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Manfred Quiring

Der vergessene Völkermord

Manfred Quiring

Der vergessene Völkermord

Sotschi und die Tragödie
der Tscherkessen

Mit einem Vorwort
von Cem Özdemir

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Juni 2014 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2013)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung einer historischen Zeichnung
von der Vertreibung der Tscherkessen aus dem Kaukasus im
19. Jahrhundert und eines aktuellen Fotos der neuen Olympia-Halle
in Sotschi von Andreas Strohfeldt
Satz: Agentur Marina Siegemund, Berlin

Inhalt

Vorwort

Cem Özdemir

Einleitung

Sotschi 2014 – Putins Prestigeveranstaltung

Das olympische Vorspiel

»Schaufenster für ein neues Russland«

Imagepflege im Schnee und unter Palmen

Umweltsünden in der Imereti-Niederung

Das Msymta-Tal

Russland führt ein Doppelleben

Ein russischer Patriot

Der Kaukasus und die Tscherkessen

Tscherkessien in der Geschichte

Das zeitweilige Bündnis mit den Moskowitern

Tscherkessische Fürsten in Moskaus Diensten

Die Tscherkessen und das Osmanische Reich

Adyge Habse

Puschkin und Lermontow – verbannt in den Kaukasus

Tolstois »Hadschi Murat«

Was suchten die Zaren im Kaukasus?

Das dritte Rom

Katharina II. und das griechische Projekt

Der indische Traum

Der Kaukasus – ein strategischer Ort

Der kaukasische Krieg

Erste russische Feldzüge nach Süden

Mosdok – Beginn des 100-jährigen Freiheitskampfes

Der Abrek – ein kaukasischer Kämpfer

Mansur, der Siegreiche

General Jermolow, der »Großvater des Genozids«

Die Brutalität des Krieges

Imam Schamil

Der Zar forciert die Unterwerfung

Alexander II. trifft die Tscherkessen

Die letzten Kämpfe

Deportation? Ethnische Säuberung!

Die Kosaken

Sonntags schwingen sie die Säbel

Eine Figur aus der Tiefe der Steppe

Das Militärlager hinter den Stromschnellen

Die Zähmung der Kosaken

Die kaukasische Linie

Die tscherkessische Diaspora

Millionen sind verstreut über vier Kontinente

Deutscher Politiker mit tscherkessischen Wurzeln

Tscherkessische Identität und Anpassung

Urbanisierung und Assimilierung

Was wollen die Tscherkessen heute?

Die Anerkennung des Völkermordes

Olympische Winterspiele am heiligen Ort

Vereinigung – Der Traum von der eigenen Republik

Groß-Tscherkessien?

Rückkehr – Der Traum von Sicherheit und Ruhe

Ibrahim: Meine Heimat ist Adygeja

Die Antwort des Atamans

Labile Sicherheit im Kaukasus

Der Norden bleibt ein Pulverfass

Olympia mit Sicherheitsproblemen

Die Abchasen – Sotschis separatistische Nachbarn

Dagestan – Hochburg der Fundamentalisten

In Tschetschenien herrscht Ramsan

Inguschetien

Die neue Rolle der Kosaken

Das Kosakentum gilt wieder etwas

Mobilmachung in Südrussland

»In unserem Kloster herrschen unsere Regeln«

Schlussbemerkungen

Anhang

Dokumente

Der Nordkaukasus in Zahlen

Anmerkungen

Literatur

Abbildungsnachweis

Dank

Geographisches Register

Angaben zum Autor

Vorwort

von Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei
Bündnis 90/Die Grünen

Dieses Buch bringt nicht nur vielen Leserinnen und Lesern eine wohl fremde Kultur näher, sondern auch dem Autor dieses Vorworts. Denn obwohl mein Vater ein Tscherkesse aus der Türkei ist, hatte ich selbst lange Zeit kaum Kenntnisse über das Volk und die Kultur seiner Vorfahren. Mein Wissen beschränkte sich zunächst auf die üblichen Klischees: Die Reit- und Kampfkunst der tscherkessischen Männer oder die Schönheit der tscherkessischen Frauen, von denen viele im Kaukasus entführt und an den Sultanshof verschleppt wurden. Auch war mir nicht bekannt, dass Tscherkessen nicht nur in der Türkei, sondern auch in Jordanien, Syrien, ja sogar in Israel leben.

Für die Tscherkessen in aller Welt ist der 21. Mai ein Tag der traurigen Erinnerung an die Vertreibung im Jahre 1864. Es ist ein Tag, der an all das Leid erinnert, das nach der Niederlage gegen die Russen in der kaukasischen Urheimat begann. Aber er erinnert sie auch daran, dass es Ihnen bis zum heutigen Tag gelungen ist, die Erinnerung an ihre Kultur und Geschichte zu bewahren. Auch dieses Buch trägt maßgeblich dazu bei.

Zahlreiche Tscherkessen, die nach ihrer Vertreibung später Türken wurden, sind – so wie mein Vater – durch die Anwerbung von Gastarbeitern in den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen. Für viele war gerade die Demokratie und Vielfalt in Deutschland Anlass, sich öffentlich als Minderheit zu begreifen und ihre Kultur zu zelebrieren. Daher finden sich immer häufiger nordkaukasische Kulturvereine oder tscherkessische Vereine in Deutschland. Ihr Anliegen ist es, ihre Kultur und Sprache an die eigenen Kinder, aber auch ihrer neuen Heimat zu vermitteln. Tscherkessen wurden in der Diaspora und in all den Ländern, in denen sie Schutz, Aufnahme und eine neue Heimat gefunden haben, schnell loyale Bürger, ohne dabei ihre Herkunft und Kultur zu vergessen.

In der Türkei, einem Land, in dem es vor einiger Zeit offiziell keine kurdische Sprache und Kultur gab und das sich bis heute mit seiner kulturellen, religiösen und ethnischen Vielfalt schwer tut, wurden lange Zeit alle verallgemeinernd als Tscherkessen bezeichnet, die aus dem Kaukasus stammen. Je tiefer man jedoch in die Materie eindringt, desto deutlicher wird, dass die Völker des Kaukasus, und speziell die zahlreichen Ethnien des Nordkaukasus viele unterschiedliche Sprachen sprechen. Sie sind vor allem durch das Kaukasusgebirge und die Erinnerung an das gemeinsame Leid miteinander verbunden. Die Tscherkessen, die sich selbst »adyge« nennen, wollen auch in Deutschland nicht nur durch ihre beeindruckenden Folkloretänze wahrgenommen werden, sondern auch als eine bedrohte, alte Kultur, die nur überleben kann, wenn sie unterstützt wird und die Verbindung zur Urheimat im Kaukasus nicht abreißt.

