Die Autorin

Claudia Thesenfitz – Foto © Hans Scherhaufer

CLAUDIA THESENFITZ kann auf eine lange journalistische Karriere zurückblicken, hat unter anderem fest angestellt als Chefreporterin bei TEMPO und petra gearbeitet, bevor sie sich 2001 als freie Autorin und Journalistin selbstständig machte. Sie schreibt für alle großen Frauenzeitschriften und Magazine (emotion, Brigitte, petra, Für Sie, Gala u. v. m.) und hat unter anderem die Autobiografien von und mit Nena (2005, Luebbe), Dieter Wedel (2008, Luebbe) und Uwe Ochsenknecht (2013, Luebbe) geschrieben.

Claudia Thesenfitz

Schlaflos auf Sylt

Ein Glücksroman

Ullstein

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Das Gedicht auf Seite 253 stammt aus: Sark, Starke, wilde Frauen (Deutsch von Elisabeth Liebl), Verlag Droemer Knaur, München 1999.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juni 2022
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: Frauen: © Image Source / Alamy Stock Foto / Lena Mirisola; Ballons: © Marek Kosmal / Alamy Stock Foto; Horizont, Düne, Meer: © mauritius images / Westend61; Möwe, Himmel: FinePic®, München; Dünengras, Strand: © mauritius images / rphstock; Schafherde: © Ian Dagnall / Alamy Stock Foto; einzelnes Schaf links: © WILDLIFE GmbH / Alamy Stock Foto
Autorenfoto: © Hans Scherhaufer
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ISBN 978-3-8437-2707-5

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Widmung

Für Gisela

1

»Ich habe die Enten verheiratet!«, verkündete Merles Mutter, als sie aus dem Bad zurückkam, und strahlte verschmitzt.

Die verschiedenfarbigen Plastik-Enten, die sich auf Merles Badewannenrand tummelten, waren ein Goodie von einem Klamottenladen, in dem Merle oft shoppte. Bei jedem Kauf bekam man eine Ente. Mittlerweile waren es siebzehn.

Merles Mutter hatte die Enten paarweise mit den Schnäbeln zueinander gestellt, sodass es aussah, als würden sie sich küssen. Nur die hellgrüne Ente mit den Engelsflügeln stand alleine auf dem Fenstersims und betrachtete das Treiben. Merle, die zum Nachschauen ins Bad gegangen war, musste grinsen.

 »Du bist bekloppt, Mama«, befand sie, als sie zurück in die Küche kam.

In fünf Tagen würde Merle Merbach (ja, sie könnte ihre Eltern immer noch würgen für diese vermeintlich witzige Namensgebung) ein halbes Jahrhundert alt werden. Solche Geburtstage werden traditionell groß gefeiert, aber Merle war schon immer allergisch gegen Traditionen.

Fünfzigjähriges Firmenjubiläum … Fünfzig Jahre Berufserfahrung … Seit fünfzig Jahren im Familienbetrieb – gegründet 1972 … Das klang alles uralt … So viele Jahre … Fünfzig – was für eine furchtbar große Zahl! Merle wollte sich vor ihr verkriechen, verstecken, herumdrücken vor den Ziffern, die eindeutig das Ende ihrer Jugendlichkeit einläuteten. Sie würde ihr Jubiläum einfach ignorieren. Ein kleines, gänzlich unspektakuläres Abendessen mit ihren Eltern schwebte ihr vor. Mit wem auch sonst?

Mit Jonas, ihrem Ex, und seiner so blöden wie blonden zwanzig Jahre jüngeren und mehrfach schönheitsoperierten neuen Freundin sicher nicht. Die letzten Monate ihrer fünfzehnjährigen Beziehung hatte sich der verbissene Anwalt in einer heftigen Midlife-Crisis befunden. Je dünner und grauer sein Haar wurde, umso mehr versuchte er, sich in Extremsportarten zu profilieren. Merle hatte einen Lachkrampf bekommen, als sie ihn zum ersten Mal in seinen hautengen neongelben Rennradshorts gesehen hatte. Bei seinem letzten Wettkampf – einem Ironman-Marathon im Death Valley bei fünfzig Grad – wäre er fast kollabiert. Und jetzt tobte er sich an der Plastikblondine aus.

