Irmgard Braun klettert seit 30 Jahren in jenen Gebieten, die in ihrem Bergkrimi eine Rolle spielen: in der Fränkischen Schweiz, den Dolomiten und den Felsen um Arco. Als echte Insiderin der Kletterszene kennt sie sich aus mit der Psyche des Homo kletteriensis non sapiens, egal ob Wettkampfaffe, Bouldergorilla oder Alpinyeti.

In den achtziger Jahren waren ihre Klettereien für eine Frau eher ungewöhnlich: Sie machte Erstbegehungen im Oberen Donautal und stieg namhafte alpine Routen vor, zum Beispiel die Droites-Nordwand und die „Solleder“ in der Civetta-Nordwestwand. Später kletterte sie erfolgreich in Wettkämpfen und wurde Mitglied der deutschen Sport-kletter-Nationalmannschaft.

Ihre Begeisterung fürs Schreiben entdeckte die ehemalige Gymnasiallehrerin als Redakteurin beim Alpin-Magazin und später beim Süddeutschen Verlag Medien-Service. Sie veröffentlichte zahlreiche Artikel nicht nur übers Klettern und schrieb das Sachbuch „Klettern – aber sicher“.

Heute lebt sie als freie Journalistin und Schriftstellerin in München und schreibt Krimis und Fantasy.

Alle Orts- und Routennamen entsprechen der Realität.

Die Handlung ist fiktiv.

Alle im Buch auftretenden Personen sind frei erfunden. Sollte sich jemand darin wiedererkennen, so ist das Zufall.

Die Toten sind mit Sicherheit keiner lebenden Person ähnlich.

Leser, die unbegreiflicherweise nicht klettern, aber jedes Wort verstehen wollen, finden am Ende der Geschichte ein alphabetisches Glossar mit Fachausdrücken und Kletterer-Slang.

Irmgard Braun

Nie wieder tot

Mord am Gardasee

Bergkrimi

Bergverlag Rother

Der legendäre englische Alpinist Don Whillans

auf die Frage, ob es für eine Frau möglich wäre,

besser zu klettern als ein Mann:

„Never noticed a female monkey not climbing

as well as a male, have you?“

1. KAPITEL

Ein Nashorn. Das hätte Romy mitten in Gößweinstein nicht erwartet. Die Schnauze mit dem gebogenen Horn schob sich aus dem Grün eines bewaldeten Hangs – eine verrückte Silhouette über Dächern, Gärten und Fachwerkfassaden.

Schon die Dimensionen des Ungetüms legten nahe, dass es nicht aus einem Zoo ausgebrochen war: Im Kletterführer war seine Höhe mit siebzehn Metern angegeben. Und es stand still wie eine Statue, so wie es sich für einen fränkischen Felsen gehörte.

Romy folgte Philipp auf einem Pfad, der am Rand einer Wiese entlangführte, vorbei an einem Schuppen und einem Stall voll gackernder Hühner. „So einen Felsklotz hätte ich auch gern hinter unserem Haus“, sagte sie.

„Du bist ja sowieso fast jeden Tag in der Kletterhalle“, erwiderte Philipp.

Romy gab keine Antwort. Darüber zu diskutieren hatte jetzt keinen Sinn. Sie wollte diesen Tag genießen, einfach nur ausspannen. Das hatte sie bitter nötig – irgendjemand in ihrer Firma mobbte sie. Weg damit! Vergiss es!

Es war ein heißer Sommertag. Romys T-Shirt klebte auf ihrer Haut, es war angenehm, in den Schatten des Felsenmonsters zu tauchen. Sein Horn hing über ihr, es schwang sich aus einer lotrechten Wand weit hinaus in den blauen Himmel. Einen Meter über dem Boden war am Fels mit roter Schrift „Supernase“ angeschrieben. Philipp deutete darauf. „Die ‚Supernase‘ wollte ich schon immer mal machen. Die soll eine der besten Routen in der ganzen Fränkischen sein. Aber für den achten Grad sieht das ganz schön knackig aus.“

Romy legte den Kopf in den Nacken und musterte die Reihe der Bohrhaken, die mitten durch den steilsten Teil der Wand führten.

Dass hier ein Mensch hinaufklettern konnte, ohne sich an den Haken festzuhalten, hätte Romy noch vor fünf Jahren für unmöglich gehalten. Aber seit sie kletterte, sah sie Felsen mit anderen Augen. Dieser hier erinnerte an einen gigantischen Schwamm, er war gesprenkelt von Löchern. Was für tolle Griffe! Es juckte sie in den Fingern. Einfach festkrallen und hoch …

Philipp warf den Seilsack zu Romy hinüber. Damit waren die Rollen verteilt. Er würde vorsteigen, sie sichern.

