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Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

WARZENSCHWEIN

Manores

Die Ordische Stele

An Bord der WARZENSCHWEIN

Die Ordische Stele

Raumhafen Port Ho-Nan

Port Ho-Nan

Manores

Die Ordische Stele

7. April 1517 NGZ

8. April 1517 NGZ

An Bord der BOX-57333

Die Ordische Stele

An Bord der BOX-57333

An Bord der WARZENSCHWEIN

Epilog

Leserkontaktseite

Kommentar

Risszeichnung Mobile Robotplattform

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 2771

 

Pilger der Gerechtigkeit

 

Einsatz im Zentrum des Allema-Bundes – der Liga-Dienst plant einen beispiellosen Coup

 

Wim Vandemaan

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Längst sind die Terraner in ferne Sterneninseln vorgestoßen, wo sie auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte getroffen sind, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Milchstraße steht weitgehend unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dessen Richter behaupten, nur sie könnten den Weltenbrand aufhalten, der sonst unweigerlich die Galaxis zerstören würde.

Während Perry Rhodan und die Besatzung des Fernraumschiffes RAS TSCHUBAI versuchen, in der fernen Galaxis Larhatoon wichtige Informationen über die Atopen zu sammeln, geht der Kampf in der Milchstraße in eine neue Etappe. Einerseits rüstet der Widerstand auf, andererseits werden auch die Unterstützer der Atopen immer stärker.

Das Tribunal selbst pflanzt auf vielen Welten sogenannte Ordische Stelen, die dazu da sein sollen, anstelle eines der Richter Recht zu sprechen. Die ersten, die es wagen, ihren Fall vorzubringen, sind die PILGER DER GERECHTIGKEIT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Attilar Leccore – Der Direktor des TLD geht selbst in einen Einsatz.

Bonnie Gontersbloom – Die Wahlmeisterin der Nomaden macht ein Angebot.

Findar Hospallen – Der Wertschätzer des Bankhauses Fracowitz verstrickt sich in galaktische Ereignisse.

Keshkord Vaylender – Der Gesandte der Tefroder muss feststellen, dass nicht alles nach Plan verläuft.

Boyton Holtorrec – Der Kommandant eines Onryonen-Clusters setzt auf Verständnis.

Prolog

Unterwegs

 

Ein langer Weg ist es gewesen.

Es hatte Phasen erlebt, in denen es sich von den Chronokatarakten tragen ließ, wo die Transferspulen sich schneller drehten, als das Licht und Welten sprühten.

In einer anderen Phase war es durch die Vereisten Äonen geglitten, stumm und betäubt von der kristallinen Stille.

Es war Kreaturen der Unzeit begegnet, die, in den Panzern ihrer Eigenzeit, durch die versiegelten Zonen gedriftet waren, unwiderruflich eingekehrt in die erbeigene Abwesenheit.

Es hatte, dem Übergang schon nah, das Arsenal aufgesucht. Dort hatte es sich bestücken lassen mit neuen Sinnen.

Denn selbst so früh, so nah am Urgrund, wollte die Welt erfasst sein, wollte das Quantengewölk die eigene Finsternis erleuchtet sehen, und die Gegenwart ist der hellste aller Blitze.

Geduldig, voller Gegenwart, hatte es die Ankunft des Atopen erwartet.

Welch eine Tiefe.

Sind wirklich zu diesem Zeitpunkt schon Entscheidungen gefallen?

Ja.

Es hatte sich von dem Atopen ordnen und gliedern lassen, hatte sich einflößen lassen in die Fassung aus archaischem Patronit.

Für einen Augenblick hatte es die anderen Stelen gesehen, erfüllte und unerfüllte, sanftmütige und solche, in denen der Zorn flammte, lauter und rein.

Satte und hungrige.

Alte und junge.

Auf sie alle aber war der warme Schatten der Jenzeitigen Lande gefallen.

Wann werde ich ausgesendet werden?

Bald.

Wohin werde ich geschickt?

Nicht weithin. Es hat keine Eile mehr.

Beinahe

bist du schon

da.

