Martin Schemm, geb. 1964, Historiker, lebt mit Frau und Tochter am Südrand der Stellinger Schweiz und arbeitet in den Bereichen Datenschutz und IT. In seiner Freizeit schreibt und veröffentlicht er Romane und Kurzgeschichten im historischen, fantastischen und alpinen Genre. 2007 hat er den Deutschen Phantastik Preis für die beste deutschsprachige Kurzgeschichte gewonnen.

Literatur mit alpinem Bezug verfasst er bereits seit vielen Jahren. Alles begann mit der unheimlichen Geschichte „Der Alleingang“ im Alpenvereinsjahrbuch BERG ’99. Es folgten die Science-Fiction-Story „Lhotse-Simulator“ in BERG 2004 und die ebenfalls futuristische Kurzgeschichte „Roter Olymp“ in BERG 2009, die vom Bergsteigen auf einem anderen Planeten erzählt. Der Bergkrimi „Karwendelgold“ ist sein erster alpiner Roman.

Die Liebe des Autors zu den Bergen stammt aus Kindheitstagen. Zahlreiche Urlaube führten ihn in verschiedene Alpenregionen. Neben Bergwanderungen ziehen ihn vor allem Klettersteige magisch an. Mit seiner Schwester Jutta Schemm, der dieses Buch gewidmet ist, hat er wunderbare Touren zwischen Dolomiten und Gardasee absolviert.

Weitere Infos zum Autor auf www.martinschemm.de

Martin Schemm

Karwendelgold

Ein tödliches Geheimnis

Bergkrimi

Bergverlag Rother

„Ein Blick auf sein helles Gold,

ein Blitz aus dem hehren Glanz

gilt mir werter

als aller Götter ewig währendes Glück!“

Richard Wagner – Götterdämmerung

PROLOG – IN DER FALLE

„Der Allmächtige steh uns bei! In der Abendstunde wird uns der Feind überfallen. An die zwanzig Unholde sollen es sein, übles Räubergesindel, wie uns ein gottesfürchtiger Köhler aus dem kleinen Rodungsdorf Media Silva (Mittenwald) gewarnt hat. Wir hingegen sind nur acht Mann, und davon sind lediglich die drei Wachsoldaten bewaffnet. Wenigstens konnten wir heute noch rasch die mitgeführten Kostbarkeiten in den nahen Bergen verstecken. Alles Weitere liegt nun in Gottes Hand.

Es ist der Tag vor St. Laurentius im Jahre des Herrn 998. Unter der Führung des Hofkaplans Rako geleitet unser kleiner Trupp im Auftrag Kaiser Ottos III. die Gebeine des seligen Papstes Benedikt V. von Hamburg nach Rom. In der Ewigen Stadt soll dem Heiligen Vater durch Verkauf der goldenen Reichtümer, die nun in Sicherheit sind, eine würdevolle letzte Ruhestätte bereitet werden. Zahlreiche Bischöfe und Klöster des Reiches haben die Mittel eigens für diesen Zweck großzügig gestiftet. Nach zwei Monaten Reise mit dem überdachten Wagen, auf dem der Sarkophag steht, haben wir nun die Isar erreicht.

Nachdem unser Geleitzug gestern Partanum (Partenkirchen) verlassen und den endlosen, düsteren Scharnitzwald betreten hatte, erfuhren wir durch jenen Köhler von dem uns drohenden Hinterhalt. Besorgt schlugen wir in den Ruinen des früheren Scharnitzklosters unser Lager auf, um uns für das Schlimmste zu wappnen. Da die Schurken es kaum wagen werden, den Sarkophag mit den päpstlichen Gebeinen zu entweihen, galt unsere Sorge vor allem dem Gold, das für die Beisetzung des ehrwürdigen Pontifex bestimmt ist. Auf Kaplan Rakos Befehl hin haben daher ein Mitbruder und ich die Kleinodien in zwei große Säcke gepackt und uns auf die Suche nach einem geeigneten Versteck gemacht.

