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Bernhard Körner

Orte des Glaubens –
loci theologici

Studien zur
theologischen Erkenntnislehre

Bernhard Körner

Orte des Glaubens –
loci theologici

Studien zur
theologischen Erkenntnislehre

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2014

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

Gestaltung: Hain-Team (www.hain-team.de)

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN

978-3-429-03752-9 (Print)

978-3-429-04779-5 (PDF)

978-3-429-06194-4 (ePub)

Inhalt

Eine Einführung
„Gott einen Ort sichern“

Erstes Kapitel
Der christliche Glaube und die Bedeutung des Lokalen
Ausgangspunkte und Anknüpfungsmöglichkeiten

I.

Gottes Immer und Überall – Gottes Hier und Heute Theologische Voraussetzungen

 

1. Gott – mitten im Leben jenseitig

 

2. Nicht Mythos, sondern historisches Geschehen

 

3. Der Angelpunkt – das Offenbarungsverständnis

 

4. Orte des Glaubens in verschiedener Bedeutung

II.

Die Bedeutung des Lokalen
Bausteine aus der kulturwissenschaftlichen Diskussion

 

1. Was ist das – ein Ort?

 

2. Orte der Erinnerung

 

3. Der ‚genius loci‘

 

4. Denken in historischen Konstellationen

 

5. Die „Macht des Lokalen“

 

6. Erinnerung, Identität, Erfahrung, Erkenntnis

 

7. Anders-Orte – Heterotopien

III.

Was Orte für den Glauben bedeuten
Anläufe der theologischen Reflexion

 

1. Christentum als Topographie von Glaubensorten

 

2. Was einen Ort zu einem heiligen Ort macht

 

3. Orte im übertragenen Sinn

 

4. Die Notwendigkeiten von Orten, an denen der Glaube authentisch bezeugt wird

 

5. Plädoyer für ungewöhnliche Glaubensorte

 

6. Orte der Verwirklichung und Bewährung des Glaubens

 

7. Fremde Orte als Orte des Glaubens

 

8. Heterotopien des Glaubens

 

9. Kontexte, in denen der Glaube erst bedeutungsvoll wird

IV.

Orte – eine erste Zwischenbilanz
Zusammenfassung und Überleitung

 

1. Orte und Räume

 

2. Beziehungen zwischen Orten – Prägung durch Orte

 

3. Erkenntnis an Orten – Erkenntnis aus Orten

Zweites Kapitel
Vielfältige Orte der Glaubenserkenntnis
Beispiele und Reflexionen

I.

Orte, an denen der Glaube zur Erfahrung wird

 

1. „Wie Ehrfurcht gebietend ist dieser Ort …“

 

2. Einspruch: „Was wäre das für ein Ort …“

 

3. In der Kirche den Frieden holen

 

4. In der dunklen Kapelle

 

5. Eine Erfahrung – eigentlich wider Willen

II.

Orte, an denen der Glaube bezeugt wird

 

1. Die Bibel: Bezeugung der Ur-Kunde

 

2. Tradition: Bezeugung als offener Prozess

 

3. Not und Segen der Letztentscheidung

III.

Orte des Verstehens – Orte der Bewährung

 

1. Theologie an Orten des Verstehens und der Bewährung

 

2. Herausforderung und Hilfe

 

3. Nicht nur intellektuelle Herausforderungen

IV.

Unterscheidungen und Zusammenhänge:
Orte, Erfahrungen, Erkenntnisse

 

1. Erfahrung und Erkenntnis

 

2. Vorgegebene Erkenntnis – unerwartete Erkenntnis

 

3. Objektive Erkenntnis und persönliche Disposition

 

4. Erinnerungsorte – nicht nur um der Vergangenheit willen

 

5. Mit Gott ist überall zu rechnen

 

6. Orte als Kontexte

 

7. Inhalt und Bedeutung von Aussagen

 

8. Kriterien authentischer Erkenntnis und Unterscheidung der Geister

Drittes Kapitel
Wenn Orte zu Argumenten werden
Die Lehre von den loci theologici

I.

Die philosophische Vorgeschichte der loci theologici

 

1. Die Topik des Aristoteles:
eine Argumentationstheorie und ihre Grundlegung

 

2. Ciceros folgenreiche Wende ins Pragmatische

 

3. Boethius – zwischen Aristoteles und Cicero

 

4. Der Einfluss des Boethius auf Thomas von Aquin

 

5. Petrus Hispanus’ Logik-Kompendium auf der Linie von Boethius

 

6. Rudolf Agricola – Rhetorialdialektik im Geiste Ciceros

II.

Die Konzeption der loci bei Melchior Cano

 

1. Ein Dominikanertheologe an der Universität von Salamanca

 

2. Die Vorlagen, auf die sich Cano gestützt hat

 

3. Canos Ensemble der loci theologici

 

4. Deutliche Akzentverschiebungen zu Thomas von Aquin

III.

Ein kurzer Blick auf die Rezeption und
Interpretation Canos

 

1. Die Lehre von den loci in den Schulbüchern

 

2. Das Verschwinden der loci-Lehre

 

3. Die Diskussion der Leistung Canos in der Sekundärliteratur

IV.

Die ursprüngliche Leistung Melchior Canos

 

1. Loci sind Gesichtspunkte

 

2. Argumentationslehre, nicht in erster Linie Topologie

 

3. Bei Nichtbeachtung problematische Konsequenzen

Viertes Kapitel
Unter dem Vorzeichen der Geschichtlichkeit
Glaubensorte bzw. loci theologici
in einer zukünftigen Theologischen Erkenntnislehre

I.

Rahmenbedingungen und Gründe für eine relecture
und Ausweitung der Lehre von den loci theologici

 

1. Das Vorzeichen der Geschichtlichkeit ernst nehmen

 

2. Orte des Glaubens nicht nur formal in die Argumentation einbringen

 

3. Die gemeinsame Verortung der Theologie und ihre Identität

II.

