen Morgenspaziergang im winterweißen Park einzuladen. Dass also die Füße dieses Karl-Heinz in moderbraunen Pantoffeln steckten, die blitzsauber waren und ob ihrer speziellen Farbe dennoch so aussahen, als wären sie in Hundescheiße getaucht, dass er sich die wenigen Strähnen verbliebenen grauen Haars quer über die glänzende Glatze geklatscht hatte, dass er eine wässrige, ausgekühlte Brühe schlürfte und Bösartigkeiten vor sich hin brabbelte – welche Ungerechtigkeit wäre es, das alles nur seinem Namen zuzuschreiben.

Seine garstige Erscheinung half zumindest, die nachfolgenden Ereignisse in einem nachsichtigen Licht zu betrachten. Und den Anderen. Den auch. Schließlich verspielte der Andere mit Sicherheit sowieso früher oder später einen Großteil der Sympathie, die er ansonsten leicht durch sein einnehmendes Wesen gewinnen könnte. Heute missfiel er als Erstes dem muffigen Rentner, indem er mit Nachdruck den Klingelknopf betätigte und somit in diese eben beschriebene un-idyllische Frühstücksszene hineinplatzte.

Und sein Auftritt war, wie stets, keine Comedy-Nummer.

Karl-Heinz Ernst Fritz unterbrach also sein Morgenritual, als er die Türklingel hörte. Er verharrte einige Sekunden lauschend, ob er sich nicht irrte, da das Kirchenläuten als leiser Nachhall noch in der Luft lag und normalerweise niemand bei ihm klingelte (kein Wunder). Dann hievte er sich aus seinem ächzenden Stuhl, um sich zur Türe zu schleppen, was ebenfalls seine Zeit brauchte.

Insgesamt wartete der Andere so recht lange, was seiner guten Laune nicht zuträglich war. Er hasste Verzögerungen, besonders bei solchen öden Jobs. Sein Plan war bis auf die Minute ausgearbeitet, und wenn auf diesem Plan – (der rein virtuell an die Wände seines Hirns gepinnt war, anstatt auf Papier an die Wände seiner Wohnung, welcher Wohnung auch?) – wenn auf diesem Plan stand: 8:30 Ankunft bei Fritz, 8:35 Abgang bei Fritz, und er um 8:35 immer noch vor der verschlossenen Türe stand, dann stieg echter Ärger in ihm auf. Außerdem war das Haus ein altes; der Lift fehlte, die Treppen waren steil, und Fritz’ Wohnung lag im fünften Stock. Das war kein Konditionsproblem für den Anderen – wäre er nicht in der Lage, diese Strecke schnellen Schrittes zurückzulegen, ohne die kleinste Erhöhung seines Pulses, ohne einen einzigen Tropfen Schweiß zu verlieren und ohne eine hörbare Beschleunigung seines Atems: Er wäre nicht der Andere. Aber es nervte ihn gehörig. Unnötiger Weg, unnötige Zeit. Zusätzlich der Geruch im Treppenhaus, nach jahrzehntelang täglich gekochtem Essen, nach morschem Holz und ja, auch nach ungewaschenen Leibern – dieser Auftrag versprach keine Freude zu früher Stunde.

Karl-Heinz blieb deshalb der Genuss versagt, mit dem gewinnenden Wesen des Anderen Bekanntschaft zu schließen. Stattdessen erblickte er ein unfreundliches und vor allem unbekanntes Gesicht, als er misstrauisch die Wohnungstür einen Spalt öffnete. Vertreter aller Art kamen aber nicht sonntags, die Post kam sonntags schon gleich gar nicht, und die Nachbarn schon lange nicht mehr; die wenigen, die auf der Suche nach freundschaftlichem Kontakt gewesen waren, hatten schon vor Jahren aufgegeben. Und sonst? An Mitglieder aus seiner wahrlich großen, weitverteilten Familie hätte er sich erinnert, und an alte Bekannte aus anderen Zeiten wohl auch! Daher spiegelten Karl-Heinz’ Züge, sobald er die Tür geöffnet hatte, die Unfreundlichkeit seines Besuchers wider. Niemand reichte die Hand zum Gruß und sie schwiegen beide den einen Moment, in dem Karl-Heinz in seinem Gedächtnis kramte, während der Andere ihn mit den Fotos verglich, die er erhalten hatte und sich der richtigen Türe versicherte, indem er seine Augen über das Namensschild (K-H. E. Fritz) wandern ließ.

