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Titelseite

Für meine Eltern

Daily Soap ['deɪli 'soʊp]: englisch, aus: daily = täglich und soap = Seife; Ende der Vierzigerjahre begannen Waschmittelkonzerne in den USA, kleine Serien für Hausfrauen im Fernsehen auszustrahlen. In den Werbepausen bewarben die Hersteller ihre Waschmittel. Die Serien wurden täglich zu Zeiten, in denen Frauen der Hausarbeit nachgingen, ausgestrahlt. So entstand die Bezeichnung »Daily Soap« oder »Soap Opera«, zu Deutsch »Seifenoper« – ein Format, das sich bis heute großer Beliebtheit erfreut.

In den Geschichten geht es meist um Liebe, Familienprobleme, Geheimnisse und Intrigen. Wichtigstes Merkmal einer Daily Soap ist, dass sie im Prinzip unendlich ist. Ein häufiges Stilmittel, durch das die Zuschauer animiert werden sollen, bei der nächsten Folge wieder einzuschalten, ist der Cliffhanger, bei dem die Handlung an einer spannenden Stelle unterbrochen wird.

1

Gnade! Nicht schon wieder diese Serie! Alles, nur das nicht! Bitte, Deborah, schalt um.« Ich hielt mir die Hände vor die Augen und ließ mich rücklings auf unser altes, verknautschtes Sofa fallen. Es war auch wirklich nicht auszuhalten: diese superkitschigen Geigenklänge im Vorspann. Die eingeblendeten Bilder der Hauptdarsteller mit ihren Föhnfrisuren. Dazu die schnörkelige Schrift, die sich wie ein unheilvolles Versprechen über den ganzen Bildschirm spannte: Ashworth Park. Diese Serie war nichts weniger als eine Heimsuchung.

Und tatsächlich mehr, als ich an einem Tag wie heute ertragen konnte. Die letzten zwölf Stunden hatten sich vor allem dadurch ausgezeichnet, dass ich a) eine Matheklausur komplett verhauen hatte, b) in einem dunklen U-Bahn-Tunnel in Manhattan zusammen mit gefühlten 1573 anderen Menschen (und ohne den süßen Trevor Parker, der eine Station vorher aussteigen musste) stecken geblieben war und c) von einem Regenguss auf der Manhattan Bridge überrascht worden war, der meine dunkelbraunen Locken in eine Frisur Marke »nasser Langhaar-Pudel« verwandelt hatte.

Inzwischen war es fast neunzehn Uhr und ich sehnte mich nur noch nach meinem Allheilmittel für mies gelaufene Tage: mich mit einem Riesenbecher Banana-Brownie-Split auf dem Schoß und der Fernbedienung in der Hand vor den Fernseher zu knallen und besinnungslos vor mich hin zu zappen.

Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass meine ältere Schwester Deborah schon dort saß. Mit meinem Becher Banana-Brownie-Split auf dem Schoß und der Fernbedienung in der Hand – und Letztere verteidigte sie wie unsere Dackelhündin Pebbles ihr Lieblingsspielzeug.

»Vergiss es!«, knurrte sie und funkelte mich durch ihre viel zu große Brille an, die sie als eine Art Modestatement trug, obwohl ihr Sehvermögen absolut einwandfrei war. »Ich habe extra den Debattierkurs ausfallen lassen, um mir Ashworth Park anzusehen. Ich schalte um nichts in der Welt um. Verstanden?«

Ich seufzte tief und massierte meine Schläfen. Die Titelmelodie zerrte an meinen Nerven, aber dieses Mal verkniff ich es mir, sie mit verstellter Stimme nachzusingen. Mit meiner Schwester war es zum Mäusemelken. Seit Monaten war sie süchtig nach dieser unsagbar schmalzigen Serie, die Abend für Abend auf einem britischen Sender lief. Die Geschichten rund um die Adelsfamilie Ashworth auf der Kanalinsel »Isle of Roses« waren so fernab der Realität, dass man es kaum aushielt. Jedenfalls bei eingeschaltetem Verstand. Schon allein der lächerliche Vorspann, in dem eine Herde Schafe vor dem herrschaftlichen englischen Gutshaus graste und Rosen im Zeitraffer verblühten, ließ mich würgen.

Ashworth Park war einfach jenseits des guten Geschmacks.

Das einzig Gute an dieser Serie war, dass man super über sie lästern konnte. Am besten ging das eindeutig mit meiner Freundin Morgan, aber die hütete wegen Grippe heute das Bett – was wiederum bestens ins Gesamtbild dieses verkorksten Tages passte.

Zumindest starrte Deborah jetzt so konzentriert auf den Bildschirm, dass ich mir den Eisbecher schnappen konnte, ohne dass sie etwas merkte. Ich ließ mich zurücksinken und tauchte den Löffel in die cremig kalte Masse.

»Wird dir der Mist denn nie zu blöd?«, erkundigte ich mich nach einer Weile, als der Adelsspross, auf den Deborah so stand, zum dritten Mal sein blondes Haar im Wind flattern ließ. Dabei merkte ich, wie meine Lieblingseiscreme mich langsam entspannte. »Was gefällt dir nur an diesen Snobs mit ihren endlosen Streitigkeiten?« Ich hob meinen Löffel, neigte das Kinn, spitzte die Lippen und imitierte den britischen Akzent von Lady Ashworth. »Haben Sie denn komplett Ihren Verstand verloren, junge Lady? Das ist unter Ihrem Niveau.«

»Jetzt reicht’s aber!«, empörte sich Deborah. »Die Ashworths sind nicht blöd. Sie sind ein historisches Adelsgeschlecht mit bedeutendem Namen. Sir Ashworths Stammbaum geht sogar auf Wilhelm den Eroberer zurück.«

»Da bleibt mir glatt die Spucke weg«, staunte ich gekünstelt und unterdrückte ein Kichern. »Na, meinetwegen, dann sind sie eben altehrwürdig. Und dabei so steif und spießig, dass es ihnen aus den Ohren staubt. Sieh dir doch nur diesen Lackaffen von Sohn an.« Ein Windstoß hatte soeben seine Mähne durchweht, obwohl er sich in einem fensterlosen Raum befand. Wie war denn das bitte möglich? Schleppte er etwa heimlich eine Windmaschine mit sich herum? Und dazu dieses Strahlelächeln. »Meinst du, sie haben diesen Julius aus einer Zahnpastawerbung gecastet?«

»Er heißt JuliAN!«, korrigierte Deborah. Sie sah aus, als hätte ich den Präsidenten beleidigt, und ich spürte, wie ihre Schmollmiene meine gute Laune langsam zurückbrachte. Es machte einfach Spaß, Deborah mit dieser Serie aufzuziehen.

