Cover

Peter Geimer

Die Farben
der Vergangenheit

Wie Geschichte zu Bildern wird

C.H.Beck

Zum Buch

Obwohl Sprache traditionell als Leitmedium des Historischen gilt, beruht unsere Vorstellung des Vergangenen maßgeblich auch auf Bildern. Wie Schriftquellen, so rekonstruieren Bilder Geschichte aber nur bruchstückhaft – sie bilden Fragmente auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Das vorliegende Buch stellt vielfältige Erscheinungsweisen visueller Rekonstruktion in den Medien Malerei, Fotografie und Film vor. Die Zusammenschau zeigt, dass diese diversen Formen der Vergegenwärtigung – vom detailgenau rekonstruierenden Historienbild des 19. Jahrhunderts über das dokumentarische Foto bis zum «reenactment» im zeitgenössischen Video – sehr unterschiedliche Möglichkeiten der Imagination des Vergangenen darstellen. Dabei zeigt sich auch, dass Bilder nicht einfach historische Sachverhalte illustrieren, sondern selbst Erscheinungsformen der Geschichte sind.

Über den Autor

Peter Geimer ist Professor für Kunstgeschichte an der FU Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Theorie und Geschichte der Fotografie, die visuelle Repräsentation von Geschichte und Wissenschaftsgeschichte.

Inhalt

Einleitung

1.Kapitel:Meissonier und das «Dagewesensein der Dinge»

1. Detail, Abfall, Spur

2. Der Wirklichkeitseffekt

3. Ein Bündel Stoff

4. Bild und Einbildung

2.Kapitel: Eintritt ins Gewesene. Das Panorama

1. Die große Illusion

2. Exzess der Mimesis – das faux terrain

3. Erzählen im Stillstand

4. Exkurs: Ein Jahrhundert dreht sich im Kreis

5. Aufzeichnung, Augenzeugenschaft, die «Orte selbst»

3.Kapitel: Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie

1. Die Augen, die den Kaiser gesehen haben

2. ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort

3. Fotografie als «Generalinventar»

4. Odeonsplatz, 2. August 1914

5. Das letzte Bild

6. Bilder ohne Kontext

7. Evidenz des Bildes, Wissen der Schrift – die Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht»

8. Die Welt in Farbe und die «Wahrheit des Schwarz-Weiß»

9. Die nachkolorierte Zeit I

4.Kapitel: Found footage und die verlorene Zeit

1. «Archäologischer Verismus» im Film

2. Kracauers Unbehagen

3. «Geriesel» – San Francisco, 14. April 1906

4. Zweimal found footage – The Stranger (1946) und Overlord (1975)

5. Die nachkolorierte Zeit II

6. Harun Farocki – «Politik der minimalen Intervention»

Nachwort (Der Vergangenheitseffekt)

Dank

Anmerkungen

Einleitung

1.Kapitel

Meissonier und das «Dagewesensein der Dinge»

2.Kapitel

Eintritt ins Gewesene. Das Panorama

3.Kapitel

Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie

4.Kapitel

Found footage und die verlorene Zeit

Nachwort (Der Vergangenheitseffekt)

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Einleitung

Die Vergangenheit ist unbeobachtbar. Man hat von ihr gehört oder gelesen, man erinnert sich an sie, sortiert ihre Hinterlassenschaften oder macht sich nachträglich ein Bild davon, wie sie gewesen ist. Aber keine dieser Formen des Gedenkens stellt die Vergangenheit wieder her. Was wir von ihr wissen oder imaginieren, erfahren wir über Umwege: Erzählungen, Dokumente, Bilder, materielle Überreste. Das Rekonstruierte bleibt bruchstückhaft, unscharf, unvollendet – Fragment auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Das gilt für die eigene, biographische Erinnerung, aber auch für das Gedächtnis der historischen Wissenschaften. «Ich betreibe nicht nur Geschichte in dem Sinn, dass ich historische Texte produziere», notiert Michel de Certeau, «ich gelange durch meine Arbeit auch zu dem Bewusstsein, dass etwas geschehen ist, das heute abgestorben ist und in lebendiger Form unerreichbar geworden ist.»[1] Am Beginn der historischen Tätigkeit stehen für de Certeau daher nicht die Lebendigkeit, die Fülle und Präsenz des Überlieferten, sondern die Einsicht in die Nichtwiederherstellbarkeit des Vergangenen: «Die Abwesenheit konstituiert den historischen Diskurs».[2]

Diese Abwesenheit lässt sich vor allem dort erfahren, wo Zeugnisse unentzifferbar geworden oder gänzlich aus dem Reservoir des Überlieferten verschwunden sind. Auf seiner Reise durch Sizilien lässt Goethe im April 1787 das antike Syrakus am Wegesrand liegen, denn «von dieser herrlichen Stadt» sei «wenig mehr als der prächtige Name geblieben».[3] Zwei Tage zuvor hatte Goethe in Agrigent an der Seite des Zeichners Christoph Heinrich Kniep vor den Resten des Jupitertempels gestanden und den Bau «wie die Knochenmasse eines Riesengerippes» in der Landschaft liegen gesehen. Für pittoreske Stimmungsbilder war es angesichts der bis zur Unkenntlichkeit entstellten Tempelreste zu spät, und die beiden Reisenden machten die verstörende Erfahrung, dass es einen Verfall noch über den Verfall hinaus gab: Auch Ruinen verfallen und enden, wie Goethe im Tagebuch notiert, als «Schutthaufen». Kniep verstaute seine Utensilien, und man verließ den Schauplatz «mit dem unangenehmen Gefühle, daß hier für den Zeichner gar nichts zu tun sei».[4]

Vom Tempel in Agrigent waren immerhin noch Trümmer, von Syrakus «der prächtige Name» geblieben. Auf dieser Grundlage ließ sich das Verlorene wenn nicht sehen, so doch wenigstens imaginieren. Der äußerste Grad an Unkenntlichkeit ist hingegen erreicht, wenn sich nicht einmal das Verschwinden mehr mit Sicherheit belegen lässt. Wo es weder Reste noch die Namen dieser Reste mehr gibt, erlischt auch die Einbildungskraft. «[…] was nicht mehr ist», schreibt Johann Joachim Winckelmann, «ist als wenn es nimmermehr gewesen ist».[5] Für diesen Zustand eines restlosen Vergessens findet der Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums ein eindrückliches Bild: «[…] diese Orte sind alle durchgewühlt: von der Anzeige derselben bleibt weniger im Gedächtnis, als die Spur von einem Schiff im Wasser.»[6]

