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LORENZ PEIFFER | HENRY WAHLIG (Hrsg.)

„Einig. Furchtlos. Treu.“

Der kicker im Nationalsozialismus –
eine Aufarbeitung

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Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

eISBN 9978-3-7307-0625-1

Inhalt

I. Vorwort und Einleitung

Vorwort

Einleitung – „Einig, furchtlos, treu“

von Lorenz Peiffer und Henry Wahlig

II. Inhaltliche und personelle Ausrichtung des Kicker nach dem 30. Januar 1933

Politische Ereignisse und Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland im Spiegel der Berichterstattung des Kicker

von Lorenz Peiffer und Henry Wahlig

Der Diener seiner Herren – Hanns-Jakob Müllenbach als Hauptschriftleiter des Kicker

von Bernd-M. Beyer

Das Netzwerk der Kicker-Redakteure und -Mitarbeiter – Biografische Skizzen von Redakteuren beim Kicker in der NS-Zeit und nach 1945

von Lorenz Peiffer und Henry Wahlig

Jüdische Sportjournalistinnen und -journalisten beim Kicker – Willy Meisl, Stella Bloch, Ludwig Isenburger, Simon Rosenberger

von Petra Tabarelli

„Schönziselierte Dribblings“ und „mahlende Sägen“ Die Sprache des Kicker am Beispiel der Länderspielberichterstattung 1931–1952

von Simon Meier-Vieracker

Die Fußballkarikatur als Parallelwelt im Kicker von 1933 bis 1944

von Karin Rase

Fußball im Dienste des Antisemitismus

von Moshe Zimmermann

„Willimowski hat sich eingeschossen“ – Zur Fremdpolitisierung eines Unpolitischen

von Diethelm Blecking

III. Auslandsberichterstattung des Kicker im Spiegel der NS-Expansionspolitik

„Visitenkarte des neuen Deutschlands“ Die Länderspiele Deutschland gegen England im Spiegel der Berichterstattung des Kicker

von Andreas Kullick

Verweigerter Vergleich oder: der Elefant auf dem Spielfeld – Italien als Modell? Politische Förderung und propagandistische Nutzung des Fußballs im Faschismus und Nationalsozialismus

von David A. Gilgen

Schwarz-Weiß gegen Weiß-Rot – Die Länderspiele Deutschland gegen Polen während der NS-Zeit im Kicker und Przegląd Sportowy

von Thomas Urban

„Ein Wiener wird mit dem Fußball geboren …“ – Der „Ostmark“-Fußball in der Berichterstattung des Kicker

von Matthias Marschik

Die Entwicklung des Sports nach der Besetzung des Sudetenlandes im Spiegel des Kicker

von Stefan Zwicker

Besatzungssport für die Heimat – Die Fußballberichterstattung des Kicker aus dem Generalgouvernement

von Martin Borkowski-Saruhan

Inszenierte Normalität – Der elsässische Fußball im Zweiten Weltkrieg in der Berichterstattung des Kicker

von Bernd Reichelt

„Selbst beim Deutschen Gruß gabs lebhaften Beifall“ – Die schweizerischdeutschen Fußballbeziehungen der NS-Zeit in der Berichterstattung des Kicker

von Christian Koller

„Beachtliche Leistungsträger auf dem weiten Sportfelde unseres Vaterlandes“ – Militär- und Luftwaffensportvereine im Spiegel des Kicker

von Florian Wittmann

Die Schalker Meister aus dem Ruhrgebiet im Kicker

von Stefan Goch

IV. Entnazifizierung und das Erbe Walther Bensemanns in der Nachkriegszeit

Wacklige Verteidigung? – Die Entnazifizierung von Kicker-Redakteuren nach dem Zweiten Weltkrieg

von Thorben Pieper, Christopher Kirchberg und Marcel Schmeer

Der Geist Walther Bensemanns – Der Kicker und das Erbe des Nationalsozialismus 1951–2019

von Frank Wolff und Lewis Wellbrock

Dank

Die Autorinnen und Autoren

I.

Vorwort und Einleitung

Vorwort

Der Fußball würde sich zu einem Massenphänomen entwickeln. Dessen konnte sich Walther Bensemann sicher sein, als er am 14. Juli 1920 in Konstanz die erste, 20 Seiten umfassende Ausgabe des kicker herausbrachte. Seine riesengroße persönliche Begeisterung für dieses Spiel und die Erfolge der ersten Vereinsgründungen in Deutschland seit 1889 ließen es erahnen, zu erkennen gewesen war die Entfaltung bereits in England.

Doch den Journalisten, Kosmopoliten und Visionär Bensemann trieb mehr an als die Faszination, die dieses Spiel zweier Mannschaften bei Aktiven und Zuschauern auslöst, oder die Hoffnung auf eine steigende Auflage. Er war überzeugt von der Kraft des Fußballs zur Völkerverständigung. Den kicker sah er bewusst als ein Symbol der Versöhnung durch den Sport an, zumal nach dem Ersten Weltkrieg.

Der kicker-Gründer hielt den Rückschlägen in den wirtschaftlich schwierigen Anfangsjahren stand. Seine Idee von Weltoffenheit und Fairplay lebte in seinen Glossen, Reise- und Spielberichten, wo auch immer sein Blatt verlegt und gedruckt wurde. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten jedoch musste sich Bensemann von seinen Lesern verabschieden. Er tat es mit dem Hinweis auf das Ende der Meinungsfreiheit: „Jetzt ist insofern eine Pause eingetreten, als Besprechungen zwischen den Verbandsführern und der Regierung im Gange sind, bei denen die Sportpresse eine mehr referierende als kritische Aufgabe hat.“ Im Jahr darauf verstarb der Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie in der Schweiz.