Vier Dimensionen für
eine heutige Lehre von den loci theologici

 

1. Topik: Welche Orte?

 

2. Pragmatik: Welches Zusammenspiel?

 

3. Kriteriologie: Welches Gewicht?

 

4. Hermeneutik: Welches Verständnis?

III.

Das Ensemble der Glaubensorte erweitern und ausdifferenzieren

 

1. Die Verortung des Glaubens in Kirche und Welt

 

2. Das Ensemble der Orte der Glaubensbezeugung erweitern

 

3. Kontexte und ‚fremde Orte‘

IV.

Aus Glaubensorten Erkenntnis gewinnen

 

1. Erster Schritt: die Glaubensorte sondieren (Topologie)

 

2. Zweiter Schritt: Zusammenschau der Orte (Pragmatik)

 

3. Dritter Schritt: Auslegung und Verständnis reflektieren (Hermeneutik)

 

4. Vierter Schritt: das Gewicht von Aussagen einzelner Orte klären (Kriteriologie)

Fünftes Kapitel
Das Zusammenspiel der Glaubensorte
Neuralgische Punkte, Gefahren und Chancen

I.

Stichwort Tradition:
Eröffnung oder Verhinderung
neuer Glaubenserkenntnis?

 

1. Zwei Gesichter der Tradition

 

2. Tradition als theologisches Prinzip

 

3. Ein sakramentales Verständnis der Tradition

 

4. Tradition, indem die Tradition neu gelesen wird

 

5. Das Damalige auf heutige Weise lesen

II.

Stichwort Communio:
Glaubensorte in einer Überlieferungsgemeinschaft

 

1. Eine hierarchisch dominierte Ekklesiologie

 

2. Die communio-Ekklesiologie des Konzils

 

3. Erkenntnistheoretische Katholizität

 

4. Einswerden von Zeugnis und Zeugen

 

5. Nicht ohne eine Spiritualität der Gemeinschaft

 

6. Spirituelle Konkretisierungen

III.

Stichwort Autorität:
Wie werden Glaubensorte und ihre Aussagen verbindlich?

 

1. Kritik und Rehabilitierung der Autorität

 

2. Der Begriff der Autorität in der Glaubens- und Theologiegeschichte

 

3. Eine Diskussion über den Ursprung der Autorität

 

4. Das Verständnis der Autorität bei Melchior Cano

 

5. Zur Begründung und Akzeptanz von Autorität

 

6. Autorität in der Kirche

 

7. Zur Autorität von Glaubensorten

IV.

Stichwort Pastoral:
Wie kann der Glaube zeitgemäß sein?

 

1. Von den loci theologici zu den Orten der Theologie

 

2. Eine Neuentdeckung der loci alieni

 

3. Die Pastoral als Ort des Glaubens

 

4. Die prekäre Zuordnung von Dogmatik und Pastoral

 

5. Exkurs: Wirklichkeit und Programm der Inkulturation

 

6. Ermutigung von höchster Stelle

 

7. Der Platz des aggiornamento: die Unterscheidung der Geister

 

8. Mühe um die geistlichen Voraussetzungen

 

9. Vergewisserung der Glaubensaussagen

 

10. Erkundung des ‚heutigen‘ Kontextes

 

11. Abwägung im Licht des Glaubens und im Licht der Wirklichkeit

V.

Stichwort Relativismus:
Not und Segen ortsgebundener Glaubenserkenntnis

 

1. Glaube, Relativismus und Anspruch auf Wahrheit

 

2. Geschichtlichkeit und Verunsicherung im Glauben

 

3. Theologisch begründete Relativität, nicht Relativismus

Zum Abschluss
Für eine bescheidene und nicht selbstbezogene Theologie

Bibliographie

Abkürzungen

Anmerkungen

EINE EINFÜHRUNG

„Gott einen Ort sichern“

Zu den bemerkenswerten Frauen des französischen Katholizismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts gehört die Sozialarbeiterin Madeleine Delbrêl (1904–1964). Mit 15 Jahren hatte die hoch begabte Studentin in einem kirchenfernen Milieu nach eigenen Angaben den Glauben ihrer Kindheit aufgegeben. Freilich war sie redlich genug, auch die offenen Fragen und die Argumente für den Glauben nicht einfach wegzuschieben. So muss sie sich eines Tages eingestehen, dass sie sich eigentlich nicht mehr als Atheistin bezeichnen kann: „Ich begann zu beten … Dann habe ich durch Lesen und Nachdenken Gott gefunden. Aber als ich betete, habe ich geglaubt, dass Gott mich fand und dass er lebendige Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt.“1

Diese einschneidende Erfahrung ändert ihr Leben, das sie schließlich zusammen mit einigen gleichgesinnten Frauen in die Pariser Industrievorstadt Ivry führt – als Sozialarbeiterin in einem überwiegend kommunistischen Milieu. Dort hatte das Wort ‚Gott‘ über weite Strecken keine Bedeutung mehr, und der Glaube wurde nicht mehr verstanden. Der Glaube war gewissermaßen ortlos geworden. Was legt sich für einen gläubigen Menschen mehr nahe, als dem Glauben und damit Gott einen Ort sichern zu wollen? Und so schreibt sie im Blick auf ihre kleine Gemeinschaft:

„Der Mittelpunkt dieses Lebens, seine Freude, sein Daseinsgrund, ohne den es eitel schiene, ist die Gabe unserer selbst an Gott, in Jesus Christus. Ist, in dieser Welt, in sie hinein versenkt, als Partikel der Menschheit, mit all seinen Fasern ausgeliefert, dargebracht, enteignet zu sein. Als Inseln göttlicher Anwesenheit. Um Gott einen Ort zu sichern.“2

Gott einen Ort sichern heißt in diesem Text: Gott – vor allem – im eigenen Leben Raum geben, das eigene Leben zu einer Insel göttlicher Anwesenheit machen. Aber Delbrêl versteht das nicht als etwas Privates. Auf diese Weise will sie Gott in der Gesellschaft, im Leben der Menschen eine wirksame und erlösende Gegenwart ermöglichen.

