Cover

Über dieses Buch:

München, 2052: Das Wetter ist gut, das Leben entspannt. Im internationalen Netzwerk TUBE läuft rund um die Uhr die beste Unterhaltung. Und sollte doch mal so etwas wie ein Problem auftreten, gibt es dafür stets die richtige App. Vigo und seine Freunde träumen davon, in der schönen neuen Welt reich und berühmt zu werden – mit einem Dokumentarfilm über die 2010er Jahre, jene längst vergessene, verrückte Zeit, als sich die Menschen noch Gedanken um belangloses Zeug wie Datenschutz und totale Überwachung machten. Bei ihren Recherchen stoßen sie auf einen Keller voller Relikte aus der damaligen Zeit. Und die sind inzwischen allerfeinste Schwarzmarktware …

Über den Autor:

Albrecht Mangler, geboren 1978, lebt in München. Er studierte Literatur, Sprachwissenschaft und Soziologie, bevor er die Buchmarketing-Agentur bilandia mitentwickelte, für die er heute noch arbeitet. Außerdem ist er als Herausgeber tätig und veröffentlicht Essays, Lyrik und Romane.

Die Website des Autors: www.vigolaflamme.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/esprit.soleil

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Originalausgabe November 2014

Copyright © 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München

Titelbildabbildung: Aleksandra Kovav / shutterstock.com

ISBN 978-3-95520-648-2

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Albrecht Mangler

Unverschlüsselt

Roman

dotbooks.

Kapitel 1
INSPIRATION

Vigo kam die Idee zum Filmprojekt ganz plötzlich, ganz einfach, ganz schnell. Vielleicht, weil er gerade mit einer Bildersuche über Kaffeehäuser in Wien und Budapest zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigt war, vielleicht auch, weil einer seiner Puma-Freunde schon den ganzen Tag lang Retro-Musik auf seine Profilseite stellte. Vielleicht war der Grund aber auch, dass er gerade an Zigaretten gedacht hatte. Egal, die Idee war gut, sehr gut sogar. Sie würde Geld bringen, Aufmerksamkeit, Einsichten. Und Spaß.

Die Kaffeehaus-Bilder, die ihm auf dem riesigen Fernseher im Wohnzimmer als Suchtreffer angezeigt wurden, zeigten üppig ausgestattete Bauwerke. Das Café New York in Budapest; überbordend vor Verzierungen, Käse und Brot zu günstigeren Konditionen für Schriftsteller und Literaten, die im prunkvollen Interieur ihre Bücher und Magazine schrieben, redigierten und diskutierten. Verrückt, aber irgendwie auch passend: die Bohemiens der Jahrhundertwenden – irgendwie hatten sie etwas gemeinsam, fand er.

Per Sprachsteuerung rief er Puma auf, um zu sehen, wann seine Mitbewohner Hans und Paul zu Hause sein würden. Das soziale Netzwerk öffnete sich und tauchte den Bildschirm in das vertraute Puma-Grün. Er klickte sich schnell zur Live-Karten-Ansicht seiner engsten Puma-Freunde. Voilà. Wo waren Hans und Paul denn jetzt genau? Er brannte darauf, sie von seiner Idee zu überzeugen. Sie waren immer so skeptisch, zum Beispiel bei seinen Tattoos: Seine Reihe zur NeoSap mit Notenschlüsseln gefiel ihnen bis heute nicht, dabei war es lange Zeit sein meistverkauftes 3-D-Tattoo gewesen.

Wie immer hatten die beiden ihren Sofort-Karten-Check-in aktiviert und eine gute Verbindung. Vigo konnte sehen, dass sie ganz nah waren, der eine etwas näher als der andere: Auf der Puma-Karte bog Hans gerade um die vorletzte Ecke wenige Meter vor ihrer Straße.

Bis vor einigen Jahren war hier die Trambahn direkt unter einem postmodernen Kunstwerk durchgefahren, das Mobilität symbolisieren sollte. Das Kunstwerk gab es immer noch, nur ohne Trambahn. Stattdessen befanden sich sieben starke Sendemasten für mobiles Internet darauf und darunter ein großer Biergarten, in dem aus einer alten Trambahn heraus Bier verkauft wurde, selbstverständlich im Ein-Liter-Bayern-Krug, der aber nur noch einen Fünftelliter fasste. Der Rest des Krugs war mit Kunststoff ausgegossen. Die Bahn selbst fuhr nun elektrisch auf der alten Trasse des mittleren Rings, nur wenige Meter entfernt. Ganz ohne Strom und Kunst – magnetisch und lautlos.