Die Rolle des kicker und weiterer Sportmedien in der NS-Zeit war bereits mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten und in der jüngeren Vergangenheit wiederholt auch Thema in kicker-Editionen und -Sonderheften. Lange vor dem 100. Geburtstag stand für Redaktion und Verlag fest, dass dieses Jubiläum der Anlass sein sollte, um die verhängnisvollen Kapitel der kicker-Geschichte weiter aufzuarbeiten. Und zwar mit einer unabhängigen und umfassenden Forschung,

Wir gaben daher bei den renommierten Historikern Prof. Dr. Lorenz Peiffer (Universität Hannover) und Dr. Henry Wahlig (Deutsches Fußballmuseum in Dortmund) eine neue wissenschaftliche Studie in Auftrag. Das Ergebnis ist die detaillierte, bisher einzigartige Dokumentation und Analyse auf den folgenden Seiten. Dieses Buch nimmt die Veröffentlichungen und die Haltung der stramm mitmarschierenden Fachzeitschrift während der nationalsozialistischen Herrschaft unters Brennglas. Es liegt auf der Hand, dass damit gleichzeitig auch die allgemeine Wandlung der gleichgeschalteten Sportmedien beleuchtet wird, die im Dritten Reich rasch zu propagandistischen Mitspielern des Faschismus wurden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte der in Nürnberg neu gegründete Olympia-Verlag 1946 mit dem Magazin Sport den Nachfolger des kicker. 1951 erfuhr dieser dann selbst seine Wiedergründung unter dem alten Titel und „im Geiste“ Bensemanns, wie es in einem Vorwort hieß. Herausgeber Dr. Friedebert Becker versprach darin „Begeisterung für das Spiel der Welt“, „Ehrlichkeit der farbigen Kritik“ und „Verständnis für alle Meinungen“. 1968 vereinte der Nürnberger Verleger Bruno Schnell im Olympia-Verlag die beiden Publikationen zum kicker-Sportmagazin, woraus die heute reichweitenstärkste deutschsprachige Sportmedienmarke entstand.

102 Jahre nach dem Druck des ersten Heftes lesen über 2,7 Millionen Menschen am Tag kicker-Inhalte online. Bei monatlich mehr als zwei Milliarden Seitenaufrufen sowie Montag- und Donnerstagausgaben mit jeweils annähernd 100.000 verkauften Exemplaren erreicht die Marke kicker auf ihren Print- und digitalen Kanälen insgesamt über 13 Millionen Sportinteressierte.

Der Anspruch ist dabei unverändert: Die Redaktion berichtet, worüber im Sport, speziell im Fußball, gesprochen wird. Sie setzt dabei immer wieder selbst die Themen. Der kicker gibt so Orientierung und ordnet ein, was wirklich relevant ist. Er ist meinungsstark und kritisch, leidenschaftlich, aber fair und bei aller fachlichen Kompetenz zugleich unterhaltsam.

Der kicker trägt die Idee Bensemanns weiter, immer weiter, indem er Werte vermittelt, die dem Fußball innewohnen: Teamgeist und Fairplay, Toleranz und Respekt, Vielfalt und Weltoffenheit.

Die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der Berichterstattung müssen dabei über allem stehen, auf allen Kanälen, gerade in einer pausenlos aufgeregten und zunehmend polarisierenden (Medien-)Welt. Dazu gehört die Fähigkeit, Transparenz herzustellen und neutrale Urteile über die eigene Geschichte zu ermöglichen.

Dieses Buch ist ein bedeutender Beitrag dazu. Das war uns ein wichtiges Anliegen. Unser großer Dank gilt daher den beiden Herausgebern, Lorenz Peiffer und Henry Wahlig, für ihre jahrelange engagierte Forschungsarbeit, ohne die dieser bisher einzigartige Meilenstein in der kicker-Historie nicht erreicht worden wäre. Er gilt ebenso den weiteren Autorinnen und Autoren für ihre speziellen Recherchen und einzelnen Beiträge sowie den Kolleginnen und Kollegen des Werkstatt-Verlags für die Schlussredaktion und Herstellung dieses Buches.

Bärbel Schnell

Jörg Jakob

(Geschäftsführerin Olympia-Verlag)

(Chefredakteur kicker)

Einleitung

„Einig, furchtlos, treu“

von Lorenz Peiffer und Henry Wahlig

„Einig, furchtlos, treu“ – unter dieser Überschrift schwor Hanns-J. Müllenbach unmittelbar nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen in einem ganzseitigen Leitartikel auf Seite eins der Ausgabe des Kicker vom 5. September 1939 die Leser auf einen „Abwehrkampf [ein], den uns die von der englischen Regierung vorgeschobenen Polen aufgezwungen haben“. „Die Kriegstreiber“ saßen für den Chefredakteur „jenseits des Kanals“, hatten „Trabanten gesucht und gefunden“ und „sie gegen uns zum Kampf geschickt“.

In einer historischen Rückschau erinnerte Müllenbach an die 1813, 1871 und 1914 Deutschland „aufgezwungenen“ Kriege, auf die das deutsche Volk mit Einigkeit reagiert habe und wieder reagieren werde: „Unsere Stärke von heute ist die Einigkeit.“ Man sei bestens auf diesen „Abwehrkampf“ vorbereitet: „Der beste Arbeiter der Welt hat dem besten Soldaten der Welt die besten Waffen der Welt geschmiedet […]. Der Soldat wird diese Waffen zu gebrauchen verstehen. Das Volk aber wird zeigen, daß nichts in der Welt zerbrechen kann seine Einigkeit, seine Treue und seine Furchtlosigkeit.“ Auf der folgenden Seite druckte Chefredakteur Müllenbach einen ganzseitigen Aufruf Adolf Hitlers „An das deutsche Volk“ ab.

Einen besseren Propagandisten für die nationalsozialistische Lügenpolitik hätten die Nazis nicht finden können. Dieser ganz im Goebbels’schen Duktus geschriebene Text erschien jedoch nicht in einer von der NSDAP herausgegebenen Zeitung, sondern in einem der schon damals traditionsreichsten Fußball-Fachblätter Deutschlands, das unter seinem Gründer Walther Bensemann bis 1933 als Vorreiter für eine völkerverständigende, kosmopolitische und explizit liberale Sportpolitik berühmt gewesen war.

Der Anlass für diese Studie: Das 100-jährige Jubiläum des Kicker

Im Jahr 2020 feierte der Kicker (heute offiziell klein-, im untersuchten Zeitraum und daher zwecks Vereinfachung auch im vorliegenden Buch durchgängig großgeschrieben) sein 100-jähriges Jubiläum. Das erste Heft der von Walther Bensemann begründeten Fußball-Fachzeitschrift erschien am 14. Juli 1920. Bis heute ist das Blatt mit knapp 100.000 Exemplaren bei zwei Ausgaben in der Woche die führende Fußball-Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum.