Damit dies auch für die Zukunft gelingt, müssen Tscherkessen sich gemeinsam mit anderen für den Erhalt der einzigartigen Natur des Kaukasus einsetzen, gerade im Vorfeld und während der Olympischen Spiele 2014 in Russland. Wer einmal, so wie ich mit meinem Vater vor einigen Jahren, die Berge des Kaukasus erlebt hat und durch unberührte Wälder wandern durfte, wird verstehen, warum die Tscherkessen Angst davor haben, dass Geldgier und mafiöse Strukturen im heutigen Russland ihre Heimat bedrohen.

Da die Tscherkessen heute über viele Länder der Welt verteilt sind und sie somit keine gemeinsame Sprache mehr verbindet, wird ihre Kultur oft auf die berühmten Tänze und die legendären tscherkessischen Hochzeiten reduziert. Es ist daher eine anspruchsvolle Aufgabe, die Adygejer dem Vergessen zu entreißen und ihre gesamte Geschichte und Kultur international bekannt zu machen. Dieses Buch hilft dabei, und ich hoffe, dass es nicht nur unter Tscherkessen viele Leser findet.

Berlin, im August 2013

Einleitung

Atlantis. Wohl jeder hat diesen Begriff schon einmal gehört und verbindet ihn mit einem großen mythischen Inselreich, das, wie der griechische Philosoph Platon meinte, etwa 9600 Jahre v. d. Z. infolge einer Naturkatastrophe untergegangen sein soll. Die Gelehrten streiten bis heute, ob es Atlantis überhaupt gegeben hat. Aber sein Name lebt.

Anders bei einem Land, das noch vor 150 Jahren völlig real war und das heute, wie auch sein Volk, weitgehend vergessen ist. »Tscherkessien? Tscherkessen? Nie gehört«, vernahm ich bei meinen Recherchen zu diesem Buch nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland immer wieder.

Auch um den Begriff »Tscherkesse« herrscht in den Medien und auch in der Literatur einige Verwirrung. Der russische Romanautor Lew Tolstoi behauptete sogar, es gebe zwar Tschetschenen, Abadzechen und Kumyken, aber keine Tscherkessen. Hier irrte Tolstoi. »Tscherkessen« (engl. Circassian) ist der Oberbegriff für mehrere kaukasische Stämme wie Kabardiner, Schapsugen und Ubychen. Sie selbst bezeichnen sich in ihrer Sprache als Adygejer. Das Exekutivkomitee der Internationalen Tscherkessischen Assoziation empfahl im Jahr 2011 allen Adygejern, sich im Russischen und in anderen Sprachen Tscherkessen zu nennen. Wohl, um im Ausland die Begriffsverwirrung zu beseitigen.

Die Tscherkessen besiedelten einst weite Teile des Kaukasus, bevor sie und zahlreiche andere kaukasische Völker in einem 100-jährigen Eroberungskrieg der russischen Zaren im 18. und 19. Jahrhundert nahezu ausgerottet wurden.1

Heute ist nicht nur der Name des Landes »Tscherkessien«, das bis zum 19. Jahrhundert auf jeder seriösen Landkarte zu finden war, getilgt. Auch das Volk der Tscherkessen wurde in einem Genozid, der vergessen scheint, weitgehend vernichtet. Die Überlebenden wurden in einer bis dahin nicht gekannten »ethnischen Säuberung« in die Türkei deportiert, von wo sie sich über die ganze Welt verstreuten.2

Ein Vergleich mit dem Schicksal der Armenier drängt sich auf. Durch Massaker und Vertreibung starben zwischen 1915 und 1917 im Osmanischen Reich mehrere hunderttausend Menschen – ein Völkermord3, den Papst Franziskus im Juni 2013 zum »ersten Genozid des 20. Jahrhunderts« erklärte. Mehr als ein Dutzend Staaten teilen diese Sichtweise und haben die Gräueltaten als Genozid anerkannt. Dazu gehören Frankreich, die Schweiz und die Niederlande.4

Das russische Zarenreich kann für sich jedoch in Anspruch nehmen, den Osmanen bereits im 19. Jahrhundert die Vorlage für die Verfolgung und Ermordung der Armenier geliefert zu haben.

Während meiner zahlreichen Reisen in den Kaukasus stieß ich frühzeitig natürlich auch auf das Schicksal der Tscherkessen. Aber das Bedürfnis, mich dieser vergessenen Tragödie zuzuwenden, unter der die Nachfahren der Betroffenen immer noch leiden, wurde ständig durch aktuelle Kriege in den Hintergrund gedrängt, über die es zu berichten galt: Georgiens Krieg gegen seine abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien Anfang der 1990er Jahre; zwei Kriege, die Russland gegen seine Teilrepublik Tschetschenien führte und schließlich der russisch-georgische Fünf-Tage-Krieg im Jahr 2008. Und das alles wurde begleitet von einem ständigen, mit terroristischen Mitteln geführten Untergrundkampf im Kaukasus.

Wenn ich jetzt die Gelegenheit hatte, mich mit diesem Thema intensiver zu beschäftigen, verdanke ich das zum einen dem Umstand, dass es zum Entstehungszeitpunkt des Buches keine direkten Konfrontationen, sondern »nur« noch Terroranschläge in der Region gab, also der Aktualitätsdruck anderer Probleme geringer geworden war. Aber noch mehr hat ein Mann dafür getan, dieses Thema der Öffentlichkeit förmlich aufzudrängen – Russlands Präsident Wladimir Putin. Mit seiner Entscheidung, die Olympischen Winterspiele 2014 nach Sotschi zu holen, machte er aus einem regionalen Problem, angesiedelt im von Tscherkessen bewohnten Westkaukasus, ein internationales. Denn nicht nur die in Russland lebenden Tscherkessen, sondern auch die internationale Diaspora dieses Volkes – angefangen von der Türkei über Westeuropa bis zu den USA – sind entsetzt über die Tatsache, dass die Spiele an Orten stattfinden, an denen der Genozid an ihren Vorfahren verübt wurde und der sich 2014 zum 150. Male jährt.

