Lama Anagarika Govinda

Grundlagen tibetischer Mystik

© Lama und Li Gotami Stiftung, Pforzheim 2008

© 2008 Aquamarin Verlag GmbH

Voglherd 1 • D-85567 Grafing

www.aquamarin-verlag.de

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,

der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

ISBN-13: 978-3-96861-188-4

Inhalt

Vorwort

Erster Teil

OṂ – Der Weg der Allheit

IDie Magie des Wortes und die Macht der Sprache

IIDer Ursprung und der universelle Charakter der Silbe OṂ

IIIDie Idee des schöpferischen Lautes und die Vibrationstheorie

IVDer Verfall der mantrischen Tradition

VDie Mantrik des frühen Buddhismus

VIBuddhismus als lebendige Erfahrung

VIIDie universelle Haltung des Mahāyāna und des Bodhisattva-Ideals

VIIIDer allumfassende Weg und die Neuwertung der heiligen Silbe OṂ

Zweiter Teil

MAṆI – Der Weg der Ganzwerdung und der Wesensgleichheit

IDer Stein der Weisen und das Elixier des Lebens

IIGuru Nāgārjuna und die mystische Alchemie der Siddhas

IIIMani, das Juwel des Geistes, als »Stein der Weisen« und »Prima Materia«

IVMani als »diamantenes Zepter«

VGeist und Materie

VIDie fünf Skandhas und die Lehre vom Bewusstsein

VIIDie doppelte Rolle des Geistes (Manas)

VIIIInnere Umkehr

IXVerwandlung und Ganzwerdung

Dritter Teil

Padma – Der Weg entfaltender Schauung

IDer Lotos als Symbol geistiger Entfaltung

IIDie anthropomorphe Symbolik der Tantras

IIIErkenntnis und Macht: Prajñā versus Śakti

IVDie Polarität des männlichen und des weiblichen in der Symbolsprache des Vajrayāna

VSchauung als schöpferische Wirklichkeit

VIITārā, Akṣobhya und Vairocana im tibetischen Meditationssystem

VIIISymbolik des Raumes, der Farben, der Elemente, Gesten und Geistesqualitäten

IXDie Bedeutung des Bardo Thödol als Leitfaden der Schaubildentfaltung

Vierter Teil

HŪṂ – Der Weg integrierender Einschmelzung

I»OṂ« und »HŪṂ« als komplementäre Erlebniswerte und metaphysische Symbole

IIDie Lehre von den psychischen Zentren im Hinduismus und im Buddhismus

IIIDie Prinzipien des Raumes und der Bewegung

IVDie psychischen Zentren des Kuṇḍalinī-Yoga und ihre physiologischen Entsprechungen

VDie Lehre von den psychischen Energien und von den fünf Hüllen des Bewusstseins

VIDie körperlichen und psychischen Funktionen des Prāṇa und die Prinzipien der Bewegung (Vāyu) als Ausgangspunkt der Meditation

VIIDie drei Kraftströme und ihre Bahnen im menschlichen Körper

VIIIDer Yoga des inneren Feuers im tibetischen Meditationssystem (Tapas und gTum-mo)

IXDie psychophysischen Vorgänge im Yoga des inneren Feuers

XDie Zentren psychischer Kraft im Yoga des inneren Feuers (gTum-mo)

XIDhyāni-Buddhas, Keimsilben und Elemente im buddhistischen Cakra-System

XIISymbolik der Keimsilbe HŪṂ als Inbegriff der fünf Weisheiten

XIIIDie Keimsilbe »HŪṂ« und die Bedeutung der Ḍākinī im Meditationsvorgang (Ḍākinī versus Kuṇḍalinī)

XIVPadmasambhavas Initiation

XVDie Ekstase des Durchbruchs im meditativen Erlebnis und die wissenshaltenden Gottheiten

XVI»Das Mysterium des Körpers, der Rede und des Geistes« und der mystische Weg Vajrasattvas im HŪṂ

Fünfter Teil

OṂ MAṆI PADME HŪṂ – Der Weg des großen Mantra

IDie Lehre von den »drei Körpern« und den drei Ebenen der Wirklichkeit

IIMāyā als schöpferisches Prinzip und die Dimensionen des Bewusstseins

IIIDer Nirmānakāya als höchste Form der Verwirklichung

IVDer Dharmakāya und das Mysterium des Körpers

VDie Vieldimensionalität des großen Mantra

VIAvalokiteśvaras Abstieg in die sechs Bereiche der Wandelwelt

VIIDie Formel des abhängigen Entstehens

VIIIDas Prinzip der Polarität in der Symbolik der sechs Bereiche und der fünf Dhyāni-Buddhas

IXDie Beziehung der sechs heiligen Silben zu den sechs Bereichen

Epilog und Synthese

ĀḤ – Der Weg der Tat

IAmoghasiddhi: Der Herr der allesvollendenden Weisheit

IIAmoghasiddhis alles vollendende Weisheit als Befreiung vom Gesetz der wirkenden Tat (Karma)

IIIDie Furchtlosigkeit des Bodhisattva-Pfades

Anhang

IBibliografie

IITranskriptionsmethode und Aussprache indischer und tibetischer Wörter

Dem Gedächtnis meines Gurus

Dem ehrwürdigen

TOMO GÉSHÉ RINPOCHÉ

NGAWANG KALZANG

Großabt des Klosters der Weißen Muschel im Tomo-Tal (Tibet), dessen

Leben in der Verwirklichung des

Bodhisattva-Ideals bestand

Vorwort

Die Bedeutung der tibetischen Tradition für unsere Zeit und für die geistige Entwicklung der Menschheit liegt darin, dass Tibet das letzte lebendige Glied ist, das uns mit den Kulturen einer fernen Vergangenheit verbindet. Die Mysterienkulte Ägyptens, Mesopotamiens, Griechenlands, der Inkas und Mayas sind mit dem Untergang ihrer Kulturen bis auf einige fragmentarische Überlieferungen auf immer unserer Kenntnis entzogen. Die alten Kulturen Indiens und Chinas, obwohl durch Literatur und Kunst weitgehend belegt und noch hier und da unter der Asche neuzeitlichen Denkens glühend, sind von so vielen Schichten verschiedenartiger Kulturströmungen überlagert und durchwachsen, dass es schwer, wenn nicht unmöglich ist, die einzelnen Elemente voneinander zu trennen und in ihrer ursprünglichen Natur zu erkennen.