Zu den Klagen über den unwiederbringlichen Verlust des Vergangenen gesellen sich aber auch Stimmen, die das genaue Gegenteil beschwören – die Überfülle und Aufdringlichkeit des Überlieferten. So gilt ein Jahrhundert nach Winckelmann die Aufmerksamkeit Nietzsches bekanntlich nicht dem Mangel an erhaltenen Zeugnissen, sondern ihrem Überschuss, dem Insistieren einer Vergangenheit, die nicht verschwinden will. Denn das Vergangene, so die Einsicht Nietzsches, muss nicht erst gesucht, heraufbeschworen, aus seinen Trümmern rekonstruiert werden: es erscheint auch ungefragt und behelligt die Gegenwart als Gespenst. «Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder, und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks.»[7] Während Winckelmann und Goethe die Erfahrung machen, dass Vergangenes sich zusehends entfernt, erinnert Nietzsche an die ebenso zutreffende Wahrheit, dass man es nicht loswird. Das Wasser – bei Winckelmann Inbegriff des Fluiden, dem keine dauerhafte Spur sich einprägen lässt – erscheint nun als Quelle maßloser Überflutung. «Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von Neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhanglose drängt sich, das Gedächtnis öffnet alle seine Thore und ist doch nicht weit genug geöffnet […].»[8]

Zugleich erinnert Nietzsche daran, dass der Überschuss an Vergangenem kein Schicksal ist, das die Gegenwart tatenlos zu erdulden hätte – im Akt des Historisierens wird dieser Überschuss bewusst herbeigeführt und in Gang gehalten. Dem Leben droht die Gefahr, «an der ‹Historie› zugrunde zu gehen». Dagegen hilft nach Nietzsche nur die «Kunst und Kraft vergessen zu können».[9]

Weitere einhundert Jahre später weiß auch die Systemtheorie von der «Gefahr der Geschichte» für die Gegenwart: «[…] die Vergangenheit überströmt geradezu die Gegenwart, um ihr zu bestreiten, dass sie sein muss, wie sie ist.»[10] Und wie Nietzsche so erinnert auch Niklas Luhmann daran, dass dieser Überschuss nicht alleine durch stetige Ansammlung historischer Bestände von selbst entsteht, sondern auch bewusst herbeigeführt und kultiviert wird. Geschichte wird «restauriert, gepflegt, erhalten und gegen den ihr bestimmten Untergang verteidigt».[11] Damit dient sie, so der systemtheoretische Befund, der Gegenwart als «Kontingenzbeweis»: im Wissen, dass alles auch anders sein könnte – und früher tatsächlich auch anders war – relativiert die Gegenwart ihrer eigenen Geltungsansprüche.

Zu wenig – zu viel, Versiegen der Quellen – antiquarischer Exzess. Mit diesen Beschreibungen sind nur die Extreme historischer Rekonstruktionsarbeit angesprochen. In der Regel haben die historischen Wissenschaften es mit Quellen, Artefakten, Relikten zu tun, die weder spurlos im Unentzifferbaren zu verschwinden drohen noch die Gegenwart als maßloser Überschuss überfluten. Auch sollten die zitierten Stimmen vom achtzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert nicht den Eindruck erwecken, dass hier zwei Extreme historischer Rekonstruktion einander zeitlich abgelöst oder einander kategorisch ausgeschlossen hätten – also etwa einem Zeitalter des Verlusts eine spätere Epoche des Überschusses gefolgt sei. Von den Leerstellen der Überlieferung weiß man auch im neunzehnten, zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert. Umgekehrt kennt auch bereits das achtzehnte Jahrhundert die Klage über ein Zuviel an Erhaltenem – wie in Herders Lamento über den Verlust so vieler Denkmale des Altertums, in das sich unüberhörbar auch die Erleichterung mischt, dass nicht alles sich erhalten hat: «Es ist traurig und ewig unersetzlich, aber vielleicht gut, daß die Barbaren viel von ihnen zerstört haben. Die Menge könnte uns irre machen und unterdrücken […].»[12] Schon Herder kennt die ambivalente Erfahrung einer Nachwelt, in der beklagenswerter Verlust und Penetranz des Vergangenen ineinandergreifen.[13]

So oszillieren die meisten Verfahren historischer Rekonstruktion zwischen Vergegenwärtigung und Entzug: sie arbeiten an der Aneignung des Vergangenen und verarbeiten zugleich die Erfahrung seiner Unverfügbarkeit. Das gilt jedenfalls für die Techniken und Verfahren, von denen dieses Buch handelt – Versuchen zur Wiederherstellung des Vergangenen im Bild. Auch wenn die Sprache traditionell als Leitmedium des Historischen gilt, beruht unsere Vorstellung des Vergangenen maßgeblich auch auf Bildern – Historiengemälden, Fotografien, Filmen, seit neuestem zudem digitalen Animationen. Die genannten Aporien gelten auch hier. Die Geschichte, schreibt Roland Barthes in seinen Bemerkungen zur Fotografie, ist «hysterisch: sie nimmt erst Gestalt an, wenn man sie betrachtet – und um sie zu betrachten, muß man davon ausgeschlossen sein.»[14] Wie also sind die bildnerischen Verfahren beschaffen, mit denen man der Geschichte nachträglich Gestalt verleiht? Was macht die Bilder, Spuren und Aufzeichnungen, die eine Zeit ihrer Nachwelt hinterlassen hat, im Rückblick zu visuellen Zeugnissen?