Das Dorf Krasnaja Poljana zum Beispiel, wo am 21. Mai 1864 die Siegesparade russischer Truppen abgehalten wurde und in dessen Umgebung ihre Vorfahren die letzten, verzweifelten Verteidigungsschlachten geschlagen hatten, wurde zu einem exklusiven Wintersportressort ausgebaut, in dem alpine sowie Rodel-, Bob- und Skisprungwettkämpfe stattfinden werden. In der Küstenregion um Sotschi, dem Hauptaustragungsort des weltweit größten Wintersportereignisses, wurden die Übriggebliebenen dieses Völkermordes zu einem opferreichen Exodus in die Türkei gezwungen. Die Olympischen Spiele, so sagen die Tscherkessen, fänden damit praktisch auf den Gebeinen ihrer Vorväter statt.

Dabei müssen sie mit ansehen, wie sie als einstige Urbevölkerung bei den Feierlichkeiten keine Rolle spielen. Ihr Platz wird von Kosaken eingenommen, deren Vorfahren die Tscherkessen aus dem Lande getrieben hatten. Ein paar Kulturveranstaltungen, die vor den Spielen in der russischen Provinz stattfanden und zu denen auch tscherkessische Gruppen eingeladen wurden, können am Gesamtbild nichts ändern. Der Umgang des offiziellen Russland mit der Geschichte der Tscherkessen, der vorwiegend im Verschweigen besteht, ist hochgradig respektlos.

Der gemäßigte Teil der Tscherkessen in Russland und in der Diaspora will genau das ändern und in erster Linie auf die verschwiegene, vergessene und verdrängte Tragödie des eigenen Volkes aufmerksam machen. Sie versuchen die Olympischen Winterspiele in Sotschi für die Sensibilisierung der internationalen Öffentlichkeit, aber auch für die Schärfung des historischen Bewusstseins in Russland zu nutzen. Sie würden es begrüßen, wenn den Vertretern ihres Volkes die Aufmerksamkeit zuteil würde, wie sie die indigenen Völker bei den Olympischen Spielen in Sydney und Vancouver genossen haben. Einige radikale Aktivisten verlangen auf ihrer Website NoSochi2014 sogar die Absage der Spiele im Kaukasus. Letzteres ist freilich unrealistisch und wäre auch wenig hilfreich. Den Tscherkessen ist viel mehr damit gedient, wenn im Rahmen solcher internationaler Großveranstaltungen von ihren Problemen erst einmal Notiz genommen wird. Mit einer einzigen ist das nicht zu bewerkstelligen, die Schwierigkeiten werden, so nehme ich an, auch nach Sotschi fortbestehen.

 

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Sie wurden bereits im Vorfeld der Winterspiele verschärft und noch mehr internationalisiert durch den Bürgerkrieg in Syrien. Dort lebt die nach der Türkei zweitstärkste Diaspora, deren Angehörige es wegen des Bürgerkrieges zurück in die historische Heimat, in den Kaukasus, zieht. Mit weltweiten Protestaktionen unterstützte die tscherkessische Diaspora dieses Anliegen und forderte Moskau auf, ihre Landsleute ohne bürokratische Hürden nach Russland hineinzulassen. Bis zur Drucklegung dieses Buches konnte sich die russische Führung nicht zu einem vernünftigen, dem Umfang des Problems angemessenen Hilfsprogramm entschließen, die Einreise wurde nur einigen hundert Tscherkessen ermöglicht, obwohl die Zahl der Antragsteller wesentlich höher ist.

Das vorliegende Buch nun will die Aufmerksamkeit auf diesen vergessenen Teil der russisch-europäischen Geschichte lenken und Verständnis wecken für ein verfolgtes, mit Krieg überzogenes Volk, das heute – bis auf die im Kaukasus verbliebenen Reste – in alle Welt zerstreut ist. Die Versuche der Tscherkessen, sich zusammenzufinden, Sprache und Kultur zu retten und gemeinsame Ziele zu formulieren, verdienen Sympathie.

Sotschi 2014 – Putins Prestigeveranstaltung

Das olympische Vorspiel

Milchig und leicht riechend springt das Flüsschen Agura aus dem Kaukasus hinunter zum Schwarzen Meer. Die sonderbare Konsistenz des Wassers liegt in den Heilquellen von Mazesta begründet, wo die schwefelwasserstoffhaltige Agura ihren Ursprung hat. Nur einige hundert Meter oberhalb der Küste bei Sotschi stürzt sie bei den Adlerfelsen in einem malerischen Wasserfall zu Tale. Hier, so will es die Legende, war der Titanensohn Prometheus angeschmiedet, um zu büßen. Er hatte den Menschen das Feuer gebracht, das nur den Göttern zustand.

Ein wenig wie Prometheus mag sich auch Wladimir Putin gefühlt haben, als es ihm im Juli 2007 endlich gelungen war, das olympische Feuer für die Winterspiele 2014 nach Russland zu dirigieren. Sotschi, der subtropische Badeort mit seinen Palmen, wird nun auch ein Zentrum des Wintersports. Mit seinem Lieblingsprojekt will Präsident Putin der Welt die Fähigkeit Russlands beweisen, in Ausnahmesituationen Außergewöhnliches zu leisten, und damit gleichzeitig Balsam auf die ständig unter Minderwertigkeitskomplexen leidende russische Seele gießen.

Für Putin ist die Veranstaltung in Sotschi damit eines der wichtigsten von mehreren sportlichen Großereignissen, wie auch ein Formel-1-Rennen 2014 und die Fußball-WM 2018, die in diesen Jahren in Russland stattfinden und die das angeschlagene Image seines Landes aufpolieren sollen. Russland gilt aufgrund seiner zunehmend autoritären Verfasstheit im Inland und seines außenpolitischen Hangs, diktatorische Regime zu unterstützen oder ein international abgestimmtes Vorgehen gegen Länder wie Iran oder Nordkorea zu hintertreiben, als weitgehend ungeliebter Partner. Aber immer auch als einer, mit dem viele Staaten und Unternehmen Geschäfte machen wollen und der in internationalen Sicherheitsfragen eine wichtige Rolle spielt.