Er fragte dennoch nach, nicht lächelnd, aber zumindest höflich: „Karl-Heinz Ernst Fritz?“

Das Gesicht des Anderen war eines, an das man sich erinnerte, wenn man es einmal gesehen hatte. Es verriet kein genaues Alter, denn das Netz aus Falten darin war nicht von den Jahren gewebt, sondern von Gefühlen besonderer Art eingebrannt worden und ließ ihn aussehen, als hätte er um einiges mehr Lebenserfahrung, als er Jahre gelebt hatte. Er hatte attraktive helle Augen, doch das, was dahinter loderte, passte weder zu dem unauffälligen Haarschnitt noch zu der unaufdringlichen, aber geschmackvollen Kleidung – graue Jeans, weißes Hemd, graue Lederjacke. Noch weniger passte die aufgesetzte Höflichkeit des Anderen, die sich allerdings schnell als nachlässig vorgehaltene Maske entpuppte, wenn man ihn genauer betrachtete.

Karl-Heinz machte sich die Mühe nicht.

„Geht dich einen Scheiß an, du Lackaffe!“, schnauzte er, was niemanden, der ihn kannte, überrascht hätte. „Was willst du von mir?“

Der Andere zeigte sich, obwohl er Karl-Heinz nicht kannte, ebenso wenig überrascht. Weder sein Gesichtsausdruck noch die kühle Höflichkeit in seiner Stimme änderten sich.

„Ich überbringe eine Nachricht“, sagte er ruhig. „Der Ausdruck Lackaffe scheint mir im Übrigen leicht veraltet und zudem wenig zutreffend.“

„Ah ja? Was redest du da für Müll? Was für eine Scheiß-Nachricht? Behalte deine Scheiß-Nachricht für dich!“ Trotz dieser Worte knallte Karl-Heinz nicht etwa die Tür zu, sondern hielt sie weiterhin einen Spaltbreit offen.

‚Doch ein wenig neugierig, was diese Scheiß-Störung zu bedeuten hat?‘, dachte der Andere.

„Die Scheiß-Nachricht lautet“, sagte er (natürlich höflich), „Doppelpunkt: Wir werden uns in der Hölle wiedersehen, mein armer Junge, daran ist nichts zu ändern, aber ich kann dafür sorgen, dass du dort früher landest als ich. Und damit ich meine letzten Jahre genießen kann, werde ich genau das auch tun. Nachricht Ende.“

Karl-Heinz Ernst Fritz’ mürrische Züge glätteten sich in einer Schnelligkeit, die einem Wunder gleichkam, seine missgünstig hochgezogenen Schultern fielen entspannt herunter, und als er sah, was der Andere in der Hand hielt, so plötzlich, als wäre es schon immer da gewesen, nickte er.

„O dulce nomen libertatis“, sprach er und starb. Schnell und schmerzlos, durch eine Kugel, die unmittelbar in sein Gehirn einschlug, durch eine Mündung geschleudert, die direkt an seine Schläfe gepresst war, durch eine Waffe, die so leicht und geräuschlos betätigt wurde, als könne man damit Löwenzahnsamen fortpusten – mehr nicht. So wurde auch keine unappetitliche, graue Masse am Türrahmen verteilt – sehr vorteilhaft vor dem Frühstück. Alles, was die Anwesenheit einer Kugel im Kopf bezeugte, war ein leuchtend roter Faden (rot wie die Liebe, rot wie die Wut, rot wie Erdbeeren, rot wie Blut), der aus einem sehr kleinen Loch an der Schläfe rann.

„Alle Achtung, Karl-Heinz“, sagte der Andere, „das waren verflucht gute letzte Worte! Wer hätte das von dir erwartet? Ich mag das. Ich mag das, wenn mehr in den Menschen steckt, als man ihnen ansieht!“

Er stand da wie zuvor, die Pistole in einer einzigen Bewegung (ziehenabdrückeneinstecken) längst wieder irgendwo an seinem Körper versteckt und zwang sich zu einem letzten Blick auf den am Boden zusammengesackten Körper, der weder erfreulicher aussah, als noch wenige Sekunden zuvor, noch um vieles abstoßender, nur eindeutig toter.