Tibet, infolge seiner naturbedingten Isolierung und Unzugänglichkeit (die durch die politischen Bedingungen der letzten Jahrhunderte verstärkt wurden), ist es gelungen, die Traditionen fernster Vorzeit, das Wissen um die verborgenen Kräfte der menschlichen Seele und die höchsten Erkenntnisse und esoterischen Lehren indischer Weiser nicht nur in ihrer Reinheit zu bewahren, sondern lebendig zu erhalten.

Aber im Sturme weltumwälzender Ereignisse, dem kein Volk der Erde entgehen kann und der auch Tibet aus seiner Isolierung reißen wird, werden diese geistigen Errungenschaften entweder für immer verschwinden oder zum Geistesgut einer zukünftigen, höheren Menschheitskultur werden müssen.

Tomo Gésché Rinpoché (tro-mo dge-bśes rin-po-che), einer der anerkannt größten geistigen Lehrer Tibets unserer Zeit, ein wahrhafter Meister innerer Schauung, sah dies voraus, verließ seine weltferne Bergklause, in der er zwölf Jahre lang der Versenkung gepflegt hatte und verkündete, dass die Zeit gekommen sei, die durch mehr als tausend Jahre gehüteten Geistesschätze Tibets der Welt zugänglich zu machen. Denn die Menschheit steht am Kreuzweg großer Entscheidungen: Vor ihr liegt der Weg der Macht durch Beherrschung der Naturkräfte, – ein Weg, der zur Versklavung und Selbstzerstörung führt, – und der Weg der Erleuchtung (der Bodhisattva-Mārga), der durch Beherrschung der in uns liegenden Kräfte zur Freiheit und Selbstverwirklichung führt. Diesen Weg zu weisen und durch sein eigenes Beispiel zur Wirklichkeit zu machen, war die Lebensaufgabe von Tomo Géshé Rinpoché.

Das lebendige Beispiel dieses großen Lehrers, von dessen Händen der Autor vor fünfundzwanzig Jahren die erste Weihe und den tiefsten geistigen Anstoß seines Lebens erhielt, öffnete ihm die Tore zu den Mysterien Tibets und ermutigte ihn, das so Gewonnene, so weit sich dies in Worte fassen lässt, der Mitwelt zu übergeben. Sollte das so Vermittelte, trotz aller Unvollkommenheiten, die jeder solcher Versuch in sich trägt, anderen Suchern eine Hilfe sein, so gebührt der Dank hierfür in erster Linie dem Guru, der das Höchste gab: Nämlich sich selbst. Mit ihm muss der Verfasser auch aller jener Lehrer gedenken, die seit dem Dahinscheiden des ersten Gurus seine Stelle vertraten, um das begonnene Werk zur Reife zu bringen. Ihnen allen schuldet der Verfasser tiefen Dank.

Durch sie alle aber leuchtet die Gestalt des Ur-Guru, der unvergänglich im innersten Herzen seiner Jünger lebt.

Verehrung Ihm, dem Lehrer!

OṂ MUNI MUNI MAHĀ-MUNI ŚĀKYAMUNIYE SVĀHĀ!

Kasar Devi Ashram, Kumaon Himalaya, Indien, im V. Monat des Jahres 2500 nach des Buddha Parinirvāṇa

(Oktober 1956)

Der Verfasser

Illustrationen

I. Photos tibetischer Statuen

von Li Gotami

(Mitglied der Tsaparang Expedition)

Tafel I:

AVALOKITEŚVARA,
dem die heilige Formel OṂ MAṆI PADME HŪṂ gewidmet ist

Tafel II:

VAIROCANA,
der die Weisheit des universellen Gesetzes verkörpert

Tafel III:

RATNASAMBHAVA,
der die Weisheit der Wesensgleichheit verkörpert

Tafel IV:

AMITĀBHA,
der die Schauende Weisheit verkörpert

Tafel V:

AKṢOBHYA,
der die Weisheit des Großen Spiegels verkörpert

Tafel VI:

Der tausendarmige AVALOKITEŚVARA,
die Verkörperung helfender Barmherzigkeit

Tafel VII:

AMOGHASIDDHI,
der die Allesvollendende Weisheit verkörpert

Tafel VIII:

AMOGASIDDHIS Geste der Furchtlosigkeit

Die in den Tafeln I, III, V, und VIII wiedergegebenen überlebensgroßen vergoldeten Statuen befinden sich in den Tempeln von Tsaparang (West-Tibet), deren Gründung dem Lotsava Rinchen Zangpo (965[?]-1054) zugeschrieben wird. Sie gehören zu den besten Beispielen früher tibetischer Bildhauerkunst, die in dieser Epoche ihren Höhepunkt erreichte. Tsaparang und Tholing waren zur Zeit Rinchen Zangpos die Hauptzentren tibetischer Kultur und Sitz der Herrscher des West-Tibetischen Reiches. Die vom Autor unternommene Tsaparang-Expedition (1947-1949) diente der Erforschung der Kunstschätze dieser seit Jahrhunderten verlassenen und in Vergessenheit geratenen Ruinenstadt.

Die Riesenstatuen Amitābhas (Tafel IV) und Amoghasiddhis (Tafel VII), die vermutlich dem Anfang des 15. Jahrhunderts entstammen, befinden sich im Kumbum, dem Tempel der »Hunderttausend Buddhas« (sku-ḥbum) in Gyantse (Zentral-Tibet). Amitābha und Amoghasiddhi sind hier im reichen Schmuck des Sambhogakāya dargestellt.

Der tausendarmige Avalokiteśvara (Tafel VI) ist eine modern tibetische Statue, die sich im Tempel des Klosters Yi-Gah Chöling (Ghoom), in der Nähe Darjeelings, befindet.

Das Grundmaterial dieser Statuen ist gehärteter Lehm, der in der trockenen Atmosphäre Tibets fast die Härte und Dauerhaftigkeit von Stein erreicht. Eine Ausnahme bildet die metallene Riesenstatue Akṣobhyas.