»Was willst du denn nun an deinem Geburtstag machen, Merli?«, hakte ihre Mutter nach und nippte am Rotwein.

»Das haben wir doch schon besprochen, Mama«, erwiderte Merle leicht genervt. »Ich lade euch nach Sylt ein, und wir gehen abends schön essen. Sonst nichts!«

»Hast du denn jetzt endlich gebucht?«, erkundigte sich Renate. »Rolf und ich würden dann schon gerne mal wissen, wo wir landen.«

Merle hatte auf ein günstiges Last-minute-Schnäppchen gehofft, das aber leider nicht eingetroffen war. Sylt im Juli war teuer – daran ließ sich nichts ändern.

»Ja, ich habe gestern im Hotel Lindner für uns reserviert.«

»Ah«, nickte ihre Mutter beruhigt. »Und wo ist das?«

»In Wenningstedt.«


»Schön!« Renates Blick versank im Weinglas. Sie lächelte. »Ich freue mich!«

»Ich mich auch!«, sagte Merle, leicht irritiert von dem Grinsen auf Renates Gesicht.

»Und wo gehen wir dann essen?«, wollte Renate wissen.

»Na, in der Sansibar!« Wenn sie schon nicht feiern würde, wollte sie sich wenigstens grandios bewirten lassen, hatte Merle beschlossen.

»Schön«, sagte ihre Mutter schon wieder, deren Kommentar-Vokabular heute auf dieses Adjektiv begrenzt zu sein schien. »Schade, dass Miriam und Maren nicht dabei sein können«, fügte sie hinzu.

»Ja, echt doof«, bestätigte Merle. Miriam war ihre ältere und Maren ihre jüngere Schwester. Miriam war in den letzten Jahren zur international gefragten Künstlerin aufgestiegen und hatte ausgerechnet an Merles Geburtstag eine große Vernissage in New York. Und Maren war seit fünf Monaten in Asien mit ihrem Hippie-Bus unterwegs und fand »Zahlen und Daten unwichtig«.

»Willst du denn nicht eine Freundin einladen? Gabi? Oder Birgit?«, erkundigte sich ihre Mutter.

»Nee, lieber nicht. Dann muss ich die während unseres gesamten Sylt-Trips bespaßen – und das würde mich extrem nerven.«

Renate nickte.

»Ist doch super so«, befand Merle und holte die Tiefkühlpizza aus dem Ofen, die sie mit Thunfisch und Zwiebeln verfeinert hatte.

»Schön«, sagte ihre Mutter erneut.


Als sie aufgegessen hatten, verabschiedete sich ihre Mutter, die ihren Vater vom Skatabend abholen wollte, bevor er zu viele Herrengedecke intus hatte und die ganze Nacht so laut und arrhythmisch durchschnarchen würde wie ein Rasenmäher mit Borderlinestörung.

»Dann treffen wir uns am Mittwoch um 9:34 Uhr am Bahnhof, meine Süße«, sagte Renate, nahm Merle in den Arm und gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange.

»Ja, Mama.«

2

Renate und Rolf standen schon seit zwanzig Minuten am Gleis, als Merle schweißüberströmt und restlos abgehetzt die Treppen hocheilte und genau in dem Moment oben ankam, als der Zug gerade eintraf. Wieder mal war im Parkhaus kein Platz zu finden gewesen und die Stadt im morgendlichen Berufsverkehr restlos zugestaut. Ihre Eltern quittierten Merles Zuspätkommen mit genervten Blicken – es war ja nicht das erste Mal. Komisch, sich die Zeit korrekt einzuteilen war ihr aus irgendeinem Grund unmöglich. Sie hatte einfach kein Gefühl dafür, wie lang oder kurz fünf oder zehn Minuten waren, und schätzte die Zeitspanne deshalb grundsätzlich zu lang ein. Wenn sie sich im Bad die Zähne putzte, die Haare zurechtmachte und schminkte, kam es ihr vor, als wären nur drei Minuten vergangen, dabei waren es meist über zwanzig.