Ein letzter Blick war Teil seines Vertrags, da er nichts vergaß, was er jemals irgendwann irgendwo gesehen hatte, ein letzter Blick war wie ein Foto, das er sofort nach der Aufnahme in ein Album klebte, nah an seinem Bewusstsein und gleichzeitig doch tief im Unterbewusstsein versteckt. Ein Album, das die ungewöhnliche Aufschrift 999 987 trug und bereits genügend und doch noch nicht genug Fotos enthielt. Es war kein Album, das man abends bei einem Glas Rotwein durchblätterte, um in Erinnerungen zu versinken und es war auch keines, das man seinen Freunden zeigte.

„Natürlich nicht“, murmelte der Andere, „denen zeigt man eine digitale Dia-Show, kein beschissenes Album.“ Er wandte sich ab und stieg die Stufen hinunter. „Außerdem habe ich keine Freunde. Das hatten wir gemeinsam, Karl-Heinz.“ Er stand draußen auf der Straße. „Mehr aber auch nicht. Mehr mit Sicherheit nicht. Außer der Vorliebe für das schöne Wort Scheiße.“

Die Uhr zeigte 8:40, Abgang von und bei Fritz. Annehmbare Verspätung. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, wenn auch nur als fahler Schimmer auf den kältegrauen Häusern. Höchste Zeit für einen Kaffee, schwarz, ohne Zucker, und ein frisches Croissant.

„O dulce nomen libertatis…“ Der Andere schüttelte den Kopf, und endlich lächelte er. Und lachte. Es gefiel den Menschen stets, ihn lachen zu hören. Leise, voll, wohlklingend, herzlich und heiter.

Woanders, recht weit entfernt, blickte eine Dame aus einem Fenster. Die Zeit, in der man sie als Mädchen bezeichnet hatte, lag bereits vergessen hinter ihr, eine junge Frau war sie möglicherweise einmal gewesen, eine einfache Frau aber nie, und eine Dame würde sie sein bis zu ihrem Ende, welches anhand ihres hohen Alters abzusehen war.

Allerdings war ihr Rücken gerade, ihr Blick zeigte nicht die Spur einer Trübung, und mochten ihre Finger auch vom Rheumatismus verknotet sein wie die Wurzeln einer Krüppelfichte, in ihrer gesamten Haltung lag ein Wille, der dem Tod gut und gerne noch eine Reihe an Jahren abzutrotzen vermochte, obwohl die Dame bereits jetzt mehr als ein Dutzend Jahre länger gelebt hatte, als es Menschen gemeinhin zugestanden wird.

„Ich bin achtundneunzig Jahre alt“, schnarrte sie mit einer Stimme, die nicht an Kraft verloren, sondern an Schroffheit gewonnen hatte. „Ha! Achtundneunzig Jahre.“ Sie sprach durch die geschlossene Scheibe in den Garten hinein, der so still blieb, wie schneebedeckte Gärten es an sich haben und kleine Gärten es nicht vermögen; denn dieser hier trumpfte auf mit einer Weite von über einem Hektar sorgfältig gepflegter Rasenfläche, gekonnt gestutztem Baumbestand und dezent angelegten Blumenbeeten, so dass sein Schweigen das mächtige Schweigen eines Riesen war, ein Schweigen, das als Antwort genügte.

Oft stand sie hier, an genau diesem Fenster, und sprach in den Garten hinein. Im Sommer lächelten ihr all die bunten Blüten zu, schienen ihr durch ihre muntere Lebendigkeit zuzustimmen, rauschten die Blätter des alten Kirschbaums bestätigend, kündete das grüne Gras von Hoffnung; im Winter aber antwortete die kalte Schneewüste nur mit eisiger Stille, und an solchen Tagen empfand sie diese Stille als strafend.

Sie glättete den Stoff ihres violetten Wollkleides mit beiden Händen, überprüfte den kunstvoll aufgesteckten Knoten grauen Haars, nestelte an ihrer Perlenkette.

„Ich bin achtundneunzig Jahre“, wiederholte sie entschieden, als müsse sie den Garten davon überzeugen, dass sie die Wahrheit sprach. „Ich bin gesund. Völlig gesund. Hab ein starkes Herz. Mein Kopf ist fit. Völlig fit. Und ich bin reich. Reich genug, um nochmal achtundneunzig Jahre davon zu leben. Das bin ich.“

Sie wechselte von einem auf den anderen in erstaunlich hochhackigen Pumps steckenden Fuß, rülpste – damenhaft leise -, öffnete den obersten Perlmuttknopf an ihrem Kragen, warf einen Blick auf das zierliche Ziffernblatt ihrer goldgeflochtenen Armbanduhr – 8:35 – setzte sich auf den plüschweichen Teppichboden und begann, in einer Lautstärke zu schluchzen, dass der altersschwache Zwergpinscher in seinem Körbchen vor Schreck eine Lache pinkelte, die bis aufs blankpolierte Eichenparkett durchtropfte. Dann starb er lautlos den gnädigen Tod eines versagenden Herzens, gänzlich unbemerkt.