II. Pinselzeichnungen

Nach bildlichen Darstellungen tibetischer Tradition

1.Guru Nāgārjuna

2.Guru Kaṅkanapa

3.Der Vajra oder das Diamant-Zepter

4.Das Lebensrad (ausgeführt von Li Gotami)

III. Diagramme

1.Manas als Überschneidung von individuellem und universellem Bewusstsein

2.Der Lotos der fünffachen Schaubildentfaltung

3.Vereinfachtes Schema der Zentren psychischer Kraft, nach der Tradition des Kuṇḍalinī-Yoga

4.Die vier oberen Zentren

5.Die drei unteren Zentren

6.Die fünf Hüllen (kośa)

7.Die psychischen Zentren im Yoga des Inneren Feuers

8.Beziehungen zwischen Zentren, Elementen, Keimsilben und Dhyāni-Buddhas

9.Form-Elemente des Chorten (Stūpa)

10.Die Symbolik der Keimsilbe HŪṂ

11.Maṇḍala der Wissenshaltenden Gottheiten, nach dem Bardo Thödol

12.Maṇḍalas der drei oberen Zentren

13.Beziehungen der Dhyāni-Buddhas und der sechs heiligen Silben zu den Sechs Bereichen der Wandelwelt

IV. Symbole und Keimsilben

1.Das achtspeichige Rad (Cakra) und die Keimsilbe OṂ

2.Das dreifache Juwel (Maṇi) und die Keimsilbe TRAṂ

3.Der Lotos (Padma) mit der Keimsilbe HRĪḤ im Zentrum

4.Der neunspeichige Vajra und die Keimsilbe HŪṂ

5.Der Lotos als Träger des OṂ MA-ṆI PA-DME HŪṂ mit der Keimsilbe HRĪḤ als Zentrum

6.Der Doppel-Vajra mit der Keimsilbe ĀḤ im Zentrum

Anmerkung

A. Zu den Schriftzeichen:

Alle mantrischen Worte und Silben haben ihren Ursprung im Sanskrit und werden für gewöhnlich in tibetischer Buchschrift (dbu-can; gespr. »U-tschen«) oder in der besonders dekorativen und traditionsgeheiligten indischen Schrift des 7. Jahrhunderts n. Chr. (Lantsa) geschrieben, einer Abart der Devanāgarī, der »Schrift der Götter« (lhaḥi yi-ge), wie die Tibeter sie auch heute noch nennen.

B. Zu den Symbolen:

I. Das Rad der Lehre des universellen Gesetzes (dharma-cakra) ist das Symbol Vairocanas, der in der Geste der »Inbewegungsetzung des Rades der Lehre«, d. h. als geistiger Anstoßgeber, dargestellt wird. Seine Keimsilbe ist OṂ, der heilige Laut, der das allumfassende Erlebnis geistiger Universalität und Freiheit ausdrückt. Das OṂ steht darum im Zentrum des Rades, dessen acht Speichen den Achtfachen Pfad des Buddha darstellen, der von der Peripherie der Wandelwelt, der Welt ewiger Wiederkehr, zum Zentrum der Befreiung (im OṂ) führt. Der Achtfache Pfad (aṣṭāṅgika mārga) besteht aus folgenden Gliedern:

1.

vollkommene Einsicht

(samyag dṛṣṭi)

2.

vollkommener Entschluss

(samyak samkalpa)

3.

vollkommene Rede

(samyak vāk)

4.

vollkommenes Handeln

(samyak karmānta)

5.

vollkommene Lebensweise

(samyag ājīva)

6.

vollkommene Bemühung

(samyag vyāyāma)

7.

vollkommene Verinnerung

(samyak smṛti)

8.

vollkommene Vertiefung

(samyak samādhi)

»Samyak« (Pāli: sammā; Tib.: yaṅ-dag) wird gewöhnlich mit dem vagen Begriff »recht« wiedergegeben. Samyak hat aber einen viel tieferen und eindeutigeren Sinn; es bedeutet die Völligkeit, Ganzheit, Vollständigkeit einer Handlung oder eines Zustandes, im Gegensatz zu etwas, das unvollständig, halb oder einseitig ist. Ein Samyak-Sambuddha ist ein »Vollkommen Erleuchteter«, ein völlig Erleuchteter, nicht ein »recht« Erleuchteter. Samyak dṛṣṭi bedeutet daher mehr als »rechte Ansichten« oder Übereinstimmung mit gewissen vorgefassten religiösen oder moralischen Ideen. Es bedeutet ein völliges, d. h. nicht einseitiges Sehen der Dinge, eine unvoreingenommene Geisteshaltung, welche die Natur des Daseins der Wirklichkeit gemäß erkennt. Statt unsere Augen zu verschließen vor allem Unerfreulichen und Leidvollen, blicken wir der Tatsache des Leidens ins Auge, und indem wir dies tun, entdecken wir ihre Ursache – und mehr noch, dass diese Ursache in uns selbst liegt und von uns überwunden werden kann. So kommt uns das Wissen vom hohen Ziel der Befreiung und vom Weg, der zu seiner Verwirklichung führt. Samyak dṛṣṭi ist also das Erlebnis (nicht die bloße intellektuelle Anerkennung) der Vier Heiligen Wahrheiten des Buddha (vom Leiden, seiner Ursache, seiner Befreiung und des Befreiungsweges). Aus dieser Geisteshaltung allein kann der vollkommene, d. h. den ganzen Menschen erfassende Entschluss geboren werden, der den Einsatz des ganzen Menschen in Worten, Taten und Gedanken fordert und durch vollkommene Verinnerlichung und Vertiefung zur völligen Erleuchtung (samyak sambodhi) führt.

II. Das dreifache Juwel (tri-ratna) ist das Symbol Ratnasambhavas, der in der Geste des Gebens (dāna-mudrā) dargestellt wird. Was er gibt, sind die drei Kostbarkeiten »Buddha, Dharma, Sangha«, d.h. sich selbst, seine Lehre und seine Gemeinschaft. Das diese darstellende »dreifache Juwel« wächst aus einem Lotos. Die mittlere Spitze des Juwels trägt den heiligen Laut TRAṂ, die Keimsilbe Ratnasambhavas. Am Fuße des Juwels stehen die Silben MA und ṆI. Die vom Juwel ausgehenden Flammen sind ein Symbol der Weisheit.

