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Jürgen Kehrer

Tod im Friedenssaal

 

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Zum Autor

Jürgen Kehrer, geb. 1956, lebt als freiberuflicher Schriftsteller in Münster. Neben zahlreichen Kriminalromanen, von denen bereits zwei verfilmt wurden, hat er Bücher zur Kriminalitätsgeschichte Münsters geschrieben. Tod im Friedenssaal ist sein erster historischer Roman. Der zweite Roman mit dem Freigrafen Bernd Ketteler, Das Geheimnis der Tulpenzwiebel, ist 1998 erschienen.

Bücher von Jürgen Kehrer bei Waxmann: Mord in Münster – Kriminalfälle aus fünf Jahrhunderten, Schande von Münster – die Affäre Weigand, Das Geheimnis der Tulpenzwiebel – Freigraf Kettelers zweiter Fall, Mord im Dom – Eine Kriminalgeschichte aus der Zeit Karls des Großen.

Weitere Kriminalromane sind im grafit Verlag erschienen.

Jürgen Kehrer

Tod im Friedenssaal

Eine Kriminalgeschichte aus der
Zeit des Westfälischen Friedens

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Waxmann

Münster New York München Berlin

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

 

Kehrer, Jürgen:

Tod im Friedenssaal : eine Kriminalgeschichte aus der Zeit des Westfälischen Friedens / Jürgen Kehrer. – 4. Aufl. –
Münster ; New York ; München ; Berlin : Waxmann, 1997

ISBN 3-8309-5081-3

 

 

5. Auflage 2013

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ISBN 3-8309-5081-3

 

© Waxmann Verlag GmbH 1997
Postfach 8603, D-48046 Münster

 

www.waxman.com

info@waxmann.com

 

Umschlag: Pleßmann Design, Ascheberg

Titelbild: Blick in den Friedenssaal, um 1848,

aquarellierte Zeichnung von Johann Friedrich Lange

Westfälisches Landesmuseum für Kunst
und Kulturgeschichte Münster / Dauerleihgabe
des Westfälischen Kunstvereins
Satz: Stoddart Satz- und Layoutservice, Münster

Druck: cpibooks, Ulm

Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany

Prolog

Der Mann rannte um sein Leben. Er war durchnäßt bis auf die Haut. Doch er spürte weder die Kälte noch die Stichverletzung am Arm, aus der Blut in den bauschigen Hemdsärmel sickerte. Die Angst, die ihn erfüllte, betäubte alle anderen Empfindungen.

Er blieb stehen und schnappte nach Luft. Ein dichter Regenschauer klatschte auf das Pflaster, verschluckte alle Geräusche. Wo war sein Verfolger? Hatte er aufgegeben? War er damit zufrieden, ihn verletzt, gedemütigt zu haben? Nein. Der Flüchtende wußte, daß der Andere ihn umbringen wollte. Ihn umbringen mußte, bevor ...

Die Furcht packte ihn erneut. Wie gern würde er sich in einem dieser Häuser verkriechen, hinter deren Fensteröffnungen gelbes Öllicht flackerte. Dort, in den Domkurien, wäre er in Sicherheit. Aber würde man ihn, den Fremden, hineinlassen?

Er rannte weiter, quer über den Domplatz. Nicht weit von hier befand sich das Tor, in dem zwei bewaffnete Männer den Eingang zum Prinzipalmarkt bewachten. In den verwinkelten Gassen der Stadt würde ihn der Andere nicht finden. Er konnte den Morgen abwarten und um Hilfe bitten. Lieber die Schmach erleiden, als elendig abgeschlachtet werden.

Rasselnd ging sein Atem. Er sah den erstaunten Blick in den Augen des Wächters, der mit einer Fackel in der Hand heraustrat. Der Wächter sagte etwas, das er nicht verstand. Der Flüchtende sprach schnell, gestikulierte mit den Händen. Ein paar Tropfen von dem Blut, das den Arm hinuntergelaufen war, spritzten in das Gesicht des Wächters. Erschrocken wich der Fackelträger zurück.