Anlässlich dieses Jubiläums war es der aktuellen Chefredaktion des Kicker unter der Projektleitung von Jörg Jakob und der Geschäftsführerin des Olympia-Verlags, Bärbel Schnell, ein besonderes Anliegen, sich auch mit der Rolle ihrer Zeitschrift in der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Schließlich fokussieren sich die wenigen bislang vorliegenden Untersuchungen zur Geschichte des Kicker fast ausschließlich auf die Anfangsjahre unter Pionier Walther Bensemann und die Entwicklung nach der Gründung des Olympia-Verlags im Jahr 1946. Dabei erlebte das Blatt, rein äußerlich betrachtet, gerade in der Zeit des Nationalsozialismus einen besonderen Bedeutungszuwachs. Im Zeitraum von 1933 bis 1939 stieg die Auflage von 20.000 auf 100.000 Exemplare.

Mit Blick auf die Entwicklung der historischen Forschung kann es jedoch nicht überraschen, dass sich bis heute kaum eine Autorin bzw. ein Autor mit dieser für den Kicker so wichtigen Epoche seiner Geschichte auseinandergesetzt hat. Zahlreiche zunächst unpolitisch erscheinende Bereiche des Alltags- und Freizeitlebens wie eben auch der Sport scheuten schließlich über viele Jahrzehnte hinweg jede kritische Aufarbeitung ihrer eigenen NS-Vergangenheit und stilisierten sich in der Öffentlichkeit lieber als Opfer, allenfalls passive Mitläufer des Systems. Die historische Forschung interessierte sich zunächst nur wenig für diese vermeintlichen „Randbereiche“ des NS-Alltags.

Inhaltliche Einführung

Dabei leitete die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 auch für den deutschen Sport eine tiefe Zäsur in seiner Geschichte ein. Die Beseitigung aller bis dahin in Deutschland geltender menschlicher Werte und Normen durch die neuen Machthaber und die Idee der von den Nationalsozialisten angestrebten „rassisch“ begründeten Volksgemeinschaft fanden auch in den Reihen der deutschen Turn- und Sportbewegung ihre Unterstützer und Propagandisten.

Im vorauseilenden Gehorsam richteten sich die deutschen Turn- und Sportverbände und ihre Vereine schnell an den ideologischen Grundsätzen der Nationalsozialisten aus. Mit der Einführung des Führerprinzips wurden die demokratischen Strukturen des deutschen Vereinswesens ebenso beseitigt wie die parteipolitische Neutralität. Der schnelle Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus der deutschen Sportbewegung war der entscheidende Schritt zur „Arisierung“ der Turn- und Sportvereine und ihrer Verbände. Aus den ehemaligen deutschen Turn- und Sportverbänden wurden „Fachämter“ in dem neu gegründeten Deutschen Reichsbund für Leibesübungen (DRL), der am 21. Dezember 1938 durch Erlass Hitlers zum Nationalsozialistischen Reichssportbund für Leibesübungen (NSRL) und damit zu einer von der NSDAP betreuten Parteiorganisation wurde. Mit der Ernennung von Hans von Tschammer und Osten zum Reichssportkommissar am 28. April 1933 und später zum Reichssportführer (19. Juli 1933) erhielt der deutsche Sport eine staatliche Führung.

Die Sportpublizistik wurde in diesen Jahren zu einem zentralen Sprachrohr der NS-Propaganda. Die Nationalsozialisten nutzten auch den Sport und die Berichterstattung über ihn gezielt dazu aus, um die deutsche Gesellschaft in ihrem Sinne ideologisch zu infiltrieren und gleichzuschalten.

Die Anfänge der Sportpublizistik lassen sich in Deutschland bis auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts rückdatieren.1 Eine wirkliche „Gründungsepidemie“2 von Sportmedien setzte jedoch erst nach Ende des Ersten Weltkriegs ein. Angefeuert durch den nun in allen Teilen der Gesellschaft grassierenden Sportboom entstanden in kurzer Zeit immer mehr Sportfachzeitschriften und Sportteile in allgemeinen Tageszeitungen. Schon im Jahr 1920 existierten in Deutschland 159 verschiedene Sportzeitschriften, im Jahr 1933 waren es sogar über 400.3 Als selbst die intellektuelle Vossische Zeitung im Jahr 1925 eine Sportrubrik einrichtete, schrieb ihr Chef, der renommierte Journalist und auch kurzzeitig für den Kicker tätige Willy Meisl, dass heute „fast kein großes Blatt […] ohne mehr oder minder umfangreiche Sportabteilung“ auskäme.4

Auch die Sportberichterstattung im damals aufkommenden Hörfunk entwickelte sich in diesen Jahren rapide und wurde zu einem „Zugpferd“ für die gesamte Entwicklung des Mediums.5 Dabei bedeutete die erste Live-Übertragung eines Fußballspiels durch den Pionier Dr. Bernhard Ernst im Jahr 1925 von der Partie Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld einen entscheidenden Schritt.

Der Kicker unter Walther Bensemann gehörte seit seiner Gründung im Jahr 1920 zur Spitze der deutschen Sportfachzeitschriften. Zu den größten Konkurrenten auf dem besonders umkämpften Fußballmarkt zählten die bereits 1911 von Eugen Seybold in München begründete Zeitschrift Fußball sowie die ab 1923 in Berlin durch Ernst Werner aufgelegte Fußballwoche.

Eine herausgehobene Rolle nahm der Kicker insbesondere wegen seiner hohen inhaltlichen Qualität ein. Walther Bensemann forcierte in der Zeitschrift ganz unterschiedliche Stilelemente, die dem Blatt unter anderem mit seinen berühmten Glossen und Reisereportagen teilweise einen fast feuilletonistischen Anstrich gaben. Dadurch erreichte der Sportjournalismus in den 1920er Jahren auch qualitativ seine „höchste Blüte“.6

Die hohe Zahl der Sportfachzeitschriften in diesen Jahren war auch eine Folge des aufgesplitterten Sportsystems. Unterschiedliche Verbände aus verschiedenen politischen und ideologischen Lagern – wie zum Beispiel der Arbeitersport oder die kirchlichen Sportverbände – standen sich vielfach unversöhnlich gegenüber und richteten eigene Wettkämpfe und Meisterschaften aus, über die auch in jeweils separaten Presseorganen berichtet wurde.

Das Pressesystem der Weimarer Republik war weitgehend frei und durch die entsprechenden Paragrafen im Reichspressegesetz geschützt.7 All dies änderte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten innerhalb kürzester Zeit. Mithilfe der sogenannten „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes“ wurde die bisherige Pressefreiheit bereits am 4. Februar 1933, also nur wenige Tage nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, entscheidend eingeschränkt. Fortan war ein Publikationsverbot bereits wegen der Verbreitung „unrichtiger Nachrichten“ möglich – was unrichtig war, bestimmte der nationalsozialistische Reichsinnenminister Frick.8 Nur wenige Tage bis Wochen später wurden die meisten kommunistischen und sozialdemokratischen Presseorgane in Deutschland verboten.