Orte für Gott

Gott einen Ort sichern, so macht dieser Text sichtbar, bedeutet nicht in erster Linie, für ihn einen geographischen Ort aussparen. Der Begriff ‚Ort‘ bedeutet an dieser Stelle und so auch in den weiteren Ausführungen mehr und Vielgestaltigeres. Vielleicht lässt es sich auch mit Hilfe des Begriffes ‚Raum‘ verdeutlichen. Gott und dem Glauben an ihn Raum geben heißt dann: Gott soll nicht ‚über‘ oder ‚jenseits‘ der Wirklichkeit des persönlichen, gesellschaftlichen, ‚irdischen‘ Lebens bleiben, sondern er soll – in der einen oder anderen Weise – ‚mitten in‘ diesem Leben einen Platz bekommen, wirklich und wirksam werden. Die Art, wie Gott in den Raum des Irdischen eintritt und gegenwärtig wird, reicht von einer geistig-geistlichen Präsenz im Glauben über die Gegenwart in einem aus dem Glauben gespeisten Handeln oder einer rituellen Präsenz bis hin zu einer Art mystischer Gegenwart. Gemeinsam ist diesen sehr unterschiedlichen Formen, dass damit das deutliche Bewusstsein eines ‚Hier und Jetzt‘ verbunden ist, das sich von einer allgemein verstandenen Allgegenwart Gottes unterscheidet.

Gott einen Ort sichern. Der Gedanke ist für einen gläubigen Menschen schön und nachvollziehbar. Und doch drängt sich die Frage auf, ob Gott ‚das nötig hat‘. Ist er nicht immer schon und überall gegenwärtig? Widerspricht eine ‚Verortung Gottes‘ nicht seinem Wesen? Zwängt man ihn damit nicht ein zwischen die engen Koordinaten von Raum und Zeit? Gibt es also nicht gute Gründe, einem solchen ‚Hier und Jetzt Gottes‘ gegenüber skeptisch zu sein – gerade um Gottes willen? Andererseits: Leben Menschen nicht immer in ihrem Hier und Jetzt? Wie soll Gott für ihr Leben Wirklichkeit, also wirksam werden, wenn nicht an dem (geistigen, gesellschaftlichen …) Ort, an dem sie leben?

Wie immer man diese und ähnliche Fragen beantworten will, der christliche Glaube hat noch einmal einen anderen Ausgangspunkt. Er geht davon aus, dass Gott sich selbst einen Ort gesucht hat – in der Geschichte Israels, im Glaubensweg dieses Volkes und in seinem Heiligen Land und schließlich in Leben und Wirken, Tod und Auferstehung Jesu von Nazareth. Diese ‚Verortung‘ Gottes prägt die Religionen des Judentums und des Christentums. Es ist der Glaube an den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (vgl. Ex 3,15) bzw. an den „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (vgl. 2 Kor 1,3), also der Glaube an einen Gott, der sich kraft seines Wirkens in der Geschichte festgemacht hat. Juden und Christen glauben an einen Gott, der sich innerhalb der Koordinaten von Raum und Zeit zu erkennen gegeben hat.

Es macht die innere Logik des Christentums aus, dass nicht nur sein Ursprung mit einem Ort bzw. Orten in der Geschichte verknüpft ist, sondern dass es auch dadurch Bestand hat, dass der praktizierte und reflektierte Glaube von Generation zu Generation weitergegeben wird – an verschiedenen Orten: in Glaubensgemeinschaften und Schriften, in liturgischen Feiern und Reflexionen, Konzilien und Traditionen usw. Deshalb können Christoph Markschies und Hubert Wolf sagen, das Christentum sei „nichts anderes als eine große Topographie von Erinnerungsorten“3. Wenn das Christentum so verstanden wird, dann rückt damit ein allgemeines religions- und kulturgeschichtliches Thema ins Blickfeld.

Das kulturelle und religiöse Gedächtnis und seine Orte

Gott bzw. dem Glauben Raum geben ist kein Thema, das allein im Christentum seinen Platz hat, sondern auf verschiedene Weise ist es auch in anderen Bereichen der Religionsgeschichte präsent. Dabei ging und geht es um die Präsenz von Religion in der Geschichte. Jan Assmann hat in diesem Zusammenhang den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt.4 Gemeint ist damit ein Archiv an Einsichten, die für die Funktion einer Religion bedeutsam sind, aber auch darüber hinaus. Dafür finden sich in der Religion „Gedächtnisstützen“5, die Assmann „lieux de mémoire, Gedächtnisorte“6 nennt – geographische Orte, aber auch Ereignisse, Zeiträume, Riten, Stille, Texte, Musik, Symbole, besondere Kleidungsstücke usw. Diese kurze Aufzählung macht deutlich, dass Gedächtnisorte mehr als Quellen des Wissens sind. In ihnen kristallisiert sich vielmehr alles, was eine Religion ausmacht, nicht nur ihr kognitives Substrat. Gedächtnisorte sind Orte religiösen Lebens und Orte religiöser Identität.

Orte, Gedächtnisorte … Den theologiegeschichtlich Kundigen erinnern diese Begriffe früher oder später daran, dass es auch in der Theologie einen einschlägigen, in der Neuzeit klassisch gewordenen Begriff gibt – den Begriff der loci theologici. Er hatte im 20. Jahrhundert – wie noch zu zeigen sein wird – eine wechselvolle Geschichte. Mit dem Ende der neuscholastischen Theologie geriet er weitgehend in Vergessenheit, hat aber in den letzten Jahren in einem Bereich der deutschsprachigen Theologie wieder Karriere gemacht.