WARZENSCHWEIN

2. April 1517 NGZ

 

Attilar Leccore betrat die Zentrale des Schiffes etwa eine halbe Stunde nachdem es seine Linearraumetappe abgeschlossen hatte und in das Einsteinuniversum zurückgekehrt war.

Er betrachtete das überschäumende Lichtermeer im Holo, das Gewimmel der Sterne.

Die Kommandantin des Schiffes, Wahlmeisterin Bonnie Gontersbloom, nickte ihm kurz aus ihrem Pneumosessel zu. Die Ausläufer ihres gewaltigen Hutes wippten. Dann widmete sie sich wieder voller Andacht dem Panoramaschirm.

»Noch nichts?«, fragte Leccore. Er fuhr sich mit den Fingerspitzen durch sein schütteres Haupthaar. Die angegrauten Reste, die graublauen Augen, sein rundes Gesicht mit der Nase, die ein wenig zu fleischig war – auf normale Menschen machte er den Eindruck eines normalen Menschen.

Ein Mann, dem man als Nachbarn die Kinder anvertrauen würde; ein Mann, den man gerne zum Freund haben würde, nicht zum besten Freund, aber zum guten Freund, weil er keine Ansprüche stellte und in keinen Mittelpunkt rückte. Eine harmlose Randfigur.

Und Direktor des Terranischen Liga- Dienstes.

Leccore wartete geduldig auf Antwort.

»Wir liegen gut in der Zeit«, sagte Bonnie Gontersbloom endlich und schaute unverwandt in die grenzenlose Landschaft aus Gas, Staub und Leere.

Der Pilot hatte die Füße auf die Armaturen gelegt, die Hände im Nacken verschränkt und döste. Zhou Deschanel, erinnerte sich Leccore. Einiger finanzieller Unbehaglichkeiten wegen aus dem Dienst der LFT-Flotte ausgeschieden und zu den Raumnomaden gegangen.

Wie hieß der Wahlspruch der Nomaden doch? Wer bei den Nomaden lebt, hat Anspruch auf Anonymität.

Wobei ihre Wahlsprüche für die Nomaden das waren, was den meisten Terranern die verbriefte Charta ihrer Bürgerrechte war.

Immerhin: Auch Leccore selbst erfreute sich einer gewissen Anonymität. Er hatte sein Gesicht ein wenig umgebaut – nicht sehr, nur das eine Allerweltsgesicht gegen ein anderes getauscht. Doch wer immer ihm an Bord begegnete, würde in ihm kaum den Direktor des Terranischen Liga-Dienstes erkennen.

Falls er denn je ein Bild des Direktors gesehen hatte.

»Willst du dich setzen?«, fragte Bonnie Gontersbloom. »Etwas essen oder trinken?«

Gerüchte wollten wissen, dass die Wahlmeisterin in ihrem Privatquartier noch selbst buk – bevorzugt Apfelstrudel und Eierkuchen.

»Eierkuchen?«, fragte er.

»Friede, Freude, Eierkuchen – das war immer der Dreiklang der nomadischen Außenpolitik.«

»Eines wertvoller als das andere«, stimmte er zu.

Dabei waren sie alles andere als auf einer friedlichen Mission. Sie waren auf einer Mission, der sowohl Otieno Portella, der Liga-Minister für Verteidigung, als auch die Solare Premier Cai Cheung nur widerwillig zugestimmt hatten: »Terraner gefährden keine Menschenleben für eine derartige Operation«, hatte Portella gesagt.

Attilar Leccore hatte sich geräuspert und leise geantwortet: »Die Analysten des Dienstes sind sich einig, dass die Analysten der Onryonen das mittlerweile herausgefunden haben. Wir werden sie also überraschen, indem wir es dennoch tun. Und ihre Überraschung wird dafür sorgen, dass kein Menschenleben verloren geht. Im Übrigen nehmen die Nomaden keine Weisung der Liga an.«

»Aber du«, hatte der Minister entgegnet.

Es hatte Leccore einige Überzeugungsarbeit gekostet, aber wie üblich hatte er sich am Ende durchgesetzt.