»Genauer gesagt lautet sein voller Name Lord Julian James Llewelin Ashworth.« Damit nahm es Deborah genau. »Den walisischen Zweitnamen hat er von seiner Mutter, Lady Ashworth. Sie ist Waliserin.«

Ich kicherte. Jetzt hatte dieser Kerl auch noch eine ganze Wagenladung an belämmerten Vornamen. Diese Serie war derart mit Klischees beladen, dass man sich schon fast fremdschämen musste. Bestimmt waren meine Aufsätze besser als deren Drehbuch.

»Ja, genau, und der Hund hat einen mindestens ebenso noblen Stammbaum, nicht wahr?«, grinste ich und stupste Deborah neckisch in die Seite. »Wie heißt das riesige Zottelviech noch gleich? Gatsby?«

»Gatsby ist kein Zottelviech!«, giftete Deborah zurück. »Er ist ein reinrassiger Irischer Wolfshund und zudem äußerst nützlich für die Treibjagd.«

Jetzt war es um mich geschehen. Ich konnte nicht mehr. Während ich mit meinem Lachanfall kämpfte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich vielleicht auch Drehbuchautorin werden konnte, falls ich wegen Mathe die neunte Klasse nicht schaffte. Ich meine, so eine holprige Dialogführung wie die in der Serie würde ich allemal hinbekommen.

»Jetzt hör endlich auf zu kichern!«, motzte Deborah. »Ich verstehe nicht, was Julian sagt. Außerdem ist es gerade spannend. Ein fremder Mann namens DeWitt und seine Tochter sind neu in die Nachbarschaft von Ashworth Park gezogen. Ich glaube, dieses Mädchen hat ein Auge auf Julian geworfen.«

Ich riss mich zusammen, aber lange schaffte ich es nicht, das Lachen zu unterdrücken. Schuld daran war dieser Julius, äh, Julian, der gerade schwungvoll ein Ross bestieg und dabei abermals eitel sein Haar schüttelte. »Ich kann nicht anders, Deborah. Julians Haar stellt sogar die prachtvolle Mähne seines Pferdes in den Schatten«, japste ich. »Und dieses Gefiedel da im Hintergrund gibt mir den Rest.«

»Okay, Abby!« Für einen Moment ließ Deborah den Fernseher aus den Augen, richtete sich auf und starrte mich mit eisigem Blick an. Dann hob sie die Fernbedienung und drückte auf Stumm, vermutlich damit ich ihr auch wirklich ganz genau zuhörte.

»Ein für alle Mal, lass mich jetzt in Ruhe Ashworth Park sehen. Sonst erzähle ich Mum, dass du des Öfteren übers Dach in dein Zimmer einsteigst, wenn du wieder mal mit deiner hyperaktiven japanischen Freundin bis Mitternacht in diesem gammeligen Donutladen herumgehangen hast. Mum müsste sich nur mal die verbogene Feuerleiter ansehen.«

Das saß. Wenn es eins gab, das unsere Mutter nicht wissen sollte, dann war es das.

»Sie heißt Morgan, okay? Und ja, ja, ich gehe schon«, sagte ich und hob beschwichtigend die Hände. »Hoffentlich fallen dir nicht irgendwann die Ohren ab von diesen furchtbaren Geigenklängen. Hörst du, das ist doch pure Folter.«

Ich rappelte mich vom Sofa auf und sah aus den Augenwinkeln, dass Deborah mich anglotzte, als hätte ich den Verstand verloren. »Was meinst du mit Geigenklängen? Der Fernseher ist auf Stumm geschaltet.«

Oh! Richtig! Wie merkwürdig. Warum hatte ich mir eben Musik eingebildet, die es gar nicht gab? Machte mich diese Serie etwa langsam verrückt? Ich musste schleunigst Land gewinnen und mich in mein Zimmer verziehen. Und so schnappte ich mir den Becher mit dem letzten Rest Banana-Brownie-Split, schulterte meine Umhängetasche und griff soeben nach meiner Jeansjacke, als ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Mein Arm begann plötzlich wild zu kribbeln, als würde ein ganzer Schwarm Käfer bis zu meiner Schulter laufen.

Wie vom Donner gerührt ließ ich den Becher fallen. Die Reste der zerronnenen Eiscreme tropften auf Mums Teppich.

»Mann, Abby, du Dussel, kannst du nicht aufpassen?«, murrte Deborah, ohne den Blick von der Mattscheibe zu nehmen, die jetzt wieder mit Ton lief. »Wir haben kein Putzpersonal wie die Ashworths.«

»Sorry, ich, äh …«, murmelte ich, vollkommen perplex, während ich entsetzt auf meinen Arm starrte. Dann, so schnell, dass ich es kaum mitbekam, schien er sich, begleitet von einem hellen Blitzen, in Luft aufzulösen, nur um gleich wieder aufzutauchen.

Vor Schreck machte ich einen Sprung.

»Wuaaaah!«, schrie ich. »Deborah! Mein Arm! Hast du das eben gesehen?«

»Was denn? Zeig mal her«, brummte Deborah genervt und zog unsanft meinen Arm zu sich heran. Jetzt hatte es wieder aufgehört. »Was ist denn damit? Dein Nagellack ist abgesplittert, na und? Sieht echt scheußlich aus. Kannst du jetzt bitte mit diesen Scherzen aufhören und mich endlich in Frieden lassen?«

Ich antwortete nicht sofort. Was war denn plötzlich mit mir los? Erst hörte ich diese imaginären Geigen und dann begann auch noch meine Hand seltsam zu … zu flackern, wie ein gestörtes Fernsehbild?

Ich litt unter Sehstörungen, keine Frage. Deborah las ständig Wissenschaftsmagazine und hatte kürzlich in der Schule einen Erste-Hilfe-Kurs belegt. Sicher wusste sie, bei welchem Krankheitsbild Sehstörungen auftraten. Ob ich sie fragen sollte? Allerdings fühlte ich mich gar nicht schlecht. Oder konnte es sein, dass ich in der U-Bahn von besonders aggressiven Grippeviren attackiert worden war und mich mitten in einem Fiebertraum befand?

Das war ganz und gar nicht normal.