Nach dem Reichstagsbrand und den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 griff die Welle der physischen Gewalt auch auf das Pressewesen über: Redaktionen wurden von der SA gestürmt und missliebige Journalisten verhaftet und misshandelt. Die Folge war „der wohl größte personelle Einschnitt, den der deutsche Journalismus bis dahin erlebt“ hatte.9 Rund zehn Prozent aller Journalisten verloren in den Jahren 1933 und 1934 ihre Stellung oder wurden ins Exil vertrieben.

Einen allgemeinen Aufschrei oder größere publizistische Proteste hatte dieser Exodus dennoch nicht zur Folge: Vor allem konservative Journalisten erkannten nicht, dass die Nationalsozialisten in Wahrheit mit aller Macht auf die Zerstörung aller demokratischer Rechte hinwirkten. Für sie stand der eigentliche Feind zu diesem Zeitpunkt links.10

Mit der Berufung von Joseph Goebbels als Leiter des neu geschaffenen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda konstituierte sich die NS-Pressepolitik ab dem 13. März 1933 auch offiziell. Die Nationalsozialisten hatten dabei ihre eigentlichen Ziele in diesem Bereich nie verhehlt: Die „Monopolisierung und totale Beherrschung der öffentlichen Kommunikation“ wurde gezielt geplant und umgehend umgesetzt.11

Um dieses Ziel zu erreichen, führte das Regime eine Reihe unterschiedlicher Kontrollmechanismen ein. Zu ihnen zählte unter anderem das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933, das die personelle Besetzung von Führungspositionen im Pressewesen durch „arische“ und regimetreue Personen sicherstellte.12 Eine inhaltliche Steuerung erfolgte unter anderem durch die Einführung bzw. Übernahme der Reichspressekonferenz im Juli 1933 in Berlin, die den Redaktionen bis ins Detail diktierte, ob und wie bestimmte Themen in ihren Blättern behandelt werden sollten.13 Mithilfe dieser Maßnahmen gelang es innerhalb kurzer Zeit, aus der „Presse im Nationalsozialismus“ eine „Presse des Nationalsozialismus“ zu machen.14

Dem Sportjournalismus standen die Nationalsozialisten zunächst mit einiger Skepsis gegenüber. Die großen Parteiblätter berichteten vor 1933 in aller Regel nur wenig über Sport.15 Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, die die Nationalsozialisten nach anfänglichem Zögern massiv förderten, um sie für ihre propagandistischen Zwecke auszunutzen, erfuhren die im System verbliebenen Sportredakteure dann aber zunächst einen „immensen Bedeutungszuwachs“.16 So waren bei der führenden Nachrichtenagentur DNB in diesen Jahren von 360 Redakteuren nicht weniger als 40 im Ressort Sport beschäftigt. Das von der Reichssportführung im Jahr 1934 als offizielles Verlautbarungsorgan aufgelegte Reichssportblatt steigerte seine Auflage im Jahr 1935 bis auf stolze 123.000 Exemplare.17

Der im April 1927 gegründete Deutsche Sportpresseverband als Dachorganisation der Sportjournalisten hatte sich bereits im Sommer 1933 in vorauseilendem Gehorsam gleichgeschaltet und „arisiert“. Später wurden seine Mitglieder in den Reichsverband der Deutschen Presse eingegliedert.18

Traditionelle Sportfachzeitschriften wurden vom System weiterhin gefördert. So wurde der Kicker ab dem 20. Oktober 1936 zum „Amtlichen Organ des Reichsfachamtes Fußball im Deutschen Reichsausschuss für Leibesübungen“ bzw. ab Januar 1939 zum „Amtlichen Organ des Reichsfachamtes Fußball im NS-Reichsbund für Leibesübungen“.19 Als Pflichtbezugsexemplar für Fußballvereine steigerte er seine Auflage und Bedeutung erheblich.

Die historische Forschung hat sich bis heute nur sehr wenig mit der Geschichte des Sportjournalismus in der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Die Mehrzahl der wenigen vorliegenden Beiträge sind deutlich älteren Datums, teilweise stammen sie aus der unmittelbaren Nachkriegszeit20 oder sogar aus der Zeit des Nationalsozialismus selbst21 und sind daher mit besonderer Vorsicht zu lesen. Von zentraler Bedeutung sind drei Überblickstexte von Erik Eggers aus neueren Veröffentlichungen.22

Die Entwicklung des Kicker in der NS-Zeit ist bislang naturgemäß noch weniger untersucht worden. Auch die Zeitschrift selbst widmete diesem Thema in ihren eigenen Publikationen, unter anderem zum 75-jährigen Jubiläum im Jahr 1995, lediglich einen eher kurzen Artikel mit überschaubarer inhaltlicher Aussagekraft.23 Von Bedeutung sind einige universitäre Abschlussarbeiten, die sich mit Einzelaspekten der Thematik auseinandersetzen,24 sowie eine qualitative Analyse der Kicker-Berichterstattung über Länderspiele, die Claudia Kaiser im Jahr 2008 vorgelegt hat.25

Grundsätzlich docken die bislang vorliegenden Erkenntnisse zur Bedeutung der Sportpresse für das NS-Regime weitgehend an die allgemeinen historischen Beurteilungen zur Pressegeschichte in dieser Zeit an. Dargestellt wird eine umfassende ideologische Gleichschaltung, bei der „Meinungsfreiheit, Kritik und journalistische Unabhängigkeit“ von den Redaktionen rasch über Bord geworfen wurden, um sich im NS-Staat weiterhin eine gute Stellung zu sichern.26 Zugleich konstatiert Eggers jedoch, dass der These einer schnellen kompletten Gleichschaltung auch mit Vorsicht zu begegnen sei. Sportredaktionen hätten das erklärte Propagandaziel, „das gesamte Volk zur sportlichen Tätigkeit anzuregen, die Breitenarbeit im Sport zu fördern, den Sport nicht mehr als Selbstzweck, Sensation und Geschäft, sondern als Dienst zu betrachten“, zumindest in den Vorkriegsjahren immer wieder unterlaufen und seien dafür noch 1937 für „Startum“ und „Personenkult“ in ihrer Berichterstattung gerügt worden.27

Fragestellungen

Die vorliegende Untersuchung führt in dieser Form erstmals eine umfassende Analyse der Berichterstattung einer der führenden Sportzeitschriften in der NS-Zeit durch und bezieht dabei bewusst zahlreiche verschiedene inhaltliche Perspektiven ein.