»Sie sind da!«, riss ihn Zhou Deschanel aus seinen Gedanken. Wie hatte der Pilot so rasch die Füße von den Armaturen bekommen? Jedenfalls saß er da, aufmerksam und gespannt wie eine Illustration im Dienstbuch für Angehörige der LFT-Flotte.

Im Panoramaschirm war ein Raumschiff aufgetaucht, das sich mit hoher Austrittsgeschwindigkeit, dabei ohne weiteren Antrieb durch den Weltraum bewegte. Das Schiff war walzenförmig und ähnelte insofern der WARZENSCHWEIN. Allerdings hörten damit die Ähnlichkeiten auch schon auf: Der neu angekommene Raumer war mit seinen 700 Metern Länge und 220 Metern Durchmesser deutlich kleiner als die WARZENSCHWEIN. Und er war eine entschieden elegantere Konstruktion als die wieder und wieder umgebaute, um zahllose Anbauten und Aufsätze bereicherte und reichlich aus der Form gebrachte ehemalige Mehandor-Walze, in der seit über zweitausend Jahren der Nomaden-Clan der Gontersbloom, fernere Anverwandten und Freunde lebten.

Bonnie Gontersbloom beugte sich leicht vor. »Kontakt herstellen!«

Das Bild im Panoramaschirm wechselte. Auf den ersten Blick hätte man das Gegenüber für einen Maahk halten können. Der Kopf ragte halslos als halbmondförmiger Wulst aus dem Rumpf und mochte eineinhalb Meter breit sein. Auf dem Grat des Schädels: vier faustgroße Augen, die Rundumsicht ermöglichten.

In einer synchronen Bewegung blinzelten die vier Augen mit je zwei Klapplidern. Anders als bei den Maahks war die Haut des Raumfahrers grün und schuppig.

Er war ein Grossart.

»Guten Tag, Kommandant Gerzschko-2«, begrüßte Leccore den Neuankömmling. »Ich hoffe, du hattest eine gute Reise?«

»Sie hat mich ans Ziel geführt«, sagte der Grossart. »Meine Passagiere sind bereit, auf dein Schiff zu wechseln.«

»Es ist nicht sein Schiff«, warf der Pilot der WARZENSCHWEIN ein.

»Und der Rohling?«, fragte Leccore.

»Du wirst ihn sehen.«

 

*

 

Weder die Wahlmeisterin noch sonst jemand wusste exakt, wie viele Menschen und andere Lebewesen an Bord der WARZENSCHWEIN wohnten. Das jedenfalls hatte die Wahlmeisterin mehrfach versichert, und Leccore begann es zu glauben.

Bonnie Gontersbloom hatte versprochen, dass die neuen Gäste keinerlei Aufsehen erregen würden.

Davon allerdings hatte sich der Direktor nicht überzeugen lassen. Die Bordpositronik hatte deswegen ein System ausgeklügelt, nach dem bestimmte Gänge und Korridore kurzfristig gesperrt wurden, um die Neuankömmlinge ungesehen in das Quartier von Leccore zu bringen.

Die beiden hochgewachsenen, überschlanken Gestalten warteten einen Moment, bis sich die Sitzgelegenheiten in Leccores Kabine ihren körperlichen Bedürfnissen angepasst hatten. Dann setzten sie sich. Noch im Sitzen wirkten sie größer als der Direktor.

»Nicht viel los an Bord, right?«, fragte der eine, den Leccore der Wahlmeisterin als Booardh vorgestellt hatte. Booardh hatte, aus welcher Quelle auch immer, einige Brocken einer archaischen terranischen Mundart aufgeschnappt und flocht sie bei Gelegenheit in seine Rede ein.

»Hm«, machte Voedorc, rückte seine handtellergroße Datenbrille zurecht und sah sich demonstrativ in Leccores Quartier um. Sein Blick fiel auf die Wahlmeisterin; er spähte auf ihren Hut, auf ihren Kopf, schließlich auf ihren Bauch. Dann lachte er keckernd und strich sich über das graue Federkleid. »Was haben wir denn da? Ein zartes Embryönchen?«

»Wow«, sagte Booardh. »Wer ist Daddy?«

»Zeigen das eure Datenbrillen nicht?«, wunderte sich Bonnie Gontersbloom.

