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Matthias Eckoldt

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Bibliografische Information der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

Inhalt

WUT

NARBEN

NIEDERLAGEN

TRÄUME

CHANCEN

ERLÖSUNG

UNMUT

AUFBRUCH

GERECHTIGKEIT

SIEGE

LETZTER TAG

DANKSAGUNG

Meinen Freunden

»Viele Box-Weltmeister sind
Alkoholiker geworden,
aber ich bin der erste Alkoholiker,
der Box-Weltmeister wurde.«
Eckhard Dagge

WUT

Toni brauchte diesen Geruch nach Leder, Gummi und Schweiß, das Adrenalin, die Spuren der Seile auf dem Rücken seiner Boxer, den knirschenden Mundschutz, das Hetzen, Anfeuern, Schinden, das Handtuch um seinen Hals, das Rechnen, die Endlosschleifen beim Videostudium, das Grübeln über neue Kombinationen, den Sandsack, gegen den er sich stemmte, wenn seine Boxer richtig in Fahrt kamen und er sie anschrie, weil sie ihn sonst nicht mehr hörten, die gespenstische Ruhe fünf Minuten bevor er die Kabinentür aufstieß und sie durch die Katakomben liefen, raustraten vor die Menge, den verspannten Nacken seines Boxers, den er lockerte bis zum ersten Gong. All das brauchte er, um leben zu können, und er brauchte seinen Trainingsanzug, den er ohne Vertrag nicht anziehen könnte. Da käme sich Toni wie ein Scharlatan vor. Aber um ihn ging es vorerst nicht.

Es ging um Rico.

Als Toni ihn das erste Mal sah, fiel ihm gleich seine Haltung auf. Wenn Rico boxte, lag er windschief nach vorn gebeugt, wie die vier rostigen Stangen auf dem Schulhof, um die der Sportlehrer gelbes Band geknotet hatte. Zu Ehren von Tonis Besuch in jenem kleinen ostdeutschen Dorf. Die Termine bei seiner Talentsuche hielt er sonst so kurz wie möglich, doch diesem Jungen sah er fast eine Stunde beim Boxen zu. Rico hatte eine so präzise Achse im Körper, dass er die ganze Wucht seiner Schwerkraft hinter die Fäuste bekam. Dafür trainierten andere jahrelang. Allerdings boxte Rico das, was Toni als Telegrafenstil bezeichnete: Er stocherte mit seiner Führhand in der Deckung des Gegners herum und feuerte in unregelmäßigen Abständen seine Rechte ab. Egal, ob eine Lücke da war oder ob der Schlag einfach an der Deckung krepierte. Dabei holte er aus wie ein Speerwerfer. So waren seine Schläge hart, aber vorhersehbar: »Willst du Boxer werden?«, hatte Toni ihn gefragt.

»Na klar!«

»Dann hör auf, deine Schläge durchzutelegrafieren. Wenn du so boxt, kannst du höchstens deinen Gegner einschläfern, aber nicht umhauen.«

»Von wegen! Ich gewinne doch andauernd.«

»Zufall!« Das stimmte natürlich nicht. Toni hatte gesehen, was Rico mit seinen Fäusten anrichten konnte – und das, so schätzte er, mit gerade einmal zwanzig Prozent seiner Möglichkeiten. Er holte ihn in die Boxerklasse der Kinder- und Jugendsportschule. Rico gefiel, dass er nur noch zwei Mal in der Woche Unterricht hatte und ihn niemand mehr mit Hausaufgaben quälte. Ab jetzt stand Boxen an erster Stelle, und Sitzenbleiben gab es an dieser Schule nicht.

Beim ersten Einzeltraining band er Ricos linken Arm am Körper fest.

»Jetzt will ich eine saubere Führhand sehen! Los, los, los!«

Rico brachte nicht einen vernünftigen Schlag mit der Rechten raus. Die Plattformbirne bekam er gar nicht in Gang. Zumeist saß nur die erste Faust, dann irrte seine Hand tapsig wie die eines Linkshänders umher. Toni musste lachen.

»Rico, das ist kein Luftballon. Und du bist hier nicht beim Kindergeburtstag! Hau ran, mein Junge! Mach mir einen vernünftigen Rhythmus!«

»Nö. Ich schaff das nicht!« Rico ließ die Rechte sinken. Noch nie schien ihn jemand gefordert zu haben, und so tat Rico nur das, was ihm zufiel. Aber damit war jetzt Schluss. An Ricos Genörgel mochten seine Eltern verzweifelt sein, sicher auch die Lehrer in der Schule, aber nicht Toni. Er wusste genau, wie er ihn dort hin bekam, wo er ihn haben wollte.

»Habe ich gesagt, dass Pause ist? Mach weiter. Lass das Bällchen hüpfen!«

»Es klappt nicht. Verdammte Scheiße.« Rico schlug mit solcher Wucht gegen die Boxbirne, dass es schepperte. Der Lederball flog zurück und traf Rico an der Stirn.

So lief es gut. Training fing für Toni erst dort an, wo es wehtat. Alles andere war nur Amüsement. Freizeitsport.

»Haben wir ein großes Ziel?«

Als Rico leise vor sich hin maulte, fasste ihn Toni im Nacken: »Guck mich an! Haben wir ein großes Ziel?«

Rico nickte. Dabei lief ihm eine Träne die Wange herunter.