Diese Analyse soll die sporthistorische Forschung um eine neue und bislang weitgehend unbeachtete Facette erweitern. Erst in den vergangenen Jahrzehnten ist die Geschichte des deutschen Sports zur NS-Zeit und seiner Vereine und Verbände als scheinbar „unverdächtiger“ Bereiche des Alltagslebens immer stärker in den Blick der zeithistorischen Forschung gekommen.28 Ob und in welchem Maße der Sport als zahlenmäßig größte gesellschaftspolitische Organisation seinen Anteil dazu beitrug, das NS-System zu stabilisieren, und dem Ziel einer „rassisch“ homogenen Volksgemeinschaft im vorauseilenden Gehorsam zuarbeitete, wurde zu einer zentralen Frage zeithistorischer Untersuchungen.

In diese Entwicklung passt auch die hier vorliegende Studie: Erstmals hat eine deutsche Sportfachzeitschrift von sich aus den Auftrag an externe Historiker vergeben, ihre Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus unabhängig und kritisch zu erforschen. Im Rahmen dieser Studie wird untersucht, ob und wie sich die allgemeinen politischen Veränderungen in der Berichterstattung des Kicker ab 1933 widerspiegelten und ab wann und in welchem Maße sich die Inhalte im Blatt dem neuen politischen Zeitgeist anpassten. Dabei stützen sich die Ergebnisse zum einen auf eine umfassende quantitative Analyse, die erstmals in dieser Form das gesamte im Kicker veröffentlichte Schriftgut zwischen 1933 und 1945 berücksichtigt. Zum anderen wird die Frage gezielt aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet: Wie veränderte sich die Sprache im Kicker ab 1933? Welche Veränderungen sind in der Berichterstattung über einzelne Länder, Vereine oder Personen ablesbar? Und inwieweit hielten auch propagandistische Themen wie der Antisemitismus unmittelbaren Einzug in die Berichterstattung? Damit erhält die Untersuchung ein Spektrum, das über den sporthistorischen Rahmen hinausgeht.

Von besonderer Bedeutung sind hierbei auch zeitliche Unterschiede: Welche Veränderungen lassen sich innerhalb von zwölf Jahren NS-Herrschaft erkennen, und gab es auch hier, wie in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, mit der Zeit eine generelle Tendenz zu einer zunehmenden Durchdringung und Radikalisierung von Sprache und Inhalten durch das NS-System?

Aufbau der Studie

Den genannten Fragestellungen wird in der vorliegenden Studie in verschiedenen Schritten nachgegangen. Im Anschluss an dieses Vorwort findet sich zunächst eine ausführliche Einführung, die die redaktionelle und strukturelle Entwicklung des Kicker in den allgemeinen politischen Rahmen einordnet. Dabei steht im Fokus, ob und in welcher Weise zentrale politische Ereignisse der NS-Zeit in der Berichterstattung des Blattes thematisiert und reflektiert wurden. Machte der Kicker politische Entwicklungen in seinem Blatt zum Thema, und veränderten sich dadurch Ton und Inhalt in der klassischen Sportberichterstattung?

Für weitere Fragestellungen und Aspekte dieser Studie konnten die Herausgeber zahlreiche in- und ausländische Expertinnen und Experten gewinnen, die die inhaltliche und personelle Ausrichtung des Kicker nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in den Blick nehmen und die Berichterstattung der Sportfachzeitschrift im Spiegel der nationalsozialistischen Expansionspolitik untersuchen.

Quellengrundlagen

Der Olympia-Verlag öffnete den Herausgebern sein Archiv und stellte alle vorhandenen Akten vorbehaltlos zur Verfügung. Die Recherchen im Stammhaus in Nürnberg zeigten jedoch schnell, dass im Verlag nahezu keine relevanten Dokumente erhalten waren.29 Der gesamte interne Schriftverkehr der Redaktion aus der Zeit des Nationalsozialismus, alle Personalunterlagen und weitere interne Quellen sind bei einem Luftangriff auf Nürnberg durch einen Brand vernichtet worden.

Vor diesem Hintergrund fokussierten die Herausgeber ihre Recherchen frühzeitig auf eine Auswertung der Zeitung selbst. Hier zeigt sich die Quellenlage wiederum ungewöhnlich gut: Nahezu alle Ausgaben seit der Gründung im Jahr 1920 liegen komplett vor und sind vom Kicker mittlerweile aufwendig digitalisiert worden. Alle Autorinnen und Autoren, die sich an der Untersuchung beteiligten, erhielten über den Kicker einen eigenen Zugang zu diesem Online-Archiv.

Teil desselben ist eine Suchfunktion im Volltext aller Kicker-Ausgaben. Diese wurde von den Herausgebern, Autorinnen und Autoren umfangreich genutzt, musste jedoch zusätzlich durch umfangreiche eigene Recherchen ergänzt werden, da sich die Suchfunktion immer wieder als unvollständig erwies.

Methodisch bilden Zeitungsberichte aus der NS-Zeit naturgemäß eine ganz besondere Quelle – sie müssen immer „quer“ gelesen werden, denn aufgrund der NS-Pressegesetze wäre eine echte, offene Kritik an den Nationalsozialisten und ihren Maßnahmen niemals möglich gewesen; auf dieser Basis müssen daher auch Weglassungen, indirekte Andeutungen oder andere Formulierungen „zwischen den Zeilen“ als Indikator für konformes oder nichtkonformes Verhalten der Redakteure gewertet werden.30 Auch mit diesem Fokus wurden die Kicker-Jahrgänge zwischen 1933 und 1945 von den Herausgebern und der Autorenschaft durchgesehen und unter den genannten Aspekten untersucht.