Noch ungefähr fünf Minuten, dann wären die beiden voraussichtlich da. Durch das in die Straßenlaternen eingebaute Tracking konnte er ihren Standpunkt in Echtzeit nachvollziehen. Ihre Telefone wurden von den in Laternen, Mülleimern und Verkehrszeichen eingebauten Chips erkannt und übertragen. Ein großer Vorteil: Zum einen konnte jeder, der diesen Dienst nutzte, schnell lokalisiert werden, zum anderen konnte man über Mülleimer und Straßenlaternen Informationen und Nachrichten anzeigen lassen, die genau auf eine bestimmte Person passten. Paul hatte das einmal bei ihm gemacht und ihm auf dem nächtlichen Heimweg den Terminator – einen bösartigen Roboter aus einem uralten Farbfilm aus dem letzten Jahrtausend –  zwischen zwei Laternen projizieren lassen.

Vigo wischte den Tube matt und beobachtete Thori, die dritte Mitbewohnerin ihrer WG, im Wohnzimmer. Sie blätterte in einem Buch, das sie vor kurzem auf dem virtuellen Flohmarkt erbummelt hatte. Dazu zog sie an einer Zigarettennachbildung aus Porzellan, die sie ebenfalls bei jenem Flohmarktbesuch gekauft hatte. Außerdem hatte sie erstanden: ein altes Wischtelefon, einen tragbaren Computer, der unfassbare zwei Kilo wog, einen kleinen Plastikelefanten aus China, der auf Knopfdruck trötete, und ein hässliches schwarzes Ding, von dem sie behauptete, dass sich ihr Vater über diese (wie sie es nannte) Spielekonsole freuen würde. Sie sagte, es sei die erste ihrer Art mit Sprachsteuerung und kleiner eingebauter Kamera für Spiele gewesen – und sie sei damals bei Erscheinen sofort ausverkauft gewesen.

Er hielt grinsend seinen ausgestreckten Daumen nach oben und zwinkerte ihr verschwörerisch zu, während sie neckisch an der Porzellanzigarette zog. Rauchen, dachte er, wie absolut 20. Jahrhundert. Die Kaffeehäuser auf den Bildern vorhin hatten auch ganz schön verraucht ausgesehen, aber vielleicht waren das die Kopierflecken der alten Digitalbilder.

Thori blinzelte zurück und blickte wieder in ihr Buch: Immanuel Kant für Dummies.

Genau, dachte Vigo, und das auch noch als superschicke Vintage-Ausgabe: gebunden und auf Papier. Sehr teuer, so was, und eher etwas für Snobs, die gar nicht darin lasen. Denn durch das Blättern und Anfassen konnte sich das schöne Buch verändern, sich abnutzen und gebraucht aussehen.

Aber auch das könnte ein Teil seines geplanten Filmprojekts sein: Wie hatte sich Ethik und ihre Verbreitung verändert? Was hatte die 2010er-Jahre so aufregend, so unterschwellig dynamisch gemacht? Alle Freiheiten hatte die Gesellschaft sich ja bereits vorher erstritten: Frauenwahlrecht, sexuelle Freizügigkeit, Mobilität, Reisen, Lebensqualität. Aber zwischen 1990 und 2010 war das ohne große Konfliktlinien verlaufen. Die Digitalisierung hatte sich angeschlichen, um dann um 2010 herum alte Verteilungskämpfe neu zu befeuern, alte Muster in Frage zu stellen und vor allem neue Ideen und neue Rahmenbedingungen zu schaffen. Revolution und Wandel. Was würde wohl Kant dazu sagen?

Vigo nahm sich vor, Thori zu fragen – Philosophie war mehr ihre Sache. Er war eher der Mann fürs Praktische. Ach ja, wo blieben eigentlich Hans und Paul? Vigo schaute kurz auf den grünen Puma-Bildschirm – sie müssten eigentlich schon da sein.