»Das ist kein Scherz. Ich –«, versuchte ich zu erklären, nur um mich sofort wieder zu unterbrechen. Denn in diesem Moment fing mein rechter Fuß an zu kribbeln. Das seltsame Gefühl wurde immer intensiver. Es kroch regelrecht aufwärts über meinen ganzen Körper, bis unter mein Kinn. Gerade als ich mich setzen wollte, war mir, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Und dann war alles schwarz.

AUSSEN – EINSAMES WALDSTÜCK – TAG

JULIAN, der gut aussehende Sohn der Ashworths, reitet auf seiner schneeweißen Vollblutstute LEONDRA durch den Wald. Er trägt ein weißes Hemd, dazu polierte Reitstiefel. Optimistisch blickt er in die durch die Baumkronen schimmernde Sonne. Als er durch einen Bach reitet, stellt Leondra plötzlich ihr rechtes Ohr auf, als hätte sie etwas gehört.

 

JULIAN (besorgt)

Was ist denn los, Leondra? Was hast du denn?

LEONDRA

(wiehert)

JULIAN

Sieh mal. (Deutet in die Ferne.) Das sieht aus wie ein Auto, das im Schlamm stecken geblieben ist.

LEONDRA

(wiehert zustimmend)

JULIAN (entdeckt einen Mann und ein Mädchen im Wagen)

Sir! Sie sehen aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen.

 

DEWITT, ein attraktiver Geschäftsmann Mitte fünfzig mit frappierender Ähnlichkeit zu George Clooney, steigt aus dem Wagen, der tief im Morast steckt. Er trägt einen teuren Nadelstreifenanzug, dessen Saum mit Matsch verschmiert ist.

 

DEWITT (schnippisch)

Wie wollen Sie mir denn helfen? Hier im Wald gibt es keinen Handyempfang und Sie reiten bloß ein Pferd. Oder arbeiten Sie zufällig bei einem Abschleppdienst?

 

LYDIA, ein bildschönes Mädchen von etwa vierzehn Jahren, klettert vom Rücksitz. Als sie Julian erblickt, spannt sich über ihre Wangen ein leichtes Rot.

 

JULIAN (immer noch charmant)

Natürlich bin ich nicht der Abschleppdienst. (Kramt in seiner Satteltasche.) Aber Sie haben offensichtlich eine Autopanne und ich führe glücklicherweise einen Wagenheber mit. Darf ich mich vorstellen? Julian Ashworth, mein Vater ist der dreizehnte Earl von Rosington und lebt hier gleich um die Ecke.

DEWITT (plötzlich freundlich)

Julian Ashworth. Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Robert DeWitt. Das ist meine Tochter Lydia.

LYDIA (macht einen Knicks)

Mein Dad hat ein altes Cottage geerbt und will sich hier niederlassen. Wir werden bald Nachbarn sein.

JULIAN (wechselt in Windeseile den Reifen)

Nachbarn? Oh, wie oft habe ich mir Nachbarn gewünscht! Im Winter kann es hier auf der Insel ziemlich trostlos sein. (Wirft sein Haar zurück.) Aber nun sehen wir besser zu, dass wir ins Trockene kommen. Wollt ihr euch bei uns aufwärmen?

LYDIA

Oh, ja.

JULIAN (hängt seinen Mantel um Lydias Schultern)

Damit du dich nicht erkältest. (Wirft erneut sein Haar zurück, dann wendet er sich wieder DeWitt zu.) Bitte folgen Sie mir, Sir. Bis nach Ashworth Park sind es nur ein paar Meilen.

Schleife

INNEN – BLAUER SALON ASHWORTH PARK – TAG.

Das Hausmädchen serviert LORD und LADY ASHWORTH Tee, als Julian hereinspaziert. Durch den Reifenwechsel am Auto der DeWitts hat seine Kleidung Schmutz abbekommen.

 

LADY ASHWORTH (läuft auf ihn zu)

Junge, wie siehst du denn aus? Was ist passiert?

JULIAN

Ich bin wohlauf. Aber ich habe Besuch mitgebracht.

 

TANTE GLADYS, eine exzentrisch gekleidete, huttragende Lady Anfang sechzig, rümpft die Nase.

 

TANTE GLADYS

Besuch? Ich kann nur hoffen, dass er den Kiesweg benutzt hat, anstatt quer über meinen Rasen zu stapfen, so wie unser letzter Besucher, dieser füllige Metzger aus Rosington. Impertinenter Mensch!

JULIAN

Das sind unsere neuen Nachbarn. (Stellt DeWitt und Lydia vor.) Sie werden bald in das Cottage der verstorbenen Lady DeWitt einziehen. Lydia ist die Enkelin der alten Lady und Mr DeWitt ist Vorstand eines Medienunternehmens. Er gibt unter anderem das Magazin Rich & Royal heraus.

LADY ASHWORTH (sieht sich schon auf der Titelseite)

Oh, ein Medienmogul.

TANTE GLADYS (abschätzig)

Oh, ein Medienmogul.

LORD ASHWORTH (bietet die Chaiselongue an)

Setzen Sie sich doch. Eine Familie wie wir freut sich über neue Bekanntschaften. Bei den gesellschaftlichen Events sieht man ja doch immer dieselben Gesichter. Bloß unsere beiden Söhne, Julian und Jasper, kennen viele Leute aus Rosington, dem einzigen Dorf hier.

 

Lord Ashworth deutet mit dem Kinn zu seinem zweiten Sohn, JASPER, der mit desinteressiertem Blick abseits sitzt und in einem Buch über Fotografie liest.

 

LORD ASHWORTH (zu DeWitt)

Hätten Sie Lust, heute Abend zum Dinner zu kommen? Giles, schicken Sie Mr DeWitt und seiner Tochter eine Einladung ins Cottage.

LADY ASHWORTH (erfreut)

Wenn wir Julian nicht hätten, müssten wir immer die gleiche Gesellschaft ertragen.

TANTE GLADYS (versteht den Seitenhieb)

Pff!

2

Ich wachte auf, als sich eine nasse, schlabbrige Zunge in mein Ohr bohrte.

Unsere Dackeldame Pebbles war normalerweise nicht gerade der verschmuste Typ Hund. Früher hatte sie Grandma gehört, doch als die vom kalten New York ins sonnige Florida gezogen war, hatte sie Pebbles nicht mitnehmen können, weil der Hund die Hitze nicht vertrug. Seitdem lebte der Dackel bei uns. Jetzt, fünf Jahre später, knurrte sie mich immer noch an, sobald ich unsere Wohnung betrat. Ich fühlte mich jedes Mal ein bisschen wie eine Einbrecherin. Mit einem Stück Schinken ließ sie sich üblicherweise wieder besänftigen.