Ein Surrren, wie von einer verspäteten Mücke, lag in der Luft. Und dann spürte er einen stechenden Schmerz. Ungläubig blickte er auf den Pfeil, der in seiner Brust steckte. Er versuchte ihn herauszuziehen. Noch als er tot am Boden lag, hielten seine Hände den Schaft umklammert.

 

Der peitschende Regen schützte die beiden Männer, die sich an die Mauer der Lambertikirche lehnten, vor ungebetenen Zuhörern. Wären sie nicht vornehm gekleidet gewesen, hätte man sie für zwielichtiges Gesindel halten können, das sich nachts in der Stadt herumtrieb.

„Ich weiß nicht“, sagte der kleinere der beiden, „ob das richtig ist, was Ihr vorhabt. Bedenkt die Gefahren, die Ihr heraufbeschwört! Der Kurfürst wird toben. Ja, nicht einmal der Kaiser kann das akzeptieren.“

„Ihr haltet unseren Plan für gefährlich?“ fragte der Große bissig.

„Nun ...“

„Und Ihr habt recht“, fuhr der Große hochmütig fort. „Er ist gefährlich. Aber nichts zu tun, ist ebenfalls gefährlich. Es gibt keine günstigere Gelegenheit als die jetzige. Heute regiert Münster sich selbst als freie Stadt. Der Kurfürst ist schwach, der Kaiser weit. Es steht nicht gut um die katholische Sache. Schaut Euch doch um! Überall im Münsterland treiben sich schwedische und hessische Söldner herum. Und welche Grenzen unser gutes Deutschland haben wird, das steht in den Sternen. Darüber streiten sich die hohen Botschafter und Gesandten. In einigen Jahren, wenn der Frieden unterzeichnet ist, wird niemand an den Grenzen rütteln wollen. Und dann holt der Kurfürst zum Schlag gegen Münster aus, er wird uns unsere Rechte und Privilegien wegnehmen, er wird uns auf eine Stufe stellen mit Coesfeld und Warendorf. Wollt Ihr das?“

„Nein, natürlich nicht“, sagte der Kleine erschrocken. „Ich meine nur ...“

„Steht Ihr auf unserer Seite oder nicht?“ unterbrach ihn der Große drohend.

Regentropfen rannen dem kleineren, gedrungen wirkenden Mann von der Hutkrempe in den Nacken. Er zitterte, nicht nur vor Kälte. „Vielleicht sollten wir den Stadtrat einweihen, zumindest die Bürgermeister. Das würde der Sache mehr Gewicht geben.“

Der Große machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vergeßt den Stadtrat! Das sind Duckmäuser und Arschkriecher. Habt Ihr vergessen, wie der Stadtrat den Jesuiten auf den Leim gekrochen ist? Nein. Wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen.“ Er schaute dem Kleinen direkt in die Augen. „Ich baue auf Eure Unterstützung. Enttäuscht mich nicht!“

Erstes Kapitel

Freigraf Bernd Ketteler betrachtete den Polizeidiener mit der stillen Wut eines Mannes, der um seine verdiente Ruhe gebracht wurde. Er hatte am Abend ein gehöriges Stück Braten vertilgt und dazu etliche Becher Wein gekippt. Jetzt saß er am Kaminfeuer, fühlte sich müde und schwer, und der einzige Gang, den er noch beabsichtigte, war der zu seinem zehn Fuß entfernten Bett. Nichts, aber auch gar nichts verlockte ihn zu einem Marsch durch den Sturm und die Kälte des münsterschen Winters.

Ketteler nahm die Tonpfeife aus dem Mund und paffte eine Tabakwolke in die Luft. „Eine Leiche ist doch nichts Besonderes. Fast jeden Tag liegt eine Leiche herum. Warum behelligst du mich damit?“

„Der Mann ist ermordet worden, Herr Freigraf“, sagte der Botmeister.