Das Thema der loci theologici

Dieser Begriff muss nicht nur wegen der lateinischen Formulierung erläutert werden. Ausgangspunkt einer Erklärung kann die bereits erwähnte topographische Verfassung des Christentums sein. Mit anderen Worten: Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die Weitergabe des Glaubens durch das Zeugnis geschieht, das an verschiedenen Orten gegeben wird und so dem Zugang zum Glauben bzw. zur Glaubenslehre möglich macht. Nun ist es einsichtig, dass nicht alles, was de facto bezeugt wird, authentische Überlieferung sein muss und Verbindlichkeit beanspruchen kann. Wie kann man hier ein Verfahren finden, Authentisches vom Nicht-Authentischen zu unterscheiden?

Das war die Frage, die der spanische Dominikaner Melchior Cano (1509–1560) mit seinem Werk De locis theologicis, also über die loci theologici, beantworten wollte. Er hat dabei auf eine lange und wechselvolle Vorgeschichte aufbauen können, die bis zur Topik des Aristoteles zurückreicht und in Philosophie und Theologie ihre Spuren hinterlassen hat. Canos Grundgedanke, der hier vereinfacht vorgestellt und später noch entfaltet wird, kann so umrissen werden: Wenn geklärt ist, welchen Instanzen in der Kirche bei der Bezeugung des Glaubens Autorität zukommt, dann kann der Verweis auf die Autorität dieser Instanzen zum Argument dafür werden, dass bestimmte Aussagen authentischer Ausdruck des Glaubens sind. Das gilt z. B. für die Heilige Schrift und ihre Autorität. Wenn man zeigen kann, dass bestimmte Aussagen entweder biblischen Ursprungs sind oder auf andere Weise durch die Autorität der Heiligen Schrift legitimiert werden, dann gelten sie als authentische Glaubensaussagen. Auf ähnliche Weise kann – so Cano – auch die Autorität der kirchlichen Traditionen, des Lehramtes der Bischöfe und des Papstes, aber auch die Autorität der Kirchenväter und der Theologen als Argument ins Spiel gebracht werden. Und wieder anders können auch Instanzen, die ihren Ort außerhalb des Glaubens haben, als Autoritäten für die Theologie und den Glauben angesehen werden.

Anders als in der protestantischen Theologie, die unter loci theologici Glaubensthemen versteht (Schöpfung, Rechtfertigung, Kirche usw.)7, sind die loci theologici bei Melchior Cano und in seiner Wirkungsgeschichte ein methodisches Instrumentarium – wie noch zu zeigen sein wird. Dabei ist ein weiterer Unterschied zu beachten. Die loci theologici sind nicht einfach mit den Bezeugungsinstanzen identisch, sondern sie stützen sich auf diese Instanzen, insofern diesen Instanzen Autorität zukommt. Die Geschichte der Topik bzw. der Lehre von den loci macht das ebenso deutlich wie der Sprachgebrauch bei Melchior Cano. Der spanische Theologe bezeichnet nicht die Heilige Schrift als locus theologicus, sondern die Autorität der Heiligen Schrift (auctoritas sacrae scripturae). Auch das wird noch zu zeigen sein. Festzuhalten ist freilich schon an dieser Stelle, dass diese methodologischen Feinheiten heute zumeist übergangen werden. So werden alle möglichen Gegebenheiten als loci theologici bezeichnet – die konkreten gesellschaftlichen Umstände, die pastorale Situation, die Kunst usw. Damit will man darauf hinweisen, dass diese Bereiche für Glaube und Theologie bedeutsam sind. Unklar bleibt allerdings zumeist, wie diese Bedeutsamkeit methodologisch umgesetzt werden kann bzw. soll.

Die folgenden Ausführungen sind aus einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Lehre von den loci theologici erwachsen. Sie sollte nicht in einer Aufsatzsammlung dokumentiert werden, sondern in einer Darstellung, die der Frage verpflichtet ist, wie die Treue zu einer einst ergangenen Offenbarung möglich ist, wenn man davon ausgeht, dass alles Sprechen und damit auch alles Sprechen über diese Offenbarung an bestimmten Orten erfolgt, also von den Denk- und Verstehensmöglichkeiten an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geprägt ist. Die eigenen Publikationen, die dabei verarbeitet oder auch wortgetreu übernommen wurden, sind am Ende des Inhaltsverzeichnisses angegeben. Das bringt es mit sich, dass manche Themen wiederholt angesprochen werden – bei einer nicht alltäglichen Thematik muss das kein Nachteil sein. Wie kann man also im Werden und Vergehen der Geschichte einer ein für alle Mal ergangenen Offenbarung Gottes treu bleiben? Bei der Beantwortung dieser Frage werden drei Ziele in besonderer Weise verfolgt:

Ein erstes Ziel: Bezeugungsorte und loci theologici unterscheiden

Grundlegend und strukturierend für die folgenden Überlegungen ist die bereits angesprochene Unterscheidung zwischen Orten des Glaubens und der Art und Weise, wie sie in der theologischen Argumentation als loci theologici ins Spiel gebracht werden. Diese Unterscheidung soll in dieser Studie ausführlich, vor allem aus der Geschichte der Topik begründet werden. Dadurch soll gezeigt werden, dass diese Unterscheidung eine sachgerechte Lehre von den Erkenntnisquellen des Glaubens und eine sachgerechte Methodologie für die Glaubenserkenntnis, aber auch für die wissenschaftlich theologische Erkenntnis ermöglicht.