Diese Schmuseattacke war ja ein komplett neuer Zug an ihr. Und das ganz ohne Schinken.

»Pebbles, weg da«, murmelte ich wie in Trance. Ich versuchte sie von mir wegzuschieben und ertastete ein dickes kratziges Büschel Fell.

Merkwürdig. Pebbles’ Fell war doch normalerweise ganz glatt und kurz.

An dieser Stelle schlug ich meine Augen auf und blinzelte in einen wolkenverhangenen Himmel, bevor mein Blick auf das Tier neben mir fiel. Das war nicht Pebbles, die da eben hingebungsvoll mein Ohr gesäubert hatte. Das war eindeutig ein anderer Hund. Vielleicht aber auch ein mittelgroßes Pony.

Dieses Monstrum besaß etwa die doppelte Felllänge von Pebbles, dazu schätzungsweise die vierfache Größe unserer Dackelmischung. Ein so großer Hund war mir noch nie begegnet.

Ich setzte mich auf, blinzelte und rieb mir den Kopf, der mächtig dröhnte. Wo um alles in der Welt war ich eigentlich? Ich befand mich nicht mehr im Wohnzimmer, noch nicht mal in unserer Wohnung, sondern im Freien. Auf ziemlich weichem Rasen, zugegeben, trotzdem tat mir mein Po gewaltig weh. Ich musste irgendwo hinabgefallen sein und eine ganz schön harte Landung hingelegt haben.

»Wuff!«, machte das haarige Hundepony neben mir und wedelte mit dem Schwanz, bevor es um mich rotierte, nur um in mein anderes Ohr zu lecken.

Igitt, das war ja widerlich!

»Gatsby! Komm weg da, Junge!«, rief eine Stimme und ich hörte, wie jemand über knirschenden Schotter auf mich zugelaufen kam. »Wenn meine Tante mitbekommt, dass du wieder dein Geschäft auf ihrem Rasen verrichtest, dann –« Die Stimme brach ab. »Wen hast du denn da entdeckt?«

Moment mal. Alles auf Anfang. Ich kniff die Augen zusammen und atmete tief durch, dann öffnete ich sie wieder und versuchte, mir die Umgebung genau einzuprägen. Die gepflegten Rasenflächen. Die kleinen Schildchen, die darin steckten, mit der Aufforderung, nur die Kieswege zu benutzen. Die akribisch gestutzten Buchshecken, die die Anlage bis zu einem steinernen Herrenhaus säumten, an dessen Ecken sich zwei Türme in den Himmel erhoben.

Der Anblick schnürte mir augenblicklich die Luft ab. Ich war eindeutig nicht mehr in New York.

Wo zum Geier war ich?

»Gatsby! Hörst du denn nicht?« Der Akzent klang britisch. Als das Zotteltier endlich von mir abließ, sah ich, dass die Stimme einem Jungen gehörte, der vielleicht ein oder zwei Jahre älter war als ich und mir äußerst bekannt vorkam. Er trug einen grünen Parka und Gummistiefel – angesichts des Nieselwetters wohl eine bessere Wahl als meine bunte Jeansjacke und die Stoffturnschuhe mit den Totenköpfen. Jetzt blieb er stehen und musterte mich mit hochgezogenen Brauen. »Du musst wohl die Neue sein. Ich störe nur ungern den kleinen Spaß zwischen euch beiden.« Er klang etwas spöttisch, fast so als hätte ich den Hund angestiftet, mich zu überfallen. »Aber dürfte ich erfahren, was du auf unserem Rasen suchst? Eigentlich darf man ihn gar nicht betreten, zumindest wenn es nach meiner Tante geht.«

»Ich … also, äh, Entschuldigung«, entfuhr es mir, noch bevor mir eigentlich klar war, was ich antworten wollte. Ja, was tat ich denn eigentlich auf diesem manikürten Rasen? Ich konnte schlecht behaupten, dass ich gerade ein Picknick machte, immerhin war es für Mai ungewöhnlich kühl und zudem sah es nach Regen aus.

Was zur Hölle war nur mit mir passiert? Wer war dieser Junge? Wie war ich hierhergekommen und warum fehlte mir jede Erinnerung daran?

»Weiß man schon, dass du angekommen bist?«, fragte der Junge jetzt mit einer Mischung aus Desinteresse und Gereiztheit. »Hast du dich an der Pforte angemeldet?«

Ohne zu antworten, guckte ich etwas belämmert zu ihm hoch. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass ich mit Deborah vor dem Fernseher gesessen hatte, bevor plötzlich die Sache mit den mysteriösen Geigenklängen losgegangen war und mein Arm begonnen hatte, seltsam zu flackern. Zuvor hatte ich mich noch über diese lächerliche Serie aufgeregt. Die miesen Figuren. Das polierte Herrenhaus. Und den Schlosshund Gatsby, dessen Fell auch bei trübem Wetter so sauber strahlte, als hätte man ihn gerade in die Waschmaschine gesteckt.

Ich sah mir das haarige Tier genauer an.

»Wie … sagtest du, heißt der Hund noch gleich?«, erkundigte ich mich, während mein Gegenüber das zottelige Riesenviech an die Leine legte und mich dabei nicht aus den Augen ließ, als führte ich etwas im Schilde. Zumindest der Hund schien mich auf Anhieb sympathisch zu finden und ich kraulte ihn noch ein wenig am Kopf.

»Gatsby«, antwortete der Junge langsam und bedächtig, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Er warf seinem Hund einen Keks hin, den das Tier mit einem Happen verschlang. »Gatsby ist ein reinrassiger Irischer Wolfshund, die größte Hunderasse dieser Welt. Der große Gatsby eben.«

Ach. Hatte ich mich also doch nicht verhört.

»Gatsby.« Ich kicherte. »Ist ja abgefahren. Meine Schwester steht nämlich total auf eine Serie, da gibt es auch so einen Hund, der genauso heißt.«

Jetzt, wo ich genauer darüber nachdachte, war es nicht nur der Hund, der mich an Deborahs Lieblingsserie erinnerte, sondern auch dieser Junge. Seine braunen zerzausten Haare. Der markante Kiefer. Die blauen Augen mit den braunen Sprenkeln, darunter leichte Augenschatten. Dazu der blasse Teint. Keine Frage, mein Gegenüber sah so aus, als könnte es ganz dringend ein paar Sonnenstunden und eine Mütze Schlaf gebrauchen. Kurz gesagt – er ähnelte beinahe bis aufs Haar diesem aufmüpfigen Sohn der Ashworths, Julians jüngerem Bruder.