Romy packte das Seil aus, zog ihren Klettergurt an, befestigte das Sicherungsgerät daran und legte das Seil ein.

Philipp hatte sich zum Klettern bereitgemacht. Nun stand er vor der Wand und studierte das Muster der Löcher.

Romys Blick schweifte über die Dächer der Ortschaft hinüber zur Burg von Gößweinstein mit ihrem zinnenbewehrten Turm. Dahinter schimmerten bläuliche Hügelketten. Es war schön, wieder draußen zu sein und die Aussicht zu genießen. Aber sie wollte klettern und nicht ewig hier herumstehen. Warum brauchte Philipp nur so lange, bis er endlich loslegte?

Er griff tief in seinen Magnesiabeutel und stäubte seine Hände weiß ein. Dann begann er zu klettern. Im senkrechten Teil der Wand bewegte er sich nur langsam, er tastete umher, um die besten Löcher auszuwählen. Im Überhang gab er Gas. Er keuchte, schnappte von Griff zu Griff, stemmte die Füße in Löcher, um sich in der Waagrechten weiterzuschieben. Jetzt hing er über Romy wie ein Gecko an der Zimmerdecke. Er streckte sich weit nach einem Griff – seine Füße verloren den Halt, fielen ins Leere. Er hing an den Armen und strampelte mit den Beinen. „Pass auf!“

Natürlich passte Romy auf. Das konnte nicht lange gutgehen.

„Scheiße!“ Philipp fiel.

Das Seil straffte sich, ein Ruck, Romy wurde emporgerissen und schwebte drei Meter hoch über dem Boden.

Philipp schaukelte über ihr am Seil hin und her. „Das ist ja sackschwer. Lass mich runter!“

Sie zog den Hebel des Sicherungsgeräts und ließ das Seil hindurchgleiten. Zuerst landete sie wieder unten auf dem Pfad, dann Philipp.

Er wischte eine schwarze Strähne aus der Stirn. Seine blauen Augen blitzten wütend. „Kannst du nicht besser aufpassen? Ich bin viel zu weit runtergefallen!“

Der Vorwurf war ungerecht, aber verständlich, man flog immer weiter als gedacht. „Tut mir leid“, sagte sie, „die Seildehnung. Und ich bin eben viel leichter als du.“

Er bückte sich, riss die Klettverschlüsse seiner Schuhe auf. „Ich brauche jetzt eine Pause.“

Romy zog das Seil ab; es glitt wie eine Schlange durch die Karabiner und schlug neben ihr auf den Boden.

Sie wandte sich Philipp zu. Sein muskelbepackter Oberkörper glänzte vor Schweiß; er hatte sein T-Shirt ausgezogen und trocknete sich damit ab.

Romy räusperte sich. „Wenn du gerade ausruhen willst – ich würde gern mal versuchen, ob ich ein Stück hochkomme.“

Er warf das Hemd fort. „Du wirst allmählich ganz schön ehrgeizig. Die ‚Supernase‘ ist powerig, nicht dein Ding, Stupsi.“

Philipp hatte diesen Spitznamen erfunden, weil er ihre kurze Nase süß fand. Vor ihrer Heirat hatte ihr das noch gefallen, aber inzwischen nervte es.

Vielleicht war die Route wirklich zu schwer. Aber vor dem Herunterfallen hatte Romy keine Angst mehr, das hatte sie letzten Winter in der Kletterhalle gelernt. Durch Bernd …

Was, wenn sie die Stelle auf Anhieb schaffte, an der Philipp gestürzt war? Seine Laune würde unter den Gefrierpunkt sinken, der Tag wäre gelaufen.

„Wenn du meinst, dass es zu schwer für mich ist, steige ich lieber nach. Beim nächsten Versuch schaffst du es bestimmt. Bitte hänge mir dann ein Toprope ein.“

Philipp lächelte. „Okay. Du kommst wahrscheinlich schon irgendwie rauf, wenn du an den Haken ausruhst.“

Herablassend. Ja, das war er noch immer. Er wollte es nicht wahrhaben, dass Romy inzwischen kaum schlechter kletterte als er. Wie würde er sich fühlen, wenn sie ihren Lehrmeister irgendwann überflügelte?

Philipp wies auf ein Bäumchen, das nahe dem Beginn der Route am Fuß des Felsens wuchs.

