Inhaltsverzeichnis


Vorwort
Platons Leben und Werk
Werke:
Tetralogie I
Euthyphron (Über die Frömmigkeit)
Apologie des Sokrates
Kriton
Phaidon (Über die Unsterblichkeit der Seele)
Tetralogie II
Kratylos (Über die Sprachkunde)
Theaitetos (Die Erkenntnistheorie)
Der Sophist
Der Staatsmann (Politikos)
Tetralogie III
Parmenides
Philebos (Verhältnis von Lust, Intelligenz und Gut)
Symposion (Das Gastmahl)
Phaidros (Vom Schönen)
Tetralogie IV
Alkibiades (Der sogenannte Erste)
Alkibiades (Der sogenannte Zweite oder Kleiner Alkibiades)
Hipparchos
Die Nebenbuhler (Anterastai)
Tetralogie V
Theages
Charmides (Die Bedeutung der Besonnenheit)
Laches (Über die Tapferkeit)
Lysis (die Natur der Philia)
Tetralogie VI
Euthydemos
Protagoras (Über die Lehrbarkeit der Tugend)
Gorgias (Rhetorik als Propagandamittel)
Menon
Tetralogie VII
Hippias maior (Das größere Gespräch dieses Namens)
Hippias minor (Das kleinere Gespräch dieses Namens)
Ion
Menexenos (Die Rhetorik der Parodie)
Tetralogie VIII
Kleitophon
Politeia (Der Staat)
Timaios (Über die Natur, Kosmologie und Weltseele)
Kritias (Über Atlantis)
Tetralogie IX
Minos
Nomoi (Gesetze)
Epinomis
Briefe
Platon

PLATON - Gesammelte Werke

Apologie des Sokrates + Der Staat - Politeia + Das Gastmahl + Alkibiades + Phaidros + Timaios + Kritias + Menon + Kriton + Hippias + Theages + Der Sophist + Protagoras + Die Briefe und viel mehr
Übersetzer: Friedrich Schleiermacher, Franz Susemihl, Wilhelm Wiegand und Wilhelm Siegmund Teuffel
e-artnow, 2022
Contact: info@e-artnow.org