III. Der Lotos ist das Symbol Amitābhas, der in der Geste der Meditation (dhyāna-mudrā) dargestellt wird (Tafel IV zeigt den geöffneten Lotos auf den im Schoße zusammengelegten Händen Amithābhas). Seine Keimsilbe ist HRĪḤ. Letztere steht darum im Zentrum des Lotos, der das Maṇḍala Amitābhas darstellt. Amitābha, als Herr des Maṇḍalas, nimmt somit die Stelle Vairocanas ein, während Vairocanas OṂ die Stelle Amitābhas auf dem westlichen (oberen) Blütenblatt einnimmt. Im Osten (unten) befindet sich Akṣobhyas HŪṂ, im Süden (links) Ratnasambhavas TRAṂ und im Norden (rechts) Amoghasiddhis ĀḤ. In allen tibetischen Maṇḍalas werden die Himmelsrichtungen in dieser Weise wiedergegeben:

IV. Das Symbol Akṣobhyas ist der Vajra, seine Keimsilbe ist HŪṂ, seine Geste die der Erdberührung (bhūmisparśa-mudrā). Der Vajra wird häufig in der nach unten gestreckten rechten Hand oder als auf der im Schoß ruhenden linken Hand stehend dargestellt.

V. Der sechsblättrige Lotos, der die sechs heiligen Silben OṂ MA ṆI PA DME HŪṂ auf den Blütenblättern und das HRĪḤ im Zentrum trägt, ist das Symbol Avalokiteśvaras, der auch Padmapāṇi (Lotosträger) genannt wird und zur Lotos-Ordnung Amitābhas gehört. Avalokiteśvaras Mantra wird in dieser Form auf Tausenden von »Maṇi«-Steinen eingemeißelt.

VI. (Epilog) Der Doppel-Vajra (viśva-vajra) ist das Symbol Amoghasiddhis, dessen Keimsilbe ĀḤ im Zentrum des Doppelvajra erscheint. Amoghasiddhi wird in der Geste der Furchtlosigkeit (abhaya-mudrā) dargestellt, wobei die nach außen gekehrte Handfläche der erhobenen rechten Hand häufig den Viśva-vajra zeigt.


ERSTER TEIL

OṂ
DER WEG DER ALLHEIT


I

Die Magie des Wortes und die Macht der Sprache

Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren,
das Hörbare am Unhörbaren, das Fühlbare
am Unfühlbaren; vielleicht das Denkbare
am Undenkbaren
.

Novalis

Worte sind Siegel des Geistes, Endpunkte – oder richtiger Stationen – unendlicher Erlebnisreihen, die aus fernster, unvorstellbarer Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichen und ihrerseits Ausgangspunkte zu neuen unendlichen Reihen werden, die in eine ebenso unvorstellbar ferne Zukunft tasten. Sie sind »das Hörbare, das am Unhörbaren haftet«, das Gedachte und das Denkbare, das aus dem Undenkbaren wächst.

Das Wesen des Wortes erschöpft sich darum weder in seiner Nützlichkeit, als Vermittler von Begriff und Idee, noch in seiner gegenwärtigen Bedeutung, sondern besitzt zu gleicher Zeit Eigenschaften, die über das Begriffliche hinausgehen – so wie die Melodie eines Liedes, obwohl mit einem gedanklichen Inhalt verbunden, dennoch nicht mit diesem identisch ist oder von ihm ersetzt werden kann. Und es ist gerade diese irrationale Eigenschaft, die unsere tiefsten Gefühle erregt, unser innerstes Wesen erhebt und es mitschwingen lässt mit anderen.

Der Zauber, den die Dichtkunst auf uns ausübt, beruht auf diesem irrationalen Faktor, gepaart mit dem aus gleicher Quelle fließenden Rhythmus. Dies ist der Grund, warum die Magie der Dichtung stärker ist als der objektive Inhalt ihrer Worte, – stärker als der Verstand mit all seiner Logik, an deren Allmacht wir so unerschütterlich glauben.

Der Erfolg großer Redner ist darum nicht nur von dem abhängig, was sie sagen, sondern von der Art, wie sie es sagen. Wenn die Menschen durch Logik und wissenschaftliche Beweise überzeugt werden könnten, so würden die Philosophen schon längst den größeren Teil der Menschheit zu ihren Ansichten bekehrt haben. Und auf der anderen Seite würden die heiligen Schriften der Weltreligionen nie einen so gewaltigen Einfluss ausgeübt haben. Denn was sie in Form reinen Denkens vermitteln, ist gering im Vergleich mit den Schöpfungen großer Gelehrter und Philosophen. Wir können daher mit Recht sagen, dass die Macht jener heiligen Schriften auf der Magie des Wortes beruht, d. h. auf jener verborgenen Kraft, die den Weisen der Vergangenheit bekannt war, da sie den Ursprüngen der Sprache noch nahe standen.

Die Geburt der Sprache war die Geburt des Menschtums. Jedes Wort war das lautliche Äquivalent einer Erfahrung, eines Erlebnisses, eines inneren oder äußeren Stimulus. Eine gewaltige Anstrengung und schöpferische Leistung lag in dieser Lautformung beschlossen, die sich über große Zeiträume erstreckt haben muss, und derzufolge es dem Menschen gelang, sich über das Tier zu erheben.

Wenn Kunst als die Neuschöpfung und der formale Ausdruck der Wirklichkeit durch das Medium menschlicher Erfahrung genannt werden kann, so können wir die Schöpfung der Sprache als die höchste künstlerische Leistung der Menschheit bezeichnen. Jedes Wort war ursprünglich ein Brennpunkt von Energien, in denen die Verwandlung der Wirklichkeit in die Schwingungen der menschlichen Stimme – dem lebendigen Ausdruck des Seelischen – vonstatten ging. Durch diese lautlichen Schöpfungen nahm der Mensch Besitz von der Welt. Und mehr als das: Er entdeckte eine neue Dimension, eine Welt in seinem Inneren, wodurch sich ihm die Aussicht auf eine höhere Lebensform eröffnete, die sich ebenso weit über den gegenwärtigen Zustand der Menschheit erhebt, wie das Bewusstsein eines zivilisierten Menschen über das Tier.