Mit Millionensummen bedachte internationale PR-Agenturen haben es allerdings bisher nicht geschafft, zu einer wesentlichen Besserung des russischen Ansehens in der Welt beizutragen. Doch Brot und Spiele scheinen ein probates Mittel, um die Realität zu übertünchen.

Der verständliche Jubel in Russland ist allerdings auch eine Therapie für ein sehr altes Olympia Trauma. In der Seele vor allem der älteren Generation sitzt der Stachel des Olympiaboykotts von 1980 noch immer tief. Das sowjetische Moskau sollte erstmals Austragungsort der Sommerspiele sein, aber wichtige Sportnationen, vor allem die USA und die Bundesrepublik Deutschland, sagten ihre Teilnahme ab. Sie wollten nicht in dem Land an den Start gehen, das im Dezember 1979 mit seinen Truppen in Afghanistan einmarschiert war.

Die Sommerspiele 1980 in Moskau fanden darum in deutlich kleinerer Besetzung statt, was vielen Russen noch bis heute als ungerechtfertigter Affront des Westens gilt. Die zutiefst beleidigte damalige sowjetische Führung unter Partei- und Staatschef Leonid Breschnew, die ihre Satellitenstaaten in Osteuropa fest im Griff hatte, revanchierte sich und sagte ihrerseits die Teilnahme in Atlanta 1984 ab. Das »sozialistische Lager« musste folgen. Als offizieller Grund wurden »Sicherheitsbedenken« geltend gemacht. Lediglich Rumänien mit seinem Diktator Nicolae Ceausescu leistete sich die Teilnahme in Atlanta.

Die DDR-Führung, die die Olympischen Spiele in den USA gerne für die Aufwertung des Systems genutzt hätte, beugte sich nach anfänglichem Widerstand zähneknirschend dem Druck aus Moskau.5

Sozusagen als Trostpflaster und Gegenolympiade zugleich wurden im Sommer 1984 die »Wettkämpfe der Freundschaft« ausgerichtet, die in neun verschiedenen Ländern stattfanden. Die Gewinner der Wettkämpfe wurden mit hohen Geldprämien bedacht, als seien sie Olympiasieger geworden.

Zwanzig Jahre später standen Russlands Aussichten, endlich zum Gastgeber für die Olympischen Sommerspiele zu werden, deutlich günstiger. Das »Reich des Bösen«, wie der damalige amerikanische Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion genannt hatte, war zerfallen. Russland suchte den Anschluss an die westliche Welt und übte sich, wenn auch wenig überzeugend, in demokratischen Gepflogenheiten. Doch Putin, zwischen 2000 und 2004 in seiner ersten Amtszeit, musste einen Misserfolg hinnehmen. Die Bewerbung blieb erfolglos, die Sommerspiele wurden an Athen vergeben. Der Kremlchef schüttelte diese Niederlage jedoch ab, indem er die Verantwortung dem selbstgefälligen damaligen Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow anlastete.

 


Bei der neuerlichen Bewerbung überließ Putin nichts mehr dem Zufall. In der entscheidenden Phase hatte er sich persönlich nach Guatemala begeben, die IOC-Mitglieder während der Konferenz mit seinem Auftritt in Englisch und sogar Französisch beeindruckt. Am Abend vor der Abstimmung hatte er mit den Chefs der wichtigsten Weltsportverbände zu Abend gespeist, sie umgarnt und die schier unbegrenzten Möglichkeiten, über die Russland verfügt, in den buntesten Farben ausgemalt.

Als IOC-Präsident Jacques Rogge dann in einer heißen Julinacht 2007 in Guatemala-City das Ergebnis der Abstimmung verkündete, war es auch sein ganz persönlicher Erfolg und der Jubel der russischen Delegation grenzenlos. Sotschi, das beliebte Sommerurlaubsparadies der Russen, hatte den südkoreanischen Konkurrenten Pyeongchang mit 51:47 Stimmen aus dem Felde geschlagen. Erstmals würden die Olympischen Winterspiele in Russland stattfinden, an einem Ort, der auf dem gleichen Breitengrad wie die französische Riviera liegt.

Während die unterlegenen Koreaner und Österreicher, die schon im ersten Wahlgang verloren hatten, fassungslos und unter Tränen auf das Ergebnis schauten, löste sich die Anspannung in der russischen Abordnung in einem Freudenrausch. »Das ist ein Schlüssel-Moment in der russischen Geschichte«, jubelte Sotschis Bewerbungschef Dimitri Tschernitschenko.6 Im Ballsaal des luxuriösen Intercontinental Real Hotels Guatemala-City flogen weiße Teddybären durch die Luft, Eiskunstlauf-Olympiasieger Jewgeni Pluschenko und Schwimmstar Alexander Popow schrien ekstatisch immer wieder »Danke, danke!«, berichteten die Nachrichtenagenturen nach Europa. Russlands Präsident Wladimir Putin befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Rückflug nach Moskau. An Bord seiner Präsidentenmaschine vom Typ Il-96 ließ er sich in einem Telefongespräch von Jaques Rogge das für ihn so erfreuliche Ergebnis bestätigen.

In Guatemala City wurden die Mitglieder der russischen Abordnung derweil nicht müde, die Rolle ihres Präsidenten beim Bewerbungsprozess zu betonen: »Putin hat unserer Bewerbung eine neue Dimension gegeben. Er hat uns die Spiele versprochen und Wort gehalten«, lobhudelte der russische Vize-Parlamentschef Alexander Schukow, der zugleich Chef des Nationalen Olympischen Komitees ist7, in Tönen, die aus der Zeit des Personenkults zu stammen schienen, und versprach: »Wintersport ist Teil der russischen Seele. Sotschi 2014 wird der Katalysator sein für unglaubliche Veränderungen in der jungen russischen Geschichte.«

Der allgemeine Tenor der Medien: Moskau hat als Meistbietender den Zuschlag erhalten. Auch von Zahlungen unter der Hand war die Rede, Belege dafür gab es nicht. Sotschi und Pyeongchang hatten sich in ihrem finanziellen Einsatz gegenseitig hochgeschaukelt. Schließlich siegte die Schwarzmeer-Stadt in der bisher aufwendigsten Bewerbungsschlacht der olympischen Geschichte mit einem Einsatz von 60 Millionen Dollar, um Sotschis Bewerbung durchzubekommen. Für Pyeongchangs Bewerbung wurden immerhin noch 40 Millionen Dollar ausgegeben. Da konnte Salzburgs athletenfreundliche Kandidatur mit der Bob- und Rodelbahn im bayrischen Königssee nicht konkurrieren. Hier standen nur knapp 13 Millionen Dollar zur Verfügung.