Damit ist eine zweite Unterscheidung angesprochen, die im Weiteren zur Geltung gebracht werden soll: die Unterscheidung von Glaubenserkenntnis und wissenschaftlich theologischer Erkenntnis. In der Theologiegeschichte wurde die Lehre von den loci theologici oft mit der Theologischen Erkenntnislehre gleichgesetzt, die als Erkenntnis- und Methodenlehre für die wissenschaftliche Theologie gegolten hat. In der vorliegenden Arbeit werden die Orte des Glaubens bzw. die loci theologici nicht nur in ihrer Bedeutung für die Glaubenswissenschaft, sondern auch für die gewissermaßen alltägliche Glaubenserkenntnis betrachtet. Das hindert nicht, diese Studie der Theologischen Erkenntnislehre zuzuordnen – im Gegenteil. Denn die Theologische Erkenntnislehre wird im Folgenden mit dem Handbuch der Fundamentaltheologie als „die theologisch zu erarbeitende Lehre von den Bedingungen, Strukturen und Regeln der kirchlichen Glaubenserkenntnis“8 verstanden und so nicht allein der Glaubenswissenschaft, sondern auch dem Glauben und seiner Überlieferung in der Kirche zugeordnet.

Aber es soll im Folgenden auch eine dritte Unterscheidung beachtet werden, die die Orte des Glaubens betrifft. Sie wird am Beginn des ersten Kapitels erläutert, soll aber bereits an dieser Stelle vorweggenommen werden. Wenn in den weiteren Ausführungen von Orten des Glaubens die Rede ist, dann geht es entweder (1.) um Orte, an denen der Glaube zur Erfahrung wird; oder (2.) um Orte, an denen der Glaube bezeugt und weitergegeben wird; oder (3.) um Orte, die für das Verstehen des Glaubens von Bedeutung sind bzw. an denen sich der Glaube bewähren muss. Dabei muss bereits vorweg darauf hingewiesen werden, dass mit dem Begriff des Glaubens im Folgenden vor allem der Glaubensinhalt (fides quae) gemeint ist und nicht der vollzogene bzw. gelebte Glaube (fides qua).

Ein zweites Ziel: die Bedeutung der loci alieni klären

Ein zweites Anliegen der folgenden Ausführungen ist die Erörterung, was es mit den sogenannten loci alieni auf sich hat. Melchior Cano zählt in seinem Ensemble der loci theologici – wie bereits angedeutet nicht nur die für den Glauben spezifischen Autoritäten auf, sondern auch drei loci, die nicht glaubensspezifisch sind, wohl aber für die Theologie unentbehrlich: die Vernunft, die Autorität der Philosophen und die Autorität der Geschichte. Der spanische Theologe geht also davon aus, dass sich die theologische Argumentation nicht nur auf Bezeugungsorte des Glaubens wie die Heilige Schrift, die Traditionen usw. stützt, sondern auch auf Instanzen, deren Aussagen sie gewissermaßen ‚von außen‘ übernimmt. Diese loci wurden und werden deswegen in weiterer Folge als loci alieni von den loci proprii unterschieden, weil mit ihrer Hilfe glaubensunabhängige, aber für die Glaubenserkenntnis unverzichtbare Argumente (argumenta aliena) gefunden werden können.

Wie noch zu zeigen sein wird, haben diese loci alieni in letzter Zeit in der Theologie neue Beachtung gefunden. Dabei ist nicht zuletzt der französische Philosoph Michel Foucault Pate gestanden, der den Begriff der fremden Orte in den kulturwissenschaftlichen und philosophischen Diskurs eingebracht hat.9 Dieses neue Interesse an den loci alieni ist nicht nur legitim, es führt auch zu fruchtbaren neuen Perspektiven für Glaube und Vernunft. Allerdings scheinen die einschlägigen Ausführungen bislang an Ungenauigkeiten zu leiden. Das bringt die Gefahr mit sich, dass der theologische Diskurs bei Behauptungen bleibt und nicht bis zur Frage vorstößt, wie denn die loci alieni methodologisch ins Spiel gebracht werden können und sollen. Hier Klärungen zu versuchen, ist eine zweite Aufgabe, der sich diese Arbeit stellen möchte.

Ein drittes Ziel: verorteter Glaube, verortete Theologie

Ein dritter Grund für die Beschäftigung mit Orten des Glaubens und den loci theologici ist die gut begründete Annahme, dass Glaube und Theologie unausweichlich zeitlich und räumlich konkret verorteter Glaube bzw. konkret verortete Theologie sind. In diesem Punkt unterscheidet sich der Neuansatz für eine Lehre von den Glaubensorten bzw. loci theologici deutlich von einer Theologie, die die Auffassung vertreten hat, dass sich Glaube und Theologie gewissermaßen überzeitlich formulieren lassen (theologia perennis). Die klassische Lehre von den loci theologici war angefangen von Melchior Cano bis zu den Handbüchern der Neuscholastik eigentlich dieser Form der Theologie verpflichtet. Mit dem Ende der Neuscholastik ist daher auch die Lehre von den loci theologici aus dem Blickfeld der Theologie verschwunden.

Freilich ist es naheliegend, dass die Infragestellung des Axioms einer zeitlos gültigen Formulierung der Lehre den Verdacht geweckt hat und weckt, dass damit der Glaube relativiert und zersetzt werde. Der vorliegende Beitrag möchte zeigen, dass diese Sorge begründet ist. Er möchte aber auch zeigen, dass man den bleibend verbindlichen Glauben und eine ortsgebundene Ausprägung seiner Formulierung durchaus miteinander verbinden kann. Das umso leichter, als die örtliche Bedingtheit von Glaubensaussagen nicht überbewertet werden muss. Und gerade wenn die Lehre des Glaubens an unterschiedlichen Orten des Glaubens gewonnen wird, zeigt sich, wie im Zusammenspiel dieser Orte das bleibend Gültige sichtbar werden und sich zur Geltung bringen kann.

Der konsequent verfolgte Gedanke der Verortung von Glaube und Theologie bedeutet aber nicht nur ein Problem, sondern eröffnet auch eine Chance. Er macht deutlich sichtbar, dass der Glaube (und mit ihm auch die Theologie) sich in einem beständigen Prozess der Inkarnation befindet, der so etwas von seinem wahren Reichtum ahnen lässt. Und er macht sichtbar, dass der Glaube als verorteter Glaube immer geerdeter Glaube ist.