„Na schön.“ Ketteler griff zu dem Zinnbecher, der neben seinem Stuhl stand, und nahm einen Schluck Wein. „Er ist also ermordet worden. Auch das kommt vor. Habt ihr den Täter gefaßt?“

„Nein“, gab der Botmeister zu.

„Hat ihn vielleicht jemand gesehen? Kennt man seinen Namen?“

„Nein.“

„Was soll ich dann, deiner Meinung nach, tun? Es ist dunkel, wie du bemerkt hast. Und bei dem Regen ist es ohnehin schwierig, irgendwelche Spuren zu finden. Der Mörder sitzt längst zu Hause und wärmt sich seine Füße am Kamin. Schafft die Leiche beiseite! Ich werde sie mir morgen früh ansehen.“

Der Botmeister starrte auf seine schmutzigen Stiefel. Es war ihm sichtlich unangenehm, widersprechen zu müssen.

„Der Sergeant hat mir befohlen, Euch zu holen. Es ist nämlich so: Der Sergeant glaubt, daß es sich bei der Leiche um einen Ausländer handelt.“

Ketteler rülpste und verschüttete etwas Wein auf sein Wams. Ein Ausländer. Womöglich ein Mitglied einer Gesandtschaft. Die Sache roch nach Unannehmlichkeiten.

„Teufel auch! Wie kommt der Sergeant darauf?“

„Der Tote hat eine dunkle Haut, und er ist fremdländisch gekleidet. Außerdem hat er vor seinem Tod in einer unverständlichen Sprache geredet, sagt der Torwächter von Michaelis.“

Der Freigraf horchte auf. „Der Torwächter von Michaelis, sagst du? Dann ist der Ausländer also auf dem Domplatz gestorben? Guter Mann, weißt du nicht, daß die Stadt für die Domimmunität nicht zuständig ist. Gebt dem Domdechanten Mallinckrodt Bescheid! Er soll sich um die Angelegenheit kümmern.“

Der Botmeister duckte sich wie ein geprügelter Hund. „Ich gebe nur weiter, was man mir aufträgt.“

„Natürlich.“ Ketteler steckte vergnügt seine Pfeife in Brand. Der Kelch war noch einmal an ihm vorübergegangen.

„Dein Sergeant ist wohl neu hier, wie? Bestellt ihm einen schönen Gruß von mir!“

„Es ist nicht nur der Sergeant. Ein Domherr hat sich die Leiche angesehen. Und er meint, daß in diesem Fall die städtische Gerichtsbarkeit ...“

Der Freigraf erhob sich wütend. „Verflucht nochmal! Liegt die Leiche nun auf dem Domplatz oder nicht?“

„Ja und nein. Die Beine liegen auf dem Domplatz, aber der Oberkörper liegt auf städtischem Gebiet. Und der Mann ist an einem Pfeil gestorben, der ihn im Herzen getroffen hat.“

„Johan!“ brüllte Ketteler. Der Ärger hatte ihn auf einen Schlag ernüchtert. Mit festen Schritten ging er durch die Diele, schnappte seinen Pelzmantel vom Haken und setzte sich den breitkrempigen Hut auf. Dem herbeigeeilten Diener befahl er, mit einer Fackel voranzugehen. Grimmig und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nahm Freigraf Bernd Ketteler, der Untersuchungsrichter der Stadt Münster, seinen Dienst auf.

 

Dem Unwetter trotzend, stand eine Gruppe von Männern um die Leiche herum. Ketteler begrüßte den Domherrn und den Sergeanten, dann ging er ächzend in die Knie, um die Leiche näher zu betrachten. Er hatte die Torwächter, die im Dienst der Kirche standen, im Verdacht, die Lage der Leiche verändert, sie ein Stück vom kirchlichen auf das städtische Gebiet gezogen zu haben. Doch das nützte ihm jetzt nichts mehr. Ketteler war der oberste Polizist von Münster, und auf seinen Schultern ruhte die Verantwortung, diesen Mordfall aufzuklären.