Wenn ich nur wüsste, wie der hieß!

»Und es gibt da sogar einen Jungen, der dir total ähnlich sieht«, fuhr ich augenblicklich fort. »Nur kann den keiner leiden. Na ja, kein Wunder. Er ist merkwürdig.« Wie immer, wenn ich mich unwohl fühlte, plapperte ich einfach drauflos. »Richtig merkwürdig. Guckt auch immer böse und läuft rum, als würde er am liebsten jemandem an die Gurgel springen. Du weißt schon, Typ potenzieller Serienkiller. Ist sicher neidisch auf seinen älteren Bruder. Oder es liegt am englischen Wetter, das weiß man ja nie. Wenn mir doch bloß einfallen würde, wie der Typ heißt! Mist, Deborah wüsste das ganz bestimmt. Deborah ist nämlich superintelligent und saugt Informationen auf wie ein Schwamm. Vermutlich kennt sie sogar die Marke seiner Unterhosen.«

Der Junge blickte abwechselnd zu dem steinernen Brunnen neben uns und zu mir, als hätte er die dringende Vermutung, dass ich mir dort den Kopf gestoßen hatte.

»Es ist wohl besser, ich bringe dich zu meinen Eltern. Die erwarten dich bestimmt schon«, sagte er schließlich, zog an Gatsbys Leine und führte ihn in Richtung des Gutshauses. Vor der hufeisenförmigen Freitreppe, über die man zum Haupteingang gelangte, blieb er stehen. »Was ist? Kommst du mit?«

Ich stand auf, strich mir die Locken aus dem Gesicht und rückte meine Umhängetasche zurecht, die ich noch immer über der Schulter trug. Natürlich würde ich nicht mitkommen. Es war sowieso komplett irrelevant, was ich tat oder ob mich dieser Junge mochte oder nicht.

Betrachteten wir diese Sachlage mal ganz nüchtern: Es gab nur drei Möglichkeiten, was passiert sein konnte. Wie es aussah, war ich entweder a) vorhin im Wohnzimmer ohnmächtig geworden, b) einfach auf dem Fußboden eingeschlafen oder vielleicht sogar c) vergiftet worden durch das ohnehin etwas dubiose Pilzgericht heute in der Schulkantine und litt nun, bedingt durch entweder a), b) oder c), unter den wildesten Halluzinationen. In jedem Fall verramschte mein Unterbewusstsein gerade die Geschehnisse aus Deborahs TV-Serie zu meiner eigenen, noch viel schlechteren Version von Ashworth Park. Und ich befand mich auch noch mittendrin.

Ich musste bloß abwarten, bis ich aufwachte.

»Kommst du nun?«, wiederholte der Junge ungeduldig. Er musterte mich und meine Klamotten, die wie ein Farbklecks aus der graubraunen Landschaft herausstachen. »Vielleicht putzt du dir deine Schuhe und die Jeans ab, bevor du eintrittst. Hast du kein Gepäck? Hat dir die Agentur keine Kleidung mitgegeben? Also, Clarissa hatte damals bei ihrem Einzug ihren ganzen Hausrat dabei.«

Hä? Agentur? Welche Agentur? Vielleicht war ich in dieser Traumversion tatsächlich Schauspielerin und besaß meinen eigenen Agenten. Wie cool! Allerdings hätte der mich in eine etwas hochwertigere Serie vermitteln können.

»Nein danke. Ich warte hier«, verkündete ich stattdessen und stemmte die Beine in den Boden. Jeden Moment würde ich wieder aufwachen und dann wäre alles vorbei. Es konnte sich nur um Sekunden handeln. Für gewöhnlich träumte ich nicht so lange.

»Warten? Keine so gute Idee«, rief der Junge und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Mach, dass du da wegkommst. In wenigen Sekunden beginnt nämlich –«

»Was zur –«, stammelte ich noch, doch da ergoss sich bereits ein Nebel aus feinen Tropfen über meinen Kopf. Meine bunte Jeansjacke und die Hose saugten sich mit Wasser voll. So ein Mist! Dass die Sprinkleranlage gleich losgehen würde, hätte mir dieser Kerl ja wohl auch eine Sekunde früher verraten können.

Was soll’s, dachte ich mir. Ich nahm also doch die Beine in die Hand und rannte dem Jungen hinterher, während mich der kühle Wind frösteln ließ und die Wassertropfen in meinen Nacken krochen. Bis ich die Treppe erreicht hatte, hatte ich am ganzen Körper Gänsehaut. Die Sache war schon ziemlich seltsam: Sollte mir so ein geträumter Wasserguss nicht eigentlich egal sein? Stattdessen klapperten meine Zähne wie wild aneinander.

Konnte sich mein Unterbewusstsein so etwas einbilden? Oder war ich tatsächlich am Set von Ashworth Park gelandet, der schlechtesten Soap seit die Mattscheibe erfunden wurde?

Aber wo waren dann die Kameras? Und sollte nicht irgendjemand ganz laut »Schnitt!« rufen, wenn sich eine Fremde einfach so in die Handlung schmuggelte?

»Ich hatte dich gewarnt. Der Sprinkler geht pünktlich um fünf Uhr los, Tante Gladys nimmt es damit sehr genau«, erklärte der Junge, während er die Klinke der massiven Eingangstür nach unten drückte. Er griff nach meiner Hand und zog mich ins Innere des Hauses. Dabei konnte ich die Wärme seiner Hände spüren. Auch ein ziemlich reales Empfinden.

Der Junge durchschritt eine prunkvolle Eingangshalle, an deren Längsseiten sich samtbezogene Stühle reihten, dann führte er mich durch einen Raum mit Holzvertäfelungen aus glänzendem Mahagoni in einen weiteren großen Saal. Als wir in einem Festsaal angelangt waren, blieben wir endlich stehen.