Nicht zufällig haben Historiker ihre Tätigkeit immer wieder mit Metaphern aus dem Bereich des Visuellen beschrieben. So vergleicht Marc Bloch in seiner Apologie der Geschichtswissenschaft die Arbeit des Historikers mit der Rekonstruktion eines nur lückenhaft überlieferten Films: «Von dem Film, den er sieht, ist […] nur das letzte Bild vollständig erhalten geblieben. Um nun die anderen, die zerstört sind, rekonstruieren zu können, muß er die Spule zunächst einmal zurücklaufen lassen.»[15] Reinhart Koselleck wählt zur Beschreibung vergangener «Erfahrungsräume» ein ganz anderes Bild. Es erinnert daran, dass im Erfassen von Geschichte «viele Schichten früherer Zeiten zugleich präsent sind, ohne über deren Vorher und Nachher Auskunft zu geben»: «Chronologisch macht alle Erfahrung Sprünge über die Zeiten hinweg, sie ist keine Kontinuitätsstifterin im Sinne additiver Aufbereitung der Vergangenheit. Eher ist sie – um ein Bild von Christian Meier zu benutzen – dem Glasauge einer Waschmaschine zu vergleichen, hinter dem dann und wann dieses oder jenes bunte Stück der Wäsche erscheint, die allesamt im Bottich enthalten ist.»[16]

Blochs Bild der Geschichte als Film vermittelt eine recht zuversichtliche Vorstellung von der Wiederherstellbarkeit des Vergangenen. Sie setzt voraus, dass es eine kontinuierliche, nicht abreißende Kette überlieferter Bilder und Ereignisse gibt. Zwar sind diese Bilder zum Teil «zerstört», und der Historiker sieht in seiner eigenen Zeit immer nur «das letzte Bild» der Reihe. Doch hängt dieses kontinuierlich mit allen vorangegangenen Bildern der Geschichte zusammen, und die Spule des Projektors lässt sich offenbar in linearer Chronologie bis zum Ursprung der Ereignisse zurückdrehen. Das Koselleck/Meiersche Glasauge der Geschichte hingegen lässt eine solche lineare Erzählung der Vergangenheit nicht zu. In seinem Rund sind wechselnde Konstellationen historischer Schichten zu sehen, je nachdem, was das gewählte historische Programm jeweils aktualisiert und ins Sichtfeld befördert. Zugleich verschwinden andere Konstellationen, Ereignisse und Artefakte in der Tiefe des historischen Reservoirs – was sich zeigt, ist ein unvollständiges, für Momente stillgestelltes Bild.

Das vorliegende Buch folgt dieser zweiten Auffassung – dem Verständnis historischer Rekonstruktion als einer Arbeit am Diskontinuierlichen, einer Verschränkung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Vergegenwärtigung und Entzug. Dabei geht die Darstellung über metaphorische Anleihen beim Bild hinaus, denn untersucht werden im Folgenden Verfahren der Rekonstruktion, die im Medium des Bildes vom Vergangenen handeln. Das schließt Bezüge zu Text und Sprache nicht aus. Im Gegenteil: Visuelle Evidenz bedarf zumeist der zusätzlichen Vermittlung durch Sprache.

Chronologisch folgt die Darstellung den sehr unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Bildes in den Medien Malerei, Fotografie und Film. Jede dieser Techniken verfügt über eigene Möglichkeiten historischer Repräsentation, jede besitzt ihre eigenen Grenzen der Darstellbarkeit. Die Aufgabe, einer Gesellschaft Bilder ihrer eigenen Vergangenheit zu liefern, fiel lange Zeit der klassischen Historienmalerei zu. Die Geschichte erschien dabei meist so, wie die Nachwelt sie sich – als Idealfall und passende Vorgeschichte zur eigenen Größe – wünschte. «Geschichte wird hier nicht verfolgt zur historischen Verortung eines Ereignisses, sondern zu dessen Überhöhung und damit verbunden zu dessen Entzeitlichung.»[17] Die Historienbilder des neunzehnten Jahrhunderts standen bereits im Zeichen der Auflösung dieser klassischen Bildsprachen: Allegorien des Heldentums vermochten im Zeitalter des Historismus nicht mehr zu überzeugen.[18] Die neuen Verfahren der Historienmalerei, so Ulrich Keller, binden «die Darstellung von ‹Wahrheit› an besondere Formen des ‹Authentischen›.» Repräsentationen vergangener Ereignisse haben jetzt «wenig Aussicht auf Beglaubigung, wenn sie nicht durch sozial autorisierte Kanäle abgesichert sind und auf unmittelbarer Augenzeugenschaft und unanfechtbaren Verfahren der Dokumentation beruhen.»[19] Man sucht das Vergangene in der künstlerischen Aneignung der ‹Sachen selbst› – in der minutiösen Wiedergabe nebensächlicher Details, der Präsentation der Akteure im historisch korrekten Kostüm, der malerischen Mimikry fotografischer Verfahren, der Suche nach historischer Aura an den Schauplätzen des Gewesenen. Diesen Verfahren der Authentifizierung sind die ersten beiden Kapitel gewidmet – Kapitel 1 beschreibt die ‹Wirklichkeitseffekte› der Historienmalerei am Beispiel Ernest Meissoniers, Kapitel 2 das Medium des Panoramas mit seiner Utopie der Geschichte als begehbarem Illusionsraum.

Gleichzeitig eröffnet die Fotografie eine andere Möglichkeit, über die Zeit zu verfügen – ihre Aufzeichnung im stillgestellten Bild. In ihm, schreibt Walter Benjamin, «begegnet man etwas Neuem und Sonderbaren»: «Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat.»[20] Dass diese Wirklichkeit immer schon eine vergangene ist, begründet die besondere Affinität der Fotografie zur Geschichte. Im Anblick alter Fotos kehren Menschen und Dinge nicht zurück, aber das Bild hält fest, dass es sie einmal gegeben hat. Die Fotografie, so beschreibt Siegried Kracauer diesen Zusammenhalt von Wirklichkeit und Vergangenheit, «faßt den Restbestand, den die Geschichte abgeschieden hat».[21] Von dieser Form visueller Zeugenschaft, den Bedingungen und Grenzen ihrer Evidenz, handelt das dritte Kapitel. Ausgangspunkte sind auch hier konkrete Betrachtungen einzelner Bilder: Aufnahmen des historischen Jerusalem, die an den verlassenen Schauplätzen der Geschichte aufgenommen wurden, eine Fotografie des Jahres 1914, die erst im historischen Rückblick als historisches Dokument erkennbar wird, das letzte Bild des Kriegsfotografen Robert Capa, die Fotografien der Wehrmachtsausstellung von 1995 und die Debatten zur Zeugenschaft des Bildes. Diese Bilder der Vergangenheit sind zugleich auch Bilder aus der Vergangenheit: Sie erreichen uns als physische Reste, Artefakte, denen die Signatur ihrer Zeit als historische Patina anzusehen ist – im charakteristischen Schwarz-Weiß der Bilder, oftmals ihrer Unschärfe und technischen ‹Unzulänglichkeit›. Für die Bestimmung der Geschichtlichkeit fotografischer Bilder ist es entscheidend, dass sie Vergangenes fixieren, zugleich aber ihrerseits Objekte in der Zeit sind – «Bruchstücke des Nachlebens», «Fetzen», die der Zeit «entrissen» wurden (Georges Didi-Huberman).[22]

Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts fügt der Film diesem Reservoir der Bilder eine entscheidende Neuerung hinzu – die Möglichkeit ihrer Re-Animation. «Bereits in den verschiedenen Namen der Erfindung», schreibt Thomas Elsaesser, «steckte ein fast metaphysisches Versprechen.»[23] Die Patente trugen Namen wie «Bioscop», «Biograph», «Vitamotograph» oder «Animatograph». Wo das fotografische Bild seine Zeugenschaft gerade aus der Stillstellung des Gezeigten bezog, gibt der der Film das Versprechen auf seine Wiederholung. «Eine spätere Zeit», notiert Fritz Lang 1924, «wird es leichter haben, unser chaotisches Zeitalter, wenn es längst zu einer Formel erstarrt sein wird, studienhalber neu vor sich aufleben zu lassen. Sie öffnet eine Büchse mit kondensiertem Leben, indem sie einen Film vor sich abrollen läßt. Da ist ein Stück Geschichte von ehemals.»[24] Langs Vision einer zukünftigen Lesbarkeit der eigenen Zeit im Film ist hinzuzufügen, dass ein Filmfragment für sich genommen noch kein «Stück Geschichte» darstellt. Eher ist es visuelles Rohmaterial, das, in eine andere Zeit versetzt, durch Montage und Kommentar erst zum Dokument gemacht werden muss. Kein Bild ist aus sich selbst heraus evident. Und doch betont Lang zu Recht, dass der Film ein Bild der Zeit als Konserve zurückbehält. Es ist die «unhintergehbare physikalische Aufzeichnungsfunktion der Kamera, die jedes Stück Film zu einem Stück der Vergangenheit werden läßt, das als Subtext noch im fiction-Film mitläuft», so Gertrud Koch. «Mode, Alltagsdesign, Reklamewelten, tausende bedeutsame Zeichen lassen sich finden, die von der Kamera mitgezogen werden, ohne intendiert zu sein.»[25] Kracauer spricht vom Potenzial der Kamera «als Lumpensammler zu fungieren».[26] Hier taucht – im Bereich der Bilder – eine Metapher auf, die später auch Michel de Certeau in seiner Beschreibung der Tätigkeit des Historikers verwenden wird: sein Gegenstand als eine «Welt, deren Reste ich inventarisierte», die Rede von den «Resten, Abfällen und Manuskripten», die «in den Mülleimern der Geschichte» lagern.[27] Kracauer hat die Liaison von Geschichtsschreibung und Film immer wieder betont und sie zum Ausgangspunkt seines letzten Buchs gemacht. «Kein Wunder», heißt es darin, «daß die Kamera-Wirklichkeit eine Parallele in der historischen Wirklichkeit hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer allgemeinen Verfassung hat.»[28] Über rein metaphorische Analogien hinaus beschreibt diese Parallele eine strukturelle Verwandtschaft: Kinematographie als eine Form der Geschichtsschreibung. Von ihr handelt das vierte Kapitel. Sein Hauptaugenmerk gilt Filmen, denen zur Zeit ihrer Entstehung eine Zeugnisfunktion zugesprochen wurde bzw. in denen man diese Funktion nachträglich gesucht und gefunden hat – eine Kamerafahrt durch das San Francisco des Jahres 1906, vier Tage bevor ein Erdbeben das Gezeigte zerstörte; Aufnahmen von der Landung der Alliierten in der Normandie und ihre Wiederkehr im historischen Spielfilm Overlord; ein Film aus dem niederländischen Durchgangslager Westerbork und seine Remontage durch den Filmemacher Harun Farocki im Jahr 2008.

Langs Metapher der Filmrolle als «Büchse», deren Inhalt erst nach einer Zeit der Latenz zur Sichtbarkeit gelangt, lässt an das Wiederauftauchen archäologischer Fundstücke denken. Tatsächlich sind überlieferte Filme – wie auch Fotografien – nicht nur Darstellungen des Vergangenen, sie sind auch physische Reste dieser Vergangenheit, Hinterlassenschaften, denen die Signatur ihrer Zeit anzusehen ist. Ist die Vorstellung des Bildes als Überrest, Spur und Hinterlassenschaft aber nicht hinfällig geworden? Sind die Artefakte des analogen Zeitalters für uns nicht längst zu Fossilien geworden, ihre Indexikalität zum Fetisch einer medienvergessenen Nostalgie? Die Digitalisierung, so eine der Thesen dieses Buches, hat die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert etablierten Verfahren der Authentifizierung nicht zum Verschwinden gebracht – sie hat sie sich einverleibt und transformiert. Die Formate und Techniken haben sich geändert, aber der Anspruch, ein wahres Bild des Gewesenen zu zeigen, wird auch unter den veränderten Bedingungen nicht aufgegeben – wenn etwa die Autoren eines digital nachkolorierten Remakes historischer Filmaufnahmen des Zweiten Weltkriegs ihren Zuschauern «100 % Archiv» in Aussicht stellen und zeigen wollen, ‹wie es wirklich gewesen ist›.[29] Den Fluchtpunkt des Buches bilden daher aktuelle Verfahren der Rekonstruktion, die das historische Archiv der Bilder einer neuen Erlebbarkeit erschließen wollen, zugleich aber am Anspruch auf unbedingte Faktentreue festhalten.