Die Vorahnung, ja Gewissheit, solch höherer Daseinszustände ist mit gewissen Erlebnissen verbunden, die von so grundlegender Natur sind, dass sie weder erklärt noch beschrieben werden können. Sie sind so subtil, dass es nichts gibt, womit man sie vergleichen könnte, nichts, woran Gedanke oder Vorstellung haften könnten. Dennoch sind diese Erfahrungen wirklicher als irgendetwas, das wir sehen, denken, berühren, schmecken, riechen oder hören können; und zwar deshalb, weil sie erfüllt sind von dem, was allen Einzelempfindungen vorausgeht und sie umfasst, aus welchem Grunde sie nicht mit irgendeiner derselben identifiziert werden können. Darum können solche Erlebnisse nur durch Symbole angedeutet werden; und diese Symbole sind nicht willkürliche Erfindungen, sondern spontane Ausdrucksformen, die aus den tiefsten Regionen des menschlichen Geistes hervorbrechen.

Sie »brechen aus dem Seher als Gesicht, aus dem Sänger als Laut und sind im Banne von Gesicht und Laut unvermittelt und schlechthin da. Ihr wesenhaftes Dasein ist der Inbegriff priesterlicher Gewalt des Seher-Dichters. Was aus seinem Munde erklingt, ist nicht Allerweltswort, Schall (śabda), aus dem das Reden besteht. Es ist mantra: Zwang zum Denkbild, Zwang über das Seiende, so da zu sein, wie es wirklich in seinem unmittelbaren Wesen ist. Es ist also Erkenntnis. Ist unmittelbares gegenseitiges Innesein von Wissendem und Gewusstem. – Wie es im ersten Lautwerden beschwörender Zwang war, mit dem Unmittelbares den Seher-Dichter als Bild und Wort überkam, Zwang, mit dem der Dichter Unmittelbares in Bild und Wort bewältigte, – so ist für alle Folgezeit, die Mantra-Worte zu gebrauchen weiß, beschwörender Zwang, magisches Mittel, um unmittelbar Wirklichkeit – Erscheinung der Götter, Spiel der Kräfte – zu wirken.

Im Wort ›mantra‹ ist die Wurzel ›man‹ = ›denken‹ (zu griech. ›menos‹, lat. ›mens‹) mit dem Element -tra vereint, das Werkzeugworte bildet. – So ist ›mantra‹ = ›Werkzeug zum Denken‹, ein ›Ding, das ein Denkbild zuwege bringt‹. Mit seinem Klang ruft es seinen Gehalt zu unmittelbarer Wirklichkeit auf. ›Mantra‹ ist Gewalt, kein meinendes Sagen, dem der Geist widersprechen oder sich entziehen kann. Was im Mantra verlautet, ist so, ist da, begibt sich. Hier, wenn irgendwo, sind Worte Taten, wirken unmittelbar Wirkliches.«1

So war das Wort in der Stunde seiner Geburt ein Zentrum der Kraft und der Wirklichkeit, und erst die Gewohnheit hat es zu einem bloß konventionellen, stereotypen Ausdrucksmittel gemacht. Das Mantra-Wort ist diesem Schicksal bis zu einem gewissen Grade entgangen, weil es keine konkrete Bedeutung hatte und daher nicht Nützlichkeitszwecken dienstbar gemacht werden konnte.

Obwohl jedoch die Mantra-Worte weiterlebten, ist ihre Tradition fast ausgestorben, und es gibt heutzutage nur noch Wenige, die sich derselben bewusst sind und die wahre Natur mantrischer Worte verstehen und sich ihrer zu bedienen wissen. Die moderne Menschheit ist nicht einmal fähig, sich vorzustellen, wie tief die Magie des Wortes und der Sprache von den Kulturen des Altertums erlebt wurde und welch gewaltigen Einfluss sie auf das gesamte Leben, besonders aber das religiöse, ausübte.

Im Zeitalter des Rundfunks und der Tageszeitungen, in dem das gesprochene und geschriebene Wort millionenfach vervielfältigt und wahllos in die Welt geschleudert wird, hat die Wertung des Wortes einen solchen Tiefstand erreicht, dass es schwer ist, dem heutigen Menschen auch nur einen entfernten Begriff von der ehrfürchtigen Haltung zu geben, die der Mensch vergeistigterer Zeitalter oder religiöserer Kulturen dem Wort als Träger geheiligter Tradition und Verkörperung des Geistes entgegenbrachte.

Die letzten Überreste solcher Kulturen klingen noch in den Ländern des Ostens nach. Aber nur einem Land ist es gelungen, mantrische Tradition bis auf den heutigen Tag lebendig zu erhalten – und dieses Land ist Tibet. Hier ist nicht nur das »Wort«, sondern jeder Buchstabe des Alphabetes, jeder Laut, ein heiliges Symbol. Auch wenn es profanen Zwecken dient, wird sein Ursprung und Wert nie vergessen oder völlig außer Acht gelassen. Das geschriebene Wort wird darum immer mit Respekt behandelt und niemals achtlos fortgeworfen, wo Menschen oder Tiere es mit Füßen treten könnten. Wenn es sich gar um Worte oder Schriften religiöser Natur handelt, so wird selbst das kleinste Fragment von ihnen mit der Ehrfurcht einer kostbaren Reliquie behandelt und nicht willkürlich zerstört, selbst wenn es keinem Zweck mehr dient, sondern in besonders dafür errichteten Sanktuarien und Behältnissen abgelegt oder in Höhlen seiner natürlichen Auflösung überlassen.

Dies mag dem Außenstehenden als primitiver Aberglaube erscheinen, wenn er solche Handlungen aus dem Zusammenhang mit ihrem weltanschaulichen Hintergrunde gelöst betrachtet, denn worauf es hier ankommt, ist nicht das Stück Papier und die darauf geschriebenen Zeichen, sondern die Haltung des eigenen Geistes, die in jeder dieser Handlungen zum Ausdruck kommt und die ihren Grund in der Anerkennung einer stets gegenwärtigen höheren Wirklichkeit hat, die durch jeden Kontakt mit ihren Symbolen aufgerufen und in uns wirksam gemacht wird.