Wieder woanders war ein Schneewittchen dabei, seine Koffer zu packen. So schien es auf den ersten unvorsichtigen Blick. Eine junge Frau, kein Mädchen mehr, eine Dame wohl nie, in einem blütenweißen, knöchellangen Leinenkleid, unter dem nackte, rosige Zehen hervorlugten. Hüftlanges, loses Haar, in dunklen Strähnen über einen zarten Rücken fallend. Weiße, schmale Hände, die Kleidung falteten, um sie auf einem Bett zu stapeln. Dazu ein einzelner Sonnenstrahl, der sich durch die tiefhängende Wolkendecke brach und bis ins Zimmer streckte, um die Silhouette der jungen Frau mit schmeichelnd goldenem Licht und tanzendem Staubglitter zu umspielen.

Vermutlich lag der märchenhaft inspirierte Trugschluss an genau diesem verklärenden Schein, denn sobald man auf Details achtete, wie zum Beispiel auf eine achtlos auf der Bettkante abgelegte brennende Zigarette, eine Nase, die man mit etwas gutem Willen höchstens als markant bezeichnen konnte, auf sattschwarz lackierte Zehennägel und knochigere Ellbogen, als man erwartete, verwandelte sich das Schneewittchen in Ernestine Nordmoor, wobei sie erstens selten Ernestine genannt wurde und es sich dabei zweitens nicht um ihren vollständigen Namen handelte (was nur wenigen, und zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ihr selbst, bekannt war).

Tatsächlich aber war sie, wenn auch keine Märchengestalt, so doch gerade dabei, ihre Koffer zu packen. Zwei davon. Große, breite, braunschwarze Lederkoffer, die nicht nur so aussahen, als stammten sie von einem Trödelmarkt. Trotz ihres immensen Fassungsvermögens überstieg das ausgebreitete Gepäck bei weitem ihre Kapazität, so dass Ernestine sich mit einem Seufzen genötigt fühlte, eine kleine Pause einzulegen und ihre Packstrategie zu überdenken. Sie war gerade dabei, die Zigarette (Marke: Black Death), kurz bevor die Glut den Holzrahmen versengte, vom Bett aufzunehmen, um einen tiefen Zug zu nehmen, als es zaghaft an der Tür klopfte.

„Ja, bitte?“, hustete sie, gerade laut genug, um gehört zu werden.

„Frau Nordmoor, entschuldigen Sie, wenn ich störe …“ Der rahmenlos bebrillte junge Mann, der zögernd nicht mehr als seinen Kopf hereinstreckte, stockte kurz, um ihr Nachthemd mit einem missbilligenden und gleichzeitig erleichterten Blick zu bedenken. „Aber ich befürchte, Sie haben unsere Verabredung vergessen. Es ist jetzt genau …“, ein Blick auf die runde Uhr über dem kleinen Schreibtisch, „8:37, und da unser Termin schon um zwanzig nach acht …“

Ernestine unterbrach ihn mit ihrer blütenblattsanften Stimme, die nie lauter wurde als das Maunzen eines Kätzchens. „Oh, das tut mir schrecklich leid!“

Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, ohne daran zu denken, dass diese noch die Zigarette hielt, so dass sich ein kleiner Regen von Asche auf ihre subtil ausgeprägte Brust und den Boden ergoss, „Ich habe es einfach vergessen.“ Sie schüttelte entschuldigend den Kopf. „Ich denke nur noch an den Zug, den ich erwischen muss!“

„Nun ja.“ Der Mann, an dessen beigefarbenem Hemd ein Schild mit der Aufschrift Dr. Kern befestigt war, schien etwas besänftigt und traute sich einen ganzen Schritt ins Zimmer hinein.