Mit der Abenddämmerung sind wir vorhin zurückgekehrt. Nun schreibe ich mit frischer Erinnerung diese Zeilen nieder, damit der Ort, an dem die Reichtümer verborgen sind, wiedergefunden werden kann. Denn nur Gott allein weiß, ob wir den Überfall der Unholde überleben werden. Sollten mein Mitbruder und ich den Tod finden, ginge das Geheimnis mit uns ins Grab und das Gold wäre für immer verloren. Darum werde ich diese Pergamentseiten hernach hier im Mauerwerk des Petruskirchleins verstecken. Sie ist der letzte unversehrte Bau des früheren Klosters.

Es folgt die Beschreibung des Weges: Nahe Media Silva sind wir, die schweren Säcke geschultert, über stetig ansteigende Waldhänge gen Osten emporgewandert. Kein Pfad führte durch das urwüchsige Land aus Berg und Wald. Oft folgten wir kleineren Bächen, die hinab zur Isar flossen, stromaufwärts. Höher und höher stiegen wir, bis schließlich die dunklen Bäume unter uns zurückblieben. Vor uns erhob sich ein steiles Kar mit Schutt und Geröll, zu beiden Seiten von hohen Felswänden flankiert. Da wir mit unseren Kräften am Ende waren, wandten wir uns hier in südliche Richtung und suchten am Fuß der Felswände nach einer geeigneten Nische oder Höhle. Sie sollte mit bloßem Auge nicht erkennbar sein und sich mit Gesteinsbrocken zudem gut verbergen lassen. Nach einiger Zeit wurden wir endlich fündig …“

Übersetzung aus dem Lateinischen

Freitag

KAPITEL 1 – DER WUTAUSBRUCH

Als das Telefon klingelte, stand Ludwig Hüttinger oben im Bad und rasierte sich. Abrupt hielt er inne und starrte auf sein weiß eingeschäumtes Konterfei im Spiegel. Wer rief so früh am Morgen an? Na, wahrscheinlich einer der depperten Kumpels vom Max, dachte er säuerlich. Einen Moment lang horchte er, ob sich irgendetwas rührte in der Tiefe des alten Hauses, doch kein Laut war zu hören. Schon begann sich Unmut in ihm zu regen, und vor seinem inneren Auge erschien ein Bild seines Sohnes, das sich tief bei ihm eingebrannt hatte: Der 24-Jährige lümmelt im Bett herum, spielt mit seinem Smartphone und schert sich den Teufel um das, was um ihn herum vor sich geht. Unwillkürlich warf Ludwig Hüttinger den Rasierer ins Waschbecken.

„Herrschaftszeiten!“, brüllte er und trat in den oberen Flur. Mit dem Handtuch wischte er sich den Schaum aus dem hageren Gesicht und lugte wütend die schmale Holzstiege hinauf. „Max, beweg deinen faulen Hintern, das ist sicher einer deiner Spezis.“ Doch unterm Dach, wo der Sohn sein Zimmer hatte, herrschte Stille. Dafür war mit einem Mal unten ein leises Schlurfen zu hören.

„Der Max ist schon in der Früh raus“, sagte Hüttingers Mutter, die im ausgeblichenen geblümten Kittel aus der Küche kam. „Er wollte nach Garmisch.“ Sie stützte sich schief auf das untere Ende des Treppengeländers und nickte in Richtung des altmodischen Telefons an der Wand. „Soll ich?“

„Lass gut sein, Mutter, jetzt bin ich eh unten“, sagte Hüttinger auf der Treppe und verzog den Mund. Er strich sich die vom Duschen noch nassen grauen Haare zurück und schüttelte unwillig den Kopf. „Garantiert ist das für den Saukerl …“