Neben der inhaltlichen Analyse der Kicker-Texte stand eine möglichst tiefgehende biografische Ausleuchtung der damaligen Redakteure im Mittelpunkt der Untersuchung. Sie waren als handelnde Akteure in entscheidender Position für die ideologische Ausrichtung des Blattes verantwortlich und gaben der Zeitschrift ein „Gesicht“. Eine Liste der eigenen Redakteure oder etwas Ähnliches liegt im Kicker-Archiv nicht vor. Daher mussten die Namen aufwendig durch Recherchen in den einzelnen Heften und Jahrgängen herausgesucht werden. Der nächste Schritt, zu den ermittelten Namen Lebensdaten zu finden, erwies sich als sehr schwierig, vor allem, wenn außer dem Nachnamen keine weiteren Angaben überliefert waren. Diese Quellenbasis bleibt mit Sicherheit lückenhaft und teilweise wackelig. Viele Texte in den betreffenden Jahrgängen des Kicker sind zudem nicht namentlich gekennzeichnet.

Den bei dieser Recherche eruierten Namen wurde alsdann so weit wie möglich tiefer auf den Grund gegangen. So wurde für alle namentlich bekannten Redakteure, deren Lebensdaten ermittelt werden konnten, eine Abfrage im Berlin Document Center bezüglich ihrer NS-Mitgliedschaften durchgeführt. Weitere Recherchen in den jeweiligen Stadt- und Landesarchiven nach Entnazifizierungsakten und weiteren personenbezogenen Akten über die betreffenden Redakteure erfolgten, soweit dies in Corona-Lockdown-Zeiten möglich war. Eine zentrale Quelle zur Erhellung des Wirkens einzelner Redakteure nach 1945 war das ARAL Sportjournalisten-Taschenbuch, das in den Jahren 1963, 1967, 1971 und 1975 die Adressen vieler Sportjournalisten auflistete. Diese Quelle, die dankenswerterweise das ARAL-Archiv in Bochum zur Verfügung stellte, wurde komplett auf Namen von Kicker-Redakteuren aus der NS-Zeit untersucht. In einigen Fällen wurden dann die entsprechenden heutigen Zeitschriften kontaktiert und um weitere Hinweise über die Arbeit der ehemaligen Redakteure gebeten.

Kurzvorstellung der Beiträge

Nachfolger des im März 1933 aus Deutschland in die Schweiz vertriebenen jüdischen Gründers des Kicker, Walther Bensemann, wurde sein langjähriger Assistent und Mitarbeiter Hanns-Jakob Müllenbach. In seinem biografischen Beitrag „Der Diener seiner Herren – Hanns-Jakob Müllenbach als Hauptschriftleiter des Kicker“ untersucht Bernd-M. Beyer die Rolle des neuen Hauptschriftleiters in der Zeit vom Frühjahr 1933 bis zum Januar 1941. Im Mittelpunkt seines Beitrags steht die Frage, ob und wie sich das politische Profil des Kicker unter Müllenbach in dieser Zeit verschob und welchen Anteil der Hauptschriftleiter an diesem Prozess hatte. Ausführlich geht Beyer der Sprache und dem Sportverständnis Müllenbachs nach sowie dessen „Huldigungen“ der Führungskräfte des NS-Sports. Bensemanns Nachfolger übte seine Tätigkeit als Hauptschriftleiter des Kicker bis zur Einberufung in die Wehrmacht am 16. Dezember 1940 aus. Dort wurde er sehr schnell der Propagandakompanie zugewiesen, was eine politische Beurteilung durch NS-Organisationen voraussetzte, die – wie Beyer nachweist – Müllenbach sämtlich als „politisch zuverlässig“ einstuften. Müllenbach starb am 21. April 1944, als sein Flugzeug in Norwegen verunglückte.

In den 1930er Jahren hatte der Kicker durchschnittlich einen Umfang von 40 Seiten, die Woche für Woche mit Berichten, Mitteilungen etc. gefüllt werden mussten. Abgesehen von einem relativ kleinen, überschaubaren Kreis von fest angestellten Redakteuren und Mitarbeitern in der Nürnberger Redaktion arbeitete für die Fachzeitschrift eine große Anzahl von lokalen Redakteuren, die vor Ort tätig waren und über die Fußballspiele in ihrem jeweiligen unmittelbaren Einzugs- und Zuständigkeitsbereich berichteten. In ihrem Beitrag „Das Netzwerk der Kicker-Redakteure und -Mitarbeiter“ spüren Lorenz Peiffer und Henry Wahlig diesem Netzwerk nach – soweit es überhaupt möglich war, die im Kicker genannten Redakteure zu identifizieren und Unterlagen über ihren Lebensweg zu finden. Die Auflistung beansprucht in keiner Weise auch nur annähernd Vollständigkeit, trotzdem gewährt die Zusammenstellung Einblicke in politische Orientierungen einzelner Mitarbeiter sowie auch in personelle Kontinuitäten beim Kicker über das Jahr 1945 hinaus. Die Recherchen zeigen, dass zahlreiche ehemalige Kicker-Redakteure aus der NS-Zeit auch in der BRD wieder an teils führenden Stellen im deutschen Sportjournalismus tätig waren. Neben den biografischen Daten werden ausgewählte Beiträge der Redakteure und Mitarbeiter in chronologischer Reihenfolge aufgelistet.

Für den Kicker schrieben in den 1920er Jahren und Anfang der 1930er mehrere Menschen mit jüdischem Hintergrund. In ihrem Beitrag „Jüdische Sportjournalistinnen und journalisten beim Kicker – Willy Meisl, Stella Bloch, Ludwig Isenburger, Simon Rosenberger“ stellt Petra Tabarelli diese Kicker-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter vor. Eine besonders wichtige Rolle spielte Simon Rosenberger, der in seiner über drei Jahre währenden Tätigkeit beim Kicker die „rechte Hand“ von Walther Bensemann war und sich darüber hinaus sehr stark für das „prekäre deutsche Schiedsrichterwesen“ im Fußball engagierte. In der offiziellen Geschichte des nach 1945 wiedergegründeten Deutschen Fußball-Bundes findet Rosenberger indes keine Erwähnung.

Die Sprache eines Mediums gibt Einblicke in und Aufschluss über Einstellungen, politische Orientierungen etc. der verantwortlichen Herausgeber und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der jeweiligen Zeit. In seinem Beitrag „‚Schönziselierte Dribblings‘ und ‚mahlende Sägen‘ – Die Sprache des Kicker am Beispiel der Länderspielberichterstattung 1931–1952“ weist Simon Meier-Vieracker nach, dass die veränderte politisch-ideologische Ausrichtung des Kicker in der Zeit des Nationalsozialismus auch in der Sprache ihren Niederschlag fand. Meier-Vieracker unterscheidet bei seiner Analyse zwischen Artikeln, die die „politische Positionierung des Sports ausdrücklich“ thematisierten, und der „eigentlichen Spielberichterstattung“.