„Es war auch nicht so wichtig. Nur eine Art … Abschiedsgespräch … um Sie zu verabschieden und nochmal, na, Sie wissen schon … eine Art Rückblick und vielleicht auch Ausblick … wir finden, das gehört dazu, macht eine runde Sache daraus, es ist wichtig, die Dinge auch ordentlich abzuschließen, dadurch werden die Dinge nun mal erst zu echten … nun, zu echten …“

„Zu echten Dingen?“, kam ihm Ernestine zu Hilfe, und die zarteste Andeutung eines Lächelns zupfte an ihren Mundwinkeln. (Mehr Heiterkeit hatte ihr Gesicht bisher noch nie gezeigt und würde es auch nicht. Niemals.) Dr. Kern zeichnete sich durch Kompetenz in einigen Fachbereichen aus, nicht jedoch in ausgefeilter Rhetorik. (Was bereits bei seinem ehemaligen Deutschlehrer für Belustigung gesorgt hatte. Ein Mann, der für den Unterricht kleiner Kinder denkbar ungeeignet gewesen und bei einigen von ihnen für anhaltende Sprachstörungen und eine tiefe Abneigung gegenüber der deutschen Sprache verantwortlich war.)

„Äh, ja.“ Dr. Kern schien kaum irritiert, „so ist es. Aber nun, wir können es auch hier und kurz machen …“

„Ja, Dr. Kern, machen wir es hier und kurz.“ Ernestine blieb unverändert ernst, wo die meisten ein Kichern nicht mehr unterdrückt hätten und hustete nur erneut, wobei dem Arzt schließlich bewusst wurde, dass sie rauchte.

„Aber Frau Nordmoor, das kann ich jetzt doch nicht unkommentiert lassen“, entrüstete er sich, „noch sind Sie den Regeln dieses Hauses … die besagen, es ist verboten, in den Zimmern zu rauchen … noch sind Sie … haben Sie diese Regeln auch zu befolgen! Das gilt für die ganze Gemeinschaft hier, für die Patienten … ebenso wie die Therapeuten, also für Sie, und auch für … mich!“

„Aber Sie rauchen doch gar nicht, Dr. Kern“, erinnerte ihn Ernestine leise, während sie die Kippe artig im Kerzenständer ausdrückte.

„Nun, sicher, aber, wenn ich rauchen würde, dann würde ich … dann würde ich es dennoch nicht tun …“

Eine Aussage von beinahe philosophischem Ausmaße.

„Sie haben gewiss Recht“, lenkte sie ein, wenn auch vermutlich vor allem, um weiteren Ausführungen seinerseits zu entgehen. „Es tut mir leid, ich bin einfach schon ganz woanders, wissen Sie, es ist so … es macht mich sehr nervös, nach Hause zurückzukehren, es macht mir beinahe Angst.“ Denn inzwischen wusste sie sehr genau, was Psychiater wann zu hören wünschten.

„Sicher, sicher“, nickte Dr. Kern dann auch verständnisvoll, „deswegen hatten Sie noch diesen letzten Termin, um Sie darin zu bestärken, dass Sie es schaffen werden, dass Sie wirklich bereit sind, Ihren Alltag mit Bravour zu, ja, zu meistern. Daran dürfen Sie nicht zweifeln …“

Allerdings klang er selbst so, als hätte er daran seine Zweifel, auch wenn er versuchte, aufmunternd zu klingen. Schließlich hatte sie ihn diese oder wenigstens sehr ähnliche Worte bereits das letzte Mal sagen hören; damals mit eindeutig mehr Überzeugung.

„Tja“, sie zuckte mit den Achseln, „das wird sich herausstellen, nicht wahr? Ansonsten komme ich eben wieder.“

Dr. Kern lächelte verkrampft, als wäre ihm bei dieser Vorstellung nicht allzu wohl – vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein.

„Ja, sicher, sicher … ha, … schön, dass Sie darüber scherzen können.“ Er öffnete die graue Mappe und überflog, wohl eher aus Verlegenheit, die erste Seite.


Patientenakte

Name: Ernestine Nordmoor

Aufenthaltsbeginn: 15.09.11

Aufenthaltsende: 13.12.11

Diagnose: wahnhafte Schizophrenie, Zwangshandlungen, Depressionen,

Todessehnsucht ohne akute Selbstmordgefährdung

(…) 28 Jahre alt, weiblich, konfessionslos (…) hat sich selbst eingeliefert (…)

(…) zeichnet sich durch ein ruhiges, höfliches Wesen aus und ist fähig, sich bis zu einem gewissen Grad produktiv an Therapiegesprächen zu beteiligen. (…) allerdings ist sie dem aktuellen Zeitgeschehen entfremdet, benutzt weder das Internet, noch liest sie Zeitung oder verfolgt im Fernsehen die Nachrichten. So sind ihr die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen völlig fremd, was sie in gewisser Weise komplett von ihrer Umgebung isoliert (…)