Die Leserinnen und Leser werden bemerken, dass die Darstellung gegen Ende normative Züge annimmt. Das markiert weder einen Bruch noch geschieht es ungewollt. Was Jahrhunderte zurückliegt, zeigt sich in zunehmender Entfernung, ist nicht mehr zu ändern und bietet insofern auch weniger Anlass zur Kritik. Je näher die Darstellung der eigenen Gegenwart kommt, umso eher bietet sie die Möglichkeit, die Phänomene nicht nur nachträglich zu beschreiben, sondern sie auch zu kommentieren. Heute zeigt sich in vielen Bereichen historischer Rekonstruktion ein Ideal der Reanimation, ein Versprechen auf unmittelbare Erlebbarkeit der Geschichte. Die Skepsis gegenüber dieser Form des Distanzverlusts ist eine der Motivationen dieses Buches.

Indem der Text einen Bogen von der Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts über Fotografie und Film bis hin zu digitalen Verfahren der Reanimation spannt, umfasst er ein Spektrum sehr unterschiedlicher Formen des Umgangs mit Geschichte. Die Zusammenschau wird zeigen, dass diese diversen Formen – von der um äußerste Sachlichkeit bemühten Rekonstruktion einer historischen Uniform bis hin zu Formen des Reenactment und der Einfühlung – kaum je isoliert und in Reinform, sondern miteinander verschränkt und in oftmals überraschenden Mischformen in Erscheinung treten: Auch die scheinbar sich selbst genügende fotografische oder filmische Aufzeichnung bedarf der Imagination, um zum historischen Zeugnis zu werden. Aber auch umgekehrt: noch die äußerste Form der Theatralisierung von Geschichte setzt in der Regel darauf, dem Spektakel einen Halt im Realen zu sichern.

Es versteht sich von selbst, dass dieses Buch keine lückenlose Chronologie sämtlicher Verfahren visueller Repräsentation von Geschichte bieten kann. Deren Eigenart und Zusammenwirken soll vielmehr exemplarisch, d.h. in einem Tableau von Fallstudien zur Darstellung kommen. Dieses Vorgehen schließt eine Reihe von Abstraktionen ein. Wer von der Lektüre eine neue Deutung historischer Ereignisse durch bildliche Quellen erwartet, wird diese hier nicht finden. Es geht nicht um eine Neuinterpretation der militärischen Interventionen Napoleons, des Krimkriegs oder der Landung der Alliierten in der Normandie. Nicht als Quellen zum besseren Verständnis historischer Ereignisse kommen Bilder hier in Betracht, sondern als eigenständige Erscheinungsformen des Historischen. Darin unterscheiden sich die folgenden Überlegungen in weiten Teilen von den einschlägigen Forschungen zum Bild als «historischer Quelle».[30] Als Referenz gilt den Autorinnen und Autoren dieser Studien in der Regel eine historische Wirklichkeit, die vor den Bildern existiert und sich in diesen spiegelt – sei es als Quelle der Information, sei es als «verzerrender Spiegel» (Peter Burke) und Artikulation von Mentalitäten oder Ideologien.[31] Im Folgenden hingegen geht es nicht um den Versuch, den Schleier beiseitezuziehen, um den Blick auf eine unverstellte Wahrheit hinter den Bildern zu eröffnen. Bilder sind ein Teil dieser Wahrheit, Bestandteil dessen, was sich im Rückblick als Geschichte zeigt. Dabei erweist schon ein flüchtiges Durchblättern der Illustrationen, dass die vier Kapitel dieses Buches äußerst heterogenes Bildmaterial behandeln. Es war nicht meine Absicht, durch das Nacheinander dieser sehr verschiedenen Bilder eine Verwandtschaft der Themen zu suggerieren. Was die Auswahl, so die Hoffnung, zusammenhält, ist die durchgehende systematische Frage nach dem Verhältnis von Aneignung und Entzug, die in den einzelnen Kapiteln jeweils neu ansetzt. Insofern ist das Leitbild dieses Buches nicht die lineare und chronologische Erzählung, eher die mosaikartige Zusammenschau eines Kaleidoskops.

«Geschichte», so hat Ulrich Raulff geschrieben, «ist ihrer kürzesten Definition nach das, womit wir nicht fertig werden.»[32] Daraus folgt nicht, dass es eine Bestimmung der Geschichte gibt, die erst noch gefunden werden muss, ebenso wenig, dass die Vergangenheit noch immer ‹lebendig› ist. «Womit wir nicht fertig werden» ist eine Vergangenheit, die in ihren Relikten – und dazu gehören maßgeblich auch Bilder – Unruhe erzeugt.

1.Kapitel

Meissonier und das «Dagewesensein der Dinge»

1. Detail, Abfall, Spur

Im Mai 1898 berichtet der französische Schriftsteller Charles Yriarte von einer Begegnung mit dem Historienmaler Ernest Meissonier, die ihm aufgrund eines eigentümlichen Details in Erinnerung geblieben ist: «Eines Tages besuchte ich den Maler Heilbuth in Paris, als Meissonier hinzukam. Unter dem Arm trug er, wie ein Schneider, ein großes Bündel Stoff. Als ich meine Verwunderung darüber äußerte, gab Meissonier ruhig zur Antwort: ‹Das ist die Uniform von Marshall Ney. Sie passt nicht, und ich bringe sie zu Monsieur Sombret, meinem Schneider, um sie ändern zu lassen.› Aus der Ernsthaftigkeit dieser Antwort hätte man schließen können, dass der Marshall noch am Leben war und in Poissy auf den Maler wartete, um die begonnene Porträtsitzung fortzusetzen, sobald man die Uniform geändert hätte.»[1] Tatsächlich jedoch war der Marschall, dessen Uniform Meissonier zum Schneider trug, zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahrhundert nicht mehr unter den Lebenden. Im Dezember 1815, dem Geburtsjahr des Künstlers, hatte man Ney, der Napoleon zuletzt noch in der Schlacht von Waterloo begleitet hatte, wegen Hochverrats verurteilt und im Jardin du Luxembourg erschossen. Meissoniers Interesse an der Uniform des Marshalls stand in Zusammenhang mit dem Gemälde, an dem er in jenen Jahren arbeitete – 1814, Der Feldzug in Frankreich (Abb. 1). Das Bild zeigt Napoleons Rückzug in Frankreich, nachdem die alliierten Gegner – Russland und Preußen – im März 1814 ihren Vormarsch in Richtung Paris fortsetzten und Napoleon nach der verlorenen Schlacht von Laon den Rückweg nach Soissons angetreten hatte. Eine Episode, die im historischen Rückblick als Vorzeichen der baldigen Abdankung des Kaisers erschien.