Das Symbol wird somit niemals zum bloßen Mittel alltäglichen Gebrauchs herabgewürdigt oder nur zur »sonntäglichen« Erbauung aus der Versenkung gezogen, sondern ist lebendige Gegenwart, der alles Profane, Materielle und Lebensnotwendige untergeordnet ist. Ja, was wir »profan« und »materiell« nennen, wird durch eine solche Haltung seiner Profanität, seiner Weltlichkeit und Materialität entkleidet und wird zum Ausdruck eines hinter aller Erscheinung liegenden Wirklichen, das unserem Leben und Tun erst Sinn verleiht und selbst das Geringste und Unscheinbarste einordnet in den großen Zusammenhang alles Geschehens und alles Daseienden.

»Im Kleinsten wirst du einen Meister finden, dem du tief innen nie genug tun kannst.« (Rilke) Würde diese Geisteshaltung an irgendeiner Stelle unterbrochen, so würde sie ihre Einheit verlieren und damit ihren Halt und ihre Stärke einbüßen.

Der Seher, der Dichter und Sänger, der geistig Schöpferische, der seelisch Empfindsame, der Heilige: Sie alle wissen um das Wesen der Form in Wort und Laut, im Sichtbaren und Tastbaren. Sie sind keine Verächter des Kleinen, denn sie können im Kleinen das Große sehen. In ihrem Mund wird das Wort zum Mantra und die Laute und Zeichen, die es formen, zum Träger geheimnisvoller Kräfte. In ihren Augen wird das Sichtbare zum Symbol, das Dinghafte zum schöpferischen Werkzeug des Geistes und das Leben zu einem tiefen Strom, der von Ewigkeit zu Ewigkeit fließt: »Alles ist Siegel, – alles ist Spiegel, – doch alles verhüllt getrübtem Blick«, wie Melchior Lechters Mantra aus dem »Märchen vom Sinn« so schön und schlicht sagt.

Es ist gut, uns von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, dass die Einstellung des Ostens auch in Europa zu Hause war und die Tradition des verinnerlichten Wortes und der Symbolwirklichkeit bis in die neueste Zeit ihre Verkünder hatte. Ich erinnere hier nur an die mantrische Auffassung des »Wortes« bei Rainer Maria Rilke, die das Wesen der Mantrik in ihrem tiefsten Wesen erfasst:

Wo sich langsam aus dem Schon-Vergessen,

Einst Erfahrenes sich uns entgegenhebt,

Rein gemeistert, milde, unermessen

Und im Unantastbaren erlebt:

Dort beginnt das Wort, wie wir es meinen,

Seine Geltung übertrifft uns still –

Denn der Geist, der uns vereinsamt, will

Völlig sicher sein, uns zu vereinen.


1Heinrich Zimmer: »Ewiges Indien«, p. 81 f.

II

Der Ursprung und der universelle Charakter der Silbe OṂ

Die Bedeutung, die dem Wort im alten Indien beigemessen wurde, mag aus folgendem Zitat ersehen werden:

»Die Essenz aller Wesen ist die Erde,

Die Essenz der Erde ist das Wasser,

Die Essenz des Wassers sind die Pflanzen,

Die Essenz der Pflanzen ist der Mensch,

Die Essenz des Menschen ist die Rede,

Die Essenz der Rede ist der Ṛgveda.

Die Essenz des Ṛgveda ist der Sāmaveda,

Die Essenz des Sāmaveda ist der Udgītha (d. h. OṂ).

Jener Udgītha ist die beste aller Essenzen, die höchste,

Die den höchsten Platz verdient, den achten.«

(Chāndogya Upaniṣad)

Mit anderen Worten: Die latenten Kräfte und Eigenschaften der Erde und des Wassers sind konzentriert und umgewandelt in dem höheren Organismus der Pflanzen; die Kräfte der Pflanzen sind umgewandelt und konzentriert im Menschen; die Kräfte des Menschen sind konzentriert in den Fähigkeiten der geistigen Reflexion und deren Ausdrucksmöglichkeit durch Laut-Äquivalente, die durch Vereinigung die innere (gedankliche) und äußere (hörbare) Form der Rede hervorbringen, durch die sich der Mensch von allen niederen Lebensformen unterscheidet.

Der wertvollste Ausdruck dieser geistigen Leistung, die Summe seiner Erfahrung und seines Erlebens, ist das heilige Wissen (veda) in Form von Dichtung (Ṛgveda) und Musik (Sāmaveda). Dichtung ist feiner als Prosa, denn ihr Rhythmus schafft eine höhere Einheit und löst die Fesseln des Geistes. Aber Musik ist wiederum subtiler als Dichtung, denn sie trägt uns über die Bedeutung der Worte hinaus in einen Zustand intuitiver Bereitschaft.

Schließlich finden beide, Rhythmus wie Melodie, ihre Synthese und ihre Lösung (die dem gewöhnlichen Intellekt als Auflösung erscheinen mag) in der tiefen und alles umfassenden Schwingung des heiligen Lautes OṂ. Hier ist die Spitze der Pyramide erreicht, aufsteigend von der Ebene der größten Differenzierung und Materialisation (in den groben Elementen: mahābhūta) bis zum Punkte höchster Vereinheitlichung und Vergeistigung, welche die latenten Eigenschaften aller vorhergehenden Stufen enthält, so wie es bei einem Samenkorn oder Keim (bīja) der Fall ist. In diesem Sinne ist OṂ die Quintessenz, die Keimsilbe (bīja-mantra) des Universums, das magische Wort schlechthin (das war die Urbedeutung des Wortes »brahman«), die universelle Kraft des allumfassenden Bewusstseins.

Durch die Identifizierung des heiligen Wortes mit dem Universum wurde der Begriff »brahman« zum Inbegriff des universellen Geistes, der allgegenwärtigen Macht des Bewusstseins, an der Menschen, Götter und Tiere teilhaben, die aber nur im vollendeten Heiligen und Erleuchteten zum Ganzheitserlebnis wird.

»OṂ« spielte bereits im kosmischen Parallelismus des vedischen Opferzeremonials eine bedeutende Rolle und wurde in späteren Jahrhunderten eines der wichtigsten Symbole des Yoga, wo es, sowohl von der Mystik und Magie der Opferpraxis als auch von den philosophischen Spekulationen frühen Denkens befreit, zu einem wesentlichen Mittel meditativer Praxis wurde. Es wurde sozusagen von einem metaphysischen Symbol zu einem psychologischen Hilfsmittel.