»Zeigen sie noch nicht. Aber wir arbeiten daran«, sagte Voedorc und keckerte wieder.

»Echte Spaßvögel, diese Ganschkaren«, meinte die Wahlmeisterin. »Dürfen wir sie jetzt sehen?«

Voedorc hantierte an seiner Datenbrille. Ein Holo entfaltete sich. Im Raum schwebte wie zum Greifen nah das dreidimensionale Abbild einer Ordischen Stele – ein Nachbau. Das Material, aus dem dieses Duplikat gebaut war, leuchtete tiefrot aus sich selbst wie echtes Patronit.

»Der Rohling ist noch alles andere als perfekt«, sagte Voedorc. »Aber schließlich sind wir auf dem Weg, ihn zu optimieren.«

Die beiden Ganschkaren beendeten die Holo-Vorführung und machten sich auf den Weg in ihre eigene Unterkunft.

»Ganschkaren«, sagte die Wahlmeisterin gedehnt.

»Du hast doch nichts dagegen?«

Die Wahlmeisterin schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil: Ein wenig biologische Hinterlassenschaft der Terminalen Kolonne hat mir noch an Bord gefehlt.«

»Sie haben mit TRAITOR abgeschlossen«, sagte Attilar Leccore. »Ich bürge für sie.«

»Ich weiß«, murmelte Bonnie Gontersbloom. »Ausgezeichnete Wissenschaftler, ausgezeichnete Techniker.«

»Unsere Freunde von der Neuen USO haben die Flüchtlingsgruppe auf einem abgelegenen Planeten entdeckt«, berichtete Leccore. »Sie haben diese Welt gewissermaßen unter Quarantäne gestellt. Natürlich im Einverständnis mit den neuen Siedlern. Aber unter ihnen gab es den einen oder anderen unruhigen Geist, der uns empfohlen worden ist. Cai Cheung hat beide amnestiert.«

Gontersbloom winkte ab. »Nett von der Solaren Premier. Aber wer bei den Nomaden lebt, hat Anspruch auf Anonymität. Der Wahlspruch gilt für jeden.« Sie schenkte ihm einen tiefen Blick. »Er würde sogar für dich gelten.«

»Danke«, sagte Leccore. »Vielleicht komme ich eines Tages darauf zurück.«

 

*

 

Attilar Leccore sprach von seiner Kabine aus noch einmal kurz mit Gerzschko-2. Dann brach die TROMMEL auf.

Die WARZENSCHWEIN dagegen wartete planmäßig noch eine Weile ab.

Es würde sogar für dich gelten, hatte die Wahlmeisterin gesagt. Leccore war sicher, dass Gontersbloom diese Einladung nicht als Anspielung auf seine Herkunft gedacht hatte. Schließlich stammte auch er gewissermaßen aus der Hinterlassenschaft der Kolonne. Aber nur ein innerster Zirkel war über seine Herkunft unterrichtet.

Perry Rhodan zum Beispiel.

Hatte die Wahlmeisterin den beiden Ganschkaren bereits ihr Angebot unterbreitet? Lauten Protest würde sie mit einer Aufnahme der beiden Vogelartigen kaum ernten.

Ob die Bevölkerung der WARZENSCHWEIN Booardh und Voedorc überhaupt als ehemalige TRAITOR-Angehörige erkennen würde?

Leccore musste lächeln. Möglicherweise hatte die Bevölkerung der WARZENSCHWEIN noch nie von TRAITOR gehört. Geschweige denn von Ganschkaren.

Die meisten Nomaden interessierten sich wenig für das, was sich in der Außenwelt zutrug.

Leccore war sicher, dass der größte Teil der Bevölkerung nicht einmal bemerkt hatte, als es vor wenigen Wochen Umbauten an der Außenhülle der Walze gegeben hatte. Schließlich hatte diese Renovierung nicht etwa nach einem Landemanöver auf einer planetaren Werft stattgefunden, sondern war im freien Raum von einem Tender der Liga durchgeführt worden.

Nun fügten sich die einzelnen Puzzlesteine des Plans allmählich zusammen – Steine, von denen nur wenige Eingeweihte wussten, wie das fertige Bild aussehen sollte.

