Cover
Mirjam Pressler
Novemberkatzen
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www.gulliver-welten.de
Gulliver 79
© 1982, 1990 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg
Einbandgestaltung: Max Bartholl unter Verwendung eines Filmfotos
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74313-8
Für Ronit, Gila, Tall
Novemberkatzen wurde 1986 von Sigrun Koeppe für den Südwestfunk verfilmt; der Film ist als DVD imHandel erhältlich.
Novemberkatzen gibt es auch als Hörbuch bei der hörverlag, gelesen von Mirjam Pressler und Eva Gosciejewicz.

1

Ilse starrt auf das Arbeitsblatt, das sie vor sich auf dem Tisch liegen hat. Unterstreiche alle Namenwörter, steht als Arbeitsauftrag da. Sie versteht nicht so genau, was mit Namenwörtern gemeint ist. Natürlich ist Ilse ein Namenwort, weil es ihr Name ist, auch Oma, Dieter, Horst und Marga sind Namenwörter.
Draußen scheint die Sonne und ihre Strahlen fallen auf das Papier. Ilse ballt ihre linke Hand zur Faust, spreizt Daumen und Zeigefinger ab und lässt den Schatten als bellenden Hund über das weiße Blatt gleiten.
Der Hund vom Kornmeier hat den Herrn Krämer in die Hand gebissen. Obwohl er ihn nur streicheln wollte, hat der Herr Krämer gesagt.
Geschieht ihm recht, denkt Ilse. Geschieht ihm ganz recht. Er ist genauso böse wie sein Sohn, der Klaus.
Wenn ich ein Hund wäre, denkt Ilse, dann würde ich viele beißen.
Sie lässt mit schnellen Bewegungen ihren Schattenhund zuschnappen. Plötzlich wird das Papier dunkler, eine Hand greift nach ihrer Schulter, schüttelt sie. Ilse duckt sich unter diesem Griff. »Wenn man so schlecht ist wie du«, schimpft Herr Stumpff, »dann sollte man wenigstens besser aufpassen. Aber bei dir ist Hopfen und Malz verloren.«
Marion auf dem Platz neben ihr lacht laut. Ilse duckt sich noch tiefer. Herr Stumpff geht zurück zur Tafel. »Schreibt die Hausaufgaben auf«, sagt er. »Heute wird es ein bisschen mehr, weil ihr eher aushabt. Ich muss zu einer Beerdigung.«
Als er seine Ledertasche auf den Tisch stellt, seine Sachen einpackt, die Metallschlösser zuschnappen lässt und wie jeden Tag sagt: »So, das wär’s für heute«, ist Ilse schon längst fertig. Sie rennt als Erste aus der Klasse.
Im Treppenhaus der Schule ist es düster. Das Licht, das durch die hohen, schmalen Fenster einfällt, wird von dem dunklen, porösen Linoleumbelag aufgesogen. Die große Tür am Fuß des letzten Treppenabsatzes ist geöffnet, die beiden Holzflügel mit den Gittern vor den Glaseinsätzen sind mit eisernen Löwenkopfriegeln in den Halterungen an den Flurwänden eingeklinkt.
Als Ilse über die Schwelle tritt, schlägt ihr die Sonne entgegen. Sie blinzelt und legt den Unterarm schützend über ihre Augen. Im Vorbeigehen streift sie schnell mit der anderen Hand über die sonnenwarmen Sandsteinquader, die den Türstock einrahmen. Trocken und rau fühlen sie sich an, körnig, bröselig, fast wie Schmirgelpapier, nur viel angenehmer. Hinter ihr drängen und schreien jetzt die anderen Kinder. Ilse dreht sich nicht um. Sie rennt über den Schulhof, schaut auf den Boden, stößt mit einem Radfahrer zusammen, hebt den Kopf aber auch dann nicht, als sie das laute »Blöde Kuh« hört, und rennt weiter. Erst als sie draußen auf der Straße ist, geht sie wieder langsamer. Ihr Ranzen schlägt mit jedem Schritt leicht auf ihren Rücken.
Beim Konsum gibt es gegrillte Brathähnchen. Der Geruch steigt ihr verlockend in die Nase. Sie merkt, dass sie Hunger hat, aber sie geht nicht schneller. Im Gegenteil, je näher sie der Sandgasse kommt, desto langsamer werden ihre Schritte. Sie lässt die geöffnete Hand durch die Fliederzweige von Hoffmanns Garten streifen. Wild wuchern die Büsche durch den Zaun hindurch und zwingen die Fußgänger, von dem ohnehin schmalen Bürgersteig auf die Straße hinunter auszuweichen. Ilse reißt ein paar Blätter ab und zerreibt sie zwischen ihren Fingern.
