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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
Prolog - Wednesday Whild
Supernova
Vom Regen in die Traufe
Außer Gefecht gesetzt
Magical Mystery Tour
Leitartikel, Tag für Tag
Jagdsaison
Erstes Zwischenspiel
Party Girl
Zum Überleben verdammt
Mord, serienweise
Spion gegen Spion
Zweites Zwischenspiel
Haltet die Aufmacherseite frei
Luxusklasse
Vorbereitung auf Schimären und Spürhunde
Showtime
Eine Bombe geht hoch
Komm, süßer Tod
Drittes Zwischenspiel
Possenspiele
Zu viele Kinder
Sicherungen
Boten
Unwiderruflich
Epilog - An der Heimatfront
Danksagung
Copyright

Danksagung

Mein Dank gilt Emmett O’Brien, Caitlin Blasdell, Andrew Wilson, Simon Bisson, Cory Doctorow, Ken McLeod und James Nicoll. Besonders möchte ich mich bedanken bei Emmett, dass er weit mehr getan hat, als man von jemandem, der das Manuskript liest, erwarten kann, ferner bei meiner Agentin Caitlin, dass sie die Fragen gestellt hat, die gestellt werden mussten, und bei Geoff Miller für ein inspirierendes Zitat.

DER AUTOR

 

Charles Stross, geboren 1964 im englischen Leeds, studierte Pharmakologie und Computerwissenschaften und arbeitete in vielen unterschiedlichen Berufen, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. »Singularität«, sein erster Roman, wurde auf Anhieb ein großer Erfolg.

 

Weitere Informationen zum Autor unter:

 

www.antipope.org/charlie/index.html

Epilog

An der Heimatfront

ZU HAUSE. ALLMÄHLICH WURDE DAS schon zu einem fremden Ort, so wenig vertraut wie irgendein Hotelzimmer auf einem fernen Planeten. Rachel ging in die Diele, ließ ihre Schultertasche fallen und blinzelte müde: Nach der Bordzeit der Gloriana war es drei Uhr früh, auch wenn die Genfer Uhren zwei Uhr nachmittags anzeigten. Wenn man von einer Hundert-Kilosekunden-Uhr, wie die Diplomatie sie verwendete, auf eine Zeitzone der Erde umschaltete, kumulierten die Effekte. Der Jetlag würde ihr bestimmt schwer zu schaffen machen.

Martin, der hinter ihr stehen geblieben war, gähnte herzhaft. »Wie sieht’s aus?«, fragte er.

»Ist alles noch am Platz.« Müde strich sie mit dem Finger über das Seitenschränkchen. Irgendetwas summte im angrenzenden Raum, vielleicht eine Abzugshaube für Staub, die einen neuen Filter benötigte, oder ein Müllroboter mit kaputtem Kniegelenk. »Wenigstens ist die Wohnung nicht abgebrannt, während wir fort waren.« Widerwillig blickte sie auf die Nachrichtenwand, die mit rotem Blinken anzeigte, dass mehrere Mahnungen wegen nicht bezahlter Rechnungen eingegangen waren. »Wir müssen uns wirklich mal einen geeigneten Hausverwalter besorgen, einen, der Verständnis für kurzfristig geplante dreimonatige Reisen hat. Als ich das letzte Mal so lange fort war, haben die Leute die Polizei vorbeigeschickt, um die Tür aufzubrechen. Dachten, ich wäre vielleicht gestorben oder so was.«

»Du bist nicht tot.« Martin gähnte erneut und ließ die Eingangstür zuschwingen. »Genauso wenig wie ich. Ich fühl mich nur so …«

Die dreimonatige Abwesenheit von zu Hause hatte zu einem Berg von Dingen geführt, die erledigt werden mussten, aber Rachel konnte und wollte sich jetzt nicht damit auseinander setzen. »Hör mal, ich dusche und gehe danach ins Bett«, sagte sie. »Wenn du aufbleiben und dir was zu essen bestellen möchtest, kannst du das ruhig tun. Oder nimm dir die Rechnungen vor. Aber das kann auch noch bis morgen warten, oder?«