Das Bild ...

Leccore tippt auf die Sensortaste seines Multikom-Armbandes. Eine Schublade fuhr aus, nicht größer als der Nagel seines kleinen Fingers. In der hauchdünnen Vertiefung der Lade lag passgenau die Folie. Er hob sie mit der Fingerkuppe heraus, hielt sie in Augenhöhe und löste sie behutsam.

Sie schwebte ein wenig schwankend in der Luft, als suchte sie dort Halt.

»Entfalte dich!«, flüsterte Leccore.

Die Folie wuchs, und kurz darauf konnte Leccore das Gemälde betrachten.

Das Bild stammte von einem Maler namens Caspar David Friedrich, aus der Frühzeit der terranischen Geschichte. Sein Original hing in der Terranischen Nationalgalerie für präastronautische Kunst in Terrania; er hatte es dort oft betrachtet.

Hin und wieder als Attilar Leccore, meist in anderer Gestalt.

Vor einigen Jahren hatte er dieses Replikat erworben. Der hochgeschätzte Siganese Guus Hyrnika hatte es angefertigt, ein Künstler, für dessen Kopien im Miniaturformat Kunstkenner nicht selten ein Vielfaches von dem bezahlten, was das Original für wert erachtet wurde.

Das Gemälde trug den Titel Zwei Männer am Meer bei Mondaufgang. Es zeigte zwei Männer, die, in Radmantel und Barett gekleidet, mit dem Rücken zum Betrachter standen und übers Meer schauten. Der abendliche Himmel wölbte sich über den beiden in den Farben müder Flammen; der Mond war blass; das Meer lag unbewegt.

Die beiden Männer waren einen Schritt über das Ufer hinausgegangen; jeder von ihnen stand auf einem Stein, einer winzigen Felseninsel, weniger Festland als vielmehr Niemandsland. Sie schienen sich gegenseitig nah, doch das Wasser zwischen den Steinen trennte sie; sie berührten einander nicht.

Worauf warteten sie? Kein Schiff in Sicht. Waren sie zu spät gekommen? Zu früh? In welchen Gedanken hatten sie sich verloren? Hatten sie die gleiche Heimat oder das gleiche Ziel?

Sie waren sich so ähnlich.

Seit Leccore das Bild zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihm wie ein Portrait seiner selbst erschienen, das ihn zusammen mit seinem Elter zeigte.

Attilar Leccore streckte sich auf der Liege aus und befahl dem Zimmer, das Licht abzuschwächen. Erst in der Dunkelheit zeigte sich das Bild in seiner ganzen Pracht. Die Himmelsfarben erstrahlten, und kurz bevor er einschlief, war ihm, als ob einer der beiden Männer seinen Kopf drehte, um ihn anzuschauen.

 

*

 

Bonnie Gontersbloom weckte ihn einige Stunden später. Leccore richtete sich auf, minimierte das Gemälde verstaute es wieder in seinem Multikom.

»Es ist so weit«, sagte die Wahlmeisterin. »Laut Zeitplan sollten wir starten.«

Er nickte.

»Nach Allema also«, sagte die Wahlmeisterin.

»Wo eine Ordische Stele steht, aber noch kein Kastell.«

»Haben wir darüber gesprochen, ob das nicht eine Falle sein könnte?«

»Haben wir«, sagte er. »Und wir haben es für unwahrscheinlich gehalten.«

Sie nestelte an ihrem blauen Hut. »Ein wenig mehr Information wäre nicht möglich?«

Leccore sagte: »Mein Mann auf Allema hat mir ein Psychogramm des Onryonen geliefert, der dort das Kommando führt. Dieser Onryone heißt Boyton Holtorrec. Er glaubt, dass sein Cluster genug Sicherheit garantiert, auch ohne Kastell. Er will eine Art Fanal; er will beweisen, dass Onryonen und Bürger der Liga friedlich zusammenarbeiten können.« Er lächelte. »Er hat gewissermaßen eine Schwäche für uns Terraner.«

Manores

5. April 1517 NGZ

 

Protonotar Orest Brovedani nickte dem geistesgegenwärtigen Jercy Fracowitz zu, der ihm entgegenkam und im Vorübergehen lausbubenhaft zwinkerte. Brovedani schlenderte über das Parkett in Richtung der schweren Holztür, hinter der die beiden Wertschätzer auf ihn warteten. Wie immer, wenn ein Treffen mit Chea Ayre bevorstand, feierten seine Hormone Karneval.