Bereits in den frühen 1920er Jahren finden sich erste Karikaturen im Kicker. An Bedeutung als unterhaltendes Element gewinnen sie allerdings erst in den letzten Jahrgängen dieses Jahrzehnts. Die Tradition, die Entwicklung des Fußballsports in ironisch-humorvoller Weise in Karikaturen darzustellen, wurde in den 1930er Jahren bis 1944 fortgesetzt und ausgebaut. In ihrem Beitrag „Die Fußballkarikatur als Parallelwelt im Kicker von 1933 bis 1945“ untersucht Karin Rase die Stilmittel der Karikaturen in dieser Zeit und kommt zu dem Ergebnis, dass in den Kriegsjahren zwar häufiger Elemente wie „Bomben, Kanonen, Gasmasken, abstürzende Flugzeuge etc.“ auftreten, „eine zeitspezifische Fußballkarikatur mit unverkennbar nationalsozialistischer Ästhetik“ jedoch nicht zu erkennen ist.

Antisemitismus lässt sich in Zeitungen nicht nur „anhand offener judenfeindlicher Aussagen“ nachweisen, wie Moshe Zimmermann in seinem Beitrag „Fußball im Dienste des Antisemitismus“ eingangs betont. In zahlreichen Beiträgen im Kicker findet Zimmermann Beispiele dafür, dass antisemitische Attitüden auch in Andeutungen bestehen können oder in „Versuchen, antisemitische Vorgänge bzw. Entwicklungen“ zu vertuschen bzw. unter den Teppich zu kehren. Auch wenn antisemitische Attacken im Kicker nicht so offen und scharf formuliert wurden wie z. B. in den nationalsozialistischen Hetzblättern Der Stürmer oder Der Angriff, öffneten sich nach der Flucht des jüdischen Kicker-Gründers Walther Bensemann doch auch in diesem Blatt die „Schleusen für antisemitische Kommentare“.

Der Schlesier Ernst Willimowski war ein Ausnahmefußballer, der bis zum Überfall NS-Deutschlands auf Polen von 1934 bis 1939 für die polnische Nationalmannschaft antrat. 1941 und 1942 spielte er dann mehrfach für die deutsche Nationalmannschaft. Willimowski war an Politik völlig desinteressiert und deshalb auch politisch von der deutschen Sportpresse wie dem Kicker nicht zuzuordnen, wie Diethelm Blecking in seinem Beitrag „‚Willimowski hat sich eingeschossen‘ – Zur Fremdpolitisierung eines Unpolitischen“ herausarbeitet.

Bis zum 1. September 1939 waren der englische Fußball und Berichte über Spiele englischer Fußballteams in nahezu jeder Ausgabe des Kicker präsent. Lange Zeit hatte das nationalsozialistische Deutschland bezüglich seiner geplanten Expansionspolitik auf die Briten als Verbündete gesetzt. Der Abschluss des bilateralen Flottenabkommens am 18. Juni 1935 ließ Hitler daran glauben, mit seiner Außenpolitik auf dem richtigen Weg zu sein. Ende 1935 reiste die deutsche Fußballnationalmannschaft nach London zum Länderspiel gegen England – begleitet von einer großen Fangemeinde. Das Spiel sollte eine Machtdemonstration werden, wie der deutsche Fußballfunktionär Hans Hädicke in seinem Beitrag für den Kicker betonte, und auch Kicker-Redakteur Christian Buchfelder verortete das Spiel als „Sendung“. In seinem Beitrag „‚Visitenkarte des neuen Deutschlands‘ – Die Länderspiele Deutschland gegen England im Spiegel der Berichterstattung des Kicker“ stellt Andreas Kullick heraus, dass sich der Kicker in seiner Berichterstattung nicht nur auf die sportlichen Aspekte der Länderspiele beschränkte, sondern sich immer wieder im Sinne der nationalsozialistischen Politik positionierte. Nachdem England am 3. September 1939 als Reaktion auf den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen Nazi-Deutschland den Krieg erklärt hatte, brach die Berichterstattung im Kicker über den englischen Fußball abrupt ab.

Als Fußballweltmeister 1934 und 1938 sowie Olympiasieger 1936 war die italienische Fußballnationalmannschaft das herausragende Team der 1930er Jahre. Der italienische Faschismus unter Benito Mussolini hatte sehr früh die werbewirksame Kraft des Sports als Massenphänomen für innen- und außenpolitische Belange erkannt und den Sport dementsprechend massiv gefördert. In seinem Beitrag „Verweigerter Vergleich oder: der Elefant auf dem Spielfeld. Italien als Modell? Politische Förderung und propagandistische Nutzung des Fußballs im Faschismus und Nationalsozialismus“ geht David Gilgen der Frage nach, wie die großen sportlichen Erfolge Italiens, die sich nicht nur auf den Fußball beschränkten, im Kicker rezipiert wurden. Gilgen kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Förderung des Sports durch die italienischen Faschisten, beispielsweise der massenhafte Ausbau von Stadien und Fußballplätzen, im Kicker nicht thematisiert, sondern die Überlegenheit des italienischen Fußballs vielmehr als Resultat von „Taktik, Einstellung, Spielweise und Eigenschaften der Spieler und der Mannschaft“ gesehen wurde. Trotz der ideologischen Nähe zwischen dem italienischen und dem deutschen Faschismus überwog in der Berichterstattung des Kicker über den italienischen Fußball das sportliche Element.

Das Länderspiel Deutschland gegen Polen am 3. Dezember 1933 war eine „politische Sensation“, galt doch bis dahin der Verlauf der deutsch-polnischen Grenze, wie er durch die Versailler Konferenz festgelegt worden war, als massiver Streitpunkt zwischen Berlin und Warschau. Beide Seiten betrachteten sich gegenseitig als „Feind“. Dagegen demonstrierte die deutsche und polnische Prominenz, die das Länderspiel im Berliner Poststadion verfolgte, „bestes Einvernehmen“. Bis 1938 sollten noch vier weitere Länderspiele zwischen den „weißen“ und den „roten Adlern“ folgen. In seinem Beitrag „Schwarz-Weiß gegen Weiß-Rot – Die Länderspiele Deutschland gegen Polen während der NS-Zeit in Kicker und Przegład Sportowy“ untersucht Thomas Urban die Berichterstattung über diese Länderspiele in den beiden jeweils führenden Fußballzeitungen Deutschlands und Polens.