EAN: 4066338120939

Lysis
(die Natur der Philia)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Eine ziemlich unverbürgte Sage, indem Diogenes uns seinen Gewährsmann nicht nennt, macht dieses Gespräch zu einem der frühesten, das heißt wenigstens noch vor dem Tode des Sokrates geschriebenen. Leicht könnte ihr indes mehr Beweiskraft zukommen als der ähnlichen über den »Phaidros«; da diese nur innere Gründe anführt, und also einen Ursprung aus kritischer Mutmaßung verrät, jene aber doch sich auf die Überlieferung einer Tatsache gründet, nämlich auf den verwundernden Ausruf des Sokrates wie er sich in der Darstellung des Platon erblickte. Indes ist ein solches kaum den Namen verdienendes Zeugnis auch hier nicht der Grund, auf welchen dem Gespräch seine Stelle angewiesen wird, sondern der Zusammenhang entscheidet hinlänglich dafür, wenn auch nicht durch geschichtliche Beziehungen unterstützt. Seinem Inhalt nach ist nämlich der »Lysis« unter allen Gesprächen des Platon nur mit dem »Phaidros« und dem »Gastmahl« verwandt, indem die Frage über das Wesen und den Grund der Freundschaft und Liebe, welche seinen ganzen Inhalt ausmacht, zugleich des »Phaidros« zweiter der Form nach untergeordneter Gegenstand ist, im »Gastmahl« aber der der Form nach herrschende und erste. Offenbar möchte es indes nicht leicht Jemanden beigehen den »Lysis« hinter das »Gastmahl« zu stellen, da in letzterem die Sache nicht nur gradezu und bis auf den letzten Strich entschieden, sondern auch in den größten und allgemeinsten Beziehungen betrachtet wird. So daß dialektische Züge, wie die aus welchen der »Lysis« besteht, kaum eine Verzierung an jener Darstellung bilden könnten, sie aber gar nach derselben als ein eignes Ganzes auszuarbeiten eben so unkünstlerisch als zwecklos gewesen wäre, weil Jeder zu jeder hier aufgeworfenen Frage die Lösung schon in jenem Werke vor sich hatte. Und eine leere dialektische Übung, zumal eine so leichte, wie dieses Gespräch dann sein würde, kann dem vollendeteren Meister der späteren Zeit nicht beigelegt werden. Zunächst also wäre nur zu untersuchen, ob »Lysis« vor oder nach dem »Phaidros« zu setzen sei. Dieser letztere freilich redet ebenfalls entscheidend über jene Hauptfrage, indem er einen Grund der Liebe und eine Erklärung derselben ausführlich entwickelt; so daß leicht in Beziehung hierauf Jemand glauben könnte, es würde, eben so wie beim »Gastmahl,« den angenommenen Grundsätzen zuwider sein, auch jenes Gespräch dem »Lysis« voranzustellen, als welcher ja denselben Gegenstand nur skeptisch behandle. Allein der große Unterschied kann denen, welche das »Gastmahl« des Platon kennen, von selbst nicht entgehn; auch Andern aber ist er ohne voreilende Hinsicht auf jenes spätere Gespräch gewiß einleuchtend zu machen. Denn die Meinung über die Ursache der Liebe wird im »Phaidros« nur mythisch vorgetragen, und auf diese Art eine Frage entscheiden wollen, die schon früher in das Gebiet der Dialektik gezogen war, dies wäre nicht nur der anerkanntesten Analogie aus den Platonischen Schriften zuwider und jeder Idee von der Philosophie ihres Urhebers, sondern auch an sich ein frevelhaftes und vergebliches Unternehmen; weil Jeder, der das Mythische wieder auf den dialektischen Boden, wo ja die Untersuchung angefangen, zurückziehen wollte, es auch wieder vieldeutig machen könnte und ungewiß. Wozu noch dieses kommt, welches vielleicht für Viele entscheidender ist. Im »Phaidros« nämlich wird die Sache weit weniger allgemein behandelt, indem es doch noch andere Freundschaften gibt als jene ganz philosophische, welche dort der Gegenstand der Darstellung ist, oder jene ganz sinnliche von welcher die Veranlassung genommen wird; wo aber diese andern abweichen oder wiefern die Auflösung sich auf sie übertragen läßt, nirgend angedeutet wird. Dagegen im »Lysis« ganz allgemein von der Freundschaft überhaupt die Rede ist; und eine so ganz allgemein angefangene und noch zu keiner entscheidenden Antwort gelangte Untersuchung durch eine mythische Darstellung, und zwar die nur einen Teil des Gegenstandes betrifft, weiter führen und beendigen wollen, dieses ist soviel Ungereimtheit, als man nur einem gedankenlos in den Tag hinein arbeitenden Schriftsteller zuschreiben kann, wie Platon wohl am wenigsten gewesen ist. Keinesweges also ist der »Phaidros« anzusehen als aus dem »Lysis« hervorgewachsen, wie auch jener Jedem lächerlich scheinen müßte, der ihn so lesen wollte, mit dem zurückgebliebenen Verlangen, die dialektischen Zweifel des »Lysis« zu lösen; sondern offenbar steht dieser zwischen jenem und dem »Gastmahl«. Worauf nun weiter gefragt werden kann, welchem von beiden er näher stehe, ob er anzusehen sei als ein Nachtrag zum »Phaidros« oder als eine anregende Vorbereitung zum »Gastmahl«. Dem letzteren zwar nähert er sich durch die allgemeinere und vielseitigere Behandlung: allein anderer Gründe nicht zu gedenken, die erst bei Betrachtung des »Gastmahls« völlig können verstanden werden: so fehlt im »Lysis« so ganz jede Spur von dem was Platon zwischen dem »Phaidros« und dem »Gastmahle« geschrieben hat, und er ist so ganz aus dem »Phaidros« und sich selbst zu verstehen, daß er unstreitig den nächsten Platz nach diesem einnimmt, und fast nur als ein Nachtrag oder als eine erweiternde dialektische Erläuterung desselben anzusehen ist. Was nämlich im »Phaidros« mythisch vorgetragen wird, daß die Liebe sich gründe auf die Identität des Ideals zweier Menschen, dieses wird hier dialektisch aber indirekt und in einem weiteren Sinn erwiesen. Letzteres, indem doch der Begriff des Angehörigen und Verwandten mehr befaßt als die Identität des Ideals; und zwar ist er im »Lysis« so unbestimmt angedeutet, daß er nur durch Zurücksehn auf den »Phaidros« leicht kann verstanden werden. Ersteres, indem alle andern Behauptungen in Widersprüche ausgehn. Denn daß dieses auch der letzten und eigentlich vom Platon beschützten ebenfalls begegne, ist nur scheinbar. Vielmehr ist die Art, wie die Zweifel gegen den früheren Satz, daß Ähnlichkeit die Freundschaft begründe, auch auf diese angewendet werden, als der Schlüssel des Ganzen anzusehn, welcher es auch Jedem, der die Andeutungen des »Phaidros« im Sinne hat, gewiß aufschließt. Nämlich das Ähnliche ist nur dann dem Ähnlichen unnütz, wenn Jeder sich auf seine äußere Persönlichkeit und auf das Interesse seiner Sinnlichkeit einschränkt, nicht aber dem der an dem Bewußtsein eines in Mehreren und für Mehrere zugleich möglichen Geistigen ein Interesse nehmend sein Dasein über jene Schranken hinaus erweitert; wodurch überall erst einem Jeden ein Ähnliches und Verwandtes entsteht, das nicht im Streit ist mit seinen eignen Bestrebungen. Ähnliche Winke liegen auch in den ähnlichen skeptisch aufgestellten Sätzen von der Unnützlichkeit des Guten, sofern es nämlich nicht als Gegengift wider das Böse, sondern für sich selbst gedacht wird.

Indes scheint schon Aristoteles diese Andeutungen nicht verstanden zu haben. Welches Mißverstehen der in Platonischen Schriften vorkommenden Dialektik und Polemik ihm überall zwar verziehen werden sollte, da seine gleichnamigen Künste von gröberem Korne sind, und von einer keinen Glanz annehmenden Mischung. Hier aber in einem so leichten Falle scheint es daher zu rühren, daß er um den Zusammenhang, zumal der früheren Platonischen Schriften, wenig mag gewußt haben. Es finden sich nämlich in seinen ethischen Werken mehrere Stellen, in denen er den »Lysis« vor Augen gehabt zu haben scheint, und Alle haben das Ansehn, als halte er die scheinbare Unentschiedenheit des Platon für eine wirkliche, und glaube jener habe sich nur deshalb nicht herauswickeln können, weil er teils den Unterschied zwischen Freundschaft und Zuneigung übersehen, teils seine drei Arten der Freundschaft verkannt habe, und also natürlich habe in Widerspruch geraten müssen, so oft er das, was nur von der einen gilt, auf die andere übertragen wollte. Jedem Leser des »Lysis« aber muß offenbar sein, mit welchem Nachdruck Platon auf jenen Unterschied, nur freilich in seiner indirekten Weise, aufmerksam macht, da der dialektischen Darstellung desselben ein ziemlicher Teil des Gesprächs gewidmet ist, und wie entschieden er die sogenannte Freundschaft des Nützlichen verwirft, gewiß auch dialektisch betrachtet mit dem größten Recht, da dieses Nützliche ja nie und nirgend etwas ist für sich, sondern immer nur und zwar zufällig in einem andern.