Obwohl die wächserne Leichenblässe sie heller erscheinen ließ, war die ursprünglich olivfarbene Haut des Mannes noch gut zu erkennen. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Erstaunens, wie bei vielen, die von einem plötzlichen Tod überrascht werden. Ketteler drückte die Augenlider des Toten nach unten. Er mochte keine Leichenaugen.

Unglücklicherweise schien der Sergeant mit seiner Vermutung recht zu haben. Die dunkle Haut, die schulterlangen, schwarzen Haare, die Kleidung im spanischen Hofstil – alles deutete darauf hin, daß es sich bei dem Toten um einen Südländer handelte. Ein Spanier oder ein Portugiese, vielleicht auch ein Italiener. Die Spanier und die Portugiesen waren in Münster mit Delegationen vertreten, Italiener gab es im Gefolge der beiden Friedensvermittler, des päpstlichen Nuntius Chigi und des venezianischen Botschafters Contarini.

Der Tote hielt noch immer den Pfeil umklammert, der in seinem Herz steckte. Ketteler löste behutsam die Finger, die Leichenstrarre hatte noch nicht eingesetzt. Die Hand gab einen kurzen Armbrustpfeil frei, wie er häufig bei der Jagd verwendet wurde. Die Armbrust war fast genauso treffsicher wie ein Gewehr, allerdings lautlos. Ein bedeutender Vorteil, wenn man durch einen einzigen Schuß nicht sämtliche Tiere in der Umgebung verscheuchen wollte.

Ketteler bewunderte im Stillen die Treffsicherheit des Mörders. In der Dunkelheit einen solchen Schuß abzugeben, erforderte großes Können – oder Glück. Der Einschuß hatte unmittelbar zum Tod des unbekannten Mannes geführt, deshalb war an der Brust auch nur wenig Blut ausgetreten. Anders verhielt es sich mit der zweiten Verletzung. Der rechte Unterarm des Unbekan nten leuchtete im Fackelschein rot wie ein abgeschlagener Stumpf. Blut und Regenwasser hatten den Ärmel bis zum Ellbogen eingefärbt.

Ketteler zog sein Messer aus der Scheide und schlitzte den Hemdsärmel auf. Darunter kam eine klaffende, vier Zoll lange Schnittwunde zum Vorschein.

Der Freigraf richtete sich auf. Seine Stimme klang fest und bestimmt: „Hat jemand mit dem Mann gesprochen, bevor er starb?“

Der Torwächter meldete sich. Ketteler befahl ihm, alles zu erzählen, was er gesehen und gehört habe, und nichts auszulassen.

„Das könnt Ihr Euch sparen“, sagte der Sergeant. „Ich habe den Wächter bereits befragt. Er wird Euch nicht weiterhelfen.“

Mit einem abschätzigen Blick musterte der Freigraf den Sergeanten. „Habe ich dich um deine Meinung gefragt? Hier leite ich die Untersuchung, ist das klar?“

Der Sergeant nahm Haltung an.

„Wie ich höre“, mischte sich der Domherr mit einer hohen Altherrenstimme ein, „habt Ihr akzeptiert, daß der Mord in die städtische Gerichtsbarkeit fällt. Ich darf mich daher zurückziehen, wenn Ihr erlaubt.“

Der Freigraf ließ sich nicht anmerken, daß er innerlich vor Wut kochte: „Ich bin davon überzeugt, daß der Elende auf der Domimmunität verstorben ist, aber ich will mit Euch darüber keine Streiterei anfangen.“

„Wollt Ihr behaupten ...“, brauste der Domherr auf.

„Seht Ihr die Blutspur dort?“ Ketteler wies auf das Pflaster. „Das Opfer ist mindestens sechs Fuß gezogen worden. Für dieses Mal lasse ich das noch durchgehen. Aber versucht eine solche Sauerei nicht noch einmal mit mir!“

Der Domherr kaute an einer Erwiderung, drehte sich dann um und schritt würdevoll davon.