Dann ist sie in der Sandgasse, die immer noch Sandgasse heißt, obwohl schon vor Jahren der breite Mittelstreifen asphaltiert worden ist, damals, als die ersten Städter oben im alten Wingert Häuser gebaut haben, Häuser mit großen Terrassen und offenen Kaminen in den Gärten über dem Hang.
Das Haus, in dem Ilse wohnt, ist ein graubrauner Klotz, das zweite Haus links, da, wo die Sandgasse noch lange nicht in das neue, feine Wohnviertel übergeht, ganz ohne Terrassen oder Balkons. Das Gemeindehaus ist es. Sie ist die Lautenschläger Ilse aus dem Gemeindehaus. Links und rechts an den Schmalseiten des Hauses befinden sich unter hoch liegenden kleinen Flurfenstern die Eingänge. Drei Parteien wohnen auf jeder Seite, Erdgeschoss, erster und zweiter Stock.
Ilse geht über die steinernen Wegplatten zur linken Haustür und steigt die Treppe hinauf zum ersten Stock. Es ist eine Wohnung ohne Flur, direkt vom Treppenabsatz gehen die drei Türen zur Küche und zu den beiden Schlafzimmern ab. Die Küchentür steht weit offen. Die Mutter hat gern Durchzug, wenn sie kocht, besonders im Sommer, wenn das Feuer im Herd eine fast unerträgliche Hitze verursacht.
»Du bist früh dran heute«, sagt die Mutter und wendet sich wieder dem Herd zu.
»Wir hatten eher aus. Der Lehrer musste zu einer Beerdigung.« Ilse sagt das fast entschuldigend.
»Ja, stimmt«, sagt die Mutter. »Der alte Brückner wird heute beerdigt. Da gehen sie natürlich alle hin. Nur weil er der Vater vom Bürgermeister gewesen ist.«
Ilse dreht sich halb um und lässt ihren Ranzen auf den Tisch rutschen. »Dafür hat er uns umso mehr aufgegeben.« Sie packt ihr Zeug aus, setzt sich an den Tisch. Mit dem Füller in der Hand hockt sie vor dem aufgeschlagenen Heft. Aber sie schreibt nicht, sie schaut ihrer Mutter zu.
Sie kochen schon, die Kartoffeln, Ilse kann es riechen. Der Deckel hebt sich über den Dampfwolken und fällt scheppernd zurück auf den Topf, immer wieder. Die Mutter bewegt sich hastig, heißes Kochwasser schwappt über und platscht ihr auf die rechte Hand. »Scheiße«, sagt sie und schlenkert die Hand ein paar Mal durch die Luft. Die Kartoffeln, jetzt auf der hintersten Ecke des Herdes, links neben dem Wasserschiff, haben aufgehört zu kochen, brummeln nur noch leise vor sich hin. Die Mutter hebt die Hand zum Mund und bläst mit vorgeschobenen Lippen über den sich immer stärker rötenden Brandfleck. »Scheiße«, sagt sie noch einmal, dreht sich um und geht zur gegenüberliegenden Wand, zum Wasserhahn, und lässt sich kaltes Wasser über die Hand laufen. Der rote Fleck fängt über dem Daumen an und zieht sich bis hinter das Handgelenk. Die Mutter schimpft leise vor sich hin. Sie wühlt in der rechten Schublade des Küchentisches, bis sie zwischen Rabattmarken, Gummiringen, einer Nagelfeile, einem angefangenen Heftchen Hansaplast und ein paar Reißnägeln eine rote Salbentube findet, fast leer, gegen Brandwunden und Insektenstiche. Sie rollt die Blechtube sorgfältig vom Ende her auf, drückt etwas von dem fast durchsichtigen Gelee auf die Haut und verreibt es. Dabei verzieht sie das Gesicht und kneift ihre Augen zusammen. Dann stellt sie einen etwas kleineren, blau emaillierten Topf auf den Herd, ganz in die Mitte, dahin, wo das Feuer die innersten Herdringe manchmal rot aufglühen lässt. Oberhalb des Topfbodens ist das Email an etlichen Stellen abgesprungen und bildet seltsam gerundete, schwarze Formen in dem hell gemaserten Blau. Im Topf sind Bohnen, die sie schon vorher abgezogen, gewaschen und in Salzwasser gelegt hat.