»Wie eine Spinne sich mittels ihres Fadens emporzieht und Freiheit erlangt, so steigt der Yogin zur Freiheit auf vermittels der Silbe OṂ.« In der Maitrāyaṇa Upaniṣad wird OṂ mit einem Pfeil verglichen, dessen Spitze das Denken (manas) ist und der, nachdem er auf den Bogen des menschlichen Körpers gelegt ist, das Dunkel der Unwissenheit durchdringt und das Licht des höchsten Zustandes erreicht.

Ein ähnliches Gleichnis findet sich in der Muṇḍaka Upaniṣad, wo es heißt:

»Nachdem man als Bogen die große Waffe der Geheimlehre (upaniṣad) genommen hat,

Lege man auf ihn den von ständiger Meditation geschärften Pfeil.

Mit einem Geist, der von jenem (universellen Bewusstsein, dem Brahman) erfüllt ist, wird er gespannt

Und durchdringt, edler Jüngling, jenes Unvergängliche als das Ziel.

Der Praṇava (»OṂ«) ist der Bogen, der Pfeil ist das Selbst.

Das Brahman ist das Ziel.

Mit Achtsamkeit wird es durchdrungen.

Man muss mit ihm eins werden, wie der Pfeil mit dem Ziel.«

In der Māṇḍūkya Upaniṣad wird OṂ in seine lautlichen Bestandteile zerlegt, nach der »O« als Kombination von »A« und »U« aufgefasst wird, so dass wir es mit drei Elementen, nämlich mit A-U-Ṃ zu tun haben. Da OṂ Ausdruck höchster Bewusstheit ist, werden diese drei Elemente folgerichtigerweise als drei Stufen des Bewusstseins erklärt: »A« als Wachbewusstsein (jāgrat), »U« als Traumbewusstsein (svapna) und »Ṃ« als Tiefschlafbewusstsein (suṣupti), während OṂ als Ganzes das allumfassende, über alle Worte hinausgehende, »kosmische« oder »vierte« (turīya) Bewusstsein – das Bewusstsein der vierten Dimension – ist.

Die Ausdrücke »Wachbewusstsein«, »Traumbewusstsein« und »Tiefschlafbewusstsein« sind hier natürlich nicht wörtlich zu verstehen, sondern als: 1. das subjektive Bewusstsein der Außenwelt, d. h. unser gewöhnliches Bewusstsein; 2. das Bewusstsein unserer Innenwelt, d. h. unseres Denkens und Fühlens, Wünschens und Wollens, das wir auch als unser geistiges Bewusstsein bezeichnen; und 3. das in sich ruhende, nicht mehr in Subjekt und Objekt zerspaltene Bewusstsein undifferenzierter Einheit, das im Buddhismus als der Zustand der unqualifizierten Leere (śūnyatā) bezeichnet wird.

Der vierte und höchste Zustand (turīya) hingegen, wird entsprechend der Auffassung, was man als höchstes Ziel oder Ideal bezeichnen soll, verschieden beschrieben. Nach einigen Quellen ist es der Zustand des reinen Selbstseins (kevalatva), nach anderen das Aufgehen in einem höheren Sein (sāyujyatva) oder im unpersönlichen Zustand des universellen Brahman, und nach wieder anderen unbeschränkte Freiheit und Unabhängigkeit (svātantrya), etc. Aber alle stimmen darin überein, dass es ein todloser, leidfreier Zustand ist, wo es weder Geburt noch Alter gibt, und je mehr wir uns der buddhistischen Epoche nähern, desto klarer wird es, dass dieser Zustand nicht erreicht werden kann, ohne alles das aufzugeben, was unser sogenanntes Selbst oder Ich darstellt.

So ist OṂ verknüpft mit Befreiung, entweder als Mittel, diese zu erreichen, oder als Symbol der Erreichung. Trotz der verschiedenen Wege, auf denen die Befreiung gesucht oder durch die sie definiert wurde, wurde OṂ niemals das ausschließliche Eigentum irgendeiner besonderen Schule des Denkens, sondern blieb seinem symbolischen Charakter treu, nämlich das auszudrücken, was jenseits von Worten und Formen, jenseits von Begrenzungen und Klassifizierungen, jenseits von Definitionen und Erklärungen liegt: Das Erlebnis des Unendlichen in uns, das als fernes Ziel empfunden werden kann oder als bloße Ahnung, als Sehnen, – oder das erkannt wird als wachsende Wirklichkeit oder verwirklicht wird im Niederbrechen der Begrenzungen und in der Überwindung der Knechtschaft niederer Triebe.

Es gibt so viele Unendlichkeiten als es Dimensionen gibt, so viele Formen der Befreiung als Temperamente; aber alle tragen denselben Stempel. Diejenigen, die unter Knechtschaft und Begrenzung leiden, werden die Befreiung als unendliche Entfaltung empfinden. Diejenigen, die unter Dunkelheit leiden, werden sie als unbegrenztes Licht erleben. Diejenigen, die unter der Bürde des Todes und der Vergänglichkeit stöhnen, werden die Befreiung als Ewigkeit fühlen. Diejenigen, die ruhelos sind, werden sie als Frieden und unendliche Harmonie genießen.

Alle diese Ausdrücke tragen, ohne ihren eigenen Charakter zu verlieren, dasselbe Vorzeichen: »Unendlich.« Das ist wichtig, weil es uns zeigt, dass selbst die höchsten Erreichungen einen individuellen Geschmack zurückbehalten können, – den Geschmack des Bodens, aus dem sie wuchsen – ohne dass dadurch ihr universeller Wert beeinträchtigt wird. Selbst in diesen höchsten Stadien des Bewusstseins gibt es weder Identität noch Nicht-Identität im absoluten Sinne. Es besteht eine tiefe Beziehung zwischen ihnen, doch keine sture Gleichheit, die niemals die Frucht lebendigen Wachstums sein kann, sondern nur das Produkt eines leblosen Mechanismus.