»Da hast du Recht.« Martin zuckte die Achseln und lehnte den großen Koffer gegen die Wand, neben eine unglaublich hässliche Holzskulptur, die den Propheten Yusuf Smith darstellte. Rachel hatte sie vor ein paar Jahren irgendwo in Marokko in einer Kasbah erworben. »Ich hatte eigentlich vor, Wednesday eine Nachricht zu schicken und mich zu erkundigen, wie es ihr und Frank geht, aber … erst mal ins Bett.«

»Tja.« Rachel stolperte die Stufen zum Zwischengeschoss hinauf und entledigte sich dabei ihrer Sandalen und dann der Kleider. Dankbar bemerkte sie, dass die Hausautomaten die Bettwäsche gewechselt und die Überdecke gereinigt hatten. »Gott sei Dank, endlich zu Hause und in Sicherheit.« Nach Wochen der Anspannung und den beängstigenden Tagen, in denen sie den Übermenschen ausgeliefert gewesen waren, schien es fast zu schön, um wahr zu sein.

 

 

ALS SIE LANGSAM WIEDER zu sich kam, war sie sich vage stechender Kopfschmerzen und großer Übelkeit bewusst. Außerdem bemerkte sie einen Muskelkater in den Beinen, ein zerwühltes Bett und ein heftiges Gefühl von Erschöpfung, das ihren ganzen Körper einhüllte und durchdrang, als hätte man sie unter Drogen gesetzt. Irgendwann werden sie ein Medikament gegen Jetlag entwickeln, das wirklich hilft, dachte sie benommen, doch gleich darauf drängte sich ein anderer Gedanke dazwischen. Wo ist Martin?

»Autsch!«, stöhnte sie und schlug die Augen auf.

Martin setzte sich im Bett auf und beobachtete sie besorgt. »Bist du wach? Ich bin die Mails durchgegangen, wir haben ein Problem.«

»So ein Mist!« Rachel wurde sofort hellwach. Zwar fühlte sie sich erschöpft, hatte aber die quälende Gewissheit, dass sie irgendetwas vermasselt hatte. »Um was geht es?«

»Da steht irgendetwas von einer Sitzung, zu der du heute noch erscheinen sollst, in etwa einer Stunde. Ich hätte die Nachricht fast übersehen, sie ist an den Haushalt gerichtet, und die Mail war nicht als dringlich markiert. Was könnte das sein?«

»Mist! Es ist eine vorbereitete Falle. Wer ist der Absender?«

Martin blickte zum Bildschirm an der Garderobentür hinüber. »Kann das was mit dem Finanzprüfungsausschuss der Abteilung Unterhaltung und Kultur zu tun haben?«, fragte er leicht verwirrt.

»Doppelter Mist!« Als sie sich aufzusetzen versuchte, hatte sie ein grässliches Gefühl von Déjà-vu. »Wie spät ist es?«

»Zwei Uhr nachmittags.« Martin gähnte. »Ich schick’s dir am besten.«

Hastig las Rachel die Nachricht durch. »Anhörung vor der Abteilung«, bemerkte sie knapp. »Ich muss ganz schnell in die Zentrale.«

Martin sah sie verständnislos an. »Ich dachte, du hättest mit diesem Unsinn aufgeräumt.«

»Ich? Ich bin fort gewesen. Dachte, du hättest es vielleicht bemerkt.« Sie runzelte die Stirn. »Hab dem Fuchs die Verantwortung fürs Hühnerhaus überlassen, wie’s aussieht. Frage mich, ob meine Quellen irgendwas über sie herausgefunden haben …«

Müde und mit trübem Blick beauftragte sie ein paar Suchmaschinen, ihre Mails zu durchforsten – sowohl unter den öffentlich zugänglichen E-Mail-Adressen als auch unter einigen privaten, die sie bewusst geheim hielt.