„Sprich nicht so abfällig von deinem Bub – das ist nicht recht.“

„Jaja, nimm ihn nur wieder in Schutz“, brummte er, „du verhätschelst den eh ständig. So wird nie was aus ihm.“

„Der Max hat’s nicht einfach. Es ist ein Elend, dass der arme Bub seine Mutter verloren hat. Du maulst ihn ja nur an“, gab die Alte zurück, ehe sie von dannen schlurfte. „Die Rosa fehlt halt, sie hat die Familie noch zusammengehalten.“

Für einen Moment hielt Ludwig Hüttinger inne, als ob die plötzliche Erinnerung an seine vor sieben Jahren verstorbene Frau seinen Unmut besänftigte. Doch schließlich holte ihn das penetrante Klingeln in die Realität zurück. Er riss den Hörer vom Telefon. „Ja?“, rief er unwirsch.

„Spreche ich mit Herrn Hüttinger?“

„Ja, was gibt’s?“

„Mein Name ist Feldhoff, Dr. Karlheinz Feldhoff. Ich habe ein Antiquariat in München-Schwabing.“ Der Anrufer machte eine kurze Pause, wohl um seinen Titel und die Tatsache, dass er ein Geschäft besaß, wirken zu lassen.

„Ja und?“ Der mürrische Ton Ludwig Hüttingers ließ keinen Zweifel daran, dass derlei Gehabe auf den einfachen, ehrlichen Gemeindearbeiter keinen Eindruck machte.

„Nun, es geht um Ihre Internetauktion“, fuhr Feldhoff in eher geschäftsmäßigem Ton fort. „Sie wissen schon, die Sachen aus Familienbesitz. Tja, also ich hätte großes Interesse und …“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden! Hier sind Sie jedenfalls falsch. Das müssen andere Hüttingers sein – es gibt einige im Landkreis Garmisch. Wiederhören.“

„Nein, nicht auflegen! Bitte warten Sie“, rief Feldhoff. „Es ist definitiv Ihre Rufnummer, die hier bei der Auktion als Kontakt hinterlegt ist. Es geht um alte Pergamentseiten und ein kleines silbernes Kruzifix. Verstehen Sie?“

Ludwig Hüttinger antwortete nicht auf die Frage des Antiquars. Den Hörer am Ohr, blickte er mit versteinerter Miene auf den Dielenboden, während sich in seinem Kopf die Gedanken überschlugen. Eine Zornesader erschien auf seiner Stirn und er presste die Kiefer hart aufeinander.

„Hallo, sind Sie noch da?“ Feldhoff klang irritiert. „Sie sind doch Max Hüttinger, oder? Benutzername Maxinator_ XXL?“

„Nein, weiß Gott nicht!“, rief Ludwig Hüttinger und ballte unbewusst die Linke zur Faust. „Das kann nur mein elender Herr Sohn sein …“

„Ach so, ich verstehe“, kam es zögerlich zurück. „Ist er denn zufällig zu sprechen? Es wäre sehr wichtig.“

„Nein, der ist ganz sicher nicht zu sprechen!“ Hüttingers Stimme wurde lauter. „Der verfluchte Saukerl! Wie kann er es wagen …“

„Entschuldigen Sie“, sagte Feldhoff nach einer kurzen Pause vorsichtig, „aber es wäre mir wirklich wahnsinnig wichtig. Vielleicht könnten Sie …“

„Gar nix kann ich!“, brüllte Hüttinger in den Hörer. „Die Sache können Sie sich aus dem Kopf schlagen. Der Volldepp wird nichts einfach verkaufen, was meiner Familie schon seit vielen Generationen gehört.“

„Ich fürchte, dafür ist es bereits zu spät. Seine Auktion hat schon mehrere Gebote, das kann man nicht mehr zurückziehen.“