Noch mehreres Einzelne spricht ebenfalls für eine sehr frühe Abfassung des »Lysis« bald nach dem »Phaidros«. So zum Beispiel finden sich auch hier harte Übergänge, eine lose Willkürlichkeit in der Verknüpfung, und eine nicht immer ganz sorgfältige Wahl der Beispiele, welches alles noch stark die Ungeübtheit eines Anfängers ahnden läßt. So scheint auch was von dem Inhalt der erotischen Reden und Gedichte des Hippothales vorkommt eine fortgesetzte Anspielung auf die erotischen Reden des Lysias zu sein, sehr wahrscheinlich erzeugt durch mißbilligende Urteile über sein Verfahren mit dem berühmten Manne.

Den ganzen Gang des Gespräches aber nach der gegebenen allgemeinen Ansicht desselben noch besonders verzeichnen zu wollen, möchte überflüssig sein, indem nun Jeder im Stande sein muß zu beurteilen, wohin die einzelnen Linien streben, und nach welcher Regel sie fortgezogen werden müssen um den Mittelpunkt des Ganzen zu erreichen. Daß manches polemische einzelne auch hier verborgen liegt, ahndet wohl jeder; so wie man ziemlich bestimmt fühlt, daß Platon die naturwissenschaftliche Anwendung des Begriffs der Freundschaft wenn nicht ganz verwerfen wenigstens von der ethischen ganz sondern möchte. So auch kann Niemandem entgehen, wie der Nebenzweck, welcher das Innere mit der Form verbindet, nämlich eine Anweisung zur sittlichen erotischen Behandlung des Lieblings zu geben, nicht nur durch die vorläufigen Gespräche erreicht wird, sondern sich durch das Ganze sehr künstlich hindurchschlingt und auch sehr leicht, bis auf ein Paar einzelne Härten, die ebenfalls, weil sie leicht zu vermeiden waren, den Anfänger andeuten. Dasselbe kann man auch sagen von der Üppigkeit des Beiwerkes und einer gewissen Prahlerei mit dem Überfluß an Stoff nach allen Seiten hinaus. Merkwürdig aber ist dieses kleine Gespräch für die Grundsätze, von denen Verständnis und Beurteilung Platonischer Schriften ausgehen muß, teils als ein auffallendes Beispiel und als das erste davon, wie ungegründet die Meinung ist, als wolle Platon überall nicht entscheiden über die Gegenstände, deren Untersuchung er einen skeptischen Anstrich gibt ohne das Wort des Rätsels mit deutlichen Buchstaben darunter zu schreiben, indem er hier bei einem Gegenstande, über den er in zwei andern Gesprächen entscheidet, das nämliche Verfahren beobachtet, und zwar so, daß der Aufmerksame auch in dem, was ganz skeptisch aussieht, die Entscheidung ohne Mühe findet. Teils auch ist es davon ein Beispiel, wie leicht dem Platon auch Gespräche von geringerem Gehalt entstehen konnten, für sich betrachtet bloß dialektisch, allein in notwendiger Abhängigkeit von einem mystischen außer ihnen, Planeten gleichsam, die nur von den größeren selbständigen Körpern ihr Licht leihen und um sie sich bewegen. Auch wie man die Erscheinungen von jenen nicht verstehen kann, wenn man nicht ihre Verhältnisse zu diesen richtig auffaßt; und wie notwendig also, wenn man den Gehalt solcher Schriften feststellen, oder entscheiden will ob sie Platonisch sind oder nicht, erst alles muß versucht worden sein, um ihre Entfernung von dem Hauptkörper und ihre Bahn zu bestimmen. Denn schwerlich möchte, was den »Lysis« betrifft, nun jemand den Zweifeln viel Gehör geben, welche eine zu herbe und strenge Kritik gegen seine Echtheit erheben könnte; ja kaum möchte man nötig finden den Ankläger noch auf das mimische und dramatische zu verweisen, welches eine so schöne Haltung hat und so viel Platonischen Charakter.

Von den Personen selbst aber ist nichts zu erinnern, auch ist keine Spur vorhanden, daß irgend eine wirkliche Begebenheit dem Inhalt oder der Einkleidung zum Grunde läge.