»Anscheinend will sich dieses Miststück in der Unterhaltungsabteilung wichtig tun. Da ich es versäumt habe, an irgendeiner Anhörung des Untersuchungsausschusses vor sechs Wochen teilzunehmen, hat sie’s geschafft, eine Abmahnung wegen Nichterscheinens gegen mich zu bewirken. Sie hat Wind davon bekommen, dass ich wieder in der Stadt bin, und hat jetzt vor, Anklage wegen strafbarer Handlungen gegen mich zu erheben – wegen Unterschlagung oder Veruntreuung von Geldmitteln oder ähnlichen Konstrukten. In diesem Moment tagt der Untersuchungsausschuss bereits, unter ihrem Vorsitz. Wenn ich dort nicht rechtzeitig hinkomme …«

»Ich rufe dir ein Lufttaxi.« Martin war bereits aus dem Bett. »Hast du irgendeine Ahnung, was sie gegen dich in der Hand hat?«

»Ich weiß es nicht …« Rachel erstarrte. Die Suchmaschinen hatten ihre Arbeit beendet und etwas Neues, Schockierendes an den Tag gebracht und markiert. »Ups! Das Hauptquartier ist sauer.«

»Hauptquartier?«

»Des Geheimdienstes, nicht der Abteilung Unterhaltung und Kultur. Die wollen nicht, dass die Frau da herumstöbert.« Langsam zog ein Lächeln über Rachels Gesicht. »Legen Sie ihr das Handwerk, schreiben sie. Nur sagen sie nicht, wie.«

»Pass auf dich auf«, sagte Martin leicht besorgt. »Du willst doch wohl nicht überreagieren.«

»Überreagieren?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das Miststück hat versucht, mir eine Schlinge um den Hals zu legen, hat versucht, eine UXB-Operation zu behindern, und will jetzt Anklage wegen strafbarer Handlungen gegen mich erheben – und da soll ich überreagieren?« Sie blieb einen Augenblick vor dem Waffentresor hinten im Schrank stehen. »Nein, das wäre wirklich eine Überreaktion. Ich will ja nicht, dass der Teppich blutig wird.«

Er starrte sie an. »Hab ich gerade eben richtig gehört? Du willst sie tatsächlich aus dem Verkehr ziehen?«

»Allerdings. Obwohl ich nicht glaube, dass ich dazu Gewalt anwenden muss. Das wäre allzu grob. Und den Grobheiten habe ich, oh, vor etwa dreißig Sekunden abgeschworen.« Rachel schälte ein subkutanes Pflaster aus der Verpackung und klebte es in die linke Armbeuge. Ihr Blick fiel auf die offene Kiste an der Schlafzimmertür, voller Dinge, die sie sich im Lauf der Reise auf der Romanow besorgt hatte. Nach und nach überzog sich ihr Gesicht mit einem Lächeln. »Ich muss ein paar Anrufe machen. Diese Sache müsste eigentlich recht lustig werden …«

 

 

DAS HAUPTQUARTIER DER VEREINTEN NATIONEN hatte sich während Rachels Abwesenheit nicht merklich verändert: Es war immer noch derselbe neo-klassizistische Wolkenkratzer aus Glas und Stahl, der hoch über den steinernen Gassen und malerischen Kuppeln der Genfer Altstadt aufragte. Und auf dem Vorplatz standen immer noch die großen Statuen der Gründerväter, Otto von Bismarck und Tim Berners-Lee. Während Rachel in die Lobby ging, sah sie sich angespannt um. Neben dem üppig verzierten Empfangspodest wartete eine Polizistin, die sich mit der Empfangsdame (kein Roboter, sondern eine aus Fleisch und Blut) unterhielt. Rachel nickte in ihre Richtung und begab sich gleich darauf beruhigt zu dem uralten Paternoster. Was George wohl treiben mag?, fragte sie sich, als die Türen zuglitten. Befasst sich bestimmt mit den Folgen der Aufräumarbeiten auf Alt-Neufundland. Kann einem schon einiges Kopfzerbrechen machen.

Das Dossier über Madame Vorsitzende, das in ihrer Mailbox auf sie gewartet hatte, war eine Antwort auf ihre Anfrage in geheimen Kanälen; während ihrer Abwesenheit hatten bestimmte Leute ihr einen Gefallen getan. Es war recht interessant, allerdings auch beunruhigend. Je mehr sie über die Implikationen nachdachte, desto alarmierender fand sie das zusammengestellte Material. Madame Vorsitzende, der aufstrebende Stern, war aus dem Nichts gekommen und überaus schnell befördert worden. Ihre Rivalen hatten Aussagen widerrufen müssen, waren unehrenhaft »in gegenseitigem Einvernehmen« entlassen worden oder hatten irgendwelche Katastrophen auf sich gezogen. Für die Vereinten Nationen, in denen es normalerweise zivilisiert und locker zuging, war das alles ein bisschen zu martialisch. Und wenn eine solche Schreibtischtäterin derart offensichtlich auf Rachels Kopf aus war, warf das jede Menge hässlicher Fragen auf. Besonders, wenn man sich auch noch zu fragen begann, woher sie das Geld hatte, dieses große Haus am Seeufer zu kaufen …