„Das ist mir scheißegal!“ Hüttingers Stimme überschlug sich. „Gar nix wird verkauft! Die Sachen hat mein Ururgroßvater vor hundertfünfzig Jahren gefunden, seither werden sie im Familienbesitz gehütet. Und dieser alte Brauch wird auch künftig weiterhin fortgesetzt, egal was dieser Taugenichts von Sohn da ausheckt. Noch bin ich hier das Oberhaupt der Familie!“

„Herr Hüttinger, ich kann und will mich da natürlich nicht einmischen“, erwiderte Feldhoff, „aber Sie müssen eines wissen: Es geht um viel Geld. Ich wäre bereit, eine hohe Summe zu …“

„Schluss jetzt, schlagen Sie sich’s aus dem Kopf! Es wird auf gar keinen Fall irgendetwas verkauft!“

„Aber … das geht so nicht!“, sagte Feldhoff, der bislang höflich geblieben war, drohend. „Die Auktion zu stoppen wird Ärger verursachen. Das landet am Ende womöglich vor Gericht. Es gab schon viele solche Fälle.“

„Ist mir gleich! Das muss dann halt mein Sohn regeln. Ich gebe die Sachen jedenfalls nicht aus der Hand!“ Für Hüttinger war die Angelegenheit entschieden.

„Ich werde Ihren Sohn auf dem Handy anrufen – die Nummer hat er bei der Auktion ebenfalls hinterlegt. Mit Ihnen kann man ja nicht vernünftig reden!“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, brummte Hüttinger spöttisch. „Aber wie gesagt: Die Sachen bleiben so oder so hier! Und jetzt: Wiederhören.“ Ohne Feldhoffs Reaktion abzuwarten, legte Hüttinger auf. Für einen Moment stand er kopfschüttelnd da und starrte durch den Flur in die düstere Wohnstube.

„Wer war das, Ludwig?“ Die Mutter stand in der Küchentür. Mit der Langsamkeit eines alten Menschen steckte sie eine weiße Haarsträhne zurück, die aus ihrem Dutt gerutscht war.

„Hat der Max Ärger?“, erklang plötzlich auch die brüchige Stimme des Großvaters aus der Küche, der dort tagein, tagaus am Kachelofen saß. Bis vor zwanzig Jahren war er der letzte Bauer auf dem Familienhof gewesen, ehe die Landwirtschaft am Ende nichts mehr einbrachte. Nun bestimmte die Arthrose sein Altenteil.

„Ja, der elende Lump hat einen Riesenärger!“ Wütend nahm Hüttinger seine blaue Arbeitsjacke vom Haken an der Wand und streifte sie über. Darunter standen die Sicherheitsschuhe, die er auf dem Bauhof in Garmisch-Partenkirchen zu tragen hatte. „Dem werd ich helfen! Vor nichts hat der Saukerl Respekt!“

„Was ist denn passiert?“ Besorgt beobachtete die alte Frau ihren Sohn, der in die Wohnstube ging. Sie folgte ihm in den Raum, der durch altmodische Vorhänge vor den Fenstern auch bei Tageslicht düster wirkte. Neben einem runden Esstisch gab es hier eine abgenutzte Sitzgruppe und eine Schrankwand. In der Ecke stand ein betagter Röhrenfernseher.

„Tja, Mutter, dein ach so netter Enkel ist wohl ein übler Betrüger“, brummte Hüttinger und schaltete das Licht an. „Stell dir vor, er hat die Fundstücke vom alten Alois Hüttinger zum Verkauf angeboten.“

„Was? Wie denn das, in Gottes Namen?“ Erschrocken starrte die Alte ihren Sohn an. Ihre entsetzte Miene verriet, dass dies einem Familiensakrileg gleichkam. „Bist du sicher?“

„Ja, was glaubst du denn, worum es eben am Telefon ging?! Das war ein Händler aus München, der die alten Pergamentseiten und das Kruzifix unbedingt kaufen wollte.“

„Aber wie hat der Max das denn bekannt gemacht?“

„Na, im Internet. Da geht das problemlos. Man veranstaltet eine Auktion, jeder kann daran teilnehmen und der Meistbietende bekommt am Ende den Zuschlag.“ Hüttinger schüttelte missmutig den Kopf. „Seit ihr zwei ihm das Smartphone geschenkt habt, ist er nur noch im Internet …“

„Aber noch sind die Sachen vom Alois da, oder?“ Die alte Frau blickte skeptisch auf ein abgeschlossenes Element im unteren Bereich der Eichenschrankwand.