Wegetappen: der Inhalt der folgenden Ausführungen

Der eben umrissenen Aufgabenstellung entsprechend werden die folgenden Ausführungen in fünf Kapitel gegliedert:

Das erste Kapitel Der christliche Glaube und die Bedeutung des Lokalen wendet sich dem status quaestionis zu, d. h. den einschlägigen theologischen und kulturgeschichtlichen Untersuchungen, und markiert auf diese Weise Ausgangspunkte und Anknüpfungsmöglichkeiten.

Das zweite Kapitel Vielfältige Orte der Glaubenserkenntnis macht deutlich, wie reichhaltig das Panorama von Glaubensorten ist und was sie im Allgemeinen, aber besonders auch für die Glaubenserkenntnis leisten können.

Das dritte Kapitel wendet sich unter der Überschrift Wenn Orte zu Argumenten werden der Lehre von den loci theologici, ihrer Geschichte und ihrem Schicksal im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart zu. Das vierte Kapitel geht der Frage nach, welche Bedeutung Glaubensorte bzw. loci theologici in einer zukünftigen Theologischen Erkenntnislehre haben können. Die Kapitelüberschrift markiert die grundlegende Voraussetzung: Unter dem Vorzeichen der Geschichtlichkeit.

In einem umfangreichen fünften Kapitel geht es um Das Zusammenspiel der Glaubensorte, die ja kein Monopol beanspruchen können, sondern miteinander ins Spiel kommen müssen. Dabei sind neuralgische Punkte, Gefahren und Chancen ins Auge zu fassen.

Am Ende dieser Einführung ein herzliches Dankeschön an Frau MMag. Andrea Riedl und Herrn Daniel Pachner für das wiederholte Gegenlesen des Textes und wertvolle Hinweise und an den Echter Verlag für die – zum wiederholten Mal – bewährte Zusammenarbeit.

ERSTES KAPITEL

Der christliche Glaube und die Bedeutung des Lokalen

Ausgangspunkte und Anknüpfungsmöglichkeiten

Loci theologici und Orte des Glaubens sind zwei verschiedene Dinge. An dieser Stelle soll mit den Orten des Glaubens und ihrer Bedeutung begonnen werden. Denn eigentlich ist es keine Frage: Die Welt ist voller heiliger Orte, die religiöse Erinnerungen wachhalten und Erfahrungen möglich machen. Und das ist vorerst einmal im geographischen Sinn gemeint – die Geburtsgrotte in Betlehem, Benares, Santiago de Compostela, vermutlich Stonehenge, Lourdes, die Kaaba in Mekka, Jerusalem … Für nicht wenige in Westeuropa ist diese Tatsache verblasst – aus verschiedenen Gründen. Aber es ist eine Tatsache. Und es ist nicht übertrieben, wenn man davon ausgeht, dass es heilige Orte gibt, seit Menschen leben. Orte, die für sie durchscheinend waren und sind für eine numinose Macht, die sie suchen, bei der sie sich bergen, die sie fürchten, besänftigen wollen, verehren …

Die Religionsgeschichte gibt darüber reichlich Auskunft: Kultstätten und Wallfahrtsorte, heilige Haine und Tempel, Bethäuser und Opferaltäre – eine ungeheure Vielfalt von Orten, in denen sich für uns, die oft genug Nachgeborenen, die religiöse Vorstellungswelt und der Glaube von Menschen kondensiert haben und für uns sichtbar und greifbar werden.

Die folgenden Ausführungen sind gekennzeichnet durch eine Einschränkung und ein bestimmtes Interesse. Die Einschränkung: In den weiteren Ausführungen wird es allein um das Christentum gehen und ein wenig auch um die religiösen Erfahrungen des Volkes Israel, ohne die christlicher Glaube und christliche Theologie buchstäblich nicht denkbar sind. Die Ausführungen werden geleitet durch ein spezifisches Interesse: Die Überlegungen zielen auf die Frage, welche Funktion Orte für die gläubige und theologische Erkenntnis haben. Es geht also nicht um Religionsgeschichte oder Religionsphänomenologie, sondern um Erkenntnis aus dem Glauben. Daher soll in einem ersten Schritt gezeigt werden, dass die Bedeutung des Lokalen mit der spezifischen Struktur der christlichen Religion zusammenhängt. In einem zweiten Schritt soll die Bedeutung des Lokalen aus kulturwissenschaftlicher Sicht erhellt werden. Ein dritter Schritt befasst sich schließlich mit markanten theologischen Erörterungen, die Orten und ihrer Bedeutung für den Glauben und die Theologie gewidmet sind.

I.  Gottes Immer und Überall – Gottes Hier und Heute Theologische Voraussetzungen

Wenn Gott bzw. der Glaube an Gott mit Orten in Beziehung gebracht wird, dann stellt sich die grundsätzliche Frage, ob überhaupt denkbar ist, dass Gott ‚verortet‘ werden kann bzw. ob eine Verortung Gottes nicht seine Göttlichkeit in Frage stellt.

1. Gott – mitten im Leben jenseitig

In der christlichen Tradition ist Gott einerseits der streng transzendente Gott, erhaben und unfassbar. Zugleich ist er aber auch der Gott, der sich in der Geschichte des Volkes Israel und in Jesus Christus auf die Geschichte eingelassen und geoffenbart hat. Er erweist sich damit als ein Gott, der in gewisser Hinsicht seine Orte und seine Zeiten hat. Diese spannungsvolle Einheit von Transzendenz und Immanenz Gottes, von jenseits aller Orte und ortsgebunden hat der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) in die prägnante Formel gefasst: Gott ist mitten im Leben jenseitig.10 Er steht damit natürlich in der christlichen Tradition, die – angefangen von Hilarius von Poitiers († 367) – mit Werbick zusammengefasst werden kann: „Gottes innerste Immanenz in allen Dingen ist zugleich seine äußerste Transzendenz.“11 Thomas von Aquin (1224–1274) hat es klassisch formuliert: Da „alles geschaffene Sein notwendig Gottes eigene und ausschließliche Wirkung ist, ist er allen Dingen, und zwar innerlichst, gegenwärtig.“12 Gott ist also als der Transzendente ‚über‘ der geschaffenen Wirklichkeit und zugleich der Immanente ‚in‘ ihr. Und im Sinne einer Absicherung gegen Missverständnisse werden seit Augustinus Gottes Gegenwart und Gottes Einwohnung unterschieden. Auch wenn Gott im Innersten der Menschen gegenwärtig ist, so wird diese Gegenwart doch nur dann zur gnadenvollen Beziehung und Gemeinschaft mit Gott, wenn der Mensch sich auf ihn einlässt.13