Das Dossier war nicht das Einzige, was Rachels Suche in der Mailbox zu Tage gefördert hatte. Die formelle Benachrichtigung über ein Disziplinarverfahren, an diesem Morgen eingegangen, verbunden mit dem Vermerk, dass für den frühen Nachmittag eine Anhörung angesetzt sei, zählte nicht gerade zu den Dingen, die sie zwischen irgendwelchen Rechnungen vermutet hätte. Schon gar nicht, wenn man bedachte, dass man sie ja auch auf direktem Wege, telefonisch, hätte kontaktieren können, um die Angelegenheit als dringlich hervorzuheben. Vor dem Sitzungszimmer blieb sie kurz stehen, setzte bewusst ein Lächeln auf und öffnete die Tür.

»… hat keine Anzeichen dafür erkennen lassen, dass sie sich an die einstweiligen Verfügungen der Verwaltung halten will, trotz der Verweise, die sie vor vier Monaten, drei Monaten und zuletzt vor zwei Tagen erhalten hat …« Die Rednerin hielt inne. »Ja?«

Rachel lächelte. »Hallo, Gilda.« Madame Vorsitzende setzte sich aufrecht hin und starrte sie an. Rechts und links von ihr saßen zwei ihrer Gefolgsleute, außerdem ein Protokollant und irgendein graugesichtiger Beamter aus der Buchhaltung, den man hinzugezogen hatte, damit er bezeugte, dass hier alles vorschriftsmäßig gehandhabt wurde. »Tut mir Leid, dass ich spät dran bin. Aber wenn es Ihnen wirklich um meine Anwesenheit ging, hätten Sie besser daran getan, mich direkt zu kontaktieren, anstatt die Vorladung als Wäscherechnung zu tarnen.«

»Hallo, Rachel.« Madame Vorsitzende lächelte kühl. »Wir haben gerade Ihre gleichgültige Haltung gegenüber den Gepflogenheiten dieser Abteilung erörtert. Wie schön, dass Sie uns ein weiteres Beispiel dafür liefern.«

»Ach ja?« Rachel schloss sorgfältig die Tür und wandte sich gleich darauf zu den Anwesenden um.

»Sie sind Mansour, wie?«, begann der Buchhalter. »Wir hören schon seit Wochen von Ihnen.« Er klopfte Unheil verkündend auf sein Notebook. »Nichts Gutes. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Ich? Oh, nicht viel.« Rachel grinste. »Aber sie wird eine Menge zu erklären haben.«

»Das glaube ich nicht.« Madame Vorsitzende presste die Lippen vor Ärger zusammen. »Wir haben gerade Ihre Suspendierung erörtert, abhängig davon, was die vollständige Untersuchung der Unregelmäßigkeiten in Ihren Abrechnungen ergibt …«

Rachel öffnete die Hand. »Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung können in beide Richtungen weisen«, erwiderte sie locker.

»Ich …« Der Vorsitzenden verschlug es die Sprache. »Soll das ein Scherz sein?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Keineswegs«, erklärte sie munter und sah Madames Speichellecker an. »Sie möchten da bestimmt nicht hineingezogen werden. Es wird einiger Dreck aufgewirbelt werden.«

»Ich bin nicht sicher, dass ich Sie verstehe.« Der Mann mit dem grauen Gesicht blickte von ihr zur Vorsitzenden. »Wovon reden Sie überhaupt?«

Während Rachel ihm mit dem Finger kurz zu warten bedeutete, zog sie ihr Telefon zu Rate. »Ah, Dr. Pullman. Tut mir Leid. Ich gehe davon aus, dass sie Ihnen nicht erzählt hat, für wen ich arbeite?«

»Für wen …« Pullman sah einen Augenblick verwirrt aus. »Was meinen Sie damit?«

»Ich gehöre zum Geheimdienst. Werde in der Unterhaltungsabteilung nur wegen der Tarnung als Diplomatin und einer geringen Aufwandsentschädigung geführt. Was die Frage aufwirft, warum Gilda es für ihre Aufgabe hält, in meiner Arbeit herumzuschnüffeln, als wäre sie mein Dienstherr.«