„Beim nächsten Versuch sicherst du mich über den Baum. Ich will nicht noch mal so weit runterfallen.“

Romy befestigte das Sicherungsgerät mithilfe einer Schlinge am Stamm. So würde sie auf dem Boden bleiben, wenn er stürzte.

Philipp zog seine Kletterschuhe an, band sich ins Seil, kletterte schnell, inzwischen kannte er die besten Griffe. In der Mitte des Überhangs war seine Kraft verpufft. Er fixierte sich am Karabiner, um auszuruhen.

Das würde eine Weile dauern.

Mist. Schon wieder drängte sich die Arbeit in Romys Kopf. Die Entwürfe für die Plakate ließen ihr keine Ruhe. Vielleicht hatte Hauser schon eine Entscheidung getroffen.

Mit dem Bremsseil in der linken Hand zog Romy ihren Rucksack heran, nahm das iPhone aus der Deckeltasche und gab den Code ein. Keine Reaktion. Verwirrt blickte sie auf das Display. Das war nicht ihr iPhone! Es sah so ähnlich aus, aber es gehörte Philipp. Sie hatte es wohl heute morgen beim Packen verwechselt.

In Romys Magen flatterte etwas Heißes, ihr Herz pochte schnell gegen ihre Rippen. Seit ein paar Wochen hatte sie einen Verdacht, wer sie in der Firma mobbte. Es war zwar völlig verrückt, aber immerhin war Philipp der Chef – hatte er …?

Vielleicht konnte sie über sein Smartphone etwas herausfinden.

Bald würde er im Büro anrufen, er machte sich ständig Sorgen, dass ohne ihn das Chaos ausbrach. Dann würde er die Verwechslung bemerken. Jetzt war die Gelegenheit.

Ein schneller Blick nach oben. Philipp schüttelte seine Arme aus, damit mehr Blut in die harten Muskeln strömte.

Den Code kannte sie, er spielte ja dauernd mit seinem iPhone herum. Romy gab ihn ein. Und las eine neue E-Mail:

Der Kunde macht Druck. Soll ich die Plakate für die Kampagne von Gaggelmeier wirklich ablehnen? Hauser.

Ablehnen? Sie las die Mail noch einmal. Und noch mal. Da stand wirklich ‚ablehnen‘! Philipp hatte Hauser dazu angestiftet, ihre Plakatentwürfe abzulehnen!

Romys Atem ging schnell, das Handy fühlte sich glitschig an. Wegen dieser Plakate hatte sie Nachtschichten eingelegt, war viel zu wenig beim Klettern gewesen. Jetzt war alles klar …

Die Schrift verschwamm vor ihren Augen, das iPhone rutschte ihr aus der Hand. Ihr wurde schwindlig, ihre Beine knickten ein. Zitternd hockte sie auf dem Boden. Nein, nein, nein, das durfte einfach nicht wahr sein! Ihre Kehle presste einen Schluchzer hervor.

„Ich gehe weiter“, rief Philipp. „Pennst du? Jetzt schau doch wenigstens rauf! Seil!“

Automatisch gehorchte Romy, stand auf, gab Seil aus. Philipp kletterte bis zum Ende des Überhangs, flog in hohem Bogen durch die Luft und baumelte am Haken.

„Scheiße! Ich komme nicht mehr an die Wand ran! Lass mich runter!“

Etwas Rotes wirbelte durch Romys Kopf und explodierte. Sie machte einen Knoten ins Bremsseil. Nun konnte sie es loslassen, Philipp war am Baum bestens gesichert.

Ohne fremde Hilfe konnte er nicht zum Boden zurückkehren.

Sie warf Philipps iPhone in ihren Rucksack, schulterte ihn und marschierte davon.

„He! Was ist los? Spinnst du? Bist du verrückt …?“

Sie achtete nicht auf sein Gebrüll, ging einfach weiter, an der Wiese entlang und den Wald hinauf. Bevor der Pfad hinter den Hügel bog, drehte sie sich kurz um. Sie lachte auf. Es sah komisch aus, wie er da am Seil hing und zappelte und tobte wie Rumpelstilzchen.

2. KAPITEL

Romy ließ Innsbruck hinter sich und fuhr Richtung Brenner hinauf in die Berge.

Inzwischen hatte sicher jemand Philipp aus seiner hilflosen Lage befreit. Wahrscheinlich hatte irgendein Gößweinsteiner die Bergwacht gerufen, unter der Woche kamen selten Kletterer an diesen Fels. Ein Glück für Philipp. Sonst wüsste bald die ganze Szene, wie Romy mit ihm umgesprungen war.

Auf jeden Fall stand er ohne Auto da.