Ihre Eltern erklommen bereits ein Zugabteil, Merle atmete kurz durch, wuchtete ihren Koffer die Stiege hoch und folgte Rolf und Renate durch den Wagen.

Der Zug nach Westerland fuhr pünktlich ab, was einer Sensation gleichkam. Ständig gab es auf der Strecke Hamburg-Westerland Verspätungen oder Zugausfälle, weil die Gleise über den Hindenburgdamm nur einspurig führten. Hatten die betagten Dieselloks, die den Auto-Shuttle zogen, eine Panne (was angesichts ihres Alters relativ häufig vorkam) oder gab es irgendwelche anderen Probleme auf und an den Gleisen, kam es zu Zugausfällen, Verspätungen und in der Folge langen Autostaus auf den Zufahrtsstraßen. Das hatte in letzter Zeit zu jeder Menge Ärger, massiver Bevölkerungsempörung und großem Medienecho geführt. Arbeitskräfte, die sich eine Wohnung auf der teuren Insel nicht leisten konnten und pendeln mussten, waren die eine Sache. Die konnten sich ja leider keine Alternative leisten und mussten die Behinderungen zwangsläufig in Kauf nehmen. Warum aber gut betuchte Urlauber Wartezeiten von fünf Stunden und mehr (ohne Toilette) in Kauf nahmen, um auf eine neunundneunzig Quadratkilometer große Sandbank zu reisen, von der sie ab einundzwanzig Uhr nicht mehr zurückkamen, war Merle ein absolutes Rätsel. Und noch mehr irritierte sie, dass die Politik nichts dagegen unternahm.


Renate und Rolf arbeiteten sich unstoppbar wie Planierraupen durch die Gänge des überfüllten Zuges. Zum Glück hatte Merles Mutter Sitzplätze reserviert, sodass sie sich schließlich an einem Vierertisch fallen lassen konnten. Den vierten Platz am Gang belegte ein gelfrisierter Teenager, der sich von seinen In-Ears bedröhnen ließ und ohne Unterlass auf sein Handy eintippte.

Kaum, dass sie sich gesetzt hatte, packte Renate auf den Tisch, was sie für die kurze Reise eingetuppert hatte: belegte Brote, Gurken- und Mohrrübenschnitze – und eine Thermoskanne Kaffee. Rolf entfaltete laut knisternd die Welt, hinter der er für den Rest der Zugfahrt verschwand. Flashback – alles war genau so, wie es als Kind schon gewesen war. Merle fühlte sich plötzlich wieder wie zwölf und musste lächeln. Es war mindestens schon dreißig Jahre her, dass sie mit ihren Eltern in einem Zug irgendwohin gefahren war. Wo ihre Mutter wohl dieses schaumgummiartige Graubrot herbekam, das sie offenbar immer noch aß … Merle nippte am Kaffee und ließ die Landschaft vor dem Fenster an sich vorbeiziehen.


Morgen würde sie also fünfzig werden! Als ihre Mutter fünfzig geworden war, war Merle vierundzwanzig gewesen, und Renate war ihr uralt vorgekommen! Und heute galt fünfzig als das neue dreißig. Sharon Stone, Liz Hurley, Jennifer Aniston – sie alle sahen aktuell besser aus denn je. Mit Topfiguren und -frisuren. Und sie selbst? Merle kämpfte seit Jahren gegen ihr stetig zunehmendes Bauch- und Hüftgold, das man auch liebevoll »Love Handles« nennen konnte. Nur gab es in ihrem Leben leider aktuell niemanden, der diese Körperteile beim Sex liebevoll anpacken, also »handeln«, würde: Seit der Trennung von Jonas vor drei Jahren war sie mehr oder weniger Single. Klar hatte sie diverse Onlinedates probiert – am Ende aus Verzweiflung sogar auf Tinder, aber es war leider nie etwas Beziehungsähnliches dabei herausgekommen. Ihre Rendezvous hatten ausschließlich aus neurotischen Nerds und lieblos frisierten Resterampe-Ladenhütern bestanden.