(…) auffällig sind unter anderem die krankhaften Fixierungen der Patientin auf die verschiedensten Elemente, die den Tod betreffen, wie zum Beispiel die Farben Schwarz und Weiß. Konnten in anderen Bereichen durchaus Fortschritte erzielt werden, so war es den behandelnden Therapeuten nicht möglich, Ernestine Nordmoor dazu zu bewegen, Kleidung in anderen Farben zu tragen. Es scheint, als identifiziere sie sich über die Farben ihrer Kleidung und leide unter der Angst, sich aufzulösen, sobald sich diese änderten. Als Hobbys gibt sie das Lesen von Grabinschriften und Todesanzeigen an, ebenso wie „Regen“. Darauf angesprochen, dass „Regen“ wohl kaum als Hobby bezeichnet werden könne, sondern eine Naturerscheinung sei, antwortete sie, dass viele Leute unter Hobby „Meerschweinchen“ nennen würden, welche ebenfalls eindeutig Naturerscheinungen seien. Danach wollte sie im Gespräch nicht weiter kooperieren, was eine typische Reaktion auf ein Infragestellen ihres Weltbilds darstellt (…)

(…) wobei bei all diesen Neurosen besonders erwähnenswert die Einbildung tödlicher Krankheiten ist: Die Patientin glaubt wechselweise an allen möglichen Krankheiten zu leiden, von Krebs über Tuberkulose bis hin zu völlig unrealistischen Möglichkeiten wie etwa der Pest (…)

(…) die Unfähigkeit zu lachen oder auch nur zu lächeln, scheint eine neurologische Störung zu sein, da es auch durch gezieltes Evozieren bestimmter Hirnareale nicht möglich ist, entsprechende Reaktionen hervorzurufen (…)

(…) so versichert sie, inzwischen weder Stimmen zu hören, noch diese unheimlichen Erscheinungen wahrzunehmen. Insofern dürfte die über vier Wochen konstante Dosis von tägl. 20mg Haloperidol erfolgreich sein (…)

(…) Totenköpfe in allen Formen und Materialien. Die Patientin findet sie sympathisch, da diese mit einem „gelassenen Lächeln die Sterblichkeit aller Dinge verkörperten“ (…)

(…) distanziert sich trotz aller äußerlichen Gemeinsamkeiten ausdrücklich von der Gothic-Szene, da „diese Leute keine Ahnung hätten, worauf sie sich einlassen“ (…)

(…) lässt sich nicht von einer Heilung sprechen, jedoch von einer eindeutigen Besserung des Zustandes, so dass nun die stationäre Behandlung als abgeschlossen angesehen werden darf, wenn auch damit gerechnet werden muss, dass weitere Klinikaufenthalte auch in Zukunft nötig sein werden (…)

Dr. Kern blätterte um. „Nun, ... ich habe jedenfalls hier Ihre Entlassungspapiere bei mir, Sie müssen nur noch unterschreiben, das kennen Sie ja schon, haha, keine große Sache … der Bericht ist natürlich auch dabei, den geben Sie dann bitte ihrem weiterbehandelnden … Aber Frau Nordmoor, was machen Sie denn da!“

Ernestine hatte sich, wirklich unabsichtlich, weil sehr gedankenverloren, die nächste Zigarette angesteckt und zuckte bei dem jähen Aufschrei des ansonsten beruhigend brummenden Dr. Kern dermaßen zusammen, dass ihr die eben entzündete Tabakstange entfiel und in den Falten ihres weiten Hemdes verschwand, wo sie augenblicklich unter Gestank und großer Hitze ein Loch hineinbrannte.

„Oh, ihr gehörnten, unseligen Dämonen!“ Geistesgegenwärtig zog sie sich das Kleidungsstück über den Kopf, bevor sich der Brand bis auf ihre Haut ausbreitete, und stand im nächsten Moment von wirrem Haar bedeckt, ansonsten aber unterwäschelos und demnach splitternackt, vom hellen Sonnenstrahl wie in Flutlicht getaucht, mitten im Zimmer.

Obwohl dies für sie mit einer guten Portion mehr Blamage verbunden war als für ihr Gegenüber, war es Dr. Kern, der die Mappe mit den Unterlagen auf den Boden und die Tür mit ungewohntem Schwung hinter sich ins Schloss fallenließ und floh.