»Was gibt es heute?«, fragt Ilse.
»Grüne Bohnen mit Kartoffeln und Fleischwurst«, sagt die Mutter. »Du musst jetzt noch zum Metzger gehen und die Wurst holen, ich hab’s vergessen.«
»Der Dieter kann auch mal. Der muss gleich kommen.«
»Du gehst, habe ich gesagt.«
»Ich will aber nicht. Warum immer ich? Der Dieter kann doch auch mal.« Ilse weint. Sie weint laut und sichtbar, die Nase läuft und bildet eine sich aufblähende Rotzglocke.
»Na ja«, sagt die Mutter. »Der Dieter kann wirklich auch mal. Bist du sicher, dass er gleich kommt?«
Ilse nickt, schnieft, wischt mit dem Handrücken die Rotzglocke weg und nimmt wieder ihren Füller. »Der Stumpff meckert jeden Tag, weil ich ihm nicht schön genug schreibe. Ich weiß gar nicht mehr, was ich machen soll. Ich geb mir solche Mühe.«
»Der Stumpff soll das Maul halten, der alte Knacker. Der glaubt wohl immer noch, er wäre was Besonderes, nur weil sein Vater unter Adolf ein hohes Tier war.«
»Wer ist Adolf?«
»Ach, sei still. Mir tut die Hand weh.«
»Schlimm?«
»Es geht.«
Ilse fängt an zu schreiben. Mühsam malt sie die Buchstaben.
»Ich habe heute die Oma beim Einkaufen getroffen. Scheißfreundlich ist sie gewesen. Du sollst heut Mittag mal raufkommen zu ihr, sie hat zwei Unterhosen und ein Paar Kniestrümpfe für dich gekauft.«
Ilse hebt den Kopf und lacht erfreut.
»Sag ihr, dass der Dieter Sandalen brauchen könnte, und der Horst ein neues Oberhemd.«
»Ja, mach ich.«
Da kommt Dieter herein, sein Mund ist schmal und verkniffen. »Was gibt’s heute?«
»Grüne Bohnen mit Kartoffeln und Fleischwurst. Gehst du schnell noch zum Metzger und holst die Wurst? Ich hab’s vergessen.«
Dieter nimmt den Ranzen vom Rücken. »Wieso ich? Die Ilse soll gehen.«
»Die Ilse ist schon so oft gegangen«, sagt die Mutter. »Du kannst auch mal.«
Dieter schüttelt den Kopf. »Ich geh nicht. Kochen ist Frauensache, Einkaufen auch. Die Ilse soll gehen.«
»Hörst du«, sagt die Mutter, »du sollst gehen. Er geht nicht.«
Ilse schaut auf. Ihre Augen sind sehr dunkel gegen das blasse Gesicht. »Ich will nicht. Er soll.«
»Du gehst«, schreit die Mutter. »Sofort gehst du.«
Ilse zieht den Kopf ein, hält die Arme schützend vor das Gesicht. »Nein«, sagt sie. Die Mutter schlägt mit dem Kochlöffel, den sie gerade in der Hand hat, nach ihr, trifft aber nur ihren linken Arm. Ilse nimmt beide Arme schützend auf die linke Seite, und der Kochlöffel trifft, als die Mutter noch einmal ausholt, voll auf ihre rechte Backe. Ilse weint.
»Gehst du jetzt?«
Ilse packt ihre Schulsachen wieder ein, nimmt die fünf Mark, die ihre Mutter aus der Schürzentasche zieht, und verlässt die Küche.
In der Sandgasse spielen jetzt ein paar Buben mit einer Blechbüchse Fußball. »Die Ilse«, schreit der Krämer Klaus und kickt ihr die Büchse vor die Füße. Mittelfeine Erbsen. Ilse weicht aus und rennt zur Bergstraße hin. Nur um die Ecke muss sie kommen, dann ist alles gut. Hinter sich hört sie das Lachen der Buben. Und dann den Vers:
»Ilse Bilse,
niemand willse,
kam der Koch,
nahm sie doch,
steckt sie in das Ofenloch.«
Ilse rennt schneller. Sie hasst dieses Lied, vor allem das ›niemand willse‹. Ilse Bilse, niemand willse, niemand willse, dröhnt es in ihrem Kopf und ihre Füße schlagen den Takt dazu. Niemand will sie. Zur Marga sagt das keiner. Die Marga ist ja auch bei der Oma. Ganz klar ist es, dass die Oma die Marga will.