»Ich höre nichts, verdammt. Haben wir ein großes Ziel?«

»Ja.«

»Ich versteh dich nicht!«

»Ja!«, schrie Rico.

»Dann lass uns arbeiten.« Toni stellte sich hinter ihn und führte seine Hand. Die Tränen liefen, und der Ball begann zu tanzen. »Und jetzt dranbleiben, mein Junge.«

Nach zwei Wochen Training nahm Toni ihn zum ersten Mal mit in die große Halle. Als Rico den Boxring sah, wie er im staubigen Licht der Mittagssonne vor ihm lag, musste er grinsen. Drei Runden waren angesetzt gegen einen stämmigen Burschen aus einer höheren Klasse.

»Jetzt zeig mir, was du gelernt hast. Du boxt in Rechtsauslage. Egal, was passiert. Rechts ist deine Führhand, links deine Schlaghand. Klar?«, rief Toni.

»Weiß ich doch!« Rico hatte sich schwarze Striche auf seinen Mundschutz gemalt und sah aus, als hätte er gewaltige Zahnlücken in der Vorderfront.

Die erste Runde lief noch ganz gut. Rico hielt die Fäuste geschlossen. Mit dem Oberkörper pendelte er geschickt. Nur die Beinarbeit gefiel Toni nicht. Rico stand zu eng. Die Füße fast auf gleicher Höhe. Sein Gegner war einen halben Kopf größer und drei Kilo schwerer. Er schlug auf Ricos Handschuhe ein wie ein Verrückter auf die Wände der Gummizelle. In der ganzen ersten Runde war er nicht ein einziges Mal durchgekommen. In der Pause stürzte der Schweiß aus seinem Gesicht, während sein Trainer auf ihn einschrie.

Toni blieb ganz ruhig: »Gut, mein Junge. Gute Deckung. Achte auf die Grundstellung. Breitere Beine. Rechter Fuß vor. Du bist jetzt Rechtsausleger. Greif an! Und nur Rechtsauslage. Hast du verstanden?«

Ricos Gegner schien deutliche Order von seinem Trainer bekommen zu haben. Er ging rückwärts und schlug kaum noch. Rico machte jetzt den Kampf, vornweg immer seine rechte Führhand. Der Gegner ließ seine Fäuste fallen und wich den Schlägen aus. Als Rico seine linke Schlaghand brachte, wischte der Ältere sie arrogant mit dem Handschuh weg. Die erste, die zweite und die dritte. Unter der vierten tauchte er durch und schoss seine Rechte ab. Direkt aufs Kinn. Rico taumelte. Als noch eine Rechts-Links-Rechts-Kombination einschlug, unterbrach Toni den Kampf.

»Alles okay, mein Junge? Kannst du mich sehen?«, Toni ließ das Handtuch kreisen. »Pass besser auf die Deckung auf. Und jetzt musst du weiterboxen!«

Rico nickte abwesend.

»Du schaffst das!« Toni schubste Rico in die Ringmitte, doch der boxte mit angezogenen Schultern. Prompt fing er sich noch zwei Kombinationen und ging zu Boden. Der gegnerische Trainer schrie: »Wenn der noch mal hochkommt, hack ihm die Rübe vom Stamm!«

Es ging weiter. Rico wechselte die Auslage und knallte seinem siegessicher heranstürmenden Gegner eine rechte Gerade auf die Nase. Ansatzlos. In der Schrecksekunde schob Rico noch einen Kinnhaken nach, der dem anderen die Beine fortriss.

»Du sollst in Rechtsauslage boxen, verdammt. Rechtsauslage!«, schrie Toni.

Rico stellte seinen Gegner in der Ringecke. Der versuchte, sein blutendes Gesicht hinter den Handschuhen zu verstecken, aber Rico schlug ihm die Fäuste weg. Da flog das Handtuch. Rico jubelte, bis ihm klar wurde, dass Toni es geworfen hatte.

»Noch zwei Schläge, und der Typ wäre fertig gewesen.« Rico rüttelte an den Ringseilen.

»Ich habe gesagt, dass du den ganzen Kampf in Rechtsauslage boxen sollst.«

»Aber …«

»Nichts aber! Nur der schwere Weg führt zum Erfolg! Morgen ist Sondertraining. Und jetzt geh rüber und gratulier’ deinem Gegner.«

Als Toni die Haustür aufdrückte, hörte er seine Frau kichern. Wahrscheinlich spielte Irina mit Rico Backgammon. Er verschwand gleich in seinem Zimmer im Souterrain. Seine Höhle. Die Fenster zu ebener Erde, mit schweren Vorhängen. Hier schrieb er die Trainingspläne, hier las er neueste Studien zum Muskelaufbau und zur Entwicklung der Schnellkraft, hier errechnete er die Nahrungszusammensetzung für seine Boxer, und hier schlief er auch. Es war einer der beiden Räume, die sie eigentlich für Kinder vorgesehen hatten, aber es war keins gekommen. Ihre Kinderlosigkeit war so bitter wie ein Niederschlag im Ring. Der Mannschaftsarzt redete ihm noch zu, er solle die Hoffnung nicht aufgeben. Ein paar Jahre ohne das harte Training, und schon wäre er glücklicher Vater.