»Das ist das Alter«, hatte ihre Freundin Gabi ihr erst vor Kurzem attestiert: »Männer um die fünfzig suchen sich was Jüngeres – oder sind bekloppt.«

»Und jüngere Männer?«, wollte Merle wissen.

»Die suchen bestimmt keine ältere Frau – obwohl man auf alten Schiffen ja gut segeln lernen soll.« Sie lachte verschmitzt.

»Du meinst, so MILF-artig?«

»MILF???«

»Mother, I’d like to fuck«, lachte Merle.

»Oh Mann«, Gabi verdrehte die Augen. »Du bist zwar keine Mutter, aber für eine Nacht könntest du sicher noch einen jungen Kerl abstauben«, überlegte sie.

»Wäre ja mal ein Anfang«, schmunzelte Merle.

»Um die Spinnenweben zu entfernen?« Gabi schenkte sich Prosecco nach.

»Unter anderem!« Sie stießen an.


Leider war es zu den aufregenden Sexdates, die Madonna mal so eindrucksvoll »Junge Männer wissen zwar nicht, was sie tun, aber dafür tun sie es die ganze Nacht« kommentiert hatte, aber nicht gekommen.


Der Zug hielt in Elmshorn, und Merle beobachtete leicht besorgt, was für eine erschreckende Masse an Leuten hier noch zustieg. Die meisten von ihnen würden die Fahrt wohl im Stehen verbringen.

Der Zug rollte wieder an. Renate löste ein Kreuzworträtsel, Rolf steckte hinter seiner Zeitung. Felder und Wiesen flogen vorbei. Zurück zu morgen: Nun war sie also fünfzig. Wie schnell die Zeit doch vergangen war. Gerade war sie doch noch dreißig gewesen und hatte von Kindern und einer Familie geträumt. Daraus war leider nichts geworden. Jonas wollte erst beruflich Fuß fassen, und auch Merle hatte sich vor der Mühsal von Schwangerschaft und Baby-Aufzucht gedrückt. Der Horror des Geburtsvorganges, den die Komikerin Martina Hill mal als »Stell dir vor, du müsstest einen Medizinball scheißen« beschrieben hatte, hatte ihr regelmäßig den Angstschweiß auf die Stirn getrieben. Und die Aussicht, danach mindestens ein Jahr lang nicht mehr durchzuschlafen, war auch nicht gerade verlockend gewesen.

Und nun, mit fast fünfzig, war das Thema eh durch: Seit der Trennung von Jonas lebte sie in einer Zweizimmerwohnung und teilte sich eine Katze mit ihrer Nachbarin und mittlerweile guten Freundin Gabi. Ihr Leben plätscherte so gemächlich und unspektakulär dahin wie die Landschaft, die am Fenster vorbeiflog: Sie fuhren durch Husum, durch Niebüll, durch endlose platte Weiten, grüne Wiesen, Kuh- und Schafherden und Solar-Panel-Felder und näherten sich schließlich dem Hindenburgdamm, der Sylt seit 1927 mit dem Festland verband.

Merle resümierte ihr bisheriges Leben, das ohne besondere Höhen und Tiefen verlaufen war: Sie hatte die übliche Zahl an üblichen Beziehungen hinter sich, hatte nie geheiratet und arbeitete seit über achtzehn Jahren im selben Job – in der Grafikabteilung einer Werbeagentur.

Im Grunde war alles an ihr »normal«, Durchschnitt eben: Sie hatte keine exaltierten Hobbys und auch keine ehrgeizigen Lebens- oder Karriereziele. Sie wollte einfach nur einer Arbeit nachgehen, die ihr einigermaßen Spaß machte und genug Geld für ein komfortables Leben einbrachte. Sie hatte einen Mainstream-Musikgeschmack, der sich an den aktuellen Charts orientierte, las die Bücher, die oben auf der Bestsellerliste standen, und streamte die Serien und Filme, die gerade am beliebtesten waren. Sie trug die Turnschuhe, die gerade alle trugen, und machte den Sport, den der jeweilige Zeitgeist gerade als hip ausrief – aktuell war das Yoga. Sie reiste gerne pauschal, und sogar, was sie aß, war inspiriert von der Fernsehwerbung. Sie wollte es so. Genau wie Millionen andere zu sein gab ihr Sicherheit.