„Und nun zu dir!“ bellte der Freigraf in Richtung Torwächter. „Fang endlich an zu erzählen!“

Vor Angst schlotternd, begann der Torwächter zu reden. Als er geendet hatte, vergewisserte sich Ketteler: „Du hast also kein Wort von dem verstanden, was der Mann gesagt hat?“

„Nein, er redete ja in dieser fremden Sprache.“

„Hast du gesehen, woher der Schuß kam?“

„Dazu war es viel zu dunkel.“

„Und wie konnte der Mörder sein Opfer erkennen?“

„Ich weiß es nicht.“ Der Torwächter zuckte zusammen. „Vielleicht beherrscht er die schwarze Magie.“

Ketteler lachte. „Unfug! Ich habe noch keinen Mord gesehen, der auf übernatürliche Weise zustande kam. Der Teufel hebt seine Kraft für wichtigere Dinge auf. Los! Wir machen jetzt ein kleines Spiel. Der Sergeant ist der Unglückselige, der seinem Tod entgegengeht. Und du, Torwächter, wiederholst dieselben Schritte und Bewegungen, die du gemacht hast, als das echte Opfer auf dich zukam!“

Der Sergeant war wenig angetan von seiner Rolle, aber er fügte sich in sein Schicksal. Er ging ein Stück auf den Domplatz hinaus und rannte dann, mit den Armen rudernd und um Hilfe rufend, zum Michaelistor. Der Torwächter trat aus dem Tor und sprach kurz mit dem Sergeanten, der sich theatralisch auf das Pflaster fallen ließ.

Mit zusammengekniffenen Augen hatte der Freigraf das Schauspiel verfolgt. Doch so sehr er auch nach einer Lösung suchte, er fand keine Erklärung für den zielgenauen Schuß des Mörders. Während sich der Sergeant den Dreck von der Uniform wischte, trat Ketteler zu den beiden Männern.

„Du bist sicher, daß du nichts vergessen hast?“ fragte er den Torwächter.

„Nein, bestimmt nicht.“

„Vielleicht hattest du etwas in der Hand?“

„Nur eine Fackel.“

„Du Idiot!“ Ketteler stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Und wo ist die Fackel jetzt?“

Der Torwächter schaute bekümmert auf seine leeren Hände. „Jetzt ist es doch hell.“

„Trottel. Du hast dem Unbekannten ins Gesicht geleuchtet, stimmt’s?“

„Ja. Ich wollte ja sehen, wer es war.“

„Und in diesem Moment wurde der Mann getroffen?“

Der Torwächter nickte.

„Schwarze Magie, hah!“ Der Freigraf schüttelte seinen großen Kopf. „Für einen geübten Armbrustschützen ist es keine Kunst, ein erleuchtetes Ziel aus dreihundert Fuß Entfernung zu treffen.“ Er klatschte in die Hände. „So! Das reicht für heute nacht. Schafft die Leiche in den Keller des Rathauses! Bis morgen früh findet sich vielleicht jemand, der sie vermißt. Und du“, wandte er sich an den Sergeanten, „sorgst dafür, daß Doktor Rottendorff morgen um sieben Uhr im Rathaus erscheint. Ich möchte, daß er sich den Toten ansieht.“

Einigermaßen zufrieden ging Freigraf Ketteler nach Hause. Immerhin hatte er aufgeklärt, wie der Mord verübt worden war, auf die Fragen nach dem wer und warum würde er beizeiten auch noch Antworten finden.

Elisabeth, Kettelers Frau, stand schon in der Diele, als sich der massige Mann den regennassen Mantel vom Leib riß. „Ah, was für ein Wetter!“ brummte er. „Gerade gut genug, um Hunde und Polizisten auf die Straße zu jagen.“

„Hast du etwas erreicht?“ erkundigte sich Elisabeth.