Für einen Augenblick vergaß ich, was mir eben widerfahren war, und sah mich voller Ehrfurcht um. Alles hier schien beeindrucken zu wollen. Die samtenen Vorhänge in Burgunderrot, die bis zum Boden reichten. Die Ölporträts von irgendwelchen weißhäutigen Adeligen aus vergangenen Jahrhunderten an den Wänden. Oder der riesige Kronleuchter an der Decke, der bestimmt mehr wert war, als Mum und Dad jemals besitzen würden.

Außerdem waren die Räume so hoch, dass ich mir vorkam wie ein winziger Zwerg. So etwas kannte ich höchstens aus Museen.

»Übrigens, wo bleiben meine Manieren?«, murmelte der Junge, während er aus den Gummistiefeln schlüpfte und seinen Parka an einen Garderobenhaken hängte. »Manieren wurden mir hier nämlich beigebracht, wenn auch sonst nicht viel. Mein Name ist Jasper.« Er seufzte tief. »Willkommen auf Ashworth Park.«

Schleife

Das war nicht gut.

Das war gar nicht gut.

Als mich Jasper durch die nächste Doppeltür in den Salon führte, blieb mir augenblicklich die Spucke weg. Sie waren alle da. Jeder Einzelne. Die ganze Besetzung von Ashworth Park, versammelt vor einem knisternden Kamin, alle in Fleisch und Blut.

Lord Ashworth hockte in Karohosen und Jackett im Ohrensessel, während er eine Zigarre paffte. Seine Gattin, Lady Cordelia Ashworth, stand neben dem Fensterbrett und goss gerade eine ihrer Topfrosen. Sie trug ihre blonde Mähne streng zurückgebunden und geflochten wie eine russische Ballerina, dazu war ihr Gesicht so glatt gebügelt, als hätte sie sich unters Messer gelegt. Deborah hatte mir erklärt, Lady Ashworth sei eine Meisterin darin, nach außen eine makellose Fassade aufrechtzuerhalten – während sie sich hinter verschlossenen Türen in das keifende Ehemonster verwandelte, das sie in Wirklichkeit war.

Dann war da noch Tante Gladys, die Witwe von Lord Ashworths verstorbenem Bruder, Dauergast im Salon, Rasenliebhaberin und Bewohnerin des Nordflügels. Mit ihrem langen, feuerrot gefärbten Haar, ihrer ausgefallenen Garderobe und den Hüten, die sie sogar im Haus trug (Deborah meinte einmal, sie besäße ein eigenes Hutzimmer), passte sie eher in ein Varieté am Broadway als in ein versnobtes Herrenhaus.

In der Serie war sie die einzige Figur mit Ecken und Kanten. Tante Gladys besaß Temperament, eine endlos lange Liste verflossener Ehemänner, ein freches Mundwerk und nahm mit Vorliebe Lady Ashworths pikiertes Gehabe aufs Korn. Letzteres führte auf Ashworth Park zu einem nicht enden wollenden verbalen Schlagabtausch, von dem sich selbst Talkshowgäste noch etwas abschauen konnten.

Zum Schluss war da noch Giles, der schweigsame Butler mit dem zerknitterten Gesicht und der vielen Pomade im Haar, der mir gerade aus meiner Jacke half. Danach hängte er sie fein säuberlich auf einen samtenen Kleiderbügel, der teurer aussah als die Jacke selbst, und trug sie zur Garderobe.

»Ich hab das Mädchen draußen gefunden. Am Schotterweg«, erklärte Jasper mit Seitenblick auf Tante Gladys, die gerade Tee trank und die Szene mit skeptischer Miene beobachtete. Für einen kurzen Moment gewann er doch noch einen Sympathiepunkt, denn immerhin verriet er nicht, dass ich vorhin ihr Gras betreten hatte. »Der Pförtner hat sie aus irgendeinem Grund nicht angekündigt.«

»Was für ein unnützer Mensch«, echauffierte sich Tante Gladys und ich hatte erst die Befürchtung, dass sie über mich sprach. Vor lauter Empörung rutschte ihr fast der lila Schlapphut mit der Pfauenfeder vom Kopf. »Sitzt an der Pforte und liest tagein, tagaus Klatsch über sämtliche Königshäuser in der Gazette.«

»Es sind doch immer nur die gleichen Themen in diesen Magazinen«, regte sich Lady Ashworth auf. »Warum schreibt man nicht einmal über uns? Wir sind immerhin auf Platz einhundertzweiundsechzig in der englischen Thronfolge.«

Das Grinsen in Lord Ashworths Gesicht zog sich bis zu seinem Backenbart. »Liebling, lass uns doch froh sein, dass sich die Medienberichterstattung nicht um uns dreht. Mir genügt mein simples Leben hier auf dem Lande. Die Gartenschauen. Die Pferderennen. Und die Wahl der schönsten Rose der Insel jeden Frühling.« Etwas mühsam erhob er seinen rundlichen Körper aus dem Stuhl und schüttelte mir die Hand. »Montgomery Benjamin Ashworth, dreizehnter Earl von Rosington. Als Familienoberhaupt freue ich mich, Sie hier willkommen zu heißen. Die Agentur hat uns Ihren Namen nicht verraten.« Er grinste und zwinkerte mir zu. »Oder ich habe ihn verschwitzt, kann auch sein.«

Lady Ashworth kam mit großen Schritten auf mich zu. Für den Nachmittagstee war die gute Frau mit ihrer Seidenbluse und den ganzen Perlen viel zu schick. Und warum trug sie in ihren eigenen vier Wänden eigentlich High Heels? War das nicht unbequem? »Liebling, das neue Mädchen muss nicht gleich wissen, dass du dir nicht mehr alles merken kannst«, schnaubte sie und warf Sir Ashworth einen finsteren Blick zu, was ihr aber nicht ganz gelang – wohl wegen des vielen Botox in ihrer Stirn. Dann setzte sie ein Lächeln auf und begrüßte mich. »Schön, dass Sie hier sind. Aber Sie kommen zu früh. Wir haben Sie eigentlich erst nächste Woche erwartet.«

Ich schüttelte ihre schlanke Hand, wobei sich einige ihrer wuchtigen Diamantringe in meine Haut bohrten. Was hatte das zu bedeuten? Lord und Lady Ashworth erwarteten mich? Sie konnten unmöglich wissen, was mit mir passiert war.

Und jetzt sollte ich mich offenbar auch noch vorstellen, denn alle Anwesenden starrten mich abwartend an. Mist. Bestimmt sollte ich nun irgendein höfisches Prozedere abspulen, von dem ich nicht die leiseste Ahnung hatte.