Ilse rennt an der alten Lene vorbei und erschrickt, weil sie viel zu nah an ihr vorbeikommt und nicht den gewohnten Bogen um sie gemacht hat. Ganz plötzlich ist das Gesicht der Lene vor ihr, die blau verwaschenen Augen, die Ilse anschauen und doch an ihr vorbei, der eingefallene Mund, die weißen, strähnigen Haare, die so gar nicht zu der seltsam glatten rosa Haut passen.
»Guten Tag«, ruft Ilse im Vorbeirennen. Eine ganz hohe Kinderstimme hat sie vor Angst. Die alte Lene antwortet nicht, streckt aber ihre Hand nach ihr aus. Und obwohl Ilse im letzten Moment versucht auszuweichen, noch schnell einen Sprung zur Seite macht, spürt sie die streifende Berührung der alten Frau.
Die Frau Seifert will gerade ihren Laden zumachen, Mittagspause von halb eins bis drei, als Ilse sich schwer atmend gegen den Metallrahmen der Tür fallen lässt. »Für fünf Mark Fleischwurst«, sagt sie, »ich will für fünf Mark Fleischwurst.«
Frau Seifert schaut Ilse erstaunt an. »Du bist ja ganz schön abgehetzt«, sagt sie. »Hättet ihr euch das nicht früher überlegen können?«

2

Ilse ist mit ihren Aufgaben fertig und schaut der Mutter beim Umziehen zu. »Ich geh mit zur Oma«, hat die Mutter gesagt. »Ich brauche Geld.«
»Lass mich vorgehen«, hat Ilse gebettelt, »du kannst ja nachkommen.« Sie hasst den Streit um Geld zwischen der Mutter und der Oma.
»Nein, wir gehen zusammen, du wartest auf mich.«
Die Mutter hat das ärmellose Sommerkleid ausgezogen und steht jetzt in dem dünnen Perlonunterrock vor Ilse. »Soll ich das rote Kostüm anziehen? Was meinst du?«
Ilse zuckt mit den Achseln. »Wenn du willst.«
»Es sieht immer noch ganz gut aus«, sagt die Mutter und nimmt den Kleiderbügel mit dem Kostüm aus dem Schrank. »Obwohl es jetzt doch schon über drei Jahre alt ist. Der Rock ist ein bisschen zu kurz. Aber das macht nichts. Meine Beine können sich sehen lassen. Meine Knie auch. Ich bin nicht fett geworden wie die anderen in meinem Alter.«
Die Beine der Mutter schauen dünn und blass unter dem Unterrock heraus. Wie Kartoffeltriebe sehen sie aus, denkt Ilse, wie die Keime, die man immer abbrechen muss vor dem Schälen.
»Hast du gesehen, was die Schuster für Knie hat?«, fragt die Mutter. »Ganz aufgequollen und wabbelig.« Sie zieht den Reißverschluss am Rock hoch. »An den Beinen ist meine Haut auch ganz gut, findest du nicht?«
An den Beinen hat die Mutter wirklich nicht diese schilfernde, schuppige Haut wie im Gesicht und an den Armen. An den Beinen ist ihre Haut normal. Aber Ilse mag sie nicht so sehen, so halb nackt. Sie schaut weg und kratzt mit dem Fingernagel vorsichtig an ihrer Warze.
Die Mutter geht in die Küche, holt von dem Ablagebrett neben dem Spülstein die Bürste, fährt sich durch die Haare, greift dann nach dem Lippenstift und malt ihren Mund an. »Er schmeckt schon ranzig«, sagt sie. »Ich brauch bald einen neuen.«
Ilse wartet ungeduldig darauf, dass sie endlich fertig wird. Frau Schuster steht im Treppenhaus, einen Eimer voll dampfender grauer Brühe neben sich. Sie ist diese Woche dran mit dem Treppenputzen. Ilse hält sich am Geländer fest und schiebt ihren Körper vorsichtig an dem Eimer vorbei.