»Aha.« Pullman nickte nachdenklich. Versucht, sich nichts anmerken zu lassen, wie beim Poker, dachte Rachel. Gleich darauf verschränkte er abwehrend die Arme. »Das ist ja interessant.«

Gildas Gefolgsleute, denen offenbar nicht wohl bei der Sache war, rutschten unruhig hin und her. »Hören Sie, ich glaube wirklich nicht, dass diese Dinge Ihre Unpünktlichkeit irgendwie entschuldigen«, brachte einer von ihnen schließlich hervor.

»O doch«, erwiderte Rachel glatt und deutete auf Madame Vorsitzende. »Sie sind nämlich gar nicht befugt, in Budgetvereinbarungen herumzustochern, die allein im Ermessen des Geheimdienstes stehen. Ich fürchte, ich muss Sie festnehmen lassen.«

»Was?« Madame Vorsitzende wirkte angespannt. »Das können Sie nicht tun! Sie gehören ja gar nicht zu irgendeinem bevollmächtigten Vollzugsdienst!«

»O doch.« Rachel lächelte noch breiter, streckte eine Hand hoch und sah auf ihr Telefon. »Übrigens, wissen Sie was? Sie hätten nicht so offensichtlich versuchen sollen, in bestimmten Dingen herumzustochern. Das war nicht besonders schlau von Ihnen, Gilda. Es hat nämlich dazu geführt, dass gewisse Leute Ihre hehren Absichten in Zweifel gezogen haben. Sie sind ja nicht die Einzige, die fehlende Beträge auf einem Konto ausmachen kann. Und ich bin sicher, es wird Ihre Kollegen sehr interessieren zu erfahren, woher Sie das Geld für dieses große Landhaus außerhalb Sewastopols genommen haben. Ist schon komisch, wo die Spur hinführt. Nicht, dass wir irgendwie erwarten würden, dass Sie nur für die Unterhaltungsabteilung arbeiten, Gilda – diese Einschränkung macht Ihr Anstellungsvertrag ja auch gar nicht. Aber wir haben wirklich nicht damit gerechnet, dass Sie Reservefonds für dringliche Einsätze, die dem Geheimdienst zustehen, in Ihre eigene Tasche leiten.«

»Was soll dieser Unsinn?« Eindeutig aus der Fassung gebracht, rappelte sich Gilda hoch. »Sie versuchen doch nur, von Ihren eigenen Schandtaten abzulenken! Offensichtlich wollen Sie mich erpressen …«

Als Rachel an einem ihrer Ringe drehte, ging die Tür hinter ihr auf, und die Polizistin, die in der Lobby am Empfang gestanden hatte, kam herein. »Das ist sie«, sagte Rachel und deutete auf Madame Vorsitzende. »Sie gehört Ihnen.«

»Das können Sie nicht tun!« Gilda zog sich zum Fenster zurück. »Dazu fehlt Ihnen jede Grundlage!«

»Keineswegs.« Die Polizistin klappte ihr Visier hoch und sah sie müde an. »Sie sind Gilda Morgenstern? Ich bin Inspektorin Rosa MacDougal. Am 4. Februar dieses Jahres befanden Sie sich in einer Besprechung mit Rachel Mansour, genau hier. Sie haben sie daran zu hindern versucht, den Raum zu verlassen, richtig? Tja, das war nicht besonders schlau, wie? Wo sie doch auf dem Weg zu einem UXB-Einsatz und all dem war. Ist es Ihnen denn gar nicht in den Sinn gekommen, dass es eine strafbare Handlung ist, eine Offizierin vom Bombenentschärfungskommando an der Ausübung ihrer Pflicht zu hindern? Oder wollen Sie die Sache etwa leugnen?«

Gefolgsmann Nummer zwei sah seine Chefin mit verhülltem Entsetzen an. »Gilda, war das wirklich …«

»Nehmen Sie die Frau fest und die Sache zu Protokoll«, sagte Rachel und schüttelte den Kopf. »Um die anderen Dinge kümmere ich mich später.« Sie sah den Rechnungsprüfer namens Pullman an. »Und Sie tun gut daran, sich nicht in diese Sache hineinziehen zu lassen.«

»Miststück!« Madame Vorsitzende, ganz raschelnde Seide und Giftspritze, ging um den Konferenztisch herum. »Ich hatte Sie am Wickel …«

»Bleiben Sie sofort stehen!«, warnte Inspektorin MacDougal.