Wie würde er reagieren? Philipp war nicht der Typ, der Demütigungen schluckte.

Ein Kribbeln lief Romys Wirbelsäule hinab.

Das Schild für die Ausfahrt nach Patsch und Igls tauchte auf.

Sie lächelte – zum ersten Mal seit ihrem überstürzten Aufbruch im Frankenjura. Herrlich, diese Tiroler Ortsnamen. Ellbögen war auch gut.

Schluss mit dem Geheul. Sie nahm ein Tempotaschentuch aus dem Seitenfach, schnäuzte sich und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen.

Wie in Trance war sie in Philipps Ferrari gestiegen und die ganze Strecke von der Fränkischen Schweiz bis hierher gefahren, hatte nur zwischendurch getankt und einen Cappuccino getrunken.

Auf dem Weg vom Fels zum Parkplatz hatte sie sich gefragt, ob sie nicht überreagiert oder etwas missverstanden hatte. Zurück am Auto hatte sie Philipps Mails aus den letzten Tagen gecheckt, mit fiebrigem Eifer, zitternd und weinend. Die älteren Nachrichten hatte Philipp gelöscht, aber was sie fand, war genug. Es gab keinen Zweifel: Ihr eigener Ehemann mobbte sie.

Gemobbt.

Romy hatte sich so darauf gefreut, aufs Gymnasium zu gehen. Und es war die Hölle.

Sie hockte auf dem mit Plastik beschichteten Boden der Turnhalle. Der Geruch von Schweiß und Gummi mischte sich mit dem billigen Parfum der dicken Lisa neben ihr. Eine von ihnen beiden musste die Letzte sein. Romy war flau im Magen.

Sie blickte zu Bärbel empor, die breitbeinig dastand und die beiden Übriggebliebenen musterte. Wen würde sie für ihre Mannschaft auswählen?

Bei der Ballgymnastik vorhin waren Romy die Drecksdinger immer davongehüpft, vor allem beim Prellen und Laufen, sie hatte noch das Gekicher der anderen im Ohr.

Sport war echt nicht Romys Ding. Ihre Arme und Beine waren irgendwie zu lang, sie wusste nie so recht, wo sie aufhörten. Sie war ungeschickt, klar, aber da waren schon ein paar andere Mädels aufgerufen worden, die keinen Deut besser mit einem Ball umgehen konnten als sie. Voll unfair.

In Bärbels Gesicht stand ein schiefes Lächeln.

Romy ahnte es. Hoffte gegen alle Vernunft. Bloß das nicht. Nicht die Letzte sein! Bitte nicht!

Bärbel streckte den Arm aus, zeigte mit dem Finger auf Romy – grinste breit und schwenkte ihn weiter zu Lisa.

Das Mädchen stemmte sich hoch und stellte sich zu den anderen, offensichtlich erleichtert.

Romy sprang auf und ging zu Lauras Gruppe. In ihrer Kehle saß etwas Dickes, Saures, in ihren Augen staute sich Wasser.

„Du hast uns gerade noch gefehlt“, zischte Laura und packte Romys Handgelenk. Lange Nägel, lila lackiert, bohrten sich wie Messer in Romys Haut.

Ihre Augen liefen über.

Sie stürzte davon, hinter sich Lachen, Kreischen und die empörte Stimme der Lehrerin. Raus! Nur raus hier! Romy knallte die Tür hinter sich zu, rannte den Flur entlang, um die Ecken, riss die Tür zur Umkleide auf.

Der Geruch von Haarspray und alten Socken schlug ihr entgegen. Und da war auch noch etwas anderes, Ekliges.

Schnell umziehen und nichts wie weg hier! Vielleicht war die Lehrerin hinter ihr her, wollte sie zurückholen zu diesen hackenden, gackernden Hühnern.

Sie würde sich krank melden, behaupten, ihr wäre schlecht geworden. Ihre Mutter würde ihr sicher eine Entschuldigung schreiben.

Sie streifte ihr T-Shirt und die Jeans hastig über ihre Sportsachen, trotzdem schlackerte alles an ihr. Dürr war sie, ohne Busen. Coole Klamotten und Schminke hätten an ihr völlig bescheuert ausgesehen. Ob die anderen sie mobbten, weil sie so hässlich war?

Romy griff nach ihrem Schulranzen – was war das – das stank wie –

Sie drückte auf den Schnapper – klick –, hob hastig die Klappe, schaute hinein.

Fuhr zurück und ließ die Tasche fallen.

Jemand hatte hineingeschissen.