Doch das war nun alles gleichgültig. Endlich! Endlich würden die Olympischen Spiele, wenn auch zunächst »nur« die Winterspiele, in Russland stattfinden. In Sotschi feierten Tausende Einwohner, als nachts um drei Uhr (Ortszeit) IOC-Präsident Jacques Rogge in Guatemala die Karte mit dem Namen ihrer Stadt in die Kameras hielt. »Wir sind ein starkes Land, das beste in der Welt«, schrie eine junge Frau in die Fernsehkameras. Um sie herum tanzte und hüpfte die Menge zu russischer Popmusik.8

»Schaufenster für ein neues Russland«

Mit der IOC-Entscheidung, die Olympischen Winterspiele 2014 nach Sotschi zu vergeben, hat Kremlchef Putin einen persönlichen Erfolg eingefahren, der sein bröckelndes Ansehen in der eigenen Bevölkerung aufpolieren soll. Aber es geht auch um das internationale Ansehen des Landes. Sotschi, so versprach der Chef des Organisationskomitees, Dmitri Tschernischenko, ein Jahr vor dem Beginn der Spiele, werde zum »Schaufenster für ein neues Russland« werden.

Wladimir Putin sieht das letztlich ebenso, obwohl er das in seiner Frage-Antwort-Show am 25. April 2013 im russischen Fernsehen zunächst bestritt. Das viele Geld fließe nicht etwa dafür, »um Werbung für unser Land im Ausland zu machen, sondern für den massenhaften Ausbruch des Interesses am Sport«, versicherte der Kremlchef den vielen Millionen Landsleuten an den Bildschirmen. Auch hoffe er, dass das zu »positiven Tendenzen hinsichtlich der Gesundheit der Nation führt« und – etwas rätselhaft – »die Situation bei den demografischen Problemen verbessert«. Zeugen Wintersportler mehr Nachwuchs?

Doch dann rührte auch er noch die Werbetrommel für das große Russland. Wenn er, Putin, auf die Olympiabauten blicke, fühle er »Stolz auf unser Land, die Ingenieure, die Bauarbeiter. Bei weitem nicht jedes Land könnte das schultern. Aber wir können das.«9 Allerdings bestätigte er in der vierstündigen TV-Veranstaltung, dass die Winterspiele in Sotschi »teuer« würden. Insgesamt stünden 243 Milliarden Rubel (5,9 Milliarden Euro) bereit, davon stammten 99 Milliarden (2,4 Milliarden Euro) aus dem Staatshaushalt.10

Doch Putin hatte untertrieben; bei der Vorbereitung der Olympischen Spiele explodierten die Kosten. Als er im Februar 2013 einen seiner häufigen Besuche in Sotschi absolvierte, hatte ihn Dmitri Tschernischenko darüber informiert: Die Spiele würden statt der ursprünglich veranschlagten 9 Milliarden Euro nun 37,5 Milliarden kosten. Das sind umgerechnet 1,5 Billionen Rubel, viermal mehr als ursprünglich geplant. Auch Vizepremier Dmitri Kosak bestätigte die Summe.11

Die Diskrepanz zwischen den Angaben des Kremlchefs und seines Vizepremiers ergibt sich aus einer doppelten Buchführung. So beziehen sich die von Putin im Fernsehen genannten Zahlen nur auf die direkten olympischen Objekte wie Eissporthallen, Sprungschanzen, Bob- und Rodelbahnen usw. Die andere, wesentlich höhere Zahl ergibt sich aus der Summe aller Neubauten und der aufwendigen Infrastruktur, die ca. 66 Prozent des Geldes verschlingen. So kostet allein die Schnellstraße vom Flughafen Adler hinauf nach Krasnaja Poljana und Rosa Chutor, den Orten der alpinen Disziplinen sowie der Rodel-, Bob- und Skisprungwettbewerbe, ganze 6 Milliarden Euro.

Hinzu kommen Hotels, der neue Flughafen, weitere Straßen und ein Seehafen. Das alles habe eigentlich nichts mit Olympia zu tun, es handele sich um Infrastrukturbauten, die den Wintersportort Sotschi aufwerten würden, heißt es offiziell. Die aber nur gebaut werden, weil es die Winterspiele 2014 in Sotschi gibt.

Oppositionsführer Boris Nemzow, der unter Präsident Boris Jelzin schon mal Vizepremier war, nannte die olympischen Winterspiele in Sotschi einen »monströsen Betrug«. 50 bis 60 Prozent des dafür aufgewendeten Geldes seien »gestohlen«. In einer Studie, die er im Juni 2013 zusammen mit dem Regierungskritiker Leonid Martynjuk vorstellte, rechnete er dem Kreml vor, dass sich die 2007 ursprünglich veranschlagten Kosten von 12 Milliarden Dollar bis zum Juni 2013 auf 50 Milliarden erhöht und damit vervierfacht hätten. Der Grund: Korruption und Vetternwirtschaft. Der Mangel an fairem Wettbewerb habe zu dem starken Anstieg der Kosten und minderer Qualität geführt. »Nur Oligarchen und Unternehmen mit Verbindungen zu Putin wurden reich.«12

 


Der Umweltaktivist Wladimir Kimajew, mit dem ich mich im Frühjahr 2013 in Sotschi traf, hatte noch eine ganz andere Zahl in petto. »Schreiben Sie sich schon jetzt mal die Zahl 75 auf. Und dann schauen wir mal, ob das nicht in der Endabrechnung der Realität nahe kommt.« Kimajew meinte 75 Milliarden Dollar. Nur zum Vergleich: Die Olympischen Sommerspiele in Peking 2008 kosteten 40 Milliarden Dollar. Die Olympischen Winterspiele, die traditionell etwas »preiswerter« sind, kosteten 2002 in Salt Lake City 3 Milliarden Dollar, 2006 in Turin 2,7 Milliarden und in Vancouver 2010 zwischen 1,7 und 3,4 Milliarden Dollar.13

Dennoch: Auch wenn vieles in Sotschi und Krasnaja Poljana bei meinem Besuch im Frühjahr 2013 noch höchst unfertig aussah, die Realität nicht unbedingt den offiziell verbreiteten Erfolgsmeldungen entsprach, so war der gewaltige Unterschied zu den Brachen drei Jahre zuvor ganz offensichtlich. Und es war deutlich zu spüren, dass das Unternehmen »Sotschi 2014« mit der geballten Kraft der Moskauer Führung zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden würde. »Ljuboi zenoi«, um jeden Preis, wie man in Russland in Entscheidungssituationen gerne sagt.