Dass Meissonier hier eine Militäraktion ins Bild setzte, die bereits ein halbes Jahrhundert zurücklag, war keineswegs ungewöhnlich. Seit dem Staatsstreich Louis Napoleons im Dezember 1851 erinnerte man gerne an die Erfolge Napoleons, um sich der eigenen Legitimation zu versichern. Längst war der Geburtstag des Kaisers wieder zum Nationalfeiertag erklärt worden, und Napoleon war fester Bestandteil der Ikonographie des Zweiten Kaiserreichs. An den Wänden des Kaisersaals im Pariser Rathaus etwa hatte Jean-Auguste-Dominique Ingres eine Apotheose Napoleons I. inszeniert und auf dem Thron, den der in einer Quadriga zum Himmel auffahrende Kaiser leer zurückgelassen hatte, die Inschrift angebracht: In nepote redivivus («Im Neffen ist er auferstanden»).

Bei Meissonier ist von einer solchen Glorifizierung wenig zu erkennen. Das Bild irritiert durch «das Fehlen von Akzenten, von Zeichen, Symbolen und starken Farben».[2] Mit versteinerter Miene, gefolgt von seinen Marschällen und Generälen, durchquert Napoleon das unwirtliche Gelände im Umland von Paris. Die vor dem grau verhangenen Himmel freigestellte Silhouette lässt ihn als einzige Person im Bild klar konturiert hervortreten. Braun, Grau und Schwarz bestimmen die Komposition, einzig von dem Pferd des Kaisers, das, wie der Kritiker Thoré bemerkt, wie mit Milch gemalt erscheint,[3] geht eine auffällige Helligkeit aus, die aus dem Körper des Tieres selbst zu kommen scheint. Hinter Napoleon reitet der bereits erwähnte Marshall Ney, eingehüllt in seinen braunen Mantel (von diesem wird noch die Rede sein), daneben die Generäle Louis Berthier und Antoine Drouot.

Von einem Historienbild, das den letzten Feldzug des Kaisers vor seiner Abdankung im April 1814 zeigt, hätte man einen höheren dramaturgischen Einsatz erwarten können. Meissonier reduziert das historische Ereignis auf das bloße Voranschreiten der Grande Armee im schmutzigen Schnee und in der Ödnis einer Landschaft, aus der alle Farbigkeit gewichen ist. Der Kaiser führt den Feldzug an, aber die Vorstellung eines historischen Ziels, auf das dieser triste Zug sich zubewegt, ist abhandengekommen. So verwundert es nicht, dass die Interpreten des lakonischen Bildes bis heute Schwierigkeiten haben, das dargestellte Geschehen überhaupt einem spezifischen Zeitpunkt der historischen Ereignisse zuzuordnen. Anders als die Konventionen der Historienmalerei es vorsahen, zeigt Meissonier keinen ‹fruchtbaren Augenblick›, kein exponiertes Ereignis, sondern ein «Bild der allgemeinen Situation Napoleons des I. im Jahr 1814 wie auf dem Frontispiz eines detaillierten Berichts».[4] Die Aufmerksamkeit des Betrachters – weder durch erzählerische Dramaturgie noch durch eine dynamische Bildkomposition in Anspruch genommen – verharrt bei den Oberflächen der Dinge. Meissonier ist hier einmal mehr seinem Ruf gerecht geworden, seine Kunst auf die Schilderung scheinbar nebensächlicher Details zu gründen. Ein im Schnee zurückgebliebener Helm (Abb. 2), der metallene Glanz eines Steigbügels, die hervortretenden Adern des weißen Pferdes oder die Falten im grauen Mantel des Kaisers werden mit der gleichen Aufmerksamkeit registriert wie die Physiognomie der historischen Akteure. Um die äußere Erscheinung Napoleons historisch korrekt wiedergeben zu können, hatte Meissonier den noch lebenden Kammerdiener des Kaisers in der Pariser Rue de Miromesnil aufgesucht, um sich genaue Informationen über die Garderobe Napoleons zu verschaffen. Nachdem er vom Kammerdiener erfahren hatte, dass Napoleon, um Zeit zu sparen, beim Anlegen des Mantels nicht, wie allgemein üblich, die Schulterklappen seiner Uniform abnahm, sondern den Mantel direkt über die Schulterklappen warf, korrigierte Meissonier die bereits ausgeführte Gestalt Napoleons.