Die Frau Schuster wischt sich die Haare aus der feuchten Stirn. »Na, Gertrud, wo geht’s denn hin so fein?«
»Zu meiner Schwiegermutter. Sie muss mal wieder was rausrücken. Kann sich keiner vorstellen, was drei Kinder kosten. Und der Schorsch bezahlt kaum was. Macht sich ein schönes Leben und kümmert sich um nichts. Da muss ich mich an seine Mutter halten.«
»Recht hast du, Gertrud, sag’s der Alten nur richtig. Die bildet sich sowieso wer weiß was ein, nur weil sie das eigene Häuschen hat.«
Ilse lehnt unten an dem Pfosten neben der Eingangstür und beobachtet die beiden Frauen. Gegen die Schuster sieht ihre Mutter wirklich gut aus. Wenn sie nur nicht diese Haut hätte. Frau Schuster hat nichts an unter der Kittelschürze, ihre Brüste schwabbeln unter dem grauen, dreckigen Stoff, wenn sie sich bewegt. Vorn fehlt ihr ein Knopf, sie hat die Schürze mit einer Sicherheitsnadel zugesteckt.
»Na ja«, sagt die Mutter. »Sie haben schwer gearbeitet für das Häuschen, die alten Lautenschlägers, das muss man ihnen lassen. Geschenkt worden ist ihnen nichts.«
Die Frau Schuster reckt sich hoch, streckt ihren krummen Rücken, streicht sich über die strähnigen Haare. »Uns wird auch nichts geschenkt«, sagt sie. »Hol aus der Alten raus, was du kannst, Gertrud.«
»Probier ich ja. Aber jede Kuh ist mal leer gemolken. Und jeder Stier auch.«
»Ein paar Tropfen kriegt man immer noch raus.«
Die beiden Frauen lachen wie über einen Witz, den Ilse nicht versteht. Sie lacht trotzdem mit.
»Pass auf«, sagt die Schuster, »die Treppe ist noch nass.« Und die Mutter stakst mit ihren hohen Absätzen über die nassen, abgetretenen Holzstufen, hält sich am Geländer fest und lacht noch einmal laut und irgendwie ohne Grund. Auf der Straße ist es heiß und staubig, die Luft steht flimmernd über dem Asphalt. »Ich hätte besser doch nicht das Kostüm angezogen«, sagt die Mutter. »Ich werde wieder Schweißflecke kriegen. Und die Alte wird drauf schauen.« Sie wischt sich über die Stirn. Weiße Hautschuppen bleiben auf dem roten Ärmel hängen. Die Mutter klopft sie ab. »Ich vertrage einfach keine Sonne, das hat der Doktor auch gesagt. Mit so einer Haut nicht, hat er gesagt. Aber die neue Salbe, die er mir verschrieben hat, taugt genauso wenig wie die andern. Nur Geld wollen sie verdienen, diese Ärzte. Deshalb schreiben sie einem alles Mögliche auf, das dann doch nicht hilft.«
Ilse, die insgeheim immer Angst hat, sie würde doch noch so eine Haut bekommen, fragt: »Als du so alt warst wie ich, hattest du das da schon?«
»Ja. Schon als ganz kleines Kind habe ich es gehabt.«
Sie gehen nebeneinander die Bergstraße entlang, biegen nach dem Kornmeierhaus links ab in die Bachgasse, die parallel zur Hauptstraße verläuft. »Schlurf nicht so mit den Füßen«, sagt die Mutter. »Sonst sind die Schuhe auch gleich wieder kaputt.«
Ilse hebt, solange sie daran denkt, die Füße richtig hoch über dem Pflaster.
»Ich geh lieber durch die Bachgasse«, sagt die Mutter. »In der Hauptstraße hängen all die Weiber an ihren Fenstern und schauen heraus. Wie die einen anstarren. Dabei sollten die sich an ihrer eigenen Nase ziehen. Wenn die über dreißig sind, haben sie doch alle dicke Bäuche und fette Ärsche. Aber wir nicht! Wir Schragendorfers haben eine gute Figur, stimmt’s?«
Ilse nickt. »Die Schragendorfer-Oma ist auch nicht dick.«
»Ja. Das soll ihr mal einer nachmachen. Mit sechsundfünfzig.«
Als sie zur Bäckergasse kommen, geht die Mutter langsamer. Jetzt ist es nicht mehr weit. Am Zaun von der alten Kinderschule bleiben sie stehen. Im Garten blühen Glockenblumen und Rittersporn, und durch die halb verfaulten Latten fallen rote Pfingstrosen an überlangen Stängeln. »Die weißen sind alle schon verblüht«, sagt Ilse. »Aber mir gefallen sowieso die roten besser.« Sie bückt sich und drückt ihre Nase an die Blütenkugeln. »Ich wollte, wir hätten auch so einen Garten.«
Die Mutter strafft die Schultern, geht aufrecht und stolz in ihrem roten Kostüm, geht durch die Bäckergasse, zwanzig oder dreißig Meter sind das nur, und biegt dann links ab, den Berg hinauf. Ilse zögert, macht kleinere Schritte, lässt jetzt einen Abstand zwischen sich und der Mutter.