Sie biss in eine der Schnitten, die Renate in einer Tupperdose auf den Tisch gestellt hatte. Milder Gouda – der Mainstream-Käse. Genau ihr Geschmack. Sie musste lächeln und betrachtete ihr Gesicht, das sich gerade im Fenster spiegelte.

Auch äußerlich war an ihr alles »normal«: Sie war normal groß, hatte eine normale Figur, war nicht schockierend schön, aber attraktiv. Ihr Gesicht wurde umrahmt von dunkelbraunen Locken, die langsam grau wurden und sich noch immer schwer bändigen ließen. Obwohl viele ihrer Freundinnen sie um ihre Haarpracht beneideten, hatte sie immer wieder versucht, die widerspenstigen Kringel glatt zu ziehen – vergeblich. Mittlerweile hatte sie aufgegeben und sich an ihre »wilden« Haare gewöhnt.

Wenn sie sich Mühe gab und sich schminkte, konnte sie richtig hübsch aussehen, aber in der Regel legte sie nicht besonders viel Wert auf ihre Outfits, die stets eher unspektakulär waren. Bequemlichkeit hatte Priorität: Jeans, Shirts und Blusen mussten reichen – und High Heels tat sie sich auch nur ungerne an. Sie zog sowieso nicht gerne Aufmerksamkeit auf sich.

Das Faszinierendste an ihr war ihr Lachen, hatten ihr Ex-Freunde und gute Freundinnen bestätigt. Und dass sie, wenn sie ein paar Gläser zu viel hatte, zur Temperamentsbombe beziehungsweise zum Party Animal werden konnte. Passierte das, sammelte sie reihenweise Herzen ein, weil sie beschwipst so entzückend charmant und tanzwütig war.

Sie aß das Brot auf und spülte mit einem Schluck Kaffee nach.


Wo wollte sie in den nächsten dreißig bis vierzig Jahren noch hin?, fragte sie sich, als der Zug das Festland hinter sich ließ und auf dem Hindenburgdamm durch die offene Nordsee ratterte. Welche Ziele hatte sie? Im Wohnmobil die Welt erkunden? Auf die Kanaren auswandern, um das ganze Jahr über Sonne zu haben? Promiskuitive Beziehungen eingehen, um sich sexuell noch mal so richtig auszutoben, bevor die Gelenke marode wurden? Sie schaute Rolf und Renate an – beide über siebzig. Waren die zufrieden?

Was hieß überhaupt zufrieden? Und reichte das? Wenn ihre Eltern auf ihr Leben zurückblickten, waren sie dann sicher, dass alles optimal gelaufen war? Oder jammerten sie jeweils heimlich über verpasste Chancen und ungelebte Träume? Wäre ihr Vater lieber Rockstar geworden und hätte jede Menge Groupies flachgelegt? Merle schaute ihn an, während er seine Zeitung umblätterte, und musste schmunzeln. Zum exaltierten Rockstar hätte es bei ihrem durch und durch vernunftgesteuerten Vater wohl kaum gereicht. Er konnte ja noch nicht mal tanzen. Und ihre Mutter? Hätte die gerne ein Nomadenleben auf permanenter Weltreise geführt? Immer wieder neue Orte, Erlebnisse und Eindrücke, statt ein Leben lang an demselben Platz zu wohnen? Wohl kaum, wenn sie daran dachte, wie sehr ihre Mutter ihren prachtvollen Garten und ihr liebevoll eingerichtetes Haus liebte.