Während Rachel zu MacDougal hinüberblickte, registrierte sie kaum, dass die wütende Vorsitzende die Hand hochstreckte und der Gefolgsmann zu ihrer Linken sich gegen diese Hand wehrte, denn ihr war gerade ein verblüffender Gedanke gekommen. Wirtschaftet in die eigene Tasche, indem sie Gelder des Geheimdienstes abzweigt; sammelt Informationen über unsere Einsätze vor Ort; besitzt ein großes Landhaus in der Nähe von Sewastopol; arbeitet in der Abteilung Unterhaltung und Kultur. Irgendetwas roch da faul – und es steckte mehr dahinter als die Veruntreuung von Geldern.

Als Madame Vorsitzende mit einem zittrigen Finger auf sie deutete, spannte sich Rachel an. »Betrug!«, schnappte Gilda. »Mit Leuten wie Ihnen kenne ich mich aus. Saugen Gelder aus dem Diplomatischen Korps heraus, um die eigenen finsteren Projekte zu finanzieren. Und dann behaupten sie, die öffentlichen Interessen zu verteidigen. Sie sind auch nur so eine Blutsaugerin und Schachfigur des Eschaton! Und ich kann beweisen …«

Oh, Scheiße, dachte Rachel, schaltete schnell durch, streckte die Hände durch die Luft, die wie Sirup war, um nach Rosa MacDougals Schulter zu greifen und sie grob von der Vorsitzenden wegzuzerren. Ihr Sichtfeld trübte sich an den Rändern, als sich ihre Implantate aktivierten. Ich weiß, wo ich diese Worte schon einmal gehört habe, und es ist noch nicht lange her …

»He!«, protestierte Inspektorin MacDougal, als sie nach hinten taumelte. Mit bestürzter Miene rappelte sich Pullman hoch, der an der gegenüberliegenden Seite des Tisches gesessen hatte, während Gilda mit wutverzerrtem Gesicht die andere Hand hochstreckte. Zwischen ihren Fingern ragte ein schillernder metallischer Gegenstand in Granatenform hervor, den sie in Armlänge von sich hielt, als sie sich auf Rachel stürzte.

Aus dem Gleichgewicht gebracht, versuchte sich Rachel wegzudrehen, aber trotz ihrer künstlich verstärkten Reflexe konnte sie ohne Hebelkraft nur wenig bewirken. Während sie zu Boden ging, tastete sie nach der Tischkante. Ihre Füße fanden keinen Halt, sodass sie hilflos zusehen musste, wie Madame Vorsitzende – Gilda, die besessene Bürokratin – die Waffe der Übermenschen auf sie schleuderte.

Der erste Schuss kam für Rachel fast so überraschend wie für ihre Gegnerin. Gilda fuhr zurück und riss die Augen voller Verwirrung auf, während in ihrem Rücken ein roter Sprühnebel explodierte. Beim nächsten Schuss schlug Rachel auf dem Boden auf, fing sich aber noch so rechtzeitig ab, dass sie sah, wie MacDougals Waffe auf Gilda zielte. Das hier ist wirklich schlimm, wurde Rachel mit tiefem innerem Entsetzen klar, als ihr Zeitgefühl zurückkehrte und sie sich schmerzhaft an den Tischbeinen stieß. Wenn sie tatsächlich hier sind …

»Du meine Güte«, sagte Pullman mit aschfahlem Gesicht, »war das wirklich nötig?«

»Allerdings«, gab MacDougal mit Nachdruck zurück und senkte ihre Waffe. »Sie da, dieser Raum wird doch videoüberwacht, stimmt’s? Ich nehme die Aufzeichnung mit. Ich will, dass sie als gesichertes Beweismaterial sofort der Staatsanwaltschaft überstellt wird.« Während sie tief Luft holte, warf sie einen Blick auf den Recorder am Lauf ihrer Waffe. »Zusammen mit dem, was das Ding hier aufgezeichnet hat.«

»Sie haben Sie umgebracht!« Gildas Gefolgsmann Nummer eins setzte sich blitzartig auf, während seine Miene wachsendes Entsetzen ausdrückte. »Jetzt kann sie nicht mehr …« Er führte den Satz nicht zu Ende.