Imagepflege im Schnee und unter Palmen

In den ersten Jahren der Sowjetunion galten die Olympischen Spiele als kapitalistisch und aristokratisch. Also ignorierte man sie. Stattdessen wurden als Alternativen Spartakiaden und Arbeiterolympiaden organisiert. Mit der ersten Teilnahme eines sowjetischen Teams an den Olympischen Sommerspielen in Helsinki 1952 signalisierte Moskau eine Wende in seiner Sportpolitik. Fortan nutzte die sowjetische Führung internationale Wettkämpfe als Bühne zur Selbstdarstellung. Während sowjetische Sportler die Medaillen, oft unterstützt durch staatliche organisierte und geheimdienstlich abgesicherte Dopingprogramme, gleich reihenweise abräumten, hielten sich die politischen Erfolge in Grenzen. Die bedrückende Realität der Sowjetdiktatur wirkte nachhaltiger als alle Versuche zur Imagepflege durch sportliche Siege.

Im neuen Russland wurde vor allem unter der Regentschaft Wladimir Putins die Sportförderung als Form der Öffentlichkeitsarbeit, freilich »bereichert« durch modernere und flexiblere Formen der Public Relations, wieder aufgenommen. Jetzt, da der Kremlchef in seiner dritten Amtszeit steht, werden internationale Sportgroßveranstaltungen reihenweise nach Russland geholt: 2013 die Leichtathletikweltmeisterschaften in Moskau und die Universiade der Studenten in Kasan, 2014 ein Grand Prix in der Formel 1 in Sotschi, 2015 die Schwimmweltmeisterschaft in Kasan, 2016 die Eishockeyweltmeisterschaft und als Höhepunkt 2018 die Fußballweltmeisterschaft.

Wie zweifelhaft der Erfolg dieser Bemühungen ist, machte eine Studie des US-Meinungsforschungsinstituts Gallup deutlich. Der zufolge gibt es zwar Länder, in denen die russische Politik beliebt ist. Sie sind vor allem südlich der Sahara zu finden. In Tansania, Burkina Faso oder Mali denken 84 Prozent der Befragten positiv über Moskau. Mehr Ansehen genießt Russland nur in den ehemaligen Sowjetrepubliken Mittelasiens, die bis heute ökonomisch stark von ihrem nördlichen Nachbarn abhängig sind. Aus ihrer Sicht stellt sich Russland als prosperierender Staat mit einem zeitgemäßen politischen System dar.

In der restlichen Welt aber ist die Perspektive eine andere. Dort kennt man außer dem KGB und der Mafia eigentlich nichts von Russland. Die einzige russische Markenbezeichnung, die sich in ihrem Bekanntheitsgrad mit westlichen Marken messen kann, ist die Kalaschnikow. So konnte sich in der Umfrage hier auch nur ein knappes Drittel der Befragten für die Politik des Kremls erwärmen. In Europa waren es gerade mal 21 Prozent.

Das soll sich nun ändern. Sicherheitshalber hat der Kreml sich die Unterstützung renommierter ausländischer PR-Unternehmen gesichert. Schon seit 2006, als der G8-Gipfel in St. Petersburg abgehalten wurde, ist die US-Firma Ketchum damit beauftragt, dem Ausland Russlands Politik schmackhaft zu machen. Geschätzte 2 Millionen Dollar sollen allein für die G8-Veranstaltung in die Kasse des Unternehmens geflossen sein. In den Wochen vor der Wiederwahl Wladimir Putins zum russischen Präsidenten im März 2012 waren westliche Agenturen damit beschäftigt, die politischen Aussagen des letztlich einzigen ernsthaften Kandidaten für die russische Präsidentschaftswahl in ausländischen Medien zu platzieren. Unter anderem erschienen Auszüge aus Putin-Artikeln, die in epischer Breite in russischen Medien erschienen waren, sogar bei der Huffington Post als Blog. Eigentlich genießt das private Internetprojekt wegen seiner unabhängigen, alternativen Standpunkte hohes Ansehen in den USA. »Wir haben geholfen, das Programm außerhalb Russlands etwas zu pushen«, sagte ein Beteiligter, der nicht genannt werden wollte.14

Die vorteilhafte Darstellung der Vorbereitungen auf die Olympischen Winterspiele in Sotschi wird unter anderem von der in München ansässigen Agentur Weber Shandwick betreut. »72 Agenturstandorte, top nationale und internationale Kunden«, lobt sich das Unternehmen auf seiner Internetseite selbst.15 Im Auftrag des russischen Organisationskomitees verbreiten die Münchner unter anderem regelmäßig optimistische Pressemeldungen über den Fortgang der Arbeiten. Sie bieten den Medien Fotos und Videos von der Olympiastadt Sotschi an und malen ein buntes, schattenfreies Bild vom Lieblingsprojekt des Kremlchefs und dem Land, das er beherrscht.

Umweltsünden in der Imereti-Niederung

»Die Imereti-Niederung ist schon jetzt unwiederbringlich zerstört«, beklagte sich Alik Le, einer der Aktivisten im Widerstand gegen die gewaltige Maschinerie von Olympstroi (Olympiabau), bei unserer Begegnung im Sommer 2010. »Und wofür das alles?«, grollte er. »Nur, um 25 Tage lang internationale Sportspiele abhalten zu können. Dieses System ist gegen die Menschen gerichtet.« Da standen noch ein paar der schlichten Häuser des Dorfes, eingeklemmt zwischen der Küste und dem Bauplatz von Olympic City. Ljubow Fursa, in deren Hof wir uns über das Unausweichliche unterhielten, zeigte mir ihren Gemüsegarten. Es würde wohl die letzte Ernte sein, die sie hier einbringen werde, meinte sie resigniert. Baumaschinen rückten immer näher an die letzten Protestler heran, die mit einem Hungerstreik versuchten, für ihre Rechte zu streiten.