Bergbachstraße elf wohnt die Oma. Ilse geht hinter dem roten Rücken ihrer Mutter her, überzeugt sich durch einen verstohlenen Blick zur Seite, dass der verrückte Fischer nicht in seiner runden Toreinfahrt steht, und bewundert im Vorbeigehen die Rosen in Schlosser Brandstetters Vorgarten.
Das Haus von der Oma liegt nicht direkt an der Straße, man muss ein paar Schritte über einen ungeteerten Weg gehen, dann kommt man an das schmiedeeiserne Hoftor. Die Tür zum Waschhaus ist offen, die Oma kocht Weißwäsche. Mit einem langen Holzlöffel rührt sie in der Brühe herum. Die Betttücher wickeln sich um den Stiel, und die Oma muss ihn immer wieder anheben und schütteln, um die Wäsche freizubekommen.
Sie dreht den Kopf. »Ach, ihr seid es«, sagt sie.
»Ja, Oma.«
»Na, wie geht’s den Kindern? Gertrud, du könntest mir den Dieter mal schicken, für den Acker, da könnte ich ihn gut brauchen.«
»Mach ich, Oma.«
»Für die Marga ist das Hacken zu schwer. Sie ist ja sonst recht anstellig, kann man nichts sagen, wirklich nicht. Wer die mal kriegt. Da muss man ja jetzt auch bald dran denken, wo sie nächstes Jahr schon aus der Schule kommt.«
»Wo ist sie jetzt?«, fragt die Mutter.
»Drüben, bei der Geibel Maria. Sie hilft ihr mit dem Kleinen. Dafür kriegt sie dann jede Woche ein paar Mark.«
Ilse ist zur Oma hingegangen, nimmt ihr den großen Holzlöffel aus der Hand und rührt. Süßlich stinkender Dampf steigt ihr in die Nase.
»Geld«, sagt die Mutter. »Ich brauche Geld. Ihr habt noch andere Enkel, nicht nur die Marga.«
»Wir können nicht für alle sorgen«, sagt die Oma und wischt sich die großen Schweißtropfen aus der Stirn. »Du kriegst ja Geld. Vom Schorsch und vom Sozialamt.«
»Das langt nicht.«
»Du könntest putzen gehen«, sagt die Oma. »Dann hättest du was extra. Ich geh ja auch immer putzen im Winter, wenn der Opa arbeitslos ist.«
Die Mutter bekommt ein ganz rotes Gesicht. »Wenn der Schorsch nicht mit dieser Hure abgehauen wäre, dann bräuchte ich nicht bei dir um Geld zu betteln. Dann könnte er für seine Kinder sorgen.«
Ilse beugt sich über den Waschkessel und starrt in die weißlich graue, blasige Seifenbrühe. Dampf dringt ihr in Mund und Nase. Sie muss husten, versucht den unangenehmen Geschmack wegzuprusten. Die Oma hat sich aufgerichtet, stemmt die Arme in die Seite und sagt leise: »Er wird schon einen Grund gehabt haben, dass er weggegangen ist.«
»Was für einen denn? Sag mir doch, was er für einen Grund gehabt hat, der Schorsch.«
Die Oma sagt noch leiser als vorher: »Wenn man es einem Mann recht macht, dann geht er nicht fort.«