Doch es kam anders. Toni trainierte ab, indem er schubkarrenweise Steine und Zement auf das Grundstück fuhr. Das Wohnungsbauprogramm der Regierung hatte ihnen zwar ein kleines Stück Land in die Hände gespielt, doch Bauleute für Privathäuser bekam man nur schwarz an den Wochenenden. Diese Art des Schuftens empfand Toni als erholsam. Wie er am Tag auch rackerte, er war nicht ein einziges Mal so schläfrig und zerschlagen wie in den Zeiten, als er noch am Boxsack trainiert hatte. Doch bei Irina tat sich trotzdem nichts. Erst als der Staat plötzlich unterging, dämmerte es Toni, dass nicht das Training, sondern die üblen Tablettencocktails seinen Spermien wohl die nötige Durchschlagskraft genommen hatten. Im Leistungssportzentrum hieß es immer nur, sie bekämen einen besonderen Mix, damit sie nicht krank würden. Alle schluckten das Zeug. Toni hatte überlegt, ob er sich den Sammelklagen gegen DDR-Sportfunktionäre anschließen sollte. Aber wozu? Jede Menge Zeit wäre dabei draufgegangen, und zum Schluss hätte er Recht und vielleicht tausend Mark bekommen. Oder zehntausend. Aber was hätte das geändert? Irina hätte er dadurch nicht zurückgewonnen. Für sie zählte nur ein Kind. Niemals würde ein hilfloses Wesen »Mama!« zu ihr sagen und seine Ärmchen nach ihr ausstrecken. Niemals könnte sie mit ihrem Enkelkind auf den Spielplatz gehen. Das sah Toni ständig in ihrem Blick, in den Kräuselungen zwischen ihren Augenbrauen, die unterdessen wohl eingewachsen waren. Aber Toni konnte nichts dafür. Irina verstand das einfach nicht, und so hauste er lieber hier unten, wo ihm nicht immer wieder dieselben Fragen gestellt wurden. Er sagte einfach, er müsse noch arbeiten, dann wartete er, bis Irina die Schlafzimmertür zugezogen hatte, schüttelte sein Kissen auf und sah wahllos fern, bis er einschlief. Bei Sonnenaufgang lief er sich die Müdigkeit aus den Beinen.

»Jetzt willst du mich alleine lassen?« Irina hatte ihm damals im Morgenmantel die Haustür versperrt.

Toni schulterzuckend: »Der Trainerlehrgang fängt an!«

»Na und?«

»Was ›na und‹? Ich muss den Lehrgang machen. Sonst kriege ich meinen Trainerschein nicht!«

»Du denkst immer nur an dich!« Irina stiegen vom Hals her rote Flecken ins Gesicht.

»Das stimmt doch nicht. Freitag in drei Wochen bin ich wieder da.«

»Und ob das stimmt. Für dich gibt es nur deinen Sport. Ich dachte immer, wenn du nicht mehr boxt, haben wir wieder Zeit für einander.« Irina zog den Morgenmantel fester um ihren Körper. »Aber jetzt musst du unbedingt Trainer werden, und wie es mir geht, ist dir völlig egal!«

»Ich liebe dich doch!« Toni nahm seinen Seesack und ging einen Schritt auf die Tür zu, doch seine Frau trat nicht zur Seite.

»Dann beweis es mir!«

»Jederzeit! Aber jetzt muss ich los.«

Irina lachte hysterisch: »Jetzt muss er los!«

»Ja, ich muss. Der Zug fährt in zwanzig Minuten.«

»Dann fährst du halt einen Zug später und nimmst dir mal die Zeit, mit mir zu sprechen!«

»Wenn ich zu spät komme, kann ich den ganzen Lehrgang vergessen.«

»Wenn du mich wirklich liebst, kann dir das egal sein!«

»Aber wieso denn? Wir können doch auch noch sprechen, wenn ich zurückkomme!«

»In drei Wochen, ja?«

»Ich meine, ich weiß gar nicht, worüber du eigentlich reden willst.«

»Du weißt es nicht?« Irina senkte ihren Kopf.

»Nein!« Toni schaute auf seine Uhr. Dann nahm er den Seesack vor den Bauch.

Irina zog die Tür auf: »Geh! Aber sag nie wieder, dass du mich liebst!«

Wahrscheinlich hatte sie Recht, dachte Toni, als er im Zug Richtung Schwerin saß. Boxen war ihm wirklich das Wichtigste. Aber Irina war ihm doch auch wichtig. Sehr wichtig sogar. Was sollte das? Boxen und Irina, das konnte man einfach nicht vergleichen. Er hätte nicht sagen können, woran man merkte, ob man jemanden liebte, aber er wusste, dass er Irina liebte. Er hatte für sie geboxt. Selbst diesen Trainerlehrgang machte er doch für sie. Ohne Irina würde er viel ruhiger leben, viel einfacher, müsste nicht ständig raus in die Welt und sich beweisen. Jede seiner Medaillen gehörte ihr, und ihr würden auch seine Erfolge als Trainer gehören. Er liebte sie. Punkt. Aus. Er würde ihr Blumen mitbringen. Als Beweis seiner Liebe und als Entschuldigung dafür, dass sie keine Kinder haben würde. Wenn andere Windeln wechselten, Schlaflieder sangen und die Hausaufgaben kontrollierten, musste seine arme Frau vorm Fernseher sitzen. So hatte er zumindest gedacht damals, auf dem Weg zur Trainerschulung im Boxleistungs-Zentrum Schwerin und auch später noch, bis er eines Abends allein zu Hause war und ihr Tagebuch auf dem Tisch lag.