»Sie wollen, dass wir nach Nekrassowka gehen oder uns durch Geld abfinden lassen«, erzählte der 33-jährige Pawel Schukowski, ein wegen Krankheit vorzeitig aus der Armee entlassener Offizier. Aber das wollten sie nicht. Die ursprünglich festgelegten Entschädigungssummen verlören infolge der Preisexplosion auf dem Immobilienmarkt rasant an Wert, und die Häuser in Nekrassowka seien aus minderwertigem, gesundheits- und feuergefährlichem Material errichtet, sagte Pawel.

Er und die anderen Protestler kannten natürlich das speziell geschaffene Olympiagesetz 310, das die Verfassung für diesen Teil der Russischen Föderation praktisch außer Kraft setzt und es erlaubt, das Land, das für die Wettkampfanlagen und die Infrastruktur benötigt wird, zu enteignen. Mit entsprechenden Kompensationen, versteht sich. Laut Gesetz soll jeder der Betroffenen selbst entscheiden können, ob er sich auszahlen lassen will, ob er das Angebot zur Umsiedlung in ein neues Domizil annimmt oder sich mit einem Ersatzgrundstück abfinden lässt.

Doch Gesetz und Realität sind in Russland zwei Dinge, die nur selten zur Deckung gebracht werden können. In Sotschi herrschten noch einmal besondere Bedingungen, da die Fristen für das Baugeschehen eng bemessen waren und die Verwaltungen aller Ebenen nicht begriffen, dass auch bei staatswichtigen Projekten Rücksicht auf die Bevölkerung genommen werden muss. »Wir zählen einfach nicht, niemand spricht mit uns«, beklagte sich der Ex-Offizier Pawel Schukowski. »Viele von uns, die hier schon lange leben, haben es versäumt, ihre Häuser und Grundstücke rechtzeitig als Eigentum registrieren zu lassen16, das war ja früher bei uns nicht so wichtig. Jetzt bestreiten die Behörden der Stadt, dass einige von uns überhaupt über Eigentum verfügen.« Das Resultat: Etliche Familien, die mit mehreren Generationen in einem Haus gelebt hatten, fanden sich plötzlich in einer Zwei-Zimmer-Wohnung wieder.

Drei Jahre später, im Frühjahr 2013, besuchte ich den Ort erneut. Alle waren fort, und nur ein paar leerstehende Häuser erinnerten noch an das Dorf. »Die Leute wurden alle nach Nekrassowka umgesiedelt, schöne Häuser dort. Komm, ich zeig’s dir«, bietet mir Eduard Sitnikow an. Der pensionierte mittelständische Unternehmer fuhr mich mit seinem Toyota Land Cruiser durch das einstige Naturschutzgebiet. »Früher sind wir immer hierher zum Fischen und Grillen an die Msymta gefahren«, erinnerte er sich mit einiger Wehmut. »Besonders im Frühjahr und im Herbst war es einfach überwältigend. Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende Zugvögel machten hier immer Halt, ehe sie weiterflogen. Ein gewaltiges Naturschauspiel.« Damit ist es jetzt natürlich vorbei. Das Imereti-Tal wurde plattgewalzt. Riesige Sportstätte, Schildkröten gleich, breiten sich hier aus. Nekrassowka erreichten wir an dem Tage nicht mehr. Während vorne im großen Eispalast ein Jahr vor den Spielen die ersten Wettkämpfe ausgetragen wurden, blieb Eduards Wagen am Hintereingang beinahe im Schlamm stecken. Wir mussten umkehren.

»Jetzt wollen sie auch noch das letzte Stückchen Natur in der Imereti-Niederung betonieren«, beklagte sich Wladimir Kimajew, pensionierter Offizier der Weltraumtruppen, Leitungsmitglied von Eco Watch im Nordkaukasus und Vertreter der liberalen Jabloko-Partei in Sotschi, den ich anschließend zu einem Kaffee traf. Es geht um einen 700 Meter langen Sandstrand, »den einzigen dieser Art an der russischen Schwarzmeerküste. Dieses Stückchen Uferzone ist der Lebensraum für eine ganze Reihe sehr seltener Pflanzen«, sagte Kimajew, der nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst den Naturschutz zu seiner Passion gemacht hat. »Dort gibt es Stranddisteln, Wolfsmilch, Seekohl und viele andere seltene Pflanzen, sie sollen unter dem Beton einer Strandpromenade begraben werden«, empörte er sich. Die örtlichen Behörden wollten das von der Regierung in Moskau verfügte Projekt auf Biegen und Brechen durchsetzen. »Ein Gericht hat einer Naturschützerin sogar das Betreten des Strandes verboten.«

Dieses Stückchen Natur war 1993 eigentlich auf Betreiben der örtlichen Abteilung der Russischen Geografischen Gesellschaft im Generalplan der Stadt Sotschi als schützenswertes Naturdenkmal aufgenommen worden. Präsident der russischen Gesellschaft ist Verteidigungsminister Sergej Schoigu, den die Probleme seiner Unterabteilung in Sotschi kaltlassen. Auch die Behörden kümmern sich nicht um die Einwände der Fachleute. Trotz einer wissenschaftlichen Expertise über die Einmaligkeit der dort vorkommenden Flora gaben sie den Startschuss zum Bau. Unter Polizeibewachung rückten im April 2013 die ersten Bohrtrupps auf das Gelände vor.