„Sie hat es getan! Schon wieder!“, schnauzte er, ebenso ungewohnt aufgebracht einen Kollegen an, der zufällig den Flur entlangkam. „Sie hat sich schon wieder vor mir ausgezogen! Schon wieder! Das nächste Mal … also das nächste Mal mache ich das nicht mehr mit, verstehen Sie, das nächste Mal … übernehmen Sie das, jawohl Sie oder dieser … dieser Dr. Brander. Der kriegt immer die ganz leichten Fälle! Dieser … das ist ja wohl kein Zufall, ist das …“

Ernestine lauschte dem sich entfernenden Gezeter und seufzte. Wie so oft. Das Leben allgemein bot ungeheuer viele Gelegenheiten für Seufzer. Sie würde darauf wetten, dass Dr. Kern ihrem Bericht diesmal einen Abschnitt über ihren Hang zum Exhibitionismus beigefügt hatte. Und sie, die sogar vor einer Ärztin darauf bestand, ihre Unterwäsche komplett anzubehalten, sie, die öffentlich auch am Strand lieber noch ein T-Shirt als einen Bikini trug, kaum aus Schamhaftigkeit, sondern, um möglichst viel Stoff zwischen sich und den Rest der Menschheit zu bringen, konnte seinen Vorwurf nicht einmal entkräften. (Ein Beispiel aus der Theorie. Ernestine hatte noch nie den Strand aufgesucht, weder am Meer noch am Baggersee noch im Schwimmbad. Aber falls sie jemals baden gehen würde, würde sie das in einem schwarzen Ganzkörper-Neoprenanzug tun.)

Es hatte bereits in ihrer ersten Sitzung angefangen. In Eile, weil, wie so oft, etwas zu spät, hatte sie im selben Flur, in dem Dr. Kerns Zimmer lag, noch rasch die Toilette aufgesucht, um anschließend bei ihm zu klopfen. Sie kannten sich ja bereits von ihrem letzten Aufenthalt, das Händeschütteln war freundlich, sein Hinweis, er würde sich eben noch schnell ihre Fragebögen ansehen, auch. Und ihre Idee, solange die großrahmigen Fotografien an der Wand zu betrachten, war eigentlich harmlos.

Allerdings war ihr eines entgangen: Der leichte, lange Rock, den sie trug, hatte sich hinten in ihrem adrett gerüschten Slip verfangen, während dieser samt Rock dermaßen eingedreht war, dass sie mit sozusagen blankem Hintern ihrem Therapeuten den Rücken zudrehte. Im Gegensatz zu ihr entging ihm das jedoch nicht.

Die Situation war ihm peinlicher gewesen als ihr; seine glatten Bäckchen hatten sich niedlich kirschrot eingefärbt und seine Stirn nass geglänzt. Ernestine empfand es als unangenehm, der Mittelpunkt von so viel Unbehagen zu sein, aber als nicht weiter bemerkenswert; es gab Schlimmeres in ihrem Leben als einen nackten Po. Noch hatte Dr. Kern nicht daran gezweifelt, dass es sich dabei um ein Versehen handelte. Noch nicht.

Beim zweiten Vorfall dann musste der Verdacht erstmals bei ihm erwacht sein, ihr Verhalten könne absichtlicher und pathologischer Natur sein. Dabei handelte es sich, im Gegensatz zum dritten Vorfall, nur um ein harmloses Versehen: Ein überheiztes Therapiezimmer. Ein viel zu dicker Wollpullover. Ein schnelles Über-den-Kopf-Ziehen desselben. Ein im Pullover steckengebliebenes T-Shirt – wem war so etwas noch nie passiert? – und ein Dr. Kern, der fast von seinem Stuhl gefallen war, als Ernestine plötzlich im BH vor ihm saß. Dabei handelte es sich um einen äußerst soliden Baumwoll-BH, der absolut blickdicht, abweisend schwarz, und anständig bedeckend war (und mit einem Totenkopf verziert, der den Betrachter ihrer Brust abschreckend aus finsteren Augenhöhlen anstarrte, was ja wirklich nicht als erotische Einladung gelten konnte). Dr. Kern sah das anders. Ihm war so etwas, wie er ihr auf ihr Nachfragen hin versicherte, anscheinend als einzigem Menschen auch noch nie passiert.

Am dritten Vorfall allerdings trug er die alleinige Schuld, nach Ernestines Meinung jedenfalls. Und sie verzieh ihm niemals völlig, aus einer solchen Banalität ein derartiges Drama gemacht zu haben. Ja, sie hatte nur in Unterwäsche auf ihrem Bett gelegen und Musik gehört, na und? Wer tat das nicht?