Neben der Tür stand ein Whistler Private Paladin. Der WPP trug eine altmodische Livree, rotes Tuch, goldene Knöpfe und goldfadendurchwirkte Epauletten. Das Gesicht war bloß angedeutet, die Augen leere weiße Flächen wie bei archaischen Statuen.

»Hallo«, begrüßte Brovedani den WPP und zupfte seinen weißen Schal zurecht.

»Ich wünsche einen guten Tag und dass sich dein Wohlstand mehrt, mein Herr Orest Brovedani. Das Bankhaus Fracowitz wird willigst das Seine zu deinem Profit beitragen.«

»Das wollen wir doch hoffen«, murmelte der Protonotar und schritt durch die Tür, die der Roboter ihm aufhielt.

Der Raum war von ovalem Schnitt und eher gediegen möbliert, sah man einmal von der unsichtbaren Volière ab, in der eine Handvoll daumennagelgroßer Saphirflederer flatterten. Die Tiere schlugen ihre Kristallflügel so schnell, dass für ein menschliches Auge nur der Eindruck einer dunkelblau-transparenten Aura blieb.

Die eine gewölbte Seite des Raumes bestand aus echtem, leicht eingetrübtem Glas. Man sah die wirkliche Stadt, kein Holobild.

In der Wölbung der anderen Seite lief ein Infogramm, allerdings auf stumm und blass gestellt. In drei untereinander sortierten Laufschriften wurde über aktuelle Kurswerte und politische Entwicklungen berichtet.

Brovedani wandte seinen Blick von dem Bildschirm ab und nickte Chea Ayre zu. Ihr schmales Gesicht, ihre tiefbraune Haut, ihre mandelförmigen dunklen Augen. Das kurz geschorene, wollige Lockenhaar lag wie ein schwarzer Helm auf ihrem Kopf. Sie trug ein weißes Leinentuch, das sie über der linken Schulter zusammengeknotet hatte. Die Füße waren bis auf den Lauffirnis nackt.

Sie schüttelten einander die Hand.

Orest Brovedani brauchte eine Weile, bis er Findar Hospallen entdeckte, den anderen Wertschätzer des Bankhauses und – wie Brovedani ihn heimlich nannte – Erfinder der Unscheinbarkeit. Männer wie Hospallen brauchten keinen Deflektorschirm, zumal dann nicht, wenn sie sich in der Nähe einer Frau wie Chea Ayre aufhielten.

Hospallen saß in einen Ledersessel versunken und winkte dem Protonotar zu wie aus den tiefsten Tiefen eines Ozeans.

»Sehr selten, dass das Bankhaus um den Rat des Protonotars nachsucht«, sagte Orest Brovedani.

Hospallen reichte ihm ein Glas Sprudelwasser; Brovedani nahm, trank und wischte sich den Mund mit dem selbst reinigenden Endstück des Schals.

Das Bankhaus – natürlich gab es zahllose Banken auf Allema. Wenn aber von dem Bankhaus die Rede war, ging es um das Bankhaus Fracowitz, eines der mächtigsten Kreditinstitute der Liga.

Notare waren für die Beurkundungen von Rechtsgeschäften zuständig, sie beglaubigten die Hinterlegung von Geld, Gold, Geschmeide, von Gewebe und Reliquien und anderen stofflichen Kostbarkeiten.

Auch die Protonotare von Allema erfüllten diese Aufgaben, darüber hinaus aber waren sie Vertrauenspersonen des Allemats und von diesem bestellt.

In aller Regel versuchten die Bankhäuser des Systems, ihre Geschäfte diskret und ohne Zutun der Protonotare abzuwickeln. »Wie kann ich euch helfen?«, fragte Brovedani.