Er schob es zur Seite, um Platz für seinen Teller zu haben. Während er den Reis-Bohnen-Mix löffelte und über seinen Trainingsplan nachdachte, den er für die Prüfung ausarbeiten musste, bog er das Heft um und ließ die Seiten immer wieder an seinem Daumen entlangschnipsen. Einfach so, um seine linke Hand zu beschäftigen. Nach und nach aber irrten seine Gedanken von Gewichten, Medizinbällen, Zirkeltraining und Ausdauerläufen ab und bissen sich am Tagebuch fest. Er hielt es für Zeitverschwendung, abends noch einmal zu resümieren, was einem am Tage so alles widerfahren war. Er hatte es doch erlebt, warum sollte er es noch einmal aufwärmen? Das Wichtige beschäftigte ihn ohnehin weiter, alles andere konnte ihm gestohlen bleiben. War das bei Irina anders? Sicherlich, sonst würde sie ja nicht Heft um Heft vollschreiben. Notierte sie, was sie eingekauft hatte oder wie viel Strom sie verbraucht hatten oder welche Probleme sie mit ihrem Chef in der Modefabrik hatte, oder was? Er guckte hinein. Da war von Roland die Rede. Toni kannte keinen Roland. Ihr Chef war es jedenfalls nicht, der hieß anders. Klaus oder Thomas, aber nicht Roland. Sie war mit ihm tanzen. Charmant soll er sein. Wie schön, dachte Toni! Er wollte das Heft zuklappen, weiteressen und den Trainingsplan schreiben, doch seine Augen flogen so schnell über die Zeilen, dass er schon wieder umblättern musste. Roland, Roland, Roland! Sie waren spazieren. Er kannte sich in der Natur aus, in der Literatur, ja selbst in der Malerei. War ja ein richtiges Genie, dieser Roland! Und noch eine Seite: Roland verstand Irina so gut, mit ihm konnte sie über alles reden. Schön, dann hätte Toni ja endlich Ruhe vor ihren ständigen Fragereien! Er schloss das Heft, aber es sperrte sich genau an den Seiten, die er gelesen hatte, wieder auf. Toni drückte und faltete an dem Heft herum, doch erst als er ein paar Mal mit der Faust draufschlug, kam es wieder in Form.

»Roland!«, höhnte Toni, als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Ob er denn auch noch was vom Sport verstand? Vom Boxen sogar? Er lachte abfällig und machte sich daran, den durchschnittlichen Eiweißbedarf für einen Fliegengewichtler in der Aufbauphase zu errechnen. Als er die Zahlen in seinen Taschenrechner eingeben wollte, brannte es plötzlich in seinem Unterleib. Anstelle der Ziffern sah er ROLAND auf dem Display. Toni schüttelte sich. Fühlte sich so Eifersucht an? Aber er doch nicht! Er hatte einen Kampf mit gebrochener Mittelhand zu Ende gebracht, war mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert worden, hatte sich die Augenbraue ohne Betäubung nähen lassen. Da würde ihn doch diese Pfeife nicht umhauen! Roland, dieses Weichei, das sich an verheiratete Frauen ranmachte, während der Mann unterwegs war. Dem würde er seinen Charme aus dem Gesicht prügeln. Verdammt! Er war also doch eifersüchtig. Aber warum? Es war schließlich nichts passiert. Irina hatte sich ein paar Mal mit diesem Typen getroffen, zum Spazieren, zum Tanzen, vielleicht waren sie auch noch durch ein paar Museen gelatscht. Aber weiter waren sie nicht gegangen! Er konnte froh sein, dass Irina jemanden gefunden hatte für all die Dinge, für die ihm seine Zeit ohnehin zu schade war. Also bitte!

Toni sah wieder auf seine Berechnungen und tippte Zahlen in seinen Rechner. Von der letzten Acht rutschte er auf die Neun und musste alles wieder löschen. Warum, fragte er sich, als auf dem Display wieder die Null stand, warum wähnte er sich eigentlich so sicher, dass nichts weiter passiert war? Wenn man sich so gut verstand? Hatten sie an der Bar gesessen, vertraut miteinander gelacht und ein Glas zu viel getrunken? Dann, beim Tanzen die langsame Runde. Hatte sie ihn vielleicht sogar mit hierher genommen, hatte dieser Typ in seinem Bett gelegen? Toni schloss die Wohnungstür ab und ließ den Schlüssel von innen stecken, damit ihn seine Frau nicht überraschte. Ins Museum oder sonst wohin konnte sie mit jedem gehen, aber … Er verbot sich weiterzudenken.

Toni blätterte das Tagebuch flüchtig durch. Seine Augen suchten die Seiten nach Reizworten wie Bett, Kuss, zärtlich, Haut, Morgen, ab. Nichts. Dann musste er halt alles noch einmal Wort für Wort lesen, doch auch jetzt fand er keinen Hinweis darauf, dass Irina ihn … Er scheute sich davor, dieses Wort zu gebrauchen.