Romy würgte, schob das Bild und den Gestank fort. Vorbei. Das war lange vorbei. Ihre Hände, die sich um das Leder des Lenkrads krallten, lockerten sich. Sie lehnte sich zurück und schaute in die Landschaft. Aus weiten Tälern erhoben sich mit Schnee überzuckerte Berge. Nach wochenlangem Schlechtwetter leuchteten Dörfer und einzelne Höfe zwischen sattgrünen Wiesen und Fichtenwald.

Ihre Mutter war damals eingeschritten. Die Quälereien hörten auf, aber stattdessen wurde Romy von der gesamten Klasse ignoriert.

Sie gehörte nie irgendwo dazu.

Romys Vater hatte wegen seiner Karriere öfter den Wohnort wechseln müssen; die Familie Weidinger lebte für zwei Jahre in Brasilien, dann ein halbes Jahr in den Niederlanden, ging nach China. Romy wurde von Hauslehrern unterrichtet und hatte es schwer, Freunde zu finden.

Dann zogen ihre Eltern nach München, diesmal, um zu bleiben, und Romy besuchte ein normales Gymnasium. Dort wurde sie zum Opfer. Und das nicht nur, weil sie sich mit der Kontaktaufnahme ein wenig schwertat. Sie hatte keine Ahnung von Popmusik und TV-Serien, ihre Eltern waren Intellektuelle, die das Fernsehen ablehnten. Und obendrein war Romy eine Spätentwicklerin, die mit dreizehn Jahren noch Playmobil spielte.

In der Oberstufe war dann alles anders: Romy war nun bildhübsch, die Männer waren hinter ihr her. Plötzlich galt sie als cool und genoss es in vollen Zügen. Partys, Jungs, Freunde, das war nun ihr Leben.

Damals fingen Romys Eltern an zu klettern, aber sie hatte zunächst kein Interesse daran. Erst während ihres Studiums begann sie mit ihrer Mutter Cora in die Kletterhalle zu gehen. Und dort begegnete sie Philipp Maiwald. Auf den ersten Blick war er alles, was die Frauen in Kitschromanen ersehnten: erfolgreich, selbstbewusst, schön wie die Männer in den Reklamespots für teures Parfum. Mit ihm zusammen begann sie, draußen in der Natur zu klettern, und es begeisterte sie. Endlich hatte sie das Gefühl, dass ihr ein Sport wirklich lag – obwohl Philipp sagte, sie wäre schon zu alt, um noch richtig gut zu werden. Und er wollte nicht, dass sie als Seilerste ging. Angeblich sorgte er sich um ihre Sicherheit.

Romy ließ sich nicht entmutigen. Durch ihren Halbtagsjob in Philipps Werbefirma hatte sie viel Zeit, in der Kletterhalle zu trainieren. Dort lernte sie Bernd Luchner kennen, der ihr das Vorsteigen und Stürzen beibrachte. Ihr Selbstbewusstsein besserte sich allmählich.

Aber was sie heute in der Fränkischen getan hatte – das war nicht mehr die Romy, die sie kannte. Die sich viel zu viel gefallen ließ und nie wütend wurde.

Vielleicht hatte sie so reagiert, weil zur Zeit ihre Nerven blank lagen. Hauser kritisierte sie ständig, setzte sie unter Termindruck und zwang sie zu Überstunden – von Halbtagsjob konnte nicht mehr die Rede sein. Und neuerdings saß ihr am Schreibtisch eine Zicke gegenüber, die nach Chemieunfall roch und ständig mit schriller Stimme telefonierte. Ihr Mac war gegen einen PC ausgetauscht worden, dessen Verhalten man nur als tückisch bezeichnen konnte.

Philipp war der Drahtzieher. Sie konnte es kaum fassen.

Gestern hatte sie ihm unter Tränen erzählt, sie hätte das Gefühl, dass jemand in der Firma sie mobbte, wahrscheinlich sei es Hauser. Er nahm sie in die Arme und streichelte ihr Haar.

„Das bildest du dir nur ein. Das wird schon wieder. Und morgen fahren wir für einen Tag miteinander zum Klettern, damit du ein bisschen ausspannen kannst.“

Romy knirschte mit den Zähnen und umklammerte das Lenkrad. Dieser Heuchler!

Sie hatte sich mit seinen beruhigenden Worten zufriedengegeben. Typisch. Sie hätte darauf bestehen sollen, dass die nervige Kollegin versetzt und der Computer ausgetauscht wird.

Und das Schlimmste: Philipp wusste, dass sie als Kind gemobbt worden war und deshalb immer noch Alpträume hatte.