»Ladet sie alle herauf, der ungeborene Gott wird die Seinen schon erkennen«, bemerkte Rachel grimmig, während sie sich hochstemmte. »Haben Sie das je aus ihrem Mund gehört?«

»Nein …« Gefolgsmann Nummer eins starrte Gefolgsmann Nummer zwei an, der sich nicht gerührt hatte, seitdem Gilda sich von ihrem Platz erhoben hatte. Aus seinem Mundwinkel rann ein dünner Speichelfaden. »Was ist mit ihm? Was haben Sie Alex angetan?«

»He, was geht hier vor?«, fragte Rosa. »Was ist das überhaupt für ein Ding?« Sie deutete auf das Bolzenschussgerät zur Gehirnentnahme, das halb unter den Tisch gerollt war. Rachel betrachtete es und sah danach die Inspektorin an, die sich wacker hielt, auch wenn ihre Hände zitterten und ihre ganze Körperhaltung Anspannung verriet.

»Einiges von der Scheiße, mit der ich zu tun habe, ist mir bis nach Hause gefolgt.« Sie schlang die Finger ineinander und begann hastig, die Ringe zu aktivieren, um eine Verbindung herzustellen. Mit finsterem Blick sah sie zu Rosa hinüber und danach zu den verbliebenen Ausschussmitgliedern. »Wir stecken alle mit drin. Wollen nur hoffen, dass sie ein Einzelfall war.«

»Ein Einzelfall wovon?«, fragte MacDougal.

»Am besten, Sie vergleichen ihr genetisches Profil mit den Spuren eines Mordfalls, der vor etwa sechs Monaten passiert ist. Es geht um Maureen Davis vom Diplomatischen Korps.« Rachel merkte, dass sie schwer atmete. »Überprüfen Sie auch alle Leute, die im vergangenen Jahr bei ihr zu Hause zu Besuch waren. Kollegen, Freunde, egal, wer. Menschen ihres Schlages benutzen gern Stellvertreter.«

»Und welcher Schlag von Menschen soll das sein?« Rosa sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.

»Übermenschen.« Rachel drehte an ihren Ringen. »George? Okay, ich spreche eine Nachricht drauf.« Sie wartete, bis der Anrufbeantworter aufzeichnete. »Im Mordfall Maureen Davis von der Moskauer Botschaft habe ich jetzt eine Tatverdächtige.« Sie schwieg kurz. »Sie sind hier. Eine Zelle. Um uns zu infiltrieren.« Sie runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich von der Fraktion, die sich abspalten wollte, aber ich bin mir nicht sicher.« Sie sah MacDougal an. »Können Sie herausfinden, ob sie jemals gemeinsam mit einer Frau namens Steffi Grace alias Miranda Katachurian an einer gesellschaftlichen Veranstaltung teilgenommen hat? Im letzten Jahr oder so?«

»Sie sagen, dass das hier mit einem Mordfall zu tun hat?«, fragte MacDougal, während die Tür aufging und Sicherheitsleute der Vereinten Nationen hereinkamen, die sofort ausschwärmten und Unruhe im Saal verbreiteten.

»Mit mehr als einem«, erwiderte Rachel grimmig. »Und die Sache hat noch längst kein Ende.« Was wird aus uns werden?, fragte sie sich bedrückt. Für einen Augenblick sehnte sie sich nach der scharf umrissenen Situation zurück, mit der sie konfrontiert gewesen war, als der Verrückte mit der selbst gebastelten Atombombe herumgespielt hatte. Allerdings sagte ihr etwas in ihrem Innern, dass sich dieser Fall nicht durch den Stich einer Polizeidrohne würde lösen lassen: Das hier war tatsächlich erst der Anfang.

Und irgendwo da draußen – immer noch Hunderte von Lichtjahren entfernt – breitete sich die Supernova in ihrem stillen, tödlichen Glanz immer weiter aus und steuerte auf eine Erde zu, die jetzt noch in tröstliche Dunkelheit gehüllt war.