„Das will ich gerade nachsehen. Dem Lumpen trau ich alles zu! Aber den Schlüssel hab ja eigentlich nur ich.“ Hüttinger zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und ging vor der Schrankwand in die Hocke.

„Ludwig, nenn deinen Sohn nicht Lump – er ist immer noch dein eigen Fleisch und Blut.“ Hüttingers Mutter faltete die Hände wie zum Gebet und beobachtete besorgt, wie ihr Sohn das kleine Türchen aus dunkler Eiche aufschloss. „Mit dem Geld hat er halt immer mal so seine Not, aber sonst ist er kein schlechter Bub.“

„Ach je, ich kann’s nicht mehr hören“, stöhnte Hüttinger, während er die Tür öffnete. Das Innere des Schrankelements war zweigeteilt: Links lagen Mappen, Umschläge und Papierberge in schiefem Stapel übereinander. Rechts hingegen gab es drei Schubladen.

„Jetzt schauen wir mal, was der Max für ein Bub ist“, brummte Hüttinger und hob misstrauisch die Augenbrauen. Rasch strich er sich ein paar nasse Haare, die ihm ins Gesicht gefallen waren, aus der Stirn. Er zog die untere Schublade heraus: Sie war leer. Auf dem verblichenen grünen Filzboden lagen nur ein paar Staubflusen und undefinierbare Krümel.

Für einen Augenblick sah Hüttinger zu seiner Mutter auf. Zornig riss er die beiden anderen Schubladen auf, die jedoch ebenfalls nicht das enthielten, wonach er suchte.

„Jesus Maria! Wo ist die alte Zigarrenkiste mit den Sachen vom Alois?“ Die alte Frau verfolgte mit bestürzter Miene, wie ihr Sohn nun fieberhaft den Stapel auf der linken Seite durchwühlte. „Solang ich zurückdenken kann, war sie immer in der unteren Schublade …“

„Ich hab’s geahnt! Der verfluchte Scheißkerl!“ Hüttinger zerrte den Stapel aus dem Fach, sodass sich die Papierberge auf den Holzdielen verteilten. Danach zog er die Schubladen heraus und kippte ihren Inhalt ebenfalls auf den Boden.

„Er hat die Sachen gestohlen! Dieser Teufel beklaut die eigene Familie!“ Mit wütend aufgerissenen Augen überflog er das Durcheinander am Boden, ehe er die Unterlagen in einem Anflug von Jähzorn mit den Füßen in alle Richtungen kickte.

„Gott bewahre! Sowas würd’ der Max doch nicht tun …“

„Du siehst es doch!“ Hüttinger ballte die Fäuste. „Das ist das wahre Gesicht deines lieben Enkels. Er muss mir den Schlüssel irgendwann nachts einmal aus der Jacke genommen haben. Verflucht! Wenn ich den Lump erwische, schlag ich ihn tot!“

„Ludwig! Versündige dich nicht!“ Die alte Frau bekreuzigte sich und sah ihren Sohn besorgt an. Als er ihren Blick mit grimmiger Miene erwiderte, wandte sie sich erschrocken ab.

„Diesmal ist er zu weit gegangen!“ Hüttinger stürzte hinaus in den Flur. Zwei Stufen auf einmal nehmend, jagte er die Treppe hinauf und dann über die schmale Stiege hoch ins Dachgeschoss. Wütend drückte er die Tür auf und trat in Max’ Zimmer.