In Überlegungen wie diesen zeigt sich, dass im Sprechen über Gott die Kategorie des Ortes wie von selbst ins Spiel kommt: Gott ‚in‘, Gott ‚über‘ der Wirklichkeit – ein Hinweis, wie sehr die Kategorien von Ort/Raum und Zeit das menschliche Denken prägen. Zugleich aber stellt sich die Frage, welche Bedeutung konkrete Orte (und damit auch Zeiten) für den Glauben an Gott haben können. Und als ‚Kehrseite‘ ergibt sich als Problem, wie angesichts Gottes Orte und Zeiten denkbar sind, die als Gott-Ferne erfahren werden.14 Wie immer man diese Fragen beantworten will oder kann, die Zeugnisse der Bibel und der christlichen Tradition „halten beides zusammen: das Immer und Überall mit dem Hier und Jetzt, mit dem vorher und dem Dereinst.“15

Dieses spannungsvolle Miteinander betrifft in der Geschichte des Volkes Israel und der Kirche aber nicht nur einige Episoden, sondern die Mitte ihres Glaubens. Die lange Glaubensgeschichte des Volkes Israel hat bei seinen großen Propheten wie z. B. Isaias16 zur unabweisbaren Einsicht geführt, dass Gott absolut erhaben und unfassbar transzendent ist. Und zugleich wird von Gott im Bekenntnis gesagt, dass er geschichtsmächtig ist, also nicht nur ein deistisch verstandener Schöpfer oder Urgrund, sondern ein Gott, der sein Volk „mit erhobenem Arm“17 führt und in seiner Mitte gegenwärtig ist.

Diese Spannung wird im Christentum noch einmal zugespitzt. Das dokumentiert bereits das Johannesevangelium in seinem Prolog, der nicht nur Vorzeichen für das weitere Evangelium ist, sondern in gewisser Weise auch seine Zusammenfassung. Im Blick auf Jesus von Nazareth, der in diesem Evangelium als der göttliche ‚Sohn‘ schlechthin angesprochen wird, heißt es: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott … Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt …“ (Joh 1,1.14).

Gott wohnt, zeltet (wie der griechische Begriff auch übersetzt werden kann18) unter den Menschen. Bereits das Alte Testament weiß darum und hütet sein Heiligtum. Jetzt aber wohnt er im Menschen Jesus von Nazareth. Und noch bevor Gott, der unter den Menschen wohnt, zu sprechen beginnt, ist allein schon die Tatsache, dass er unter den Menschen wohnt, Offenbarung. Gott, der sich auf die Kategorien von Ort und Zeit einlässt, zeigt und erweist sich damit als einer, der den Menschen rettend nahekommen und sein will. Damit hat das Thema ‚Ort‘ in der Mitte des Glaubens seinen Platz und seine Bedeutung.

2. Nicht Mythos, sondern historisches Geschehen

Schon in sehr alten Überlieferungen kann beobachtet werden, dass der jüdisch-christliche Glaube in den entscheidenden Augenblicken seiner Entstehung und Überlieferung mit konkreten Orten und Zeiten verbunden wird. So in den Patriarchen-Erzählungen:

„Terach nahm seinen Sohn Abram, seinen Enkel Lot, den Sohn Harans, und seine Schwiegertochter Sarai, die Frau seines Sohnes Abram, und sie wanderten miteinander aus Ur in Chaldäa aus, um in das Land Kanaan zu ziehen. Als sie nach Haran kamen, siedelten sie sich dort an. Die Lebenszeit Terachs betrug zweihundertfünf Jahre, dann starb Terach in Haran. Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde …“ (Gen 11,31–12,1)

Die gleiche Beobachtung lässt sich auch im Neuen Testament machen. Auch hier, am Beginn des christlichen Glaubens, steht im Unterschied zu anderen Formen von Religion nicht die Zeit- und Ortlosigkeit des Mythos, sondern ein historisches Geschehen, das sich in Raum und Zeit festmachen lässt. So leitet der Evangelist das Auftreten Johannes’ des Täufers und damit auch das Kommen Jesu mit einer fast feierlichen Zeit- und Ortsangabe ein:

„Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus Tetrarch von Ituräa und Trachonitis, Lysanias Tetrarch von Abilene; Hohepriester waren Hannas und Kajaphas. Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias. Und er zog in die Gegend am Jordan.“ (Lk 3,1–3)

Die Botschaft ist unmissverständlich: Ob Menschen Gott einen Ort schaffen oder sichern können, ist die eine Frage. Aber zum christlichen Glauben gehören die Erfahrung und die Sicherheit, dass sich Gott selbst einen Ort gesucht und geschaffen hat: Jesus von Nazareth, einen Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. In ihm ist der göttliche Logos selbst Fleisch, irdische Wirklichkeit, Mensch geworden.