Erst hatte er vorgehabt, Irina zur Rede zu stellen. Aber das konnte er nicht, denn dann hätte er zugeben müssen, dass er ihr Tagebuch gelesen hatte. Er, der harte Boxer, spionierte seiner Frau hinterher! Das ging einfach nicht. Schließlich entschied er sich dafür, Irina im Bett zu erwarten. Als sie ihn mit leisem Lächeln in sich aufnahm, war er überzeugt, dass sie ihm treu geblieben war. Zwar hatte er sie verloren. Durch die Sache mit dem Kind, durch die Sache mit dem Trainerschein, durch seine Engstirnigkeit, sein Desinteresse, seine Unlust, sich zu amüsieren, und natürlich durch die Sache mit dem Saufen. Aber dennoch war sie seine Frau, die bei ihm bleiben und ihn nicht betrügen würde. Ihre Haare öffnete sie nur für ihn. Wie Toni es liebte, wenn sich die dunklen Locken auf ihre nackte Haut legten!

Am nächsten Morgen konnte Toni in aller Ruhe seinen Trainingsplan schreiben. Von nun an ließ er sich wieder des Öfteren von der Treue seiner Frau überzeugen. Bis heute. Schlafen allerdings mochte er lieber in seiner Höhle.

Toni setzte sich an seinen Schreibtisch und schob den Computerbildschirm vorsichtig gegen den Papierstapel. Als der Behälter mit den Stiften runterkrachte, wartete er kurz, dann schob er den Monitor weiter, bis auch die Leselampe ins Straucheln kam. Schließlich flog noch ein Stapel Videokassetten hinterher. Wie einfach es gewesen wäre, die Sachen wegzuräumen, aber er konnte das gerade nicht. Hatte er noch nie gekonnt. Als Jugendlicher hatte er oft tagelang auf den frischen Hemden gesessen, die ihm seine Mutter über den Stuhl gelegt hatte. Nicht dass er sich wohl fühlte, als er sah, wie der gebügelte Stoff zerknitterte, aber es standen so dringende Erledigungen an, dass ihm die Zeit fehlte, die Hemden in den Schrank zu hängen. Alles war wichtiger in diesem Moment, selbst das dösige Herumlungern, in das plötzlich eine Idee einschießen konnte. Toni hatte etwas erfinden wollen, das alle Menschen benutzen würden. Einfach und nützlich wie ein Dosenöffner. Wie toll es sein musste, wenn alle Menschen auf der Welt andauernd mit Dingen hantierten, die man sich ausgedacht hatte. Toni erfand schließlich einen mechanischen Flaschenkastenstapler. Wenn man an einem Strick zog, hob der Kasten ab, und man konnte einen anderen drunterstellen. Seine Mutter war von der Erfindung ohnehin nicht überzeugt, aber als die gesamte Konstruktion aus der Wand riss und die Flaschen explodierten, da verwünschte sie ihren Sohn. Während sie das Cola-Bier-Gemisch aufwischte, verbot sie ihm, über weitere Erfindungen auch nur nachzudenken. Von nun an sollte er seine überschüssigen Energien beim Sport verbrennen.

Toni legte den Aufhebungsvertrag auf die Glasplatte. Es ging um eine »für beide Seiten einvernehmliche Lösung aller Rechte und Pflichten« zwischen ihm und seinem Manager. Zum nächsten Tag. Vierundzwanzig Uhr. Verbunden mit dem Verzicht auf jegliche Sonderzahlungen wie Abfindungen, Provisionen oder Aufwandsentschädigungen. Toni brauchte nur zu unterschreiben, und er wäre alle Sorgen los. Er erinnerte sich an das kranke Pferd aus einer Kindergeschichte. Die Stelle, wo das Tier besessen war von der Idee, einfach über den Zaun der Galopprennbahn ins Moor zu springen, hatte ihn jedes Mal erregt. Alles Leid hätte dann ein Ende, hieß es da. Damals konnte sich Toni nicht erklären, was das Pferd eigentlich im Moor wollte und warum es gerade dort, wo seine dünnen Beine rasch im Morast versinken würden, seine Schmerzen loswerden sollte. Aber er hatte nie einen Erwachsenen danach gefragt. Es war so wunderbar gruselig, wie das Pferd mit dem Gedanken spielte und doch nie sprang.

»Sittenwidrig!«, hatte Toni seinem Manager geantwortet und sich zugleich über den Klang dieses Wortes gewundert.

»Was? Was haben Sie gesagt?«

»Sittenwidrig! Die Sache, die Sie da vorschlagen, ist sittenwidrig.« Toni schaute Bornemeyer an. Ein kleiner Mann mit rundem Gesicht, weißgrauen Haarstoppeln und merkwürdig spitzem Bauch. Er lachte, dass sein Kaffee Wellen schlug: »Sittenwidrig? Das ist ja ein dicker Hund!« Seine Augen blitzten. »Falls Sie es noch nicht verstanden haben, Toni. Es geht hier ums Geschäft. Und das Geschäft kennt nur eine einzige Sitte. Nämlich die, dass es immer weitergehen muss!«

»Aber nicht gegen das Wohl meiner Boxer.«

»Falsch! Ganz falsch!« Bornemeyer stürzte seinen Kaffee hinunter und redete weiter, bevor er ihn ganz getrunken hatte. »Toni! Toni! Toni! In unserem Geschäft geht es gerade nicht um die Boxer, sondern um das Geschäft! Verdammt! Deswegen heißt es auch nicht zum Wohle der Boxer, sondern zum Wohl des Geschäfts. Unsere Kämpfe finden nicht vor dreißig Leuten auf dem Marktplatz statt. Wir schreiben das Jahr neunzehnhundertfünfundneunzig! Wir boxen im Fernsehen. Beim letzten Kampf wollten fünf Komma acht Millionen Leute Alex sehen. Die Quote lag gleich hinter der Tageschau, Mann. Was erzählen Sie da von Sittenwidrigkeit?« Bornemeyer baute sich direkt vor Toni auf: »Wo Ihre Schecks herkommen, haben Sie noch nie gefragt!«