Sie sah hinüber zum Beifahrersitz, auf dem ihre Kuschelkatze Mao hockte. Seit ihren Kindertagen war sie immer dabei. Ihr getigertes Fell war schäbig, besonders an der linken Pfote, die sie als Kleinkind abgelutscht hatte. Um Maos Schnauze war ein trotziger Zug, den Romy liebte.

Die Berge rückten näher zusammen, Geleise, ein Tunnel, LKW-Reihen.

Stau vor Sterzing, die Mautstelle. Wenn Philipp dabei war, bogen sie hier meistens in die Ortschaft ab, um bei Hofer Wein einzukaufen. Natürlich fuhren sie dann mit dem Porsche Cayenne, der mehr Stauraum bot als der Ferrari, mit dem sie jetzt unterwegs war. Der FF war Philipps Lieblingsspielzeug, sie durfte nur ans Steuer, wenn er müde wurde.

Philipp. Immer wieder Philipp. Sie hatte keine Lust, an ihn zu denken.

Für seinen Verrat konnte sie sich nur einen Grund vorstellen: Er wollte sie zwingen, den Job zu übernehmen, den er ihr zugedacht hatte. Sie erinnerte sich noch genau an ihr letztes Gespräch zu dem Thema.

„Du trainierst ja ständig in der Kletterhalle statt etwas Vernünftiges zu arbeiten“, sagte Philipp. „Dabei wärst du eine erstklassige Abteilungsleiterin für die Grafiksparte. Hauser kann sich dann ums Eventmanagement kümmern.“

„Das ist zu viel Stress für mich“, erwiderte Romy. „Ich bin nicht der Typ, der Leute herumkommandiert. Und ich muss mich ja auch noch um den Haushalt kümmern und die Essen mit deinen Geschäftspartnern.“

Das war nur ein Teil der Wahrheit gewesen. Als Abteilungsleiterin hätte Romy kaum noch Zeit fürs Klettern gehabt, und das war das Einzige, was ihr wirklich noch Freude machte in ihrem Leben zusammen mit Philipp.

Sollte sie mit ihm über seine Mobberei reden?

Ihn anrufen?

Nein. Nein! Sie hatte die Schnauze voll von ihm.

Auf einmal fühlte sie sich frei wie nie zuvor. Sie wählte eines ihrer Lieblingslieder auf dem iPod aus. „Genug ist nicht genug, ich lass mich nicht belügen …“, tönte Konstantin Weckers Stimme aus der Anlage.

Bald würde sie dort sein, wo das Wetter besser war als im Norden und der Cappuccino auch. Und Felsen, überall Felsen, an denen sie klettern konnte, wie sie wollte.

„Arco“, sang sie, „Arco, ich komme!“

3. KAPITEL

Holger und Cora saßen auf Klappstühlen vor ihrem Wohnmobil. Hinter dem Campingplatz ragte die dunkle Wand des Colodri in den rosa überhauchten Abendhimmel. Von den Zelten und Bussen ringsum klang Geplauder, Gaskocher summten. Unten am Fluss klimperte jemand auf einer Gitarre.

Vor Holger und Cora stand ein mit Essen und Geschirr beladenes Tischchen; aus einer Schüssel stieg der herbe Duft von Rucola. Holger griff nach dem Salatbesteck und ließ es gleich wieder los. Eine stämmige Gestalt steuerte auf ihn zu. Wiebele. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Sein rotes Gesicht strahlte.

„I bin au klettert heut“, rief er und plumpste auf einen der Klappstühle. „Holger, Cora, i habs gschafft! Den Colodri! Des war saumäßig steil!“

Früher bei Siemens war Willi Wiebele wegen seiner Erzählungen von Gipfelerfolgen berüchtigt gewesen. In Holgers Augen waren das einfache Wanderungen; dass Wiebele, ein gestandener Heilbronner Mitte fünfzig, jetzt noch mit dem Klettern angefangen hatte, war schon erstaunlich.

„Welche Route hast du denn gemacht, Willi?“, fragte Cora.

„Ha die Colodriwand äba! I hab mir extra a Klettersteigset und an Gurt kauft.“

Ach so. Er hatte den Colodri-Klettersteig bezwungen.