LYSIS

(203) SOKRATES ERZÄHLT

Ich ging von der Akademia grade nach dem Lykeion den Weg außerhalb der Mauer dicht unter der Mauer hin. Als ich aber an dem Pförtchen war, wo die Quelle des Panops ist, da traf ich den Hippothales, des Hieronymos Sohn, und den Paianier Ktesippos, und mehr andere Jünglinge um sie her gedrängt stehend. Und als Hippothales mich herankommen sah, rief er mich an: Wohin gehst du, o Sokrates, und woher? – Aus der Akademia, sprach ich, gehe ich gerade nach dem Lykeion. – Hieher also, sprach er, zu uns lenkst du nicht ein? es lohnt doch. – Wohin eigentlich, fragte ich, meinst du? und wer sind die ihr? – Hieher, sprach er und zeigte mir der Mauer gegenüber einen eingeschlossenen Platz mit offener Tür; hier halten (204) nicht nur wir uns auf, sondern noch viel andere Schöne. – Was ist aber dieses? und was treibt ihr dort? – Es ist, sagte er, eine ganz neugebaute Palaistra, und meistenteils besteht die Beschäftigung in Gesprächen, von welchen eben wir dir gern mitteilten. – Sehr wohl, sprach ich, werdet ihr daran tun. Aber wer lehrt hier? – Von dir, sagte er, ein großer Freund und Verehrer, Mikkos. – Beim Zeus, sprach ich, kein schlechter Mann, sondern ein tüchtiger Sophist. – Willst du uns also folgen, sagte er, daß du auch die sehest, welche drinnen sind? – Gern möchte ich hier erst vernehmen, was mir dann werden soll für das Hineingehn, und wer eigentlich der Schöne ist. – Einer von uns, sagte er, hält diesen dafür, der andere jenen. – Welchen denn aber du, o Hippothales? Das sage mir. Auf diese Frage errötete er, und ich sprach weiter, O Sohn des Hieronymus, das darfst du mir nun nicht mehr sagen, ob du einen liebst oder nicht; denn ich sehe nicht allein, daß du liebst, sondern auch daß es schon weit mit dir gekommen ist in dieser Liebe. Übrigens wohl mag ich schlecht sein und wenig nutz; dieses aber ist mir so von Gott verliehen, daß ich gleich erkennen kann Liebende sowohl als Geliebte. – Als er dieses hörte, errötete er noch mehr. Ktesippos aber sagte: Das ist fein, Hippothales, daß du rot wirst, und dich weigerst dem Sokrates den Namen zu sagen, da er doch, wenn er nur kurze Zeit mit dir ist, sich fast tot wird daran hören müssen, wie oft du ihn nennst! Uns wenigstens, o Sokrates, hat er die Ohren schon ganz betäubt und angefüllt mit dem Lysis. Und hat er gar ein wenig getrunken, so ist es uns ganz gewohnt, daß wir auch beim Erwachen aus dem Schlafe noch glauben den Namen des Lysis zu hören. Doch was er so gesprächsweise arges vorbringt, ist noch nicht gar arg: aber wenn er erst anfängt uns mit den Gedichten zu überschwemmen und mit den Reden! Ja was noch ärger ist als alles, so singt er auch auf seinen Geliebten mit wundervoller Stimme, die wir geduldig anhören müssen. Nun aber von dir befragt errötet er nur. – Dieser Lysis, sprach ich, ist also einer von den Heranwachsenden, wie es scheint. Ich schließe es nämlich nur, denn der Name fiel mir nicht auf als ein bekannter, da ich ihn hörte. – Sie nennen ihn eben nicht oft bei seinem Namen, antwortete er, sondern er wird noch nach dem Vater genannt, weil sein Vater sehr bekannt ist. Auch bin ich gewiß, daß der Knabe dir keinesweges unbekannt ist von Gestalt, und an der allein kann man ihn genug wieder erkennen. – So sage denn, sprach ich, wem er angehört. – Es ist des Demokrates von Aixone ältester Sohn. – Schön, sprach ich, o Hippothales! welche edle und in jeder Art herrliche Liebe hast du dir da ausgespürt! So komm denn und laß mich alles hören, was du diesen zu hören gibst, damit ich sehe, ob du auch weißt, wie dem Verliebten gezieme über seinen Liebling zu diesem selbst und (205) auch zu Andern zu reden. – Und darauf, sagte er, gibst du etwas, o Sokrates, was der da sagt? – Willst du etwa, sprach ich, auch läugnen, daß du den nicht liebst, den dieser nennt? – Das nicht, sprach er, aber daß ich weder Gedichte mache auf meinen Liebling noch Reden. – Es ist eben nicht richtig mit ihm, sagte Ktesippos, sondern er faselt und redet irre. – Darauf sagte ich: ich begehre ja, o Hippothales, weder die Verse zu hören noch die Weise, wenn du dergleichen gemacht hast auf den Knaben, sondern nur den Sinn davon, damit ich erfahre, auf welche Art du deinen Liebling behandelst. – Der da wird dir wohl alles sagen, sprach er, denn er weiß es ja genau, und hat es im Gedächtnis, wenn er mich doch, wie er sagt, bis zum Überdruß angehört hat. – Bei den Göttern, sagte Ktesippos, sehr gut weiß ich es, o Sokrates! es ist ja auch lächerlich genug. Denn daß ein Liebender, und der mehr als jeder andre immer nur auf seinen Knaben denkt, auch gar nichts eignes zu sagen weiß, was nicht jedes Kind ebenfalls sagen könnte, wie sollte das nicht lächerlich sein? Was aber die ganze Stadt erzählt von Demokrates und Lysis des Knaben Großvater und von allen seinen Vorältern, ihren Reichtum, ihre Pferdezucht und ihre Siege in den Pythischen, Isthmischen und Nemeischen Spielen mit dem Viergespann und dem Rennpferde, das bringt er in Gedichte und Reden. Und noch altväterischeres als dieses. Denn die Bewirtung des Herakles schilderte er uns neulich in ich weiß nicht was für einem Gedichte, wie nämlich wegen Verwandtschaft mit dem Herakles ihr Ahnherr den Herakles aufgenommen, selbst auch vom Zeus erzeugt mit der Tochter von dem ersten Stifter jener Zunft, kurz was die alten Mütterchen singen, und viel anderes dergleichen. Solcherlei ist es, was er in Reden und Gedichten vortragend auch uns anzuhören zwingt. – Als ich dies gehört, sagte ich, du lächerlicher Hippothales! ehe du noch gesiegt hast, dichtest du schon und singst auf dich selbst das Lobgedicht? – Auf mich selbst, o Sokrates, sagte er, habe ich doch nie weder gedichtet noch gesungen. – Du meinst es wenigstens nicht. – Aber wie wäre denn das, fragte er? – Auf alle Weise, sagte ich, zielen doch diese Gesänge auf dich. Denn gewinnst du dir einen Liebling solcher Art, so wird dir selbst zur Zierde gereichen, was du gesprochen und gesungen hast, und ein wahres Lobgedicht sein auf dich, als der den Preis davon getragen, weil du einen solchen Liebling erlangt hast: entgeht er dir aber, so wirst du je größeres du lobend gesagt hattest von diesem Liebling, auch nach Verhältnis des Schönen und Guten, so du verfehlst, um desto mehr verspottet (206) werden. Wer also, o Freund, in der Kunst zu lieben ein Meister ist, der lobt den Geliebten nicht eher bis er ihn hat, aus Furcht, wie die Sache ablaufen werde. Überdies auch werden die Schönen, wenn man sie lobt und verherrlicht, voll Einbildung und Hochmut; oder meinst du nicht? – Das wohl, sagte er. – Nicht auch das, je hochmütiger sie sind, desto schwerer sie zu besiegen werden? – Wahrscheinlich. – Was für ein Jäger also dünkt dich der, welcher jagend das Wild so aufscheucht, daß er es ungleich schwerer bekommt? – Ein schlechter offenbar. – So auch durch Reden und Gesänge nicht ankirren sondern wild machen, ist große Unkunde; nicht so? – Mich dünkt es. – Sieh also zu Hippothales, daß du nicht alles dessen schuldig machst durch dein Dichten. Denn ich glaube doch, demjenigen der durch seine Dichtungen sich selbst schadet, wirst du nicht zugestehn wollen, daß er ein guter Dichter sei, da er sich selbst zum Schaden ist. – Nein, beim Zeus, sagte er, das wäre ja große Unvernunft. Aber deshalb eben, o Sokrates, vertraue ich mich dir, und hast du etwas anderes, so rate mir, worüber man denn reden und was man tun muß um dem Geliebten angenehm zu werden. – Nicht leicht, sprach ich, ist das zu sagen: wolltest du aber bewirken, daß er mir selbst zum Gespräch käme, so könnte ich dir vielleicht einen Versuch zeigen, was mit ihm zu reden ist anstatt dessen, was, wie diese sagen, du redest und singst. – Das, sagte er, ist nichts schweres. Denn wenn du nur hier mit dem Ktesippos hineingehst und dich niedersetzest im Gespräch, so glaube ich wird er schon von selbst herzukommen; denn hörbegierig, o Sokrates, ist er vor Allen. Zumal sie nun die Hermaien feiern, sind Knaben und Jünglinge ohne Unterschied zusammen; er kommt dir also gewiß. Wo nicht, so ist er doch sehr bekannt mit dem Ktesippos durch dessen Vetter Menexenos, der sein vertrautester Freund ist unter allen. Ktesippos also kann ihn rufen, wenn er ja nicht von selbst kommt. – So sprach ich müssen wir es machen; und somit nahm ich den Ktesippos und ging in die Palaistra, die Andern aber gingen hinter uns.