Abb.2  
1814, Der Feldzug in Frankreich, Detail

1807, Friedland, Meissoniers berühmtestes Historienbild (Abb. 3), scheint auf den ersten Blick eine sehr viel dramatischere Schilderung des Krieges zu geben. Bis zu seinem Verkauf an den amerikanischen Kunstsammler Alexander T. Stewart 1875 hatte Meissonier über vierzehn Jahre lang an dem Gemälde gearbeitet. Selbst nachdem es auf der Weltausstellung in Wien bereits zu sehen gewesen war, hielt Meissonier es zwei weitere Jahre in seinem Atelier zurück, um immer wieder einzelne Partien zu übermalen und auszubessern. Im Gegensatz zu 1814 ist hier ein äußerst spannungsgeladener Moment der Schlacht in Szene gesetzt. Bei genauerer Betrachtung vermittelt aber auch dieses Gemälde einen Eindruck von Statik und erzählerischem Stillstand. Drei Gruppen dominieren das Bild. Auf einer leichten Anhöhe erblickt man den Kaiser umgeben von seinen Generälen. Napoleon hat seinen Hut abgenommen und hält ihn seinen Soldaten zum Gruß in die Höhe. Wie um dieser Geste zu antworten, prescht im Vordergrund eine geschlossene Formation von Kürassieren mit erhobenen Säbeln vorwärts. Ihnen gegenüber erscheinen am linken Bildrand vier Offiziere in roter Uniform, die sich dem rasenden Zug der Kürassiere jedoch nicht einreihen, sondern ihren Weg aus der Tiefe heraus fortsetzen und sich gemächlich nach vorne bewegen. Meissonier hätte den erhobenen Hut des Kaisers zum kompositorischen und dramaturgischen Angelpunkt einer dynamischen Komposition machen können. Gemessen am beinahe karikaturhaft übersteigerten Pathos der Kürassiere wirkt die Geste des bewegungslos im Sattel sitzenden Kaisers jedoch eigentümlich statisch, geradezu apathisch, wie abgerückt vom Geschehen im Bildvordergrund: Der in die Höhe gehaltene Hut bildet einen schwarzen Pfeil, der aber keine Richtung vorgibt, sondern stumm in die Weite des ereignislosen Himmels zeigt. Nimmt man noch die Gruppe der Offiziere am linken Bildrand hinzu, zerfällt der kompositorische Gesamteindruck vollends. Sie wirken wie ein versprengter Trupp von Akteuren, der seinen Ort im Bild noch nicht gefunden hat. Eine militärstrategische Koordination des Ganzen ist nicht zu erkennen.

Öl/Lwd., 1863-1875, 136,9 x 242,5 cm, The Metropolitain Museum of Art, Geschenk Henry Hilton, New York

Abb.3  
Ernest Meissonier, Friedland, 1861–75, New York, Metropolitan Museum of Art

So offenbart Friedland bei näherer Betrachtung ein unvermitteltes Nebeneinander von Statik und Bewegung, Stillstand und Plötzlichkeit. Ein Detail bringt diesen Gegensatz besonders anschaulich zum Vorschein. Die Figur des Trompeters ist mit größter Präzision gezeichnet. Auf dem Tornister, der am Sattel seines Pferdes fixiert ist, erscheint auf dunklem Grund und durch ein Rechteck gerahmt deutlich lesbar eine Zahl: «12» – vielleicht die Nummer des Regiments, dem der Reiter angehört. Die durch nichts gestörte Lesbarkeit dieser Zahl markiert eine Zone des Stillstands inmitten des Tumults der anbrechenden Schlacht. Das Geschehen wird angehalten, um dem Betrachter in aller Ruhe ein Detail zu lesen zu geben. Die Deutlichkeit, mit der er die «12» auf dem Tornister des Trompeters entziffern kann, aber auch die Geduld, mit der Meissonier sie mit dem Pinsel auf der Leinwand aufgetragen hat, stehen in schroffem Gegensatz zum Anschein ungestümer Bewegung, der dieses Detail umgibt. Das gilt nicht weniger für die acht Silberknöpfe an der vorgestreckten Brust des Reiters, die Falten auf seiner strammen Uniform oder die Existenz des Steigbügels, der einen Schatten auf das glänzende Leder des Reitstiefels wirft. Die Akkumulation dieser Details sowie das Nacheinander ihres schrittweisen Erfassens verlangsamen die Betrachtung.

Kehren wir noch einmal zu 1814 zurück. 1892, im Todesjahr Meissoniers, ruft der Historienmaler Jean Paul Laurens das Gemälde in Erinnerung: «Wer dieses bewegende Bild einmal bewundern konnte, wird es nicht wieder vergessen. Der Gedanke geht einem nicht aus dem Sinn: Genau so muss es sich zugetragen haben. Unter einem grauen Winterhimmel, in einer kahlen Ebene, die bis zum Horizont reicht, bewegt sich eine schwarze Masse von Kavalleristen wie ein langer Begräbniszug auf den Betrachter zu. Niemand sagt ein Wort, man hört nichts als das Platschen im geschmolzenen Schnee. […]. Die Macht, die von diesem meisterhaften Bild ausgeht, zwingt uns, die Malerei zu vergessen, um nichts als die Realität selbst zu sehen; genau so hat es sich zugetragen.»[5] Worin genau besteht die Wirklichkeitstreue, die Laurens dem Gemälde hier so emphatisch zugesteht? «Genau so hat es sich zugetragen» – damit kann offenbar nicht die erzählerisch ambitionierte Durchdringung des historischen Stoffs gemeint sein, vielmehr die um Exaktheit bemühte Wiedergabe aller Personen und Gegenstände, die zum dargestellten Zeitpunkt am Ort des Geschehens gegenwärtig waren. In seinem Erinnerungsbild steigert Laurens den Anschein von Vollständigkeit bis hin zur Imagination akustischer Effekte (das «Platschen im geschmolzenen Schnee»).

Der Hinweis auf Vollständigkeit und Präzision des Dargestellten gehört – in lobender wie in polemischer Absicht – zu den wiederkehrenden Motiven der zeitgenössischen Kommentare zu Meissonier. So bemerkt Georges Barral in seiner Kritik des Salons von 1864: «Welche gelehrte Präzision in jeder Linie! welche Genauigkeit und unvergleichliche Wirklichkeitstreue! Ein anderer Maler hätte Fantasie und Manier walten lassen, aber Monsieur Meissonier ist seiner Natur nach ganz von den Tatsachen bestimmt.» Mit Blick auf das Gemälde Napoleon III. während der Schlacht von Solferino (Abb. 4) fügt Barral voller Bewunderung hinzu: «Monsieur Meissonier hat nichts vergessen. Alles ist da – bis zu dem O-förmigen Ring aus Rauch, den die Explosion einer Kanone für einen Augenblick in die Luft gezeichnet hat. Kein anderer Maler war jemals so gewissenhaft.»[6]