Es stellte wohl kein unverzeihliches Verbrechen dar, dabei gleichzeitig vergessen zu haben, dass Dr. Kern ihr an diesem Abend die Ergebnisse einer Zwischenuntersuchung vorbeibringen wollte. Wenn einer von ihnen sich inkorrekt verhalten hatte, dann er, indem er, nachdem sie auf sein Klopfen nicht reagiert hatte, weil die laute Musik jedes andere Geräusch verschluckte, einfach hereingekommen war.

Er bestand darauf, dass ihm die unverschlossene Türe signalisiert hätte, ein Eintreten wäre erlaubt und dass er, würde er halbnackt in seinem Bett liegen, die Tür abgeschlossen hätte.

Eventuell verschärfte Ernestine die Situation noch, indem sie, seiner so plötzlich im Türrahmen ansichtig werdend, ihn in bester Absicht krampfhaft fröhlich begrüßte: „Oh, guten Abend, Dr. Kern. Kommen Sie doch herein!“ Jeder Mensch, und doch wirklich absolut jeder Psychologe, würde verstehen, dass es sich hierbei um einen ungeschickten Versuch handelte, die Normalität zu wahren.

Und gerade Dr. Kern war es doch gewesen, der ihr gesellschaftlich nicht kompatible Verhaltensweisen diagnostiziert hatte, welche bei ihren Mitmenschen zu Missverständnissen führten. Warum schätzte er dann als Experte diese Situation nicht ebenfalls als Missverständnis ein?

Ernestine gestand ihm allerdings zu, dass die Zeitspanne, in der sich all diese Ereignisse abgespielt hatten (eine einzige Woche), für drei derartige Zufälle knapp bemessen war und zu seiner überstürzten Fehldiagnostik beigetragen haben mochte. Danach jedenfalls wurde eine Sondersitzung einberufen, während der eine unbeteiligte Therapeutin mit anwesend war, für die Ernestine eine echte Antipathie hegte, unter anderem, weil ihr die Auswahl des passenden Lippenstifts zur Garderobe wichtiger zu sein schien, als sich, beispielsweise, die Namen ihrer Patienten zu merken.

In dieser Sitzung gestand Ernestine – mit einem Seufzer – dass ihre ständigen Entblößungen möglicherweise wirklich ihrem eigenen, wenn auch unbewussten Verlangen entsprangen, genau das zu tun. Sie gab es zu, um ihre Ruhe zu haben und nach einer längeren Diskussion, die unfruchtbar blieb. („Aber Dr. Kern“, hatte sie zum Beispiel argumentiert, „wenn ich so heiß darauf bin, mich auszuziehen, warum, zum Teufel, sollte ich das ausgerechnet vor Ihnen tun wollen?“ Daraufhin hatte die Therapeutin, die sich ansonsten darauf beschränkte, beobachtend dabei zu sein, immerhin zustimmend und ein bisschen gemein gelacht. Dr. Kern hatte sich jedoch umso entschlossener auf seine Theorie versteift.)

Ernestine im wärmenden Sonnenstrahl kratzte sich resigniert am Bauch, als sie noch einige Sekunden nackt verharrte, um sich zu sammeln. Dr. Kern war ein nettes, niedliches Dickerchen, aber für seine Arbeit entschieden zu jung, zu naiv und mit einem riesigen Defizit an Selbstvertrauen ausgestattet. Dafür hatte er sie, abgesehen von der Exhibitionisten-Komplikation, ihre acht Wochen auch relativ unbehelligt absitzen lassen. Wofür sie ihm dankbar war. Denn sie war nicht hierhergekommen, um sich heilen zu lassen. Weil sie, die viel klarer im Kopf war, als es ihre Patientenakte vermuten ließ, genau wusste, dass es für sie keinerlei Heilung gab. Außerdem gefiel es ihr zum Beispiel, stets schwarz und weiß gekleidet zu sein und sie sah keinerlei vernünftigen Anlass, das zu ändern.

„Ich bin achtundzwanzig Jahre alt“, sagte sie laut und hustete. „Das ist nicht viel. Wie soll ich noch mal achtundzwanzig Jahre durchhalten? Und dann noch ein drittes Mal achtundzwanzig, wenn ich Pech habe?“

Sie wartete im neutralen Schweigen des unpersönlichen Klinikraums auf eine Antwort, die sie in den vergangenen Wochen hier nicht erhalten hatte, und die auch jetzt nicht kam. Natürlich nicht.