Toni zuckte mit den Schultern: »Wie stellen Sie sich das vor? Es sind meine Boxer. Alles, was sie können, haben sie von mir gelernt. Es geht einfach nicht!«

»Ich will nur eins, Toni. Ich will, dass wir uns richtig verstehen: Die Sache ist bereits entschieden.« Bornemeyer legte Toni die Hand auf den Unterarm. »Und wenn Ihnen das Kopfschmerzen bereitet, können Sie jederzeit aussteigen. Ich habe schon mal eine Vertragsaufhebung vorbereiten lassen.«

Toni starrte auf das Schriftstück: Einzelne Worte, die keinen Sinn ergaben. Als er seinen Namen las, winkte er ab und schob Bornemeyers Arm von sich.

»Nehmen Sie nur, Toni. Denken Sie in Ruhe nach! Ihnen stehen alle Möglichkeiten offen.« Als Toni nicht reagierte, faltete Bornemeyer das Blatt zusammen und steckte es ihm in die Hemdtasche.

»Entscheiden Sie sich! Ich höre morgen von Ihnen. Bis vierundzwanzig Uhr!«, rief er ihm nach.

Toni zerknüllte den Vertrag. Er würde kämpfen. Runde um Runde. So wie er es immer getan hatte: Leben oder Tod. Bloß nicht auf die Knie gehen! Fragte sich nur, was in seiner Situation Leben hieß, was Tod? Es war alles nicht mehr so einfach wie damals im Ring. Brauchte er etwa ein neues Lebensmotto?

Toni zielte auf den Papierkorb. Wenn ich treffe, wird alles gut, sagte er sich. Aber noch vor dem Abwurf rief er: »Nein! Gar nichts hängt davon ab! Ist egal, ob ich treffe oder nicht!«

Dann warf er. Der Papierball fiel auf den Rand und rollte auf den Teppich. Blödsinniger Aberglaube! Was war das überhaupt für ein merkwürdiger Wunsch, dass alles gut werden sollte? Kindern könnte man so einen Traum nachsehen, aber einem Fünfzigjährigen? Toni lachte kopfschüttelnd. Als ob er es nicht besser wüsste: Wenn man einmal entspannt ausatmete, war das wohlige Stöhnen noch nicht verklungen, da ging’s schon wieder ans Einatmen.

Toni glättete den Aufhebungsvertrag an der Schreibtischkante. Vielleicht konnte er ihm doch noch nützen!

Im neuen Deutschland wollte Toni mit seinen Boxern zu den Profis wechseln. Sie sollten es mal besser treffen als er. Im Herbst 1974 hatte Toni jeden Gegner in seiner Gewichtsklasse weggeknallt. Er war Landesmeister! Die Siegerehrung sollte am nächsten Morgen stattfinden. Toni klopfte an die Zimmertür eines Funktionärs, der im selben Hotel untergebracht war. Ein Doppelkinn erschien, schüttelte ihm in Morgenmantel, Badelatschen, Socken und Feinrippunterhemd die Hand und kramte eine Urkunde aus seinem Koffer. »Weiter so, Genosse!« Toni nickte und ging. Auf dem Flur kam ihm der Landesmeister im Schwergewicht entgegen. Ihm stand dieselbe Enttäuschung bevor. Da rackerte man täglich, dass die Muskeln brannten, träumte nachts von den Kombinationen, die man in den Sandsack geschlagen hatte, bis einen die Beine nicht mehr hielten, aß seit Jahren nicht nach Appetit, sondern nach Plan, kämpfte sich schließlich durch ein mörderisches Turnier mit vier Begegnungen pro Tag und zum Dank bekam man von diesem Waschlappen ein Blatt Papier in die Hand gedrückt. Eine gottverfluchte Mäusescheiße war das.

Toni erinnerte sich genau daran, wie er erwartet hatte, dass sich mit diesem ersten Titel etwas änderte, und sei es, dass ihm die Kassiererin im Geschäft zulächelte oder sein Nachbar ihm sagte, dass er ein Bild von ihm auf der Sportseite der Zeitung gesehen hatte, oder ihm die Blumenverkäuferin einfach so eine Aster schenkte. Nichts geschah. Nur Irina freute sich mit ihm. Sie gingen in die Gaststätte, die zu ihrer Wohnsiedlung gehörte. Eine halbe Stunde standen sie an der Tür, dann wurden sie zu einem anderen Paar an den Tisch gesetzt. Sie arbeitete in der Wäscherei, er auf dem Bau. Als Toni sagte, dass er Boxer sei, winkte sein Gegenüber ab: »Durchs Boxen ist noch kein einziges Haus gebaut worden. Du bist ’n kräftiger Kerl. Komm doch zu uns!«

Toni hoffte, dass seine Frau von seinem Titel bei den DDR-Meisterschaften erzählte. Aber sie schwieg. Was hätte das auch geändert?