„Ond jetzt tät i gern wissa, welcher Schwierigkeitsgrad des war.“

„Klettersteige haben eine andere Skala als Kletterrouten, die man mit dem Seil sichert“, erklärte Holger. „Diese Skala geht von A bis E. Der Colodri-Steig ist wahrscheinlich A, die leichteste Stufe.“

Wiebele sah enttäuscht drein. Doch dann sagte er eifrig: „Gell, und beim Seilklettern da hots doch mol ghoißa, a Sechser isch des Schwerschte, die Grenze des Menschenmöglichen. Ond dr Messner hot den siebta Grad gschafft. Des hat mir imponiert.“

„Ja, zu seiner Zeit war das eine außerordentliche Leistung“, erwiderte Holger. „Aber heute ist ein Sechser Aufwärmgelände für Leute wie Cora und mich. Und die absolute Weltspitze klettert den zwölften Grad.“

„Des gibt’s doch net! Du nimmsch mi auf d’Schipp!“

Willi wandte sich mit empörter Miene ab und marschierte davon.

„Jetzt googelt er das, und erst dann glaubt er es“, sagte Holger grinsend zu Cora und griff nach einem Stück Oliven-Ciabatta. Sie krachte beim Kauen, das Innere war weich – ein schöner Kontrast. Er schluckte sie hinunter, wickelte eine Scheibe Parmaschinken auf die Gabel, schob sie in den Mund und genoss den würzig-fetten Geschmack. Dabei beobachtete er die jungen Männer vom Zelt gegenüber. Mit ihren breiten Rücken, Rastalocken und der gebückten Gorilla-Haltung machten sie den Eindruck, der zehnte Schwierigkeitsgrad wäre ein Klacks für sie. Merkwürdig – sie starrten mit offenen Mündern in Richtung der Rezeption. Holger folgte ihrem Blick. Klirrend fiel seine Gabel auf den Teller.

Auf dem Teerstreifen zwischen den Parzellen der Camper glitt ein rotes Gefährt heran, das neben den stumpfnasigen Normal-Autos wirkte wie eine Mondrakete zwischen Mülleimern: ein Ferrari FF – Philipps Ferrari!

Direkt vor Holger und Cora stoppte er. Die Türe schwang auf, ein langes Bein schob sich heraus, dann ein zweites, ein zartes Gesicht, umrahmt von einer üppigen, blonden Mähne –

„Romy!“ Cora war aufgesprungen und stürzte auf sie zu. Holger brauchte etwas länger – mit seinem Kreuz kam er nicht so schnell aus dem Stuhl hoch –, dann schlang er beide Arme um Cora und Romy und drückte sie fest an sich.

Nach einer Weile lösten sie sich voneinander. Holger sah seine Tochter an, erfüllt von einem warmen Gefühl.

„Schön, dass du da bist, Romy!“, sagte Cora. „Aber wo ist Philipp? Wenn sein Auto da ist, kann er nicht weit sein.“

„Ausnahmsweise lief nicht alles so, wie er es wollte“, erwiderte Romy. „Wir waren in der Fränkischen klettern. Ich habe ihn an einem Überhang am Haken hängen lassen und bin weggefahren.“

Cora begriff wieder einmal eine Sekunde schneller als Holger. „Warum hast du ihn da hingehängt?“, fragte sie.

Romy grinste. „Zum Trocknen, ist doch klar!“

„Hast du nach deiner plötzlichen Abreise jemanden hingeschickt, der sich um ihn kümmert?“, fragte Holger.

„Nein. Ich bin einfach gegangen. Aber verhungern wird er dort nicht, der Fels steht mitten in Gößweinstein.“

Das hätte Holger seiner immer liebenswürdigen Tochter nicht zugetraut. „Bravo. Wir haben also einen klassischen Cliffhanger à la Sylvester Stallone. Die Muskelmasse ist bei Philipp wohl ausreichend für diese Rolle, aber er dürfte kaum imstande sein, sich wie ein wahrer Held selbst aus seiner misslichen Lage zu befreien. Vermutlich ist die Bergwacht oder Feuerwehr ausgerückt. Die Geschichte von der Frau, die ihren Ehemann hängen ließ und mit seinem Batmobil davonbrauste, wird bei den braven Rettern noch jahrelang für Erheiterung sorgen.“

Cora kicherte. „Bei Philipp wohl weniger.“ Sie deutete auf einen Klappstuhl. „Aber jetzt setz dich erst mal hin, Romy, du bist bestimmt hungrig und durstig.“

Sie verschwand im Wohnmobil und kam mit einem Teller, Besteck und einem Weinglas für Romy zurück. Holger schenkte ihr den Riserva aus Mezzacorona ein und prostete ihr zu.

Drei Gläser klickten gegeneinander, begleitet vom Rasseln von Coras Armreifen. „Auf dich, Romy!“, sagte sie. „Ich freue mich, dass du ohne deinen Ehemann aufgekreuzt bist.“

Die direkte Art ihrer Mutter war manchmal peinlich, dieses Mal störte Romy das nicht.