Kapitel 2
VIGO

Vigo, der älteste (34 Jahre) und größte (1,94 Meter) der vier WG-Bewohner, war 2025 geboren worden, genau in dem Jahr, als Eltern begannen, ihre Neugeborenen direkt nach der Geburt bei Puma zu registrieren. 

Vigos Mutter, Physikerin, und sein Vater, technikbegeisterter Mathelehrer, der in seiner Freizeit digitale Sudokus für die Rätselwebsite Riddelio erstellte, hatten das gesamte Leben des kleinen Vigo auf Puma dokumentiert – die ersten Bilder mit Elektro-Katze und Bio-Fläschchen bis hin zu seinem ersten Puma-Statusupdate im Jahr 2027: „Een Guke“, schrieb Vigo und meinte „eine Gurke“. Die Eltern waren stolz. Papa und Mama klickten auf „Gefällt mir“ unter Vigos Gurkenstatus und nannten ihn seitdem liebevoll Gürkchen, in ihren Statusupdates und auch so.

Dieser Spitzname sollte ihn die gesamte Schulzeit über verfolgen. Gürkchen war gut in der Schule, hatte ein paar Freunde und bekam ein Brüderchen mit absolutem Gehör.

Dessen erste Puma-Nachricht an die Welt war ein Video mit einer eher unkenntlich gebrabbelten Version von „America“ aus der Westside Story, aber Mama und Papa und vielen anderen gefiel das. Bis heute, denn Vigos Bruder war jetzt Musiker und mittlerweile mit der bekanntesten Puma-Musikprofilseite rund um alten Hip-Hop und Soul berühmt geworden. Über tägliche Provisionen und Extradeals verdiente er damit den größten Teil seines Lebensunterhalts.

Vigo hatte nach der Schule Plattentektonik studiert. Das war manchmal ganz interessant, meistens aber ziemlich trocken. Während eines Seminars zu Pangäa, dem Urkontinent, das sehr langweilig gewesen war, hatte er den ganzen Landklumpen mit wenigen einfachen, aber entspannten Strichen gezeichnet und an die Ecken Wikingerhelme angelegt, als er bemerkt hatte, dass seine beiden blonden Sitznachbarinnen und der große Dark-Wave-Student mit dem schwarzen Ledermantel angestrengt über seine Schulter geblickt hatten.

Er hatte sich umgedreht und dem Blick lange standgehalten. Die beiden Blondinen hatten gekichert, und der Ledermantel hatte aus langen schwarzen Haarsträhnen heraus gesprochen: „Dieses Wikingerpangäa, das lass ich mir tätowieren. Gib her zum Scannen!“

Vigo hatte nicht zu widersprechen gewagt.

Tattoos. Seit diesem Ereignis war er nicht mehr davon losgekommen, obwohl er selbst nicht tätowiert war. Schon 2045 hatte er eine Tattoo-App mit Eigen-Tätowierungs-Funktion für bestimmte Endgeräte programmiert und erstellte seitdem Motive für App und 3-D-Drucker. Das Prinzip: Motiv downloaden, in ein 3-D-druckfähiges Digitel oder an den Home-3-D-Drucker laden und dann direkt auf die Haut, mit Laser oder als 3-D-Implementier-Druck. Das war Vigos Haupteinnahmequelle der letzten Jahre, und er verbrachte inzwischen die meiste Zeit damit, Tattoo-Motive zu entwerfen und auf seiner Webseite und seinem Puma-Profil zu vermarkten.

Nebenbei fand sich auf seinem Profil auch Vintage-French-Musik – Chansons und Rap –, die auch einen gehörigen Teil zu seinem Einkommen beitrug. Besonders einträglich war dabei die Tatsache, dass er zu jedem Tattoo eine Musikempfehlung abgab, die während des Tattoo-Druckprozesses gehört werden konnte. Tattoo&Sing nannte sich das und war auch im Doppelpack zu haben – gegen einen geringen Aufpreis natürlich.

Aber auch unabhängig davon verdiente er mit Puma Geld über Musik. Seit dem Schulaustausch nach St. Malo hielt er Kontakt zu seinem französischen Austauschpartner Luc. Sie verband jener Sommer, der im Wesentlichen aus Strand, Sonne, Mädchen und Meer bestanden hatte, ihre Chats drehten sich aber heutzutage hauptsächlich um Musik. Auf diesem Weg hatte Vigo wohl die aktuellste und bestsortierte Diskographie französischer Musik erstellt und mit ein paar Klicks aus Lucs Puma-Profil in seines eingebunden. Er legte die Preise etwas höher als Luc und verdiente bei jedem Song, der über sein Profil angehört wurde. Luc natürlich auch.