»Oder ihr steigt mal bei uns in den Ring?«

»Wozu?«, der Bauarbeiter knallte seine gewaltige Pranke auf den Tisch. Die Finger hellgrau vom Beton. »Mit seinen Händen soll man etwas aufbauen und nicht anderen in die Fresse schlagen!«

Toni kaute stumm an seinem »Steak Letscho«. Irina hatte einen Rinderbraten mit Rot- und Weißkohlsalat vor sich stehen, weil es die »Königsberger Klopse«, die sie in der Regel aß, am heutigen Abend nicht mehr gab. Sie gingen bald. Um fünf Uhr klingelte der Wecker.

Niemand wollte damals etwas davon wissen, dass er der beste Mittelgewichtsboxer in seinem Land war. Er bekam eine Woche Sonderurlaub, dann gings ab ins nächste Trainingslager. Alles für Ehre und Vaterland.

Als sich schließlich auch noch das Vaterland wie ein belangloser Traum am Morgen verflüchtigte, musste Toni handeln. Mit dem Rücken in den Seilen. Denn eins war klar: Wenn er nichts unternahm, würde er mit dem Land untergehen, für das er sich einst die Nase hatte platt schlagen lassen. Die Kinder- und Jugendsportschule wurde »abgewickelt«. Das hörte sich zwar nach einem überlegten Verfahren an, hieß für ihn jedoch, dass er bald arbeitslos wäre.

Doch Toni ging nicht zum Amt, sondern ins Interconti. Es hatte etwas gedauert, bis ihm klar wurde, dass der freundliche Uniformierte am Eingang nicht seinen Ausweis, sondern seinen Mantel haben wollte. Beim Ausziehen blieb der Knopf seines Jacketts im Ärmel hängen und riss das löchrige Futter auf. Toni entschuldigte sich. Wofür eigentlich, fragte er sich später. Dafür, dass seine Sachen plötzlich wirkten, als hätte er sie aus einer Kleidertonne geholt, dafür, dass er noch nie in einem Hotel war, in dem eine einzige Übernachtung mehr kostete als sein verrostetes Auto, mit dem er sich in diese Welt der glänzenden Porsches und breitkrempigen Hüte, der roten Schals und goldenen Krawattennadeln eingeschlichen hatte, in eine Welt, die überhaupt nichts von einem, wie er es war, zu wissen schien?

Der Portier entschuldigte sich ebenfalls, nuschelte etwas von Wäschedienst und Kleiderservice und verschwand mit Tonis Mantel.

»Ich nehme einen Kaffee und ein Wasser!«, sagte Bornemeyer. Toni nickte, als die Kellnerin zu ihm sah.

Bornemeyer war sein Mann, dachte Toni damals. Er hatte schon einen Fernsehtypen kennen gelernt, der etwas mit Boxen zu tun hatte. Ein absoluter Knallkopf. Wollte unbedingt mit ihm Champagner trinken. Boxen und Champagner gehöre im Westen zusammen, hatte er getönt. Aber Toni rührte seit Jahren keinen Alkohol mehr an. Champagner hätte er jedoch auch früher nicht getrunken. Das Zeug schmeckte für ihn einfach nur nach Sodbrennen. Wenn Alkohol, dann richtig. Schnaps und Weinbrand. Nicht vier oder etwa nur zwei Zentiliter, sondern eine ganze Pulle. Sonst konnte man einfach Wasser trinken. Toni hatte seine Chancen im Profigeschäft schwinden sehen. Wenn dieser Angeber nicht einmal kapierte, dass es für Toni verheerend war, Alkohol zu trinken, was würde der dann überhaupt kapieren? Keine guten Karten für eine Zusammenarbeit. Toni wollte nicht andauernd, wenn er sich mit seinem Arbeitgeber traf, nach Gefäßen suchen, in denen er unauffällig Champagner entsorgen konnte, außerdem wollte er von niemandem abhängig sein, der Goldketten trug, einen Ring im Ohrläppchen hatte, unsinnig braun war und idiotisch große Zigarren rauchte.

Da passte Bornemeyer besser zu ihm. Er hatte sich nur einen Tag nach dem Gespräch mit dem Fernsehtypen gemeldet. Ja, Kaffee und Wasser. Das waren die Grundlagen für ein vernünftiges Gespräch:

»Wissen Sie, Toni, ich darf Sie doch Toni nennen? Wissen Sie, was mich am Boxen so fasziniert?«

Das große Geld, dachte Toni, während er höflich seinen Kopf schüttelte.

»Die Wut! Verstehen Sie? Diese unglaubliche Wut der jungen Kerle, mit der sie aufeinander einschlagen. Wut, die so kaltblütig macht, dass sie einem schwankenden Gegner noch einmal vors Kinn schlagen. Wenn er dann endgültig fällt, versuchen sie die Schläfe zu treffen und den Hinterkopf. Sie wollen in diesem Moment töten. Ein Blutrausch, der sie alle Regeln ihrer Gattung vergessen lässt. Doch das ist noch nicht das Größte, Toni!« Bornemeyer nahm der Kellnerin die Tasse vom Tablett und stürzte den dampfenden Kaffee hinunter. Kein Fluchen. Kein Aufschrei. Nur ein kräftiges Ausatmen, als hätte er sich einer üblen Sache entledigt.

»Das Größte bei der Sache ist, dass die Jungs Brüder sind. Wie sie sich umarmen, wie sich der Sieger zum Geschlagenen hockt und ihm aufhilft. Das ist das Größte. Die Boxer erschlagen im Rausch ihrer Wut den Bruder, verdammt. Sie schlagen sich in die eigene Fresse, bis sie blutet.«

Toni nippte an seinem Kaffee.