Mit dem politischen „Anschluss“ Österreichs im März 1938 an Nazi-Deutschland war auch die Eingliederung des österreichischen Sports in den NS-Sport verbunden. Die „Ostmark“ wurde schnell zum Bestandteil des neuen „großdeutschen Sports“. Ausführlich wurden im Kicker das Sportleben des vormaligen Österreichs vorgestellt und vor allem die grundsätzlich verschiedenen Spielsysteme im Fußball diskutiert – der Gegensatz zwischen „Deutschem Fußball“ und „Wiener Fußball“. Das frühe Ausscheiden der „gemischten“ DFB-Auswahl mit Spielern aus dem „Altreich“ und der „Ostmark“ bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich ließ die Debatte, ob man nicht „mit einer rein altdeutschen oder einer rein österreichischen [!] Mannschaft besser zu Rande gekommen“ wäre, auch im Kicker aufblühen. Die damalige Diskussion über die beiden unterschiedlichen Fußballsysteme und ihre Verein- oder Unvereinbarkeit steht im Fokus des Beitrags von Matthias Marschik: „‚Ein Wiener wird mit dem Fußball geboren…‘ – Der ‚Ostmark‘-Fußball in der Berichterstattung des Kicker“.

Mit der Besetzung des Sudetenlandes im Oktober 1938 hatte Hitler nach dem bereits erfolgten „Anschluss“ Österreichs ein weiteres wichtiges außenpolitisches Ziel – ohne Krieg – erreicht. Als „Sportgau 18“ wurden die Fußballvereine des Sudetenlandes unmittelbar nach der Besetzung dem Fachamt Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen angegliedert, was eine große Abwanderungswelle der besten sudetendeutschen Spieler ins „Altreich“ auslöste. Wie reagierte der Kicker in seiner Berichterstattung auf die politische Besetzung und die Neuordnung des Sports in diesem Teil der Tschechoslowakischen Republik, zu der das Sudetenland bis zum Einmarsch der deutschen Truppen gehört hatte? In seinem Beitrag „Die Entwicklung des Sports nach der Besetzung des Sudetenlandes im Spiegel des Kicker“ geht Stefan Zwicker dieser Frage nach.

Als Ergebnis des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 wurden weite Teile Westpolens wie Danzig-Westpreußen, das Wartheland und Ostoberschlesien annektiert und als neue Sportgaue dem NS-Sportsystem einverleibt. Im Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August 1939 hatten das Deutsche Reich und die Sowjetunion nicht nur einen Nichtangriffspakt geschlossen, sondern in einem geheimen Zusatzprotokoll auch bereits die Aufteilung Polens geregelt. Der nicht annektierte, von den Deutschen besetzte Teil Westpolens wurde am 26. Oktober 1939 als „Generalgouvernement“ unter NS-Verwaltung gestellt. Das dort eingesetzte Besatzungspersonal betrieb Sport und organisierte sich in eigenen Vereinen, die in den Folgejahren auch an deutschen Meisterschafts- und Pokalwettbewerben teilnahmen. In der Rubrik „Die Feldgrauen schreiben dem Kicker“ wurden die Leserinnen und Leser der Fachzeitung über den weiteren Verlauf des Eroberungsfeldzugs im Osten informiert und unter anderem um die Zusendung von Bällen für die Soldaten gebeten. Über den polnischen Sport hingegen schwieg sich das Blatt fortan aus. Sportbeauftragter des Generalgouvernements wurde im März 1940 Georg Niffka, von 1933 bis 1943 Kicker-Mitarbeiter. In seinem Beitrag „Besatzungssport für die Heimat – Die Fußballberichterstattung des Kicker aus dem Generalgouvernement“ stellt Martin Borkowski-Saruhan heraus, dass der Kicker „unhinterfragt deutsche Herrschaftsvorstellungen und rassistisch hierarchisierte Visionen sozialer Ordnung rezipierte und im Sportjournalismus zu popularisieren beitrug“.

Das Elsass spielte im Kicker schon durch die Biografien einiger für die Geschichte des Blattes zentraler Akteure eine besondere Rolle. Bereits Walther Bensemann hatte eine starke Beziehung zu dieser Region gehabt, später, in den 1940er Jahren, sollten elsässische Journalisten wie Otto Jenner und Erich Menzel die Berichterstattung des Kicker beeinflussen. Nach der Besetzung von Teilen Frankreichs wurde das Elsass im September 1940 sportpolitisch in das Deutsche Reich bzw. als neuer Sportbereich XIVa in den Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen integriert. In seinem Beitrag „Inszenierte Normalität – Der elsässische Fußball im Zweiten Weltkrieg in der Berichterstattung des Kicker“ blickt Bernd Reichelt zunächst auf die Geschichte des Fußballsports im Elsass zurück. Für die Berichterstattung in der Zeit ab 1940 konstatiert er, dass der Kicker das Elsass nicht als besetztes Gebiet betrachtete, die Gauliga Elsass vielmehr als eine von vielen deutschen Gauligen behandelte.

Der Beitrag von Christian Koller „‚Selbst beim Deutschen Gruß gabs lebhaften Beifall‘ – Die schweizerisch-deutschen Fußballbeziehungen der NS-Zeit in der Berichterstattung des Kicker“ fällt aus der Systematik der zuvor vorgestellten Beiträge heraus, da es sich bei der Schweiz nicht um ein vom nationalsozialistischen Deutschland überfallenes und besetztes Land handelte, sondern um eines, das seine Neutralität wahren konnte. Als unmittelbarer Nachbar Deutschlands wurde in der Schweiz, wo der aus Deutschland vertriebene Gründer des Kicker, Walther Bensemann, Aufnahme fand, der Aufstieg des Nationalsozialismus aufmerksam und „mit Unbehagen“ beobachtet. Von 1933 bis Kriegsbeginn wurden im Fußball sechs Länderspiele zwischen Deutschland und der Schweiz ausgetragen, über die der Kicker ebenso ausführlich berichtete wie anschließend über die schweizerisch-deutschen Fußballbefindlichkeiten im Zweiten Weltkrieg. In seiner Analyse der Berichterstattung über die bilateralen Sportbeziehungen in den Jahren 1933–1944 kommt Koller zu dem Ergebnis, dass der Kicker „insbesondere das gute Verhältnis zu den Schweizer ‚Freunden‘ bzw. ‚Partnern‘“ hervorhob und ein „überwiegend positives Image des nationalsozialistischen Deutschland in der Schweiz“ suggerierte.

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