Die Musiker und derjenige, der die Musik über sein Profil weiter verteilte, verdienten selbstverständlich ebenfalls an jedem abgespielten Song, Vigo genauso.

Social-Affiliate-Musik hieß das Programm – aber es gab natürlich auch andere: für Filme, Serien, Radioprogramme, Sportübertragungen, und, und, und.

Er hatte gerade konzentriert an einer Reihe Retro-Tattoo-Motive für die wöchentliche Aktualisierung seines Angebots gesessen – Einhörner, Mäusemasken mit Hörnern und ein paar verschnörkelte Buchstaben –, als ihm die Idee zum ersten Mal schemenhaft in den Sinn gekommen war. Die neuen Motive sollten die Aufbruchstimmung, aber auch das Anarchische der Welt der 2010er-Jahre auffangen. Es war eine Zeit des Wandels und der Krise gewesen, Europa wurde vom Konzern zum Start-up, aus gewohnter Behäbigkeit wurde Dynamik: der Aufstieg des Euro zur Weltwährung; die Krise in Griechenland und anderen Staaten Europas, aus der zahlreiche neue, innovative hellenische Tech-Unternehmen hervorgegangen waren, weil überkommene Wirtschaftsstrukturen von Konzernen, Patriarchat und alten Seilschaften endlich aufgebrochen werden konnten; die beginnende Nutzung des Internet; erste 3-D-Drucker und mobile Computer.

Vigo konnte sich noch gut erinnern, wie sein Vater damals mit dem ersten 3-D-Drucker nach Hause gekommen war.

„Jetzt druck ich mir neue Schuhe und dann eine Cola für dich“, hatte er verkündet und war im Computerraum verschwunden. Vigo und seine Mutter hatten gespannt gewartet, und drei Stunden später war sein Vater herausgekommen – stolz und mit einem Paar zu kleiner Lederschuhe und einer salzigen Cola. Aber es hatte funktioniert. Die Revolution war da. Sie musste nur noch justiert werden.

Kapitel 3
VINTAGE

Vigos Idee drehte sich darum, die 2010er-Jahre zu verfilmen, zu vertonen, kurz: einzufangen. Diese Dosis Lebensart würde wie ein Katalysator wirken, davon war er überzeugt.

Warum? Weil in seinen Augen Wandel mit Gefahr verbunden war, der Gefahr nämlich, zu scheitern. Aber es ging natürlich auch um Chancen. Damals war so vieles anders gewesen, das hatte er schon früher gelesen: Rauchen, Trinken, Essen im Fastfood-Restaurant, Benzin, Öl für jedermann und Kohlekraftwerke. Aber es war eben auch vieles neu: soziale Netzwerke, mobiles Internet, Urheberrecht, Dauererreichbarkeit, Wandel der Arbeitswelt, Auflösung von Zeit und Raum.

So viel Spannung in wenigen Jahren, zwischen Tradition und Weichenstellung. Eine solche Dokumentation hätte das Potenzial, den aktuellen, behäbigen Post-Digital-Lifestyle der Generation A – nach Generation X, Y und Z hatte man im Alphabet wieder von vorne angefangen – richtig zu rocken. Eine Dokumentation wie ein Feuerwerk, direkt aus dem anarchischen Herzen der 2010er-Jahre, als vieles noch Chance gewesen war, was heute selbstverständlich war: Echtzeit-Tracking, Datenaggregation und weltweite Transparenz. Gerade jetzt waren diese Dokumentationen ziemlich angesagt im Tube, erst neulich hatte er eine gesehen über die Geheimdienste der USA, die Anfang der 10er-Jahre Telefone von Politikern abgehört hatten und E-Mails heimlich mitlasen. Eine Zeit, in der Politikergespräche nicht für jeden transparent waren, sondern geheim? War das etwa Demokratie?

Die Menschen interessierten sich immer mehr für die Vergangenheit, Geschichte und so weiter, und genau das würde Vigo und die WG reich machen. Es wäre sogar interessant für die Sonntagabend-Tube-Startseite, die nicht personalisiert ausgeliefert wurde. Dann würde jeder es sehen, absolut jeder.