Ich beschloss, einfach zu lächeln, auch wenn ich in diesem Augenblick vermutlich dumm wie ein Schaf aussah.

»Verraten Sie uns Ihren Namen?«, bat Lord Ashworth höflich.

»Ich … bin …«, setzte ich an, doch in exakt diesem Moment betrat Julian Ashworth den Salon.

Mir war, als hätte sich das Tempo der Serie plötzlich auf Ultra-Zeitlupe verlangsamt.

Da war er, Deborahs Traumprinz. Ich erkannte ihn sofort. Und für einen klitzekleinen Moment musste ich zugeben, dass ihr Geschmack gar nicht mal so schlecht war. Unter seinen dichten blonden Locken blitzten große, strahlend blaue Augen hervor, dazu besaß er eine feine, fast griechische Nase und volle Lippen. In diesem Moment durchzog eine kleine Windböe unklaren Ursprungs den Raum und ließ sein Hemd lose um die Schultern flattern und dabei erahnen, dass er für seine noch nicht mal siebzehn Jahre schon ganz gut gebaut war. Im Fernsehen war mir das noch nie so aufgefallen.

Zugegeben, dieser Junge war ein Prachtexemplar – man hätte Julian prompt aufs Cover von einem dieser schnulzigen Liebesromane packen können, die Mum so gerne las.

»Noch ein neues, wunderschönes Gesicht, und das am selben Tag«, strahlte Julian, ging leichtfüßig auf mich zu und schüttelte mir die Hand. Sein Griff war so sanft, dass ich ihn kaum spürte, dazu schenkte er mir ein gewinnendes Lächeln. »Ich bin Julian, und wie lautet dein Name?«

»An dieser Stelle waren wir gerade, mein Junge«, unterbrach ihn Lady Ashworth und schob sich vor ihn. Dann, etwas leiser, aber doch noch laut genug, dass ich es hören konnte, zischte sie in sein Ohr: »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass man das Personal nicht duzt. Auch wenn du mit Clarissa und dem Butler befreundet bist, es gehört sich einfach nicht.«

Wie bitte? Mir war, als hätte ich mich verhört. Personal? Sie hielten mich für ihr Personal?

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Jetzt passte das mit der Agentur ins Bild. Offenbar erwarteten sie ein neues Dienstmädchen. Ach du Schande!

Julian schnaubte bloß. »Mutter, Clarissa und ich sind gleich alt und Giles hat Jasper und mich quasi aufgezogen, während du mit deinem Wohltätigkeitskram beschäftigt warst. Die Zeiten haben sich geändert, wir leben inzwischen im einundzwanzigsten Jahrhundert.«

»Ach, im Ernst?«, brummte Jasper sarkastisch. »Man könnte nämlich meinen, Ashworth Park sei im Mittelalter stecken geblieben. Die Räume sind mindestens so kühl wie das Klima in unserer Familie. Und im gesamten Haus gibt es kein verdammtes Internet. Nur damit du weißt, worauf du dich einlässt.«

»Wirst du wohl aufhören, unserem neuen Dienstmädchen Angst zu machen, Jasper«, knurrte Lady Ashworth ihm leise zu. Sie ging wohl davon aus, dass ich nichts davon mitbekam. Vielleicht hielt sie mich aber auch für etwas beschränkt, weil ich mich immer noch nicht vorgestellt hatte. »Das Mädchen braucht seine Nerven fürs Zubereiten des Abendessens. Mr DeWitt und seine Tochter Lydia kommen heute zum Dinner vorbei. Außerdem braucht sie Kleidung. In dem Aufzug kann sie nicht erscheinen, wenn sie die Suppe aufträgt.«

Abendessen? Mir trat der kalte Schweiß auf die Stirn und ich wurde noch nervöser, falls das überhaupt möglich war. Wenn ich etwas gar nicht konnte, dann war das Kochen. Wer musste denn in New York tatsächlich kochen? An jeder Ecke bereiten Menschen unterschiedlichster Nationalitäten wohlschmeckendes, meistens auch sehr günstiges Essen zu. Und wenn man darauf mal keine Lust hatte, konnte man im Supermarkt immer noch Käsemakkaroni für die Mikrowelle kaufen. Daran konnte ich mich nicht satt essen. Ich war froh, wenn ich einen Apfel schälen konnte, ohne mich dabei erheblich zu verletzen.

»Mutter, sie bekommt das Abendessen bestimmt ausgezeichnet hin«, überschätzte mich Julian soeben heillos, während ich überlegte, wie gut wohl Fertig-Hotdogs als Dinner bei den Ashworths ankommen würden. »Und Klamotten kann sie sich fürs Erste bei Clarissa leihen.«

»Clarissa? Meinst du wirklich? Die sind ihr bestimmt zu groß«, überlegte Jasper und musterte mich. »Zumindest stellenweise.« Damit hatte er seinen Pluspunkt von vorhin glatt verspielt. Wie unverschämt!

»Unfug«, widersprach Julian seinem Bruder. »Die beiden haben exakt die gleiche Silhouette.« Dann, an mich gewandt, fragte er: »Soll ich dir deine Unterkunft zeigen? Das zweite Dienstmädchenzimmer liegt im obersten Turm an der Ostseite. Um diese Jahreszeit ist es dort noch etwas kalt, aber dafür hast du es ganz ruhig.«

Der Knoten in meinem Hals wurde dicker und dicker. Ich wollte das hier nicht durchziehen. Ich konnte es nicht durchziehen. Ich war fehl am Platz, durch irgendeinen durchgeknallten Programmierfehler im Universum in diese Serie geraten.

Ich musste hier weg. Weg aus diesem pompösen, ungemütlichen Herrenhaus. Weg von dieser seltsamen Insel im Ärmelkanal. Vielleicht musste ich mir nur irgendwo den Kopf stoßen, dann würde ich wieder in meinem realen Leben aufwachen.