„Ein komplizierter Fall.“ Mit raschen Schritten strebte Ketteler zum Kamin, goß sich einen Becher Wein ein und leerte ihn in einem Zug. „Die Leiche ist ein Südländer und der Mörder ein durchtriebener Bursche. Ich schätze, in den nächsten Tagen wird einige Arbeit auf mich zukommen.“

Elisabeth, eine Frau in einem schlichten schwarzen Kleid und mit zurückgebundenen Haaren, die sie außerhalb des Hauses unter einer großen Haube versteckte, kannte die Trinkgewohnheiten ihres Mannes und hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, ihn dafür zu tadeln. „Wolltest du nicht nach Senden?“

„Ja, es gibt dort einige Pestkranke. Ich müßte dringend nach dem Rechten sehen.“ Als Freigraf versah Ketteler auch das Amt, im Stadtlehen Senden Gericht zu halten. „Aber der Mordfall hat Vorrang. Stell dir nur mal vor, bei dem Toten handelt es sich um einen Gesandten. Dann wird alle Welt von mir verlangen, daß ich den Mörder aus dem Hut zaubere.“ Er füllte den Becher erneut. „Was schaust du mich so an, Frau?“

„Es ist wegen Anna“, sagte sie leise.

Die Hand, die den Becher hielt, zitterte. Ketteler war beinahe genauso breit wie hoch und selten aus der Fassung zu bringen. Aber wenn es um seine Tochter ging, wurde er ängstlich wie ein Kaninchen.

„Was ist mit ihr?“ flüsterte er mit heiserer Stimme.

„Sie hat sich erbrochen“, sagte Elisabeth.

„Was hat sie denn gegessen?“

„Nur eine warme Brühe, den lieben langen Tag.“

Seit einigen Wochen litt Anna unter einem seltsamen Zustand. Sie aß kaum noch etwas, lag am liebsten teilnahmslos in ihrem Bett und mied jeglichen Umgang mit ihren Freundinnen. Da sie über keinerlei Schmerzen klagte und auch sonst nicht sagen konnte, was ihr fehlte, waren ihre Eltern völlig ratlos.

Hand in Hand schritt das Ehepaar zum Bett der Tochter, das in der Upkammer stand. Zwei Kammern ihres stattlichen Hauses hatten sie an Vertreter der Reichsstädte vermietet, deshalb mußte die Familie jetzt enger zusammenrücken. Der Freigraf und seine Frau schliefen in der Nähe des Kamins, die Dienerschaft in der Küche, Anna und ihre beiden jüngeren Brüder nahmen die Upkammer in Beschlag. Härter traf es allerdings die Diener der reichsstädtischen Gesandten. Sie nächtigten hinter Bretterverschlägen im Pferdestall.

Ketteler schob den Vorhang beiseite, der Annas Bett verdeckte. Weiß wie ein Leinentuch lag das Mädchen unter der Bettdecke. Der Körper war abgemagert, und um das Gesicht spannte sich die Haut so straff, daß der Kopf wie ein Totenschädel wirkte.

„Anna“, sagte der Freigraf sanft, „was ist mir dir?“

„Ich weiß es nicht, Vater“, antwortete sie matt.

„Warum ißt du nichts? Du mußt zu Kräften kommen.“

Ihre Augen glänzten fiebrig. „Ich habe keinen Hunger.“

„Weil du den ganzen Tag im Bett liegst. Ich wünschte, du würdest aufstehen und Handarbeiten machen, so wie du es früher getan hast. Oder mit deiner Mutter in die Messe gehen. Oder ...“

Anna zeigte ein wehmütiges Lächeln. „Ach, es ist alles so sinnlos. Am liebsten möchte ich sterben.“

„So etwas darfst du nicht sagen“, rief Elisabeth erschrocken. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir.“

„Es liegt sicher am Wetter.“ Ketteler schlug einen harmlosen Ton an. Er wollte nicht, daß das Mädchen seine Unsicherheit bemerkte. „Ich verspüre selbst ein Reißen in den Gliedern. Manchmal fühle ich mich wie ein Fünfzigjähriger.“

Anna lachte lautlos. Der Totenkopf grinste.