Auch dieses Schlachtenbild besticht durch die völlige Tatenlosigkeit seiner Protagonisten. Unter einem tiefen, wolkenverhangenen Himmel stehen der Kaiser und seine Offiziere nebeneinander aufgereiht und lassen den Blick gemeinsam in die Leere der Landschaft gleiten. Stärker noch als auf 1814 dominiert der völlige Stillstand der Ereignisse die Szene. Der Krieg scheint hier vor allem Gegenstand einer interesselosen ans Apathische grenzenden Kontemplation zu sein. «[…] die gelangweilten Artilleristen scheinen sich eher mit Routineaufgaben zu befassen als sich auf Todesgefahren vorzubereiten.»[7] Die Körper der drei gefallenen Soldaten, die im Vordergrund am Boden liegen, erwecken keinerlei Empathie: Sie werden mit der gleichen, kühl konstatierenden Genauigkeit geschildert wie die geografische Gestalt des Geländes oder der von Barral beschriebene, in der Luft stehende Ring aus Rauch. Die zeitgenössische Kritik hat diese Indifferenz mit Missbilligung zur Kenntnis genommen: «Ein toter Soldat auf dem Schlachtfeld sollte nicht mit demselben Pinsel gemalt werden wie ein Kleid aus Satin», bemerkt Thoré.[8] Erneut wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten so wenig durch erzählerische oder kompositorische Setzungen in Anspruch genommen, dass sie ganz auf die Betrachtung der Oberflächen und Einzelheiten verwiesen ist. Barrals Lob der Vollständigkeit – «Monsieur Meissonier hat nichts vergessen» – beschreibt präzise jene obsessive Berücksichtigung von Details, die man gewöhnlich übersieht, weil man sie als bedeutungslos und überzählig erachtet. Der Betrachter, schreibt Stefanie Muhr, findet sich in der «Rolle des distanzierten Beobachters, der in müden Gesichtern, abgetragenen Uniformen, Steinen und Erdvertiefungen lesen kann.»[9]

Meissoniers Interesse am Nebensächlichen kommt sehr schön in einer Passage seiner Aufzeichnungen zum Ausdruck, die von dem bereits erwähnten Besuch bei Napoleons Kammerdiener (namens Pillardeau) berichtet: «Pillardeau war mir eine wertvolle Hilfe, ich möchte sogar sagen, die wertvollste von allen […] Man kann leicht verstehen, dass, wenn es darum geht, das Zaumzeug eines Pferdes oder die Uniform eines Generals darzustellen, die Details, die sein Diener liefern kann, wie einfältig auch immer sie vorgebracht sein mögen, von ganz anderem Wert sind, als die Details, die der General selbst zu nennen imstande wäre: Der General erinnert sich daran, was er zu diesem Zeitpunkt getan hat, aber in diesem Moment blieb ihm keine Zeit darüber nachzudenken, welche Kleidung er trägt.»[10] Was ein historischer Akteur gedacht, geplant oder getan hat, ist für Meissoniers Auffassung von Geschichte nicht bedeutsamer als die Falten auf der Außenseite seines Mantels. Diese Art von Malerei, so Stefan Germer, zielt auf «eine egalisierende Behandlung sämtlicher dargestellten Personen und Objekte, welche die traditionellen Gattungsunterschiede einebnet: Die Phänomene werden nicht mehr nach einer ihnen inhärenten Bedeutung, sondern einzig nach ihren optisch wahrnehmbaren Qualitäten bewertet.»[11]

Angesichts dieser Tendenz zur Nivellierung von Personen und Dingen, von Haupt- und Nebensachen überrascht es nicht, dass auch auf Meissoniers Gemälde jener Vergleich angewendet wurde, der im neunzehnten Jahrhundert zum festen Repertoire der Kritik am malerischen Realismus gehörte – der Vergleich mit den mechanischen Aufzeichnungsverfahren der Fotografie. So nennt der Kritiker Louis Auray Meissoniers 1814 eine «fotografische Studie», das Bild Napoleons III. in Solferino eine «kolorierte Fotografie».[12] Seit der Frühzeit der Fotografie war es nicht zuletzt die Vielzahl aufgezeichneter Details, die man als spezifisches Merkmal des neuen Mediums empfand. Die Details einer Fotografie, bemerkt der Kritiker Jules Janin bereits 1839, seien «unzählbar».[13] Zwei Jahrzehnte später heißt es: «Und dann ist da eine so erschreckende Fülle von Details, daß wir den gleichen Eindruck einer unendlichen Vielfalt empfangen, wie ihn die Natur selbst hervorbringt. […] alles ist da, jeder Ast, jeder Halm, jede Ritze, so als handele es sich um den Petersdom selbst oder den Gipfel des Montblanc oder die stets bewegte Ruhe des Niagara».[14] Und wie um den Überschuss an registrierten Details auf jeder einzelnen Aufnahme noch einmal neu unter Beweis zu stellen, werden die Kommentatoren nicht müde, die Details immer wieder aufzuzählen: «die kleinsten Unebenheiten des Terrains und der Gebäude […], die kleinsten Kieselsteine am Rand des Flusses und die verschiedenen Grade von Durchsichtigkeit, welche sie dem Wasser mitteilen», «das Runzeln der Stirn, die geringste Falte des Gesichts», der «schuppige Schwanz eines Krokodils, das am Ufer des Flusses liegt», «alle Steine des Pont-Neuf und alle Straßenlaternen des Pont-Neuf und alle Pflastersteine des Pont-Neuf und unter den Pflastersteinen jeden geschwärzten, beschmutzten oder gespaltenen Stein».[15]

Die Fotografie, so heißt es 1874 in einem Lehrbuch des Fotochemikers Hermann Wilhelm Vogel, «zeichnet mit gleicher Deutlichkeit die Hauptsachen wie die Nebensachen. Man sieht ein Conglomerat heller Möbel, und merkt erst bei genauer Betrachtung, dass ein Mann dazwischen steckt, dessen Porträt das Bild sein soll. Man sieht eine gesteppte weisse Blouse, und bemerkt erst nach einiger Zeit, dass auch ein Mädchenkopf darauf sitzt.»[16] In den Augen des Verfassers erzeugt diese Indifferenz der fotografischen Aufzeichnung ein Bild, das statt eines Gewebes aus Haupt- und Nebendingen nurmehr eine bloße Addition von Einzelheiten vorzeigt.

17