»Sind Ihre Boxer wütend?«, fragte Bornemeyer.

Toni ließ sich Zeit beim Trinken. Er hatte so viele Boxer in seinem Trainerleben gesehen und konnte nach zwei Runden sagen, ob der Mann was taugte oder nicht. Wut war dabei nicht das Wichtigste. Die zählte vielleicht etwas bei den Amis, wo es für viele Schwarze einfach nur hieß: Box oder stirb. Aber nicht in Deutschland. Hier reichte es nicht, einfach draufzuschlagen und zu hoffen, dass der Gegner einknickte, bevor man mit der eigenen Kraft am Ende war.

»Ihre Boxer sind wütend. Ich hab sie gesehen. Alex geht durchs Blut. Das weiß ich. Der schlägt noch zu, wenn ihm jemand den Kopf weghaut. Das ist ein Boxer! Der hat eine ganz große Zukunft vor sich. Gerade im Halbschwergewicht gibt es kaum etwas Vergleichbares in Europa. Wenn wir ihn richtig aufbauen, kämpft der in ein paar Jahren um einen Weltmeistergürtel!«

Gerade Alex, dachte Toni, Alex sollte ein wütender Boxer sein? Alex hatte einen Schlag, um den ihn jeder Boxer beneidete. Klar. Präzise. Gnadenlos schnell. Wo er einschlug, war für lange Zeit nur Leere. Was aber machte Alex mit seiner schweren Rechten? Er hielt sie zurück. Drei, vier Runden lang arbeitete sie nur für die Deckung. Dann riss plötzlich eine Lücke auf beim Gegner, und Alex ließ sie raus. Auf die Leber. Abtauchen. Die Linke auf die Rippen, die Rechte auf die Nase. Mit dreihundert Kilo. Eins, zwei, drei. Und dann Wegducken, immer wieder wegducken. Selbst wenn der Gegner strauchelte. Wegducken. Bei jedem Training hundert Mal geübt. In diesen Aktionen lag in etwa so viel Wut wie bei einem Golfer, wenn er einlochte. Ein wenig anders war es vielleicht bei Rico.

»Bei Rico bin ich mir nicht so sicher. Er hat auch Wut, keine Frage. Aber ich weiß nicht, ob seine Wut für die ganz große Bühne ausreicht. Was meinen Sie, Toni?«

Rico war talentiert, aber faul. Toni musste ihn ständig triezen, denn er drückte sich, wo er nur konnte. Am Sandsack ließ er ganze Trainingseinheiten aus, wenn Toni nicht hinter ihm stand. Beim Laufen versuchte er abzukürzen. Selbst vor einem Kampf wollte er sich nicht warm machen. Ginge es nach Rico, käme er eine halbe Stunde vor dem ersten Gong in die Kabine, ließe sich die Hände wickeln und versuchte den Gegner möglichst noch in der ersten Runde umzuhauen. Punktsiege bedeuteten für ihn Folter.

»Für Rico lege ich meine Hand ins Feuer! Der Junge macht seinen Weg. Er ist ja gerade erst achtzehn«, hatte Toni geantwortet, damals im Interconti, während Bornemeyer die zweite Tasse Kaffee hinunterkippte. Drei Tassen später kaufte er Alex und Rico und Toni. Die monatlichen Zuwendungen waren so bemessen, dass sie sich auf das Training konzentrieren konnten. Die Börsen sollten sechzig zu vierzig geteilt werden.

Zum Abschied gab er Toni noch eine schwarz glänzende Papiertüte, aus der Schleifen und geringelte Bänder herausquollen.

»Was ganz Feines! Direktimport!« Bornemeyer zwinkerte ihm zu.

Zu Hause schnitt Toni die Bänder durch, riss Folie und Papier auf. Warum musste man im Westen eigentlich alles so umständlich einpacken? Als ob man dem Geschenk nicht recht traute. Oder geschah das nur, um klarzumachen, dass es besonders teuer gewesen war? Toni fand es einfach nur unpraktisch. Die russischen Schriftzeichen auf der Holzkiste ließen ihn aufstöhnen.

Lange genug hatten sie ihn mit dieser Sprache gequält. In der Schule und später dann wieder beim Trainerlehrgang. Aus Verbundenheit mit der Sowjetunion sollte man diese merkwürdigen Buchstaben bimsen. Weil die Russen Deutschland vom Faschismus befreit hatten. Und was war dann mit Englisch und Französisch und Amerikanisch? Toni sagte immer, wenn er ins Stocken geriet, weil sich manche Silbenkombinationen einfach nicht hintereinander sprechen ließen, dass er seine Verbundenheit mit der Sowjetunion eher durch das Boxen zum Ausdruck brachte. Das glaubte ihm natürlich niemand, aber so konnte er zumindest ein bisschen Zeit schinden.

Die Holzkiste ließ sich nicht öffnen, weil ein rotes Siegel an der Seite klebte. Toni polkte das Wachs ab und klappte den Deckel auf: Eine Flasche Schnaps. Wodka. Auch mit russischen Schriftzeichen: »Stolichnaya Elit Vodka«, stammelte Toni vor sich hin, während er mit dem Zeigefinger die Buchstaben entlangfuhr.