„Den brauche ich nicht mehr. Soll er in Dantes unterster Hölle schmoren, wo die Heuchler sitzen!“

Es dämmerte, während Romy erzählte. Im Wipfel einer Pinie flötete ein Nachtvogel. Die Luft war lau. Holger zündete eine Kerze an. Schwärmer flatterten herbei und schwirrten darum herum.

„Ab jetzt lebe ich, wie ich will!“, schloss Romy.

„Das wird schwierig“, erwiderte Holger, „Philipp hat da ein Wörtchen mitzureden. Und er ist es gewohnt, sich durchzusetzen, du nicht.“

Romy sah ihn wütend an. „Du hältst mich für ein hilfloses Barbiepüppchen, genau wie Philipp. Nur weil ich blond bin.“

„Von Natur aus wärst du braun“, sagte Cora. „Aber du musstest ja unbedingt deine Haare färben, damit dir alle Männer hinterherstarren.“

Holger versuchte abzulenken. „Was hast du jetzt vor, Romy?“

„Ich will klettern. Endlich mal richtig viel klettern.“

„Aber du warst doch in letzter Zeit oft in der Halle“, sagte Holger.

„Das ist etwas anderes als echter Fels. Und ich konnte bei Weitem nicht so viel trainieren, wie ich wollte. Dafür hat Philipp gesorgt, er hat mir immer mehr Arbeit aufgehalst.“

„Ist doch logisch“, sagte Cora. „Du hast beängstigend schnell Fortschritte gemacht. Und wie sieht das denn aus, wenn der Mann schlechter klettert als seine Frau?“

Holger schmunzelte. „Ich weiß es zu würdigen, wenn du vorsteigst, Cora, meistens ziehe ich es vor, mich nicht fürchten zu müssen.“

Romy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. „Du bist eben ein neuer Mann, Papa, und eine ganz große Ausnahme.“

Cora strahlte Holger an. „Ich habe lange nach ihm suchen müssen.“

Er schmolz dahin. Was für eine großartige Frau! Ihr kinnlanges silbernes Haar schimmerte im Kerzenschein und umspielte ihr klassisches Gesicht. Das fließende Hippiegewand passte zu ihrer unkonventionellen Art. Er streichelte ihren nackten Arm.

„Ich habe genug von Philipp“, sagte Romy. „Und in nächster Zeit werde ich von sämtlichen Wesen mit XY-Chromosom Abstand halten!“

„Aha“, kommentierte Cora.

„Ich meine das ernst!“

Cora grinste. „Übrigens ist Bernd auch hier, er gibt einen Kletterkurs. Wirst du mit ihm ins Bett gehen?“

„Mama!“

„Du warst lange genug Philipps Vorzeigefrau und Trophäe. Jetzt solltest du dir ein bisschen Spaß gönnen.“

Eine Stunde später rumste Musik aus Philipps iPhone.

Romy sah ihre Mutter an. „Er ist es. Bestimmt. Was meinst du, soll ich drangehen?“

„Das ist deine Sache.“

Romy hatte überhaupt keine Lust, mit Philipp zu reden. Aber auf Dauer ließ es sich nicht vermeiden, besser, sie brachte es jetzt gleich hinter sich. Sie atmete tief durch und nahm das Gespräch an.

„Wie geht es dir, Romy?“ Philipps Stimme klang sanft.

„Gut. Ich mache Urlaub.“

Schweigen von jenseits der Alpen. Dann die leise Antwort: „Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist, Romy. Wo steckst du überhaupt?“

„An einem Ort, wo du mich nicht mobben kannst.“

„Mobben? Wieso mobben?“

„Spiel nicht den Unschuldigen. Ich habe deine Mails gelesen.“

„Du hast mein Handy an dich genommen und mich ausspioniert! Das war total unfair!“

„Es war deine Mobberei, die unfair war!“

„Du fantasierst, Stupsi. Auf meinem iPhone gibt es bestimmt keine Mail, die etwas mit Mobbing zu tun hat!“

Er klang völlig aufrichtig. Romy drängte ihre aufsteigenden Zweifel zurück. „Verkauf mich nicht für dumm!“

„Romy! Wir müssen darüber reden!“

„Ich brauche erst mal Urlaub, und ich muss nachdenken. Am besten reden wir in zwei Wochen über alles.“

Ein langer Seufzer. „Stupsi. Bitte dreh jetzt nicht durch. Ich liebe dich. Wir sehen uns bald.“