Was würde sie selbst mit siebzig wohl denken? Nichts sei schlimmer, als zu bereuen, was man nicht getan hat, hieß es doch. Was hatte sie bislang noch nicht getan? Eine ganze Menge! Über die sogenannten »Bucket Lists«, Listen, die aufzählten, was man bis wann getan haben sollte, gab es zahlreiche Bücher. Aber war das nicht auch ein bisschen anstrengend – dauernd irgendwas wahnsinnig Ausgeflipptes, Neues zu machen? Am Ende zählt die Summe der glücklichen Momente und schönen Erinnerungen, sagte man. Wie sah ihr Konto diesbezüglich aus?


Während Merle angestrengt grübelte, fuhr der Zug in den Bahnhof Westerland ein. Da die Menschen sich dicht an dicht zu den Ausgängen schoben, sobald der Zug stand, blieben Merle und ihre Eltern erst mal sitzen. Im Flugzeug war das ja auch immer die beste Taktik. Als ihr Abteil so gut wie leer war, stiegen sie in aller Ruhe aus, schoben ihre Koffer vor sich her und marschierten auf dem Bahnsteig Richtung Taxistand.

3

Über die Keitumer Landstraße und die L 24 ging es direkt nach Wenningstedt, wo sie vor dem Eingangsportal des Hotel Lindner wieder ausstiegen. Der Himmel war bedeckt, und es war wie fast immer etwas windig, aber die Luft war lau. Das Hotel lag direkt an der Strandpromenade, und Merle sog tief die herrliche Meeresbrise ein, als sie ihre Koffer ausluden und zum Check-in zogen. Wie gut die Luft, die nach Salz und Algen roch, doch tat.


Vermutlich hatte es das Hotel nett gemeint, Merles Zimmer direkt neben dem ihrer Eltern zu buchen, aber Merle war darüber nicht besonders begeistert. Wenn sie sich richtig erinnerte, schnarchte ihr Vater fürchterlich, und ihre Mutter musste tausendmal pro Nacht aufs Klo. Hoffentlich waren die Wände gut isoliert.

»Ist doch herrlich, dann kann ich öfter mal spontan zu dir rüberschneien«, flötete ihre Mutter begeistert.

Merle fühlte sich zum zweiten Mal an diesem Tag wie zwölf. Und dabei wurde sie morgen fünfzig.

Sie beschlossen, erst mal die Koffer auszupacken und danach einen ausgiebigen Strandspaziergang zu machen. Sie wollten sich beim Raffelhüschen-Bäcker, der gegenüber dem Hotel lag und draußen ein paar kleine Tische in der Sonne stehen hatte, treffen.


Wie immer in Hotels testete Merle zuerst die Matratze, die zu ihrer Freude angenehm hart war. Durchgelegene oder zu weiche Matratzen, in denen sie versank, als wäre eine fleischfressende Pflanze über ihr zugeschnappt, fand sie furchtbar. Einen Song von Justin Timberlake vor sich hin summend, packte sie ihren Koffer aus. Viel hatte sie nicht mitgenommen – sie blieben ja nur vier Tage. Das »kleine Schwarze«, das sie morgen Abend in der Sansibar tragen wollte, hängte sie ehrfürchtig auf einen Bügel und strich es sorgsam glatt. Das Teil hatte über fünfhundert Euro gekostet – für Merles Verhältnisse ein kleines Vermögen. Aber dafür kaschierte es souverän ihre Schwachstellen an Hüften und Bauch und betonte dafür ihr Dekolleté und ihre schlanken Waden. Dazu würde sie ein paar schwarze Ballerinas tragen, die sie letzte Woche extra für diesen Anlass bei Zalando bestellt hatte.

Für den Strandspaziergang schlüpfte sie nun aber erst mal in kurze Jeans-Shorts, T-Shirt, Hoodie und Flip-Flops. Sie wollte am Meer unbedingt barfuß gehen, und die Plastik­latschen konnte man dann gut in die Hand nehmen.


In der Bäckerei kaufte sie sich Kaffee »to go« in einem dieser grünen RECUP-Pfandbecher, die es auf Sylt neuerdings überall gab, um die Vermüllung mit den Einmalbechern zu minimieren. Die ökologisch vorbildlichen, da wiederverwendbaren Trinkgefäße kosteten einen Euro, und man konnte sie deutschlandweit in allen teilnehmenden Läden und Restaurants wieder abgeben und das Pfand einlösen.