Sonnenlicht fiel durch die beiden Dachfenster und erhellte den Raum unter den mit Holz verkleideten Schrägen. Es war ein kleines Zimmer, das gerade einmal Platz bot für Bett, Schrank und Schreibtisch. Das Mobiliar war im veralteten Design eines Jugendzimmers aus furnierten Spanplatten gefertigt. An den Wänden und Schrägen hingen Poster von 50 Cent, Jennifer Lopez, Sido und dem FC Bayern. Der Raum repräsentierte eher die Geisteswelt eines 14-Jährigen als die eines zehn Jahre älteren Mannes.

„Na, dann schauen wir mal“, zischte Hüttinger. „Wo könnte der Dreckskerl es versteckt haben?“ Er trat an das ungemachte Bett, riss die Decke herunter und drehte die Matratze auf den Kopf. Dann öffnete er den Kleiderschrank, holte nacheinander alle Klamotten heraus und warf sie auf den Boden. In seinem Eifer bemerkte er nicht, dass seine Mutter ihm ins Dachgeschoss gefolgt war und ihn angstvoll von der Tür aus beobachtete. Inzwischen hatte er sich den kleinen Schreibtisch vorgenommen. Zügig öffnete er die Schubladen und kippte ihren Inhalt ebenfalls auf den Boden. Doch die alte Zigarrenkiste war nirgendwo zu finden.

„Ludwig …“, begann die Mutter beschwichtigend, verstummte jedoch schnell. Erschüttert beobachtete sie das Treiben ihres Sohnes, der unterdessen von rastloser Suche hin zu mutwilliger Zerstörung gewechselt war. Mit hämischer Boshaftigkeit warf er den kleinen Fernseher und die Stereokompaktanlage zu Boden. Zu guter Letzt schleuderte er die am Bett stehende Lavalampe gegen die verspiegelte Schranktür. Mit ohrenbetäubendem Klirren zerbarst das Glas. Zahllose Splitter fielen zu Boden und landeten in einer zähflüssigen Lache aus roter Flüssigkeit.

„So, das wär das!“ Ludwig Hüttinger nickte grimmig, als ob er zufrieden wäre mit seinem Werk. „Und wenn der Dreckskerl die Sachen nicht zurückbringt, will ich ihn hier auf dem Hof nicht mehr sehen. Dann hat er sich eine neue Bleibe zu suchen, ist das klar?! Ich bin fertig mit dem Taugenichts!“

Er starrte seine Mutter mit einem derart durchdringenden Blick an, dass sie auf eine Erwiderung verzichtete. Als er an ihr vorüber durch die Tür trat und die Stiege hinunterging, sah sie ihm bekümmert nach. Schließlich schüttelte sie den Kopf und folgte ihm hinunter ins Erdgeschoss.

„Ja, Herrschaftszeiten, was ist denn das für ein Krach im Haus?“, kam es mit einem Mal aus der Küche.

„Das kann dir die Mutter erzählen“, erwiderte Hüttinger. „Es wird höchste Zeit für mich, ich muss jetzt zur Arbeit.“ Er nahm die Sicherheitsschuhe und setzte sich auf die Treppenstufen. „Und wenn ich am Nachmittag zurückkomme und der Bursche ist hier, dann …“

Er beendete den Satz nicht, sondern nickte nur stumm und zog sich die Schuhe an.