Ilse sieht, dass die Mutter sich jetzt bemühen muss, ihren Ärger zu beherrschen. Die Wut lässt ihr Gesicht aufquellen und rot werden wie bei dem Truthahn, der beim Degnerbauern im Hof herumläuft. Aber sie nimmt sich zusammen. Ilse weiß, dass sie das nicht deshalb tut, weil sie die Oma mag. Sie will Geld. Ilse hört den Hass in der Stimme ihrer Mutter. Wie eine Schlange zischt sie: »Was habe ich ihm denn nicht recht gemacht? Was denn? Habe ich nicht immer die Beine auseinander gemacht, wenn er das wollte? Habe ich ihm nicht die vier Kinder auf die Welt gebracht?« Die Oma kneift die Lippen zusammen. Wie Striche sind sie jetzt. Ilse schaut der Oma mitten hinein in dieses großporige Wabbelgesicht mit den zusammengepressten Lippen. Eine mächtige Nase hat die Oma und graue Haare wachsen ihr aus den Nasenlöchern. Der Leberfleck an ihrer Oberlippe zittert. »Das ist nicht alles«, sagt sie böse. »Ein ordentliches Haus braucht ein Mann. Was Richtiges auf den Tisch.«
»Ein Hurenbock ist er, dein Sohn, das ist alles«, schreit die Mutter. Ilse lässt den Holzlöffel los und drückt sich in die hinterste Ecke des Waschhauses, dahin, wo immer noch der Zementtrog steht, weil die Oma früher mal ein Schwein im Waschhaus gehalten hat. Die Oma nimmt den Löffel, rührt weiter in dem Waschkessel und schaut nicht hoch, als sie sagt: »Sei doch leise. Wenn dich jemand hört.«
»Das kann jeder hören«, schreit die Mutter weiter. »Das ist die Wahrheit. Und wenn ihr mir nicht helft, dann hole ich die Marga zu mir, dann kriege ich mehr vom Sozialamt.«
Die Oma wischt sich wieder über die Stirn. Es ist wirklich heiß hier drin. »Komm«, sagt sie.
Ilse geht langsam hinter den beiden her in die Küche. »Das hättest du nicht zu sagen brauchen vor dem Kind«, sagt die Oma und schiebt Ilse eine Limoflasche zu. Dann macht sie die Glastür im Küchenschrankoberteil auf. Ganz hinten, hinter den Tassen, steht die alte Zuckerdose mit dem Geld.
Die Oma nimmt einen Schein heraus, einen Fünfziger, glättet ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und reicht ihn der Mutter. Die Mutter grabscht danach und lässt ihn in der Jackentasche verschwinden. »Danke schön«, sagt sie. »Das hilft fürs Erste.« Sie hat jetzt wirklich große Schweißflecke unter den Achseln.
»Für diesen Monat kannst du nichts mehr haben«, sagt die Oma mit einer ganz müden Stimme. »Für diesen Monat nicht mehr.«
Die Mutter nickt. »Danke«, sagt sie noch einmal. »Nichts für ungut«, sagt sie.
Das Gesicht von der Oma ist schlaff und verschwitzt. Alt sieht sie aus.
»Wann soll ich dir den Dieter schicken?«
»Morgen«, antwortet die Oma. »Morgen gleich nach der Schule. Er soll mir auf dem Acker helfen.«
»Gut, dann geh ich jetzt wieder. Auf Wiedersehn, Oma. Und grüß den Opa und die Marga.« Die Mutter hält die Hand fest über der Jackentasche mit dem Fünfzigmarkschein.
Die Oma nickt.
Als die Mutter gegangen ist, lehnt sich Ilse an die Oma mit dem alten Gesicht. »Ich helf dir beim Waschen«, sagt sie. »Soll ich dir beim Waschen helfen?«
»Ja«, sagt die Oma. »Ich hab noch Unterhosen für dich. Wenn wir fertig sind, geb ich sie dir.«
Die Oma hebt mit dem Stiel des Holzlöffels die Wäsche aus dem Kessel, stemmt ihn mit beiden Armen hoch, wartet ein bisschen, bis die schweren, weißlappigen Wäschestücke abgetropft sind, und schwenkt dann die Arme zur Seite. Das kalte Wasser spritzt auf, als sie die Wäsche in den bereitstehenden Zuber wirft. Bis auf Ilses Beine spritzen die Tropfen.