Zu dem duftenden Filterkaffee gönnte Merle sich ein herrlich zimtiges ofenwarmes Franzbrötchen, setzte sich draußen an einen Tisch und wartete auf ihre Eltern. Kaffee trinken und dabei Leute beobachten – das war etwas, das Merle sehr liebte. Interessiert taxierte sie die Menschen, die an ihr vorbeizogen: Gegelte Zweitwohnungsbesitzer mit teuren Uhren und rosa Polohemden stiegen aus SUVs im Wert einer Eigentumswohnung, Touristen in Funktionskleidung checkten den Postkartenstand, Kleinkinder quengelten an den Händen ihrer Mütter, Senioren schoben sich hinter Rollatoren her. Ein typischer Sommerferientag in einem Touristen-Hotspot.


Endlich kamen auch ihre Eltern aus dem Hotel. Ihre Mutter brauchte stets eine Ewigkeit, um sich »mal eben frisch« zu machen. Ihr Vater hatte auf seinem iPad währenddessen sicher die Sportschau gestreamt.

Mit perfekt ondulierter Frisur und ebensolcher Laune strahlte Renate sie an. »Wollen wir, Mäuschen?«

Mäuschen! Das hatte sie seit Jahren nicht mehr zu ihr gesagt. Merle kam sich sekündlich mehr in ihre Kindheit zurückversetzt vor. Leicht zerknirscht stapfte sie hinter ihren Eltern her, die Richtung Promenade marschierten. Spazieren gehen mit Mami und Papi. Fehlte nur noch, dass sie ihr ein Eis kauften.

»Oh, guck mal, da gibt’s Bio-Eis!«, rief Renate begeistert, als hätte sie Merles Gedanken gelesen, und steuerte auf den Eiswagen des Iismeer-Restaurants zu, der vor dem Kursaal stand.

»Toll, aber jetzt wollen wir erst mal an den Strand«, befahl Merle barsch und zog so einen ersten Schlussstrich unter weiteres infantiles Abrutschen.

»Na gut«, maulte ihre Mutter. »Die Schlange ist ja auch endlos.«

Sie zeigten am Kartenhäuschen ihre Gästekarten vor und stiegen die Promenadentreppe zum Strand hinab. Die Konstruktion des hölzernen Bauwerkes war eindrucksvoll: An der rechten Seite gab es ein riesiges Stahlrohr, das als Rutsche diente und in dem sich Kinderhorden begeistert kreischend in die Tiefe stürzten. Auf der linken Seite gab es auf fast jeder Stufe Sitzgelegenheiten und sogar weiße Plastikkissen, um den Ausblick auf Küste und Brandung in Ruhe genießen zu können. Die Leute, die darauf Platz genommen hatten, schauten glücklich auf die grüne Nordseebrandung, aßen etwas, lasen oder hielten mit geschlossenen Augen eine Siesta.


Die Brandung war – wie so oft auf Sylt – eindrucksvoll: Große grüne Wellen rollten heran und überschlugen sich brüllend. Die weiße Gischt sah dabei aus wie Bierschaumkronen. Thomas Mann hatte die Sylter Wellen mal als »Raubtiere« bezeichnet – und so wild und gefährlich, wie sie gerade heranrollten, konnte Merle diesen Vergleich gut nachvollziehen.

Sie spazierten direkt am Wassersaum entlang, und Merle genoss es, ihre Füße immer wieder von der kühlen Brandung überspülen zu lassen.