Als wir nun hineintraten, fanden wir dort die Knaben nach vollbrachtem Opfer und fast aller heiligen Dinge Vollendung, alle schön geschmückt mit Knöcheln spielend. Die meisten nun spielten im Vorhofe draußen; einige aber auch in einem Winkel des Auskleidegemachs, spielten grade und ungrade mit gar vielen Knöcheln, die sie aus den Körbchen vorholten. Um diese her standen Andere zusehend, deren einer dann auch Lysis war, welcher dastand unter den Knaben und Jünglingen bekränzt und durch sein Ansehn sich auszeichnend vor Allen, (207) nicht etwa nur schön zu heißen verdienend, sondern schön und edel. Wir nun bogen um und setzten uns gegenüber, denn dort war es ruhig, und redeten etwas mit einander. Lysis aber sah sich häufig um nach uns, und hatte offenbar große Lust, sich zu uns zu gesellen. So lange nun war er bedenklich und verlegen, allein heranzukommen; hernach kam Menexenos währendes Spiels aus dem Vorhofe herein, und als er mich und den Ktesippos gewahr ward, kam er um sich zu uns zu setzen. Als das Lysis sah, folgte er ihm und setzte sich ebenfalls zu uns neben den Menexenos. Darauf nun traten auch die Andern herzu, und auch Hippothales, da er mehrere herumstehen sah, versteckte sich hinter diesen, und stellte sich, wo er glaubte vom Lysis nicht gesehen zu werden, aus Furcht es möchte ihm zuwider sein, und so ganz nahebei hörte er zu. Ich also wendete mich zum Menexenos, und sagte: Welcher von euch, o Sohn des Demophon, ist wohl der Ältere? – Wir streiten darüber, antwortete er. – Auch wohl darüber, sprach ich, könntet ihr streiten, welcher der Vornehmere wäre? – Allerdings. – Gewiß auch welcher der Schönere, eben so? Da lachten sie beide. Keinesweges aber, sprach ich weiter, will ich fragen, welcher der Reichere ist von euch beiden, denn ihr seid ja Freunde, nicht wahr? – Gar sehr, sagten sie. – Und Freunden ist ja alles gemein, wie man sagt. So daß hierin keine Verschiedenheit statt finden kann, wenn ihr anders die Wahrheit sagt von eurer Freundschaft. – Das gaben sie zu. – Und hierauf war ich eben im Begriff zu fragen, welcher wohl der gerechtere und weisere wäre von ihnen. Indem aber kam einer dem Menexenos zu sagen, der Meister der Palaistra riefe nach ihm; es schien mir, als habe er die Opferschau.