3. Der Angelpunkt – das Offenbarungsverständnis

Die folgenden Ausführungen werden vorerst nicht von den loci theologici sprechen, sondern von Orten des Glaubens, aus denen Aussagen bzw. Argumente für den Glauben gewonnen werden. Das ist gemessen an der spätneuzeitlichen Schultheologie in dieser Weise ungewöhnlich. In ihr hat man zwar um die Bedeutung von Orten für den christlichen Glauben gewusst und auch um ihre Bedeutung für die Glaubenserkenntnis, aber man hat sie eigentlich nur formalisiert ins Spiel gebracht. Das heißt: In der theologischen Argumentation hat man bestimmte Orte, an denen der Glaube bezeugt wurde, vor allem das Lehramt der Bischöfe und des Papstes als von Gott legitimiert ausgewiesen und sie fortan als Referenzpunkte bzw. Gesichtspunkte für die Argumentation – eben als loci theologici – ins Spiel gebracht. Das heißt: Man hat unter dem Gesichtspunkt der Autorität des Lehramtes nach Aussagen gesucht, die durch den als Autorität ausgewiesenen ‚Ort‘, vielleicht besser: durch diese ‚Instanz‘, bezeugt wurden. Sie galten dann – in unterschiedlicher Gewichtung – als in ihrem Geltungsanspruch verbürgt. Diese Konzeption war mit einem ganz bestimmten Offenbarungsverständnis verbunden, das Offenbarung Gottes vor allem als Mitteilung von verlässlich verbürgten Aussagen verstand.

Es war nicht zuletzt das Zweite Vatikanische Konzil, das dieses Offenbarungsverständnis entschieden geweitet hat. Offenbarung ist für das Konzil nicht primär eine Mitteilung von verschiedenen jenseitigen Sachverhalten, sondern in erster Linie Selbstoffenbarung Gottes: „Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun.“19 Und diese Offenbarung geschieht nicht allein in Aussagen, sondern sie „ereignet sich“ – wie das Konzil festhält – „in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind“20. Und das Konzil fügt hinzu: „Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der Offenbarung ist.“21 Offenbarung geschieht in Ereignissen bzw. in einem Zusammenhang von Ereignissen. Ihre sprachliche Fassung und Wiedergabe ist etwas Sekundäres, auch wenn diese Bezeugung im Fall der Heiligen Schrift als inspiriert gilt.

Wenn es aber nicht mehr allein um Aussagen geht, in denen die Offenbarung überliefert wird, sondern um Ereignisse, die auch Taten, Geschehnisse usw. umfassen, dann verdienen auch die Glaubensorte und die Bezeugungsinstanzen selbst mehr und neue Aufmerksamkeit. Es ist jetzt nicht mehr allein von Interesse, wer diese Instanzen sind und welche Autorität ihnen zukommt, sondern sie sind in allen ihren Dimensionen und in ihrem raum-zeitlichen Zusammenhang bedeutungsvoll. Sie bezeugen die Offenbarung nicht allein durch ihre Aussagen, sondern auch durch ihr Sein und das, was sich an diesen Orten ereignet. Noch einmal anders: Bedeutsam ist nicht nur der sprachliche Text, sondern der vor- und außersprachliche Kontext des Bezeugungsortes.

Als Beispiel: Die Texte des Konzils von Trient (1545–1563) sind bedeutungsvoll und haben hohe Verbindlichkeit. Aber für sich allein genügen sie nicht und können sogar zu Einseitigkeiten führen. Man muss auch wissen, was das Konzil von Trient ist und was es wollte – und erst so kann es auf authentische Weise in seiner Bedeutung als Bezeugungsort des kirchlichen Glaubens ernst genommen und in rechter Weise gewürdigt und verstanden werden.

4. Orte des Glaubens in verschiedener Bedeutung

Ein erstes Resümee: Der christliche Glaube weiß sich einem Ursprung verpflichtet, der in der Geschichte, also in Raum und Zeit, ‚verortet‘ ist. Aber nicht nur der Ursprung des Glaubens hat seinen Ort, sondern auch das Leben, die Bezeugung und die Weitergabe des Glaubens geschehen an Orten. Diese Orte sind durchaus unterschiedlich, aber sie haben unverzichtbare Bedeutung. Gottesdienstgemeinden und ihre Kirchenräume sind solche Orte; christliche Familien, in denen der Glaube weitergegeben wird; Konzilien, die Streitfragen klären, ebenso wie der Disput oder das übereinstimmende Urteil von Theologen; Wallfahrtsorte sind ebenso wichtig wie ganz profane Orte, an denen Menschen ihren christlichen Glauben leben …

Und schon diese einfache und eher improvisierte Aufzählung macht andeutungsweise klar, dass diese Orte nicht alle die gleiche Funktion erfüllen. Sie können zwar zusammenfassend als Orte des Glaubens bezeichnet werden – und deshalb werden sie im weiteren Verlauf der Ausführungen auch so genannt. Wenn man aber fragt, was an diesen Orten geschieht, dann kann man Unterschiede feststellen:

– Orte des Glaubens können Orte sein, an denen es zu besonderen Erfahrungen im Glauben gekommen ist, Orte, die durch Epiphanien, also besondere Gotteserfahrungen, ausgezeichnet sind. Es sind nicht nur Orte, die an solche Ereignisse erinnern, sondern auch Orte, an denen religiöse Erfahrungen immer wieder möglich sind – man denke z. B. an Wallfahrtsorte.

– Orte des Glaubens können aber auch Orte sein, an denen der Glaube erinnert, bezeugt und weitergegeben wird. An diesen Orten geht es weniger um Erfahrungen als vielmehr um den ausformulierten Glauben, der vielleicht an ganz anderen Orten seinen Ursprung hat. Hier haben z. B. Konzilien und ihre Dokumente ihren Platz. In einem übertragenen, nicht geographischen Sinn können aber auch die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testamentes oder Dokumente der Tradition usw. als solche Orte des Glaubens verstanden werden.

– Orte des Glaubens können schließlich auch Orte sein, die für das Verstehen des Glaubens von Bedeutung sind. Hier können z. B. Institutionen wie die Universitäten, aber auch Disziplinen wie die Philosophie oder die historische Wissenschaft genannt werden. Solche Orte können – zugleich auch – Orte sein, an denen sich der Glaube bewähren muss. Das können Elendsviertel ebenso sein wie wissenschaftliche Institutionen.