Außerdem könnten alle in der WG an diesem Projekt teilnehmen: Thori, die Musikerin, Hans, der Filmer, und Paul, der verträumte Sozialwissenschaftler. Ja, Paul würde er zuerst von seiner Idee erzählen!

***

Pauls Schlüssel drehte sich langsam klackend im alten Retro-Schloss im Fertighaus-Stil. Hans hatte es besorgt und gegen alle Bedenken durchgesetzt. Schlüssel waren der neue Trend, waren cool. Heimelig drehen zum Öffnen, statt mit der Fingerkuppe über kaltes, blinkendes Plastik zu streichen, das hatte Stil und hatte letztlich auch die Mitbewohner überzeugt.

Vigo wartete schon aufgeregt, konnte es kaum noch erwarten. Seine Idee würde die drei begeistern. Eine Zeitreise, ein Goldesel, ein gefährliches Abenteuer. Er musste sie nur noch überzeugen.

Paul war gerade dabei, seine Jacke auszuziehen, als Vigo voller Begeisterung auf ihn zustürmte. Paul sah gleich, dass sein Mitbewohner euphorisch war. Seltsam, denn Vigo war eigentlich sonst niemand, der eigene Ideen hatte, eher jemand, der sich mitreißen ließ.

„Paul!“ Vigos Stimme überschlug sich fast. „Ich habe eine Idee. Wir werden reich.“

Paul nickte bedächtig und zog eine Augenbraue hoch. „Dann erzähl mal.“

„Was weißt du über die 2010er-Jahre? Sag schon!“

Paul hängte bedächtig seine Jacke auf. „Hmm. Also in Kürze würde ich sagen: eine Zeit des Wandels, das Ende der Privatsphäre hin zu mehr Offenheit. Endlich ein Ende von Korruption und Mauschelei. Kohlekraft, Autos, die mit Benzin fahren, und die ersten Schritte im Internet. Gab’s da nicht die ersten großen Erfolge von Netzwerken und –“

„Genau!“ Vigo unterbrach fast unwirsch. „Und nicht alles war vernetzt, kein Komfort, keiner, der deine Einkäufe vorbeibringt. Ein festes Fernsehprogramm, gedruckte Bücher, Tageszeitungen aus Papier, keine 3-D-Drucker …“

„Komm zum Punkt.“ Paul wirkte etwas genervt ob dieser Geschichtsstunde.

„Also, das war vor rund fünfzig Jahren. Wir machen eine Doku. Musik, Filme, Alkohol, das Savoir vivre der Digitalpiraten-Zeit. Wie die Hippies, nur später. Woodstock online, die Online-Revolution und …“

Paul zog wieder eine Augenbraue hoch, diesmal etwas länger.

„… wir arbeiten mit Menschen, die das erlebt haben. Wie die Geschichtsdokus damals, die manchmal nachts im Tube laufen. Zeitzeugen, Augenzeugen – weißt du? Wer damals dreißig war, ist heute achtzig, also noch einigermaßen jung. Wir machen eine Doku über die 10er im Stil der 10er, aber alles ganz auf 2050er-Art. Cool, hip. Wie die 2020er-Jahre-Partys, aber das wird ein Revival, das wir anstoßen, die Rückkehr von LAN-Partys, eReadern und Browser Games …“

Paul schaute Vigo direkt an. In ihm arbeitete etwas, Vigo konnte das spüren. Für gute Ideen hatte er ein Gespür, der große Paul.

Auf seinen Reisen für das Goethe-Institut durch die ganze Welt hatte der Wiener viel gesehen und erlebt. Schon bevor er Vigo getroffen hatte, war er mit seinem Freund Hans erfolgreich gewesen. Sie hatten Filme produziert, die fürs personalisierte Tube gebucht und empfohlen worden waren. Ihre Seiten bei Puma und Tube hatten teilweise mehrere tausend gemacht – am Tag. Ihr größter Erfolg war eine satirische Doku über ein vermeintliches Alien-Bordell namens Area 69 gewesen, ein Etablissement, in dem Aliens ihre Körper verkauften. Das ironisch auf sozialkritisch getrimmte Filmchen zeigte den Abstieg von mehreren Tube-Außerirdischen in die Alien-Rotlichtszene.