Dieser also ging weg; ich aber fragte den Lysis weiter, und sagte: Gewiß, o Lysis, lieben dich dein Vater und deine Mutter sehr? – Allerdings, sagte er. – Also wollten sie auch wohl, daß du so glücklich wärest als möglich? – Wie sollten sie nicht? – Scheint dir aber der glücklich zu sein, welcher dient, und nichts tun darf, wozu er Lust hat? – Beim Zeus, mir nicht, sagte er. – Also wenn die Eltern dich lieben, und wünschen daß zu glücklich seist: so sorgen sie doch gewiß auf alle Weise dafür, daß du ganz zufrieden bist? – Wie sollten sie nicht? sagte er. – Sie lassen dich also tun, was du willst, und schelten dich um nichts, oder verwehren dir etwas zu tun, wozu du Lust hast? – Ja wohl, beim Zeus, wehren sie mir, o Sokrates, und das gar Vieles. – Wie sagst du? sprach ich, Sie wollen, daß es dir wohl gehe und verwehren dir doch (208) zu tun was du willst? Sage mir doch dieses. Wenn du Lust hättest, auf einem von des Vaters Wagen zu fahren, und die Zügel selbst zu führen, wenn Wettlauf gehalten wird, würden sie dich nicht lassen, sondern es dir verwehren? – Beim Zeus, sagte er, sie würden mich doch nicht lassen. – Aber wen denn? – Da ist ein Wagenführer, der bekommt seinen Lohn vom Vater. – Wie sagst du? und einem Mietling erlauben sie eher als dir zu tun was er will mit den Pferden, und geben dem dafür auch noch Geld? – Aber wie anders? sprach er. – Doch das Maultiergespann glaube ich immer werden sie dir erlauben zu regieren, und auch wenn du die Peitsche nehmen und sie schlagen wolltest, würden sie es zugeben. – Woher, sagte er, würden sie es zugeben? – Wie denn, sprach ich, darf Niemand sie schlagen? – Ja freilich, sagte er, der Maultiertreiber. – Und ist der ein Knecht oder ein Freier? – Ein Knecht. – Einen Knecht also, wie es scheint, achten sie höher als dich ihren Sohn, und übergeben ihm das ihrige lieber als dir, und lassen ihn tun was er will, dir aber verwehren sie es? So sage mir doch noch dieses, lassen sie dich wohl dich selbst regieren, oder erlauben sie dir auch dieses nicht? – Wie sollten sie das doch erlauben! sagte er. – Sondern es regiert dich einer? – Hier der Knabenführer, sprach er. – Ist der auch ein Knecht? – Was sonst? unserer wenigstens. – Gewiß, sagte ich, das ist arg, daß du ein Freier von einem Knechte regiert wirst! Was tut aber eigentlich dieser Knabenführer, daß er dich regiert? – Er führt mich eben zum Lehrer. – Und gebieten dir die etwa auch, die Lehrer? – Allerdings ja. – Gar viele Herren und Gebieter setzt dir also dein Vater recht mit Bedacht. Aber doch wenn du nach Hause kommst zur Mutter, läßt diese dich, damit du ihr recht vergnügt seist, alles tun was du willst, es sei nun an der Wolle oder am Weberstuhl, wenn sie webt? Denn gewiß, sie verbietet dir weder die Weberlade anzurühren noch das Schiff, noch was sonst irgend zu ihrer Weberei gehört? – Da lachte er und sagte, beim Zeus, o Sokrates, nicht nur verbietet sie mirs, sondern ich bekäme gewiß Schläge, wenn ich etwas anrührte. – Herakles! sagte ich, hast du auch etwa dem Vater etwas zuleide getan oder der Mutter? – Beim Zeus, sagte er, ich nicht. – Aber weshalb verwehren sie dir so mit Gewalt glücklich zu sein und zu tun was du willst, und halten dich den ganzen Tag über immer unter Jemandes Befehlen, mit einem Wort, daß du fast gar nichts tun kannst, was du möchtest? So daß, wie es scheint, dir weder aller dieser Reichtum etwas nutzt, denn jeder Andere hat ja mehr darüber zu gebieten als du, noch auch diese so vorzügliche Gestalt, denn auch deinen Körper hütet und pflegt ja ein Anderer: du aber, o Lysis, hast über nichts zu gebieten, und kannst nichts (209) tun was du möchtest. – Ich habe eben, sprach er, noch nicht die Jahre dazu, o Sokrates. – Das mag es wohl nicht sein, o Sohn des Demokrates, sagte ich, was dich hindert! Denn dergleichen, glaube ich, überlassen dir doch der Vater sowohl als die Mutter, und warten nicht erst bis du die Jahre habest, zum Beispiel wenn sie etwas wollen vorgelesen haben oder geschrieben, werden sie es, denke ich, dir eher auftragen als irgend Einem im Hause. Nicht so? – Zuverlässig, sagte er. – Und nicht wahr, hier steht dir frei, welchen Buchstaben du willst zuerst zu schreiben und zum zweiten; und ebenso beim Lesen; und wenn du deine Lyra nimmst, glaube ich, wehrt dir weder Vater noch Mutter, welche Saite du willst, höher zu stimmen oder tiefer, und mit dem Finger zu kneipen oder mit dem Plektron zu schlagen. Oder verwehren sie dirs? – Ganz und gar nicht. – Was mag also nur, o Lysis, die Ursach sein, daß sie dir hier nicht wehren, wohl aber in dem, was wir vorher sagten? – Ich glaube, sprach er, weil ich dieses verstehe, jenes aber nicht. – Wohl, antwortete ich, Bester! Nicht also deine Jahre erwartet dein Vater, um dir alles zu überlassen, sondern welchen Tag er glauben wird, du seist klüger als er, an dem wird er dir sich selbst und alles das Seinige überlassen. – Das glaube ich selbst, sagte er. – Wohl, sprach ich, wie aber der Nachbar? hat der nicht dieselbe Regel deinetwegen, wie dein Vater? Meinst du, er wird dir sein Hauswesen zu verwalten überlassen, sobald er glaubt, du verstehest dich besser auf die Haushaltungskunst als er, oder er wird ihm dann noch selbst vorstehen wollen? – Er wird es mir überlassen, meine ich. – Und wie die Athener? glaubst du, sie werden dir nicht ihre Angelegenheiten übergeben, wenn sie merken, daß du Klugheit genug besitzest? – Ich glaube es. – Und beim Zeus, fuhr ich fort, wie wohl der große König? ob er wohl seinem ältesten Sohn, auf den die Regierung von Asien kommt, wenn Fleisch gekocht wird eher erlauben wird alles in die Brühe zu werfen, was er nur hineinwerfen will, als uns, wenn wir nämlich zu ihm kämen, und ihm zeigten, daß wir uns besser verständen als sein Sohn auf die Zubereitung der Speisen? – Uns offenbar, sagte er. – Und jenen zwar würde er auch nicht das mindeste hineinwerfen lassen, uns aber, wollten wir auch ganze Hände voll Salz nehmen, ließe er doch hineinwerfen. – Wie sollte er nicht? – Wie aber wenn sein Sohn an den Augen litte, ließ er ihn wohl an seinem eignen Augen etwas tun, wenn er ihn für keinen Arzt hält, oder verböte er es ihm? – Er verböte es gewiß. – Uns aber, wenn er uns für Arzneikundige hielte, wollten wir ihm auch die Augen aufreißen und mit Asche einstreuen, würde er doch, meine ich, nicht wehren, wenn er glaubte, daß wir es gründlich verständen. – (210) Du hast Recht. – Würde er nicht auch alles andere eher uns überlassen als sich und seinem Sohne, worin nämlich wir ihm weiser zu sein schienen als sie beide? – Notwendig, o Sokrates. – So verhält es sich also, lieber Lysis, sagte ich. Darüber, wovon wir uns richtige Einsichten erworben, wird Jedermann uns schalten lassen, Hellenen und Ausländer, Männer wie Frauen; wir werden darin tun was wir nur wollen, und Niemand wird uns gern hindern, sondern wir werden hierin ganz frei sein, und auch gebietend über Andere, und dieses wird das unsrige sein, denn wir werden Genuß davon haben. Wovon wir aber keinen Verstand erlangt haben, damit wird uns Niemand verstatten zu tun was uns gut dünkt; sondern Alle werden uns hinderlich sein, soviel sie können, nicht die Fremden allein, sondern Vater und Mutter, und wenn uns Jemand noch näher verwandt sein könnte als sie. Vielmehr werden wir selbst was diese Dinge betrifft Andern folgsam sein, und sie werden uns also fremd sein, denn wir werden keinen Genuß von ihnen haben. Räumst du ein, daß es sich so verhalte? – Ich räume es ein. – Werden wir also Jemanden lieb sein, und wird uns Jemand lieben in Hinsicht auf dasjenige, wozu wir unnütz sind? – Nicht füglich, sagte er. – Jetzt also liebt weder dich dein Vater noch sonst Jemand Jemanden in sofern er unbrauchbar ist. – Es ist nicht zu glauben, sagte er. – Wenn du aber verständig wirst, o Sohn, dann werden Alle dir freund und alle dir zugetan sein: denn du wirst brauchbar sein und gut. Wenn aber nicht: so wird weder irgend ein Anderer dir freund sein, noch selbst dein Vater, oder deine Mutter, oder deine Verwandten. Ist es also wohl möglich, o Lysis, sich damit viel zu wissen, worin man noch nichts weiß? – Und wie könnte man, sagte er. – Wenn also du noch des Lehrers bedarfst, weißt du noch nicht? – Richtig. – Also weißt du dich auch nicht viel wenn du doch noch unwissend bist. – Wahrlich, o Sokrates, sagte er, ich glaube auch nicht.