»Nimm den Eimer«, sagt die Oma. »Hol frisches Wasser. Aber zieh vorher deine Schuhe aus, damit sie nicht nass werden.«
Dann steht Ilse am Wasserhahn im Hof und sieht zu, wie der Eimer voll läuft. Im Winter bindet der Opa immer alte Lappen um das Rohr, das direkt neben dem Eingangstreppchen aus dem Boden kommt und ein Stück an der Hausmauer hochführt. »So ein Rohr ist gleich geplatzt«, sagt er. Breitbeinig steht Ilse über den vollen, schweren Eimer gebeugt, hebt ihn an, rückt ihn ein Stück weiter. Gott sei Dank sind es nur ein paar Schritte bis zum Waschhaus, viel weiter hätte sie es auch nicht geschafft. Die Oma wringt die einzelnen Wäschestücke aus, Betttücher, Kopfkissenbezüge, Unterhosen, Hemden, Handtücher, und wirft sie in eine große Plastikwanne. Ilse stemmt den Eimer hoch und kippt das Wasser hinein. Dann geht sie wieder zurück, dreht den Wasserhahn an, wartet. Sie reden nicht viel bei der Arbeit, aber Ilse ist zittrig und durchgeschwitzt, als sie fertig sind. Im Hinterhof, da, wo zwischen dem Hühnerstall und dem Holzschuppen die Wäscheleine gespannt ist, hält Ilse der Oma die Klammern hin zum Aufhängen.
»So«, sagt die Oma endlich, »jetzt hätten wir’s.«
Sie gehen in die Küche. Ilse nimmt sich ein Glas Limonade und setzt sich an den Tisch. »Hier«, sagt die Oma und legt zwei Unterhosen vor sie hin. Weiß sind sie, aus innen angerautem Baumwollstoff.
»Aber die sind doch dick«, sagt Ilse, »und haben Beine.« Bei Frau Stöcker im Schaufenster liegen bunt bedruckte, dünne Unterhosen, ganz ohne Beine.
»Das ist gesund«, sagt die Oma. »Ich versteh euch Kinder nicht. Du wirst mir noch mal dankbar sein, wenn du älter bist. Den Unterleib hat man sich schnell verkühlt.«
Aber die Strümpfe sind schön. Blau-weiß gestreift. Ilse drückt sie an ihr Gesicht. Sie weiß nicht, warum sie am liebsten geweint hätte.
»Gehst mir nachher noch einkaufen«, sagt die Oma. »Ich bin in der letzten Zeit wieder schlecht auf den Beinen.«
Ilse nickt. »Ja, Oma.«
»Gibt sie euch auch genug zu essen?«, fragt die Oma und greift prüfend nach Ilses Schulter.
»Doch, Oma.«
»Na ja«, sagt die Oma und schmiert ein Brot für Ilse. »Die Schragendorfers sind alle so dünn.«
Ilse, obwohl sie eigentlich keinen Hunger hat, stopft das Brot in sich hinein.

3

Ilse geht nicht gern in die Schule. Mittags, wenn sie ihre Aufgaben gemacht hat, ist sie froh, dass sie alles vergessen kann, was damit zusammenhängt. Aber morgens, wenn sie aufwacht, wenn sie weiß, sie muss jetzt aufstehen, sich anziehen, in die Schule gehen, ist die Angst wieder da. Es ist immer dasselbe. Wenn sie das Haus verlässt, hofft sie, die anderen würden sie heute in Ruhe lassen, sie einfach übersehen. Und weiß trotzdem schon ganz genau, dass sie kein Glück haben wird.
Sie geht auf dem Randstein, auf diesen schmalen, aneinander gereihten Betonstreifen, die den Bürgersteig von der Straße trennen. Wenn ich nicht auf die Ritzen trete, denkt sie, wenn ich bis zur Ecke vom Kornmeierhaus nicht auf die Ritzen trete, dann geht heute alles gut. Dann ist die Marion vielleicht krank. Oder sie schaut mich gar nicht an. Ilse muss lange Schritte machen und manchmal doppelt auftreten zwischen den abgebröckelten Ritzen. Sie wundert sich, dass aus manchen Grashalme herauswachsen, obwohl doch gar keine Erde dazwischen ist. Der Krämer Klaus und der Manfred vom Zieglerwirt kommen von hinten und verlangsamen ihre Schritte, als sie neben Ilse angelangt sind. Der Klaus rempelt sie an. Sie stolpert, versucht noch im Stolpern einer Ritze auszuweichen und tritt dann doch darauf.
»Schau mal, die Ilse heult«, sagt der Manfred.
Klaus stößt ihr noch einmal die Faust in die Seite. »Ilse Bilse, niemand willse.« Dann rennen die beiden an ihr vorbei auf die andere Seite, wo sie sich den Spenglerbuben anschließen.