Das Msymta-Tal

Das enge Tal der Msymta, ein aus den Bergen bei Krasnaja Poljana zum Meer fließender Fluss, hat eine zentrale Bedeutung für die Verkehrsverbindung zwischen den Wettkampfstätten in Krasnaja Poljana und Sotschis Flughafen Adler. Durch die Schluchten der Msymta führen eine Schnellbahn und eine mehrspurige Schnellstraße rund 50 Kilometer bergauf. Sie verlaufen teils durch Tunnel, meist aber neben dem Fluss oder auf Beton- und Stahlkonstruktionen direkt im Fluss, der ein Trinkwasserreservoir von Groß-Sotschi ist. Selbst an einem verregneten Frühlingstag mit tiefhängenden Wolken in den Bergen kann man ahnen, was für eine landschaftliche Schönheit das Tal einst gewesen sein muss. Unwillkürlich drängt sich das Bild der Waldschlösschen-Elbbrücke in Dresden vor mein inneres Auge. Die Stadt verlor, indem sie diese Brücke gegen den Widerstand von Landschaftsschützern baute, ihren Status als Weltkulturerbe. Man stelle sich vor, diese Brücke würde um 90 Grad gedreht und verliefe nun Dutzende Kilometer weit parallel zum Ufer …

Der Jabloko-Politiker und Umweltschützer Wladimir Kimajew ist entsetzt ob der rüden Zerstörung einzigartiger Naturschauplätze. Langfristig schwebt allerdings noch eine ganz andere Bedrohung über den Köpfen der Bewohner von Groß-Sotschi. »Sie werden langsam mit Schwermetall vergiftet«, warnte Wladimir Kimajew von Eco Watch Nordkaukasus bei seinem Gespräch mit mir. »Die Erdschichten da oben in den Bergen enthalten Radon, Uran, Chrom, Lithium. Das ist ungefährlich, solange dort niemand Tunnel gräbt oder Fundamente aushebt. Aber jetzt, da das massenhaft geschehen ist, geraten die Schwermetalle ins Wasser der Msymta und vergiften unten am Ufer die Menschen.« Nicht sofort natürlich, aber langsam und schleichend in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. »Man hätte dort oben in den Bergen überhaupt nichts anrühren dürfen. Dort herrschen sehr komplizierte geologische Verhältnisse, mit seinen Eingriffen in die Natur provoziert der Mensch technogene Katastrophen«, ist Kimajew überzeugt. Immer wieder ist denn auch von Erdrutschen zu hören, die mal Straßen zusammenbrechen lassen oder kleine Flüsse aufstauen. Auch die Verzögerungen beim Bau der Skisprunganlagen sind nicht nur auf schlampige Bauausführung, sondern auf ein geologisches Umfeld zurückzuführen, dessen Kompliziertheit zwar unter Experten bekannt war, von den Verantwortlichen indes ignoriert wurde. So hatte z.B. Olympstroi, der Staatskonzern, extra geschaffen für den Bau der olympischen Sportstätten, sich zunächst mit dem Wissenschaftler Professor Sergej Wolkow den besten Kenner der geologischen Besonderheiten in und um Sotschi und Krasnaja Poljana als Berater gesichert, erzählte mir Kimajew. Aber was er den Verantwortlichen des Baukonzerns zu sagen hatte, löste keine Freude aus. Wolkow prognostizierte unberechenbare Naturkatastrophen, sollten die Berge oberhalb von Sotschi angefasst werden. Zumindest müssten entsprechende ingenieurtechnische Untersuchungen und Vorkehrungen getroffen werden, verlangte er. Doch das hätte die Bauzeit verlängert, und der Termin Februar 2014 wäre wohl nicht zu halten gewesen.

Irgendwann hatte Wolkow nach dem Geschmack der Olympia-Bauherren zu lange und zu laut die Alarmglocken geläutet. Man habe ihm in Russland dringend geraten, über seine Befürchtungen zu schweigen, andernfalls würde man ihn einsperren, berichtete Sergej Wolkow im April 2010 dem britischen Radiosender BBC. Da hatte er sich allerdings bereits aus Russland abgesetzt, das Interview gab er in seinem Exil in der Ukraine.

 


Zum Schweigen brachte man ihn aber nicht, in seinem Blog widmete er sich weiterhin seinem Thema, den geologischen Verhältnissen in und um Sotschi. »Schaut man auf die staatliche geografische Karte, dann wird klar, dass diese Region buchstäblich gespickt ist mit Anomalien toxischer, hochtoxischer und radioaktiver Elemente. Das sind Uran, Quecksilber, Arsen, Blei, Cadmium, Kupfer, Nickel, Chrom«, schrieb er bereits 2011 und warnte erneut: »80 Prozent des Geländes befindet sich in einer Quecksilber-Arsen-Kupfer-Zone.« Wo man auch graben würde, man finde immer irgendwelche ökologisch gefährlichen Stoffe. »Wo kein Quecksilber ist, findest du Arsen, wo kein Arsen liegt, da stößt du auf Cadmium, Blei oder Kupfer, und überall atmest du Dämpfe des radioaktiven Gases Radon ein.«

Der Aushub der Bauarbeiten würde vom Regen ausgewaschen und die Giftstoffe in die Flüsse gelangen, die dann vergiftet zu Tale flössen. Bei den Tunnelbohrungen, so Wolkow, sei es bereits im Jahr 2000 zu Reaktionen des Urans mit leichteren Elementen gekommen, wodurch Tritium entstanden sei. Die Msymta, an der der Haupttransportweg für Sportler und Touristen verläuft, sei unter Geologen als besonders cadmium- und bleihaltig bekannt. »Wenn an den Berghängen nicht gebaut, wenn kein Wald gerodet wird, stellt die Natur selbst das Gleichgewicht her, ohne Schaden für sich selbst und den Menschen.« Andernfalls drohten Katastrophen.17

Der Vorsitzende des Dorfsowjets von Krasnaja Poljana, Sergej Awdejew, teilte die Befürchtungen von Wolkow. »Jetzt können wir nur noch beten«, sagte er im Gespräch mit russischen Journalisten. Auch Professor Pjotr Chomjakow sieht erhebliche geologische Gefahren. Er war zwölf Jahre lang wissenschaftlicher Sekretär des staatlichen Programms »Einfluss der Veränderungen der Natur und des Klimas auf die Wirtschaft und den Gesundheitszustand Russlands«. Der Wissenschaftler behauptete, dass es nahe der Imereti-Niederung, wo zahlreiche Olympiasporthallen stehen, in unmittelbarer Ufernähe unterseeische Canons gibt. Die Strände, die früher als Schutz vor ihnen dienten, seien fast vollständig zerstört, so dass diese Canons bei hohen zurückflutenden Wellen wie »Pumpen« wirkten und Ufereinrichtungen ins Meer »saugen« könnten.