Als ich dies von ihm hörte, sah ich mich um nach dem Hippothales, und beinahe hätte ich mich verredet. Denn ich war schon im Begriff ihm zu sagen: So, o Hippothales, muß man mit dem Liebling reden, ihn demütigend und zur Ordnung bringend, nicht aber ihn aufblähend und verwöhnend. Da ich ihm aber ansah, wie er ganz in Angst und Verwirrung war über das Gesagte, erinnerte ich mich, daß er wollte, Lysis solle nicht einmal merken, daß er dabei stehe. Also begriff ich mich wieder, und hielt mit der Rede an mich, und darüber kam auch Menexenos zurück, und setzte sich neben (211) den Lysis, von welchem Platz er aufgestanden war. Lysis nun gar kindlich und freundlich, sagt mir ganz leise damit es Menexenos nicht höre, Was du mir gesagt hast, o Sokrates, das sage doch auch dem Menexenos. – Ich antwortete, Dieses kannst du ihm ja sagen, o Lysis, denn du hast sehr genau Acht gegeben. – Das freilich, sagte er. – Versuche also, sprach ich, es möglichst im Gedächtnisse zu behalten, damit du ihm Alles genau sagen kannst, solltest du aber etwas davon vergessen haben, so frage mich wieder, sobald du mich nur antriffst. – Wohl, sagte er, so will ich es machen, o Sokrates, aufs allergenauste, verlasse dich darauf. Aber sage ihm etwas anderes, damit ich auch zuhöre, bis es Zeit ist, nach Hause zu gehen. – Ja, das muß ich wohl tun, sprach ich, zumal du es wünschest. Aber sieh auch zu, wie du mir helfen willst, wenn Menexenos drauf ausgeht mich zu widerlegen. Oder weißt du nicht, daß er sehr streitbar ist? – Ja, beim Zeus, sagte er, gewaltig. Deshalb eben will ich, daß du dich mit ihm unterredest. – So, sprach ich, damit ich mich lächerlich mache? – Nein, beim Zeus, sondern damit du ihn etwas züchtigest. – Woher? sprach ich, das ist nicht leicht. Denn er ist ein gewaltiger Mensch, ein Schüler des Ktesippos; und da ist auch er selbst, siehst du ihn nicht? der Ktesippos! – Kümmere du dich um niemand, o Sokrates, sagte er, sondern geh rede mit ihm. – So muß ich wohl anfangen, sprach ich. – Indem wir dieses noch unter uns redeten, fragte Ktesippos: Ihr da, was tut ihr euch da gütlich allein, wovon ihr uns nichts mitteilen wollt? – Allerdings, sagte ich, wollen wir mitteilen. Dieser nämlich versteht etwas nicht, was ich sage, meint aber Menexenos werde es wissen, und heißt mich, diesen fragen. – Warum also fragst du ihn nicht? sagte Ktesippos. – Eben will ich es tun, sprach ich.