Ihr Vater hob eine Muschel nach der anderen auf, Renate starrte versonnen auf den Horizont. Sie schlenderten Richtung Kampen, und je länger Merle die faszinierenden Wellen beobachtete, desto mehr Lust bekam sie, hineinzuspringen. Nur leider hatte sie weder Bikini noch Badeanzug dabei. Seit ein paar Minuten war der Himmel aufgerissen, und die Sonne strahlte, aber als sie im Hotel losgegangen waren, war die Wolkendecke so dicht gewesen, dass sie nicht im Traum daran gedacht hätte, Lust zum Schwimmen zu bekommen. Aber was soll’s, sagte sie sich. Dann würde sie eben im Slip und oben ohne in die Brandung rennen – das war hier auf Sylt, wo FKK normal und quasi überall erlaubt war, total egal. Hatte nicht Romy Schneider mal gesagt, Sylt könne ihr gestohlen bleiben, denn da würde in jeder Welle ein nackter Arsch hängen? Merle musste grinsen, rief ihren Eltern zu, dass sie mal kurz ins Meer springen würde, und zog sich Hoodie und T-Shirt über den Kopf.

»Nee, ne?«, lachte ihre Mutter und zog zu Merles größter Überraschung ebenfalls ihren Anorak aus. »Meinst du, ich lasse dich da alleine reingehen?« Juchzend rannte Renate splitterfasernackt ins Wasser.

Vollkommen verblüfft schleuderte auch Merle ihren Slip zur Seite und sprintete ihr hinterher. Es war ein unfassbar prickelndes Gefühl, das schaumige, kühle Salzwasser auf der Haut zu spüren. Es fühlte sich an, als würde man in einem Champagner-Whirlpool baden. Merle köpfte durch die heranrollenden Wellen, ihre Mutter ließ sich mit dem Rücken hineinfallen. Es war zwar schon Anfang Juli, aber die Nordsee hatte erst sechzehn Grad, deshalb war es zu Merles Bedauern im Wasser nicht sehr lange auszuhalten.


Auf dem Rückweg begann es auch noch zu regnen. Vollkommen durchgefroren kamen sie im Hotel an und beschlossen, zum Aufwärmen sofort in die Sauna zu gehen.

Die kalten Glieder in der wohligen, nach Eukalyptus duftenden Wärme auszustrecken und sich langsam wieder aufheizen zu lassen, war herrlich. Der pure Genuss. Merle fühlte sich so erfrischt und belebt wie lange nicht mehr – und auch Renate schien es sehr zu genießen.

»So etwas müssten wir viel öfter machen, Merli«, seufzte ihre Mutter, als sie sich nackt und dampfend auf der Außenterrasse abkühlten. Es nieselte immer noch, und Merle breitete die Arme aus, um sich von den feinen Tropfen erfrischen zu lassen.

»Ja, müssten wir echt«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Nur sind wir ja nicht dauernd auf Sylt.«

»Aber in Hamburg gibt es doch auch so viele schöne Wellness-Zentren«, warf ihre Mutter ein.

»Stimmt«, murmelte Merle und war sich nicht ganz sicher, ob sie sich jetzt wirklich auf regelmäßige Sauna-Treffs mit ihrer Mutter festnageln lassen sollte. »Ich springe kurz ins Eisbad und gehe dann noch mal rein«, rief sie ihr deshalb zu und verschwand im Spabereich.


Nordseeluft machte bekanntlich müde und hungrig – erst recht, wenn man einen ausgiebigen Strandspaziergang, ein Bad in den tosenden Wellen und zwei Saunagänge hinter sich hatte. Bereits um neunzehn Uhr fand sich Familie Merbach deshalb im Hotelrestaurant ein, um sich auf das Halbpensionsmenü zu stürzen. Das Bier stieg Merle nach der Sauna sofort zu Kopf, und sie genoss den angenehm beschwingt-beduselten Entspannungszustand.

Da sie alle müde waren, gingen sie nach dem Essen direkt auf ihre Zimmer. Merle öffnete das Fenster, um die herrliche Luft hereinzulassen, ließ sich mit ausgebreiteten Armen auf die bequeme Matratze fallen und lauschte dem Rauschen der Brandung. Es war ein überraschend schöner Tag gewesen – trotz (oder gerade wegen?) ihrer Eltern.

Sie freute sich auf ihren ruhigen Geburtstag morgen. Dann war sie jetzt eben wieder zwölf – und wurde morgen fünfzig! Sie löschte das Licht, schloss die Augen und schlief erstaunlich schnell ein.