„Ich bete zur Mutter Gottes, dass du dich wieder beruhigst, Ludwig.“ Seine Mutter berührte ihn sanft an der Schulter. „Es wär doch schrecklich, wenn die Familie wegen so einer Sache zerbricht.“

„Meine Geduld mit dem Kerl ist einfach am Ende.“ Hüttinger schüttelte den Kopf. „Er hat seine eigene Familie bestohlen – das Maß ist endgültig voll! Immer hat er irgendwo Schulden und braucht dringend Geld.“

„Ja, aber er verdient doch auch so wenig da als Lagerist bei dem Discounter-Markt.“

„Das ist doch seine eigene Schuld! Wär er nicht so faul, hätt er was aus sich machen können.“ Hüttinger bückte sich und nahm eine abgegriffene Aktentasche auf, die neben der Küchentür stand. Mit einem raschen Blick überzeugte er sich, dass Brot, Thermosflasche und die Zeitung eingepackt waren. „Allzu oft hab ich ihm aus der Patsche geholfen. Und wie oft der Vater und du ihm was zugesteckt habt, will ich gar nicht wissen. Dann hat er immer wieder Landwirtschaftssachen vom Hof verkauft, oft auch heimlich. Da gab’s jedes Mal Ärger. Aber jetzt die alten Sachen vom Alois Hüttinger … Die waren über Jahrhunderte heilig in der Familie. Es ist genug!“

„Vielleicht kann er den Verkauf ja noch zurücknehmen?“

„Das ist das Mindeste! Wenn ihm aber das Geld wichtiger ist, dann gnade ihm Gott!“ Hüttinger nickte düster. „Servus, Vater, ich geh zur Arbeit.“ Ohne den Gruß des alten Mannes abzuwarten, durchquerte er den Flur und öffnete die Haustür.

„Ich versuch, mit dem Bub zu reden, Ludwig“, erklärte die Mutter in versöhnlichem Ton. „Er wird’s sicher einsehen. Ich muss nur schauen, wann er denn heimkommt. Er ist heute nicht im Supermarkt, er hat einen Tag freigenommen.“

„Herrje, damit ist doch schon alles klar! Der Saukerl hat die alte Zigarrenkiste eingesteckt, damit er die Sachen gleich verkaufen kann.“ Ludwig Hüttinger schüttelte den Kopf und trat auf den Hof hinaus. Er atmete tief die Morgenluft ein, hatte aber keinen Blick für die wundervolle Kulisse des Karwendels, die über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg zu sehen war. Grün bewaldete Hänge und steinige Kare zogen sich hinauf zu den hohen Bergspitzen, deren Felsgestein im Sonnenschein hell leuchtete.

Der Hüttinger-Hof lag im westlichen Teil der Gemeinde Krün und bestand aus dem Wohnhaus und einer alten Scheune. Früher hatten hier noch weitere Gebäude und Stallungen gestanden, doch mit Aufgabe der Landwirtschaft waren sie niedergerissen und Grund und Boden nach und nach verkauft worden. Die verbliebene Anlage des Hofes hatte ihre besten Tage längst hinter sich: Das alte Haus hatte dringend einen neuen Verputz nötig und die Holzwände der Scheune waren grau und morsch. Auf der Freifläche zwischen den Gebäuden wucherten Gräser und Gestrüpp.

„Mir ist’s ernst, Mutter: Der Max hat mir heut Abend Rede und Antwort zu stehen, und wenn ich ihn an den Haaren herziehen muss. Und wehe, er hat die Sachen vom alten Alois am Ende wirklich verkauft. Dann prügle ich ihn eigenhändig vom Hof! Und zwar für immer!“

Mit grimmiger Miene ging Hüttinger hinüber zur Scheune, zog die beiden Torflügel auf und öffnete die Fahrertür des alten VW Golfs, der im Halbdunkel stand. Für einen Moment schaute er hinüber zu der rückwärtigen Scheunenwand, wo sonst immer Max’ schwarze Enduro-Maschine stand und jetzt nur ein dunkler Ölfleck auf dem Sandboden zu sehen war. Dann schleuderte er seine Aktentasche auf den Beifahrersitz und stieg ein.

Als er den Wagen aus der Scheune fuhr, nahm er, tief in Gedanken versunken, nicht einmal den Gruß der Mutter wahr, die am Tor stand und zögerlich die Hand hob. Mit bekümmerter Miene sah die alte Frau ihm nach.