Sage mir also, o Menexenos, was ich dich fragen werde. Ich trage nämlich von Kindheit an groß Verlangen nach einer Sache, wie denn Jeder so die seinige hat. Denn einer hat große Lust Pferde zu haben, einer Hunde, einer Geld, einer Ehre. Ich aber bin gegen alle diese Dinge ziemlich gleichgültig, dagegen aber auf den Besitz von Freunden ganz leidenschaftlich, und einen guten Freund zu haben wäre mir lieber als die beste Wachtel oder der beste Hahn von der Welt; ja, beim Zeus, lieber als ein Pferd oder ein Hund; und ich glaube beim Hunde, ich würde allem Golde des Dareios bei weitem den Besitz eines Freundes vorziehn, weit mehr (212) noch als Dareios selbst; so sehr bin ich ein Freundelieb. Indem ich nun euch sehe, dich und den Lysis, bin ich erstaunt und preise euch glücklich, daß euch so jung schon gelungen ist dieses Besitztum schnell und leicht zu erwerben, und du dir diesen so schnell und sehr zum Freunde erworben hast, und dieser wiederum dich. Ich aber bin so weit von der Sache, daß ich nicht einmal dieses weiß, auf welche Art einer des andern Freund wird, sondern eben dieses von dir erfragen will, als einem Kundigen. Sage mir also, wenn einer einen liebt, welcher wird des andern Freund, der Liebende des Geliebten, oder der Geliebte des Liebenden? oder macht das keinen Unterschied? – Mir wenigstens, sagte er, scheint es keinen Unterschied zu machen. – Wie sagst du? sprach ich! beide also werden einander freund, wenn auch nur der eine den andern liebt? – Mich wenigstens, sagt er, dünkt es so. – Wie doch? geschieht es nicht, daß der Liebende nicht wieder geliebt wird von dem den er liebt? – Es geschieht. – Und wie? geschieht es auch, daß der Liebende gehaßt wird? wie doch manchmal die Liebhaber mit den Lieblingen dran zu sein glauben. Denn wiewohl liebend so sehr es nur irgend möglich ist, meinen doch Einige, daß sie nicht wieder geliebt, Andere gar, daß sie gehaßt werden. Oder dünkt dich dieses nicht wahr zu sein? – Sehr wahr, sagte er. – Und in einem solchen Falle, sprach ich, liebt doch der Eine, der Andere wird geliebt? – Ja. – Welcher also von ihnen ist des Andern Freund? der Liebende des Geliebten, mag er nun wieder geliebt werden oder auch gehaßt? oder der Geliebte des Liebenden? Oder ist im Gegenteil keiner von beiden in diesem Falle des Andern Freund, wenn nicht beide einander lieben? – Es hat wohl das Ansehen, als verhielte es sich auf die letzte Art. – Anders also scheint es uns jetzt als es vorher schien. Damals nämlich, daß wenn auch nur der Eine liebt, beide Freunde wären: jetzt aber, daß wenn nicht beide lieben, keiner Freund ist. – So kommt es heraus, sagte er. – Das Liebende ist also auch keinem freund, was nicht wiederliebt? – Es scheint nicht. – Also ist auch der kein Pferdefreund, den seine Pferde nicht wieder lieben, noch auch Wachtelfreund, noch Hundefreund, noch Weinfreund, noch Weisheitsfreund, welchen die Weisheit nicht wiederliebt? Oder liebt zwar Jeder von diesen seinen Gegenstand, ist ihm aber doch nicht freund, sondern der Dichter hat unrichtig gesprochen, welcher sagt: Glücklich, wer, denen er freund ist, Kinder und mutige Pferde, Hunde zur Jagd, Gastfreund' auch in der Ferne besitzt? – Nicht so scheint es mir wenigstens. – Sondern richtig dünkt er dich zu reden? – Ja. – Der Liebende ist also allerdings dem Geliebten freund, wie es scheint, o Menexenos, dieser mag ihn nun lieben oder hassen. So wie auch den Kindern, teils den ganz jungen, welche noch nicht lieben, teils auch denen, welche hassen, wenn sie eben von der (213) Mutter oder dem Vater gezüchtiget worden, dennoch selbst in dieser Zeit, wenn sie hassen, die Eltern über alles in der Welt freund sind. – Mir, sagte er, scheint es so zu sein. – Nicht also der Geliebte ist Freund nach dieser Rede, sondern der Liebende. – Das ist deutlich. – Also ist auch der Hassende feind, nicht der Gehaßte? – So scheint es. – Viele also lieben die, welche ihnen feind sind, und hassen dagegen die, welche ihnen freund sind, und sind also den Feinden freund und dagegen den Freunden feind, wenn nämlich der Liebende Freund ist, und nicht der Geliebte? Dieses aber ist doch große Unvernunft, lieber Freund, oder vielmehr, glaube ich, gar unmöglich, dem Feinde freund sein und dem Freunde feind? – Sehr recht, sagte er, hast du offenbar, o Sokrates. – Also wenn dieses unmöglich ist, so wäre wohl der Geliebte dem Liebenden freund? – Das leuchtet ein. – Also auch der Gehaßte dem Hassenden feind? – Notwendig. – Wird aber nicht so herauskommen, daß wir notwendig dasselbe zugeben müssen, wie bei dem Vorigen, daß oft einer freund ist dem der ihm nicht freund ist, oft auch dem, der ihm feind ist, wenn Jemand geliebt wird nicht wiederliebend, oder wohl gar hassend; daß auch oft einer feind ist dem der ihm nicht feind ist, sondern wohl gar freund, wenn Jemand gehaßt wird nicht wieder hassend, oder wohl gar liebend? – So scheint es zu werden, sagte er. – Was also sollen wir machen, sprach ich, wenn weder die Liebenden Freunde sein sollen, noch auch die Geliebten, noch auch nur die zugleich Liebenden und Geliebten, sondern wir von Andern außer diesen behaupten sollen, daß sie einander freund werden? – Beim Zeus, sagte er, o Sokrates, ich weiß gar keinen Rat. – Haben wir auch etwa, sprach ich, o Menexenos, unsere Untersuchung überall unrichtig angelegt? – So dünkt es mich wohl, o Sokrates, sagte Lysis, und wie er es gesagt, so errötete er. So daß das Wort ihm schien wider Willen entschlüpft zu sein, weil er mit ganzer Seele darauf achtete, was gesprochen ward. Und so hatte er offenbar auch, als er zuhörte, immer getan.