Ich räusperte mich und zog Julian ein wenig zur Seite, damit mich Jasper und seine affektierte Mutter nicht hören konnten. »Ich … glaube, das ist alles nicht richtig«, flüsterte ich. »Ich kann doch gar nicht kochen.«

»Keine Sorge.« Julians Blick wurde plötzlich mitleidig, als wäre ich ein ausgesetztes Hündchen. »Das wird schon. Ich weiß, einiges hier wirkt auf den ersten Blick ziemlich einschüchternd. Das alte Haus, die vielen Zimmer. All das Personal.« Er grinste. »Und dann noch Mutter und Tante Gladys, die toppen alles.«

Ich schüttelte wild den Kopf. »Das ist es nicht«, winselte ich. Ich musste mir nur einreden, dass nichts davon real war – eine Ausgeburt meiner Fantasie. Dann brauchte ich auch keine Angst zu haben. »Das hier ist ein großer Fehler. Ich kann nicht hierbleiben. Ich bin nicht euer Hausmädchen. Ich kann bestenfalls den Müll vor die Tür bringen und schaffe es noch nicht mal, mein winziges Zimmer in New York aufgeräumt zu halten. Das ist eine ganz furchtbare Verwechslung!«

Bevor Julian antworten konnte, drehte ich mich um und nahm Reißaus. Butler Giles schien mir noch meine Jeansjacke geben zu wollen, doch ich war schneller. Als ginge es um mein Leben, stürmte ich durch die endlos lange Reihe von Festsälen nach draußen.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo es hingehen sollte. Der aufkommende Regen peitschte mir ins Gesicht, durchtränkte zum dritten Mal an diesem Tag meine Klamotten, aber das war nun auch egal. Auf Nimmerwiedersehen, Ashworth Park! Dieser Wahnsinn konnte ruhig ohne mich stattfinden.

3

Als ich endlich das Gefühl hatte, genug Abstand zwischen mich und (Konnte es wirklich sein?) das Herrenhaus von Ashworth Park gebracht zu haben, blieb ich stehen, um kurz zu verschnaufen. Mein Herz klopfte wie verrückt, während ich mich um meine eigene Achse drehte und verzweifelt versuchte, mich zu orientieren. Hinter dem Herrenhaus mit seiner großen Parkanlage hatten sich schier endlose Wiesen erstreckt, bis ich an einer steilen Klippe angelangt war, unter der das Meer rauschte.

Dunkel erinnerte ich mich daran, dass dieser Klippenvorsprung einmal Schauplatz der Handlung gewesen war. Eine Maus hatte Julians Stute Leondra erschreckt, sie war hochgestiegen und beinahe mit ihm im Sattel in die Tiefe gesprungen. Deborah hatte sich am Sofa festgekrallt und einen Schreckenslaut losgelassen, während ich mich vor Lachen ausgeschüttet hatte.

Und als sei das nicht schon genug gewesen, hatte die Folge an exakt dieser Stelle mit einem fiesen Cliffhanger geendet, sodass Deborah vierundzwanzig Stunden lang nicht gewusst hatte, ob der Körper ihres Traumkerls nicht doch auf tragische Weise an den Steinklippen zerschellt war – die vermutlich härtesten vierundzwanzig Stunden meines Lebens. Ich hatte psychologische Schwerstarbeit leisten und Deborah mit einem Jahresvorrat an Banana-Brownie-Split aufheitern müssen.

In der nächsten Folge war Julian dann doch nur im Gras auf seinem adeligen Hinterteil gelandet, die Frisur noch unrealistisch perfekt in Form, während Leondra sich längst über den Huflattich hergemacht hatte. Mit einem Schlag war Deborahs Welt wieder in Ordnung gewesen.

Und nun befand ich mich plötzlich hier, an exakt derselben Stelle. Damals auf dem Sofa, als ich diese Klippen zum ersten Mal gesehen hatte, war alles so fern gewesen, und nun hörte ich plötzlich das Meer rauschen, den Wind pfeifen und die Möwen schreien. Viel zu real für einen Traum, eine Komafantasie oder eine akute Lebensmittelvergiftung.

Ich befand mich mitten in der Serienwelt – oder in einer abgedrehten Parallelwelt, in der Ashworth Park mit allem Drum und Dran real war: die pompöse Kulisse. Die völlig hanebüchene Handlung. Die übertriebenen Dialoge. Und jede der grauenhaft eindimensionalen Figuren: die snobistische Lady Ashworth, der etwas naive und gutmütige Lord Ashworth, der charmante Julian, der aufmüpfige Jasper und die durchgeknallte Tante Gladys. Nicht zu vergessen Gatsby, der mir bis jetzt am sympathischsten war.

Ich ließ mich ins nasse Gras fallen und dachte nach. Mal angenommen, ich war tatsächlich in dieser Serie gelandet: Welche Rolle spielte ich hier? War ich wirklich das neue Hausmädchen der Ashworths? Ausgerechnet ich, ein Hausmädchen? Abby Foster aus Brooklyn, vierzehn Jahre alt und nicht mal annähernd adelig, die in ihrem Leben noch nie nach England gereist war (das hier konnte man wohl kaum zählen) und es mit Ach und Krach zustande brachte, Mums neuen Saugroboter vom Homeshoppingkanal einzuschalten? Weil meine Mum als Künstlerin meistens mit irgendeinem Projekt beschäftigt war, hatte sie es nämlich auch nicht so mit der Hausarbeit.

Blieb die Frage, warum die Ashworths nicht auch so ein praktisches Teil besaßen. Sicher war deren altes Gemäuer so verstaubt, dass ich mit dem ersten Putzdurchgang locker bis Weihnachten brauchen würde.

Weihnachten. Apathisch warf ich einen Kieselstein ins Meer und sah zu, wie er hinten in den hohen Wellen versank. Was war, wenn ich bis Weihnachten hier feststecken würde? Oder noch schlimmer – für immer?

Oh Gott. Während ich versuchte, die Panik in Schach zu halten, warf ich einen Blick in meine Umhängetasche. Was hatte ich denn aus meiner Welt mitgebracht, das mir hier helfen könnte? Leider war es nicht gerade viel: eine Packung Kaugummi, fünf amerikanische Dollar und ein paar Pennys, ein dunkelroter Lipgloss, den mir meine Freundin Morgan geschenkt hatte (passte angeblich gut zu braunen Augen), mein pinkes Tagebuch, das ich immer mit mir herumtrug, und – mein Handy.

Ein Funken Hoffnung keimte in mir auf, als ich die Tastensperre löste. Leider verlosch er gleich wieder. Kein Netz gefunden, verkündete das Display. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Während ich das Gerät zurück in die Tasche pfefferte, kam mir eine Idee. Bestimmt dachte ich einfach zu rational. Ich war durch Magie hier gelandet, also würde auch Magie nötig sein, um wieder zurückzukommen. Womöglich musste ich einfach nur fest an zu Hause denken und flugs würde mich ein Wirbelsturm erfassen und dorthin tragen, ähnlich wie Dorothy in Der Zauberer von Oz