So wurde das Erlebnis der Unendlichkeit in den frühen Veden zur Kosmologie, in den Brāhmaṇas zum magischen Ritual, in den Upaniṣaden zum idealistischen Monismus, im Jainismus zum biologischen Denken, im Buddhismus zur Tiefenpsychologie der Meditation, im Vedānta zur Metaphysik, im Vishnuismus zur religiösen Liebesmystik (bhakti) im Shivaismus zum weltüberwindenden Asketentum, im hinduistischen Tantrismus zur mütterlich-schöpferischen Kraft (śakti) des Universums und im buddhistischen Tantrismus zur Inbeziehungsetzung, Wechselbeziehung psychischer und kosmischer Kräfte und Erscheinungsformen.

Damit sind die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten des Unendlichkeitserlebnisses durchaus nicht erschöpft, noch ist ihre Kombination und gegenseitige Durchdringung ausgeschlossen. Im Gegenteil: Im Allgemeinen sind viele dieser Züge kombiniert, und die verschiedenen Systeme sind darum nicht scharf voneinander geschieden, sondern gehen teilweise ineinander über. Jedoch die Betonung des einen oder anderen Zuges oder Leitmotivs gibt jedem dieser religiösen Systeme seinen eigenen Charakter.

Infolgedessen erscheint OṂ dem einen als Symbol eines göttlichen Universums, dem anderen als Symbol unendlicher Macht, dem nächsten als grenzenloser Raum, und wieder einem anderen als unendliches Sein oder ewiges Leben. Da gibt es einige, denen OṂ das allgegenwärtige Licht bedeutet, andere denen es das universelle Gesetz ist, und wiederum andere, die es als allmächtiges Bewusstsein, oder alles durchdringende Göttlichkeit, oder allumfassende Liebe, kosmischen Rhythmus, stets gegenwärtige Schöpferkraft, oder als unbegrenztes Wissen auffassen, – und so ad infinitum.

Wie ein Spiegel alle Formen und Farben reflektiert, ohne seine eigene Natur zu verändern, so reflektiert OṂ die Schattierungen aller Temperamente und nimmt die Formen aller höheren Ideale an, ohne sich selbst ausschließlich auf das eine oder andere zu beschränken. Seine Natur ist das Unendliche schlechthin. Wäre diese heilige Silbe mit irgendeiner begrifflichen Bedeutung identifiziert worden, hätte sie sich gänzlich einem einzigen und ausschließlichen Ideal zugewandt, ohne die irrationale und unberührbare Qualität ihres Kernes zu bewahren, so wäre sie niemals fähig gewesen, jenen überbewussten Geisteszustand zu symbolisieren, in dem alles individuelle Streben seine Synthese und seine Verwirklichung findet.

III

Die Idee des schöpferischen Lautes und die Vibrationstheorie

Wie alle lebenden Dinge, so haben auch Symbole Zeiten des Wachstums und des Verfalls, Perioden des Zunehmens und des Abnehmens. Wenn ihre Macht den Höhepunkt erreicht hat, steigen sie hinab in alle Pfade des täglichen Lebens, bis sie zu konventionellen Ausdrücken werden, die keinerlei Verbindung mehr haben mit dem ursprünglichen Erlebnis, oder die zu eng oder zu allgemein in ihrer Bedeutung geworden sind, so dass ihr tiefer Sinn verloren geht. Dann treten andere Symbole an ihre Stelle, während die ersteren sich auf einen inneren Kreis von Eingeweihten zurückziehen, aus dem sie erst dann wieder hervorgehen und in verjüngter Form wiedergeboren werden, wenn ihre Zeit gekommen ist.

Mit »Eingeweihten« meine ich nicht eine organisierte Gruppe von Menschen, sondern jene Einzelnen, die dank ihrer eigenen Sensitivität der subtilen Einwirkung von Symbolen zugänglich sind, die ihnen entweder durch Tradition oder durch eigene Intuition gegeben werden. Im Falle mantrischer Symbole spielen die feinen Schwingungen eines Lautes eine sehr wichtige Rolle, obwohl geistige Assoziationen, die sich durch Tradition oder individuelles Erleben um diese kristallisieren, sehr helfen, ihre Kraft zu intensivieren.

Das Geheimnis dieser verborgenen Kraft des Lautes oder der Vibration, das den Schlüssel darstellt zu den Rätseln der Schöpfung und der schöpferischen Kraft, wie es die Natur der Dinge und der Lebensphänomene enthüllt, war den Sehern alter Zeiten wohlbekannt: Den Weisen, die als »Rishis« an den Abhängen des Himalaya wohnten, den »Magiern« Persiens, den Adepten Mesopotamiens, den Priestern Ägyptens und den Mystikern Griechenlands, um nur diejenigen zu nennen, welche Spuren in der Überlieferung hinterlassen haben.

Pythagoras, der selbst ein Eingeweihter östlicher Weisheit und der Begründer einer der einflussreichsten Schulen mystischer Philosophie im Westen war, sprach von der »Harmonie der Sphären«, wonach die Himmelskörper – und das trifft auch auf jedes Atom zu – auf Grund ihrer Bewegung, ihres Rhythmus oder ihrer Schwingung einen besonderen, ihnen eigentümlichen Ton hervorbrachten. Alle diese Töne und Schwingungen bildeten eine universelle Harmonie, in der jedes Element, obwohl es seine eigene Funktion und seinen eigenen Charakter beibehielt, zur Einheit des Ganzen beitrug.

Die Idee des schöpferischen Lautes wurde fortgesetzt durch die Lehre vom Logos, die teilweise vom frühen Christentum übernommen wurde, wie wir aus dem Johannes-Evangelium ersehen können, das mit den geheimnisvollen Worten beginnt: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Und das Wort wurde Fleisch …«

Wenn diese tiefen Lehren, die im Begriff waren, das Christentum mit der gnostischen Philosophie und den Überlieferungen des Ostens zu verknüpfen, imstande gewesen wären, ihren Einfluss aufrechtzuerhalten, so würde die universelle Botschaft Christi vor den Krebsschäden der Unduldsamkeit und der Engstirnigkeit bewahrt worden sein.

In Indien jedoch lebte das Wissen vom schöpferischen Laut weiter. Es wurde in den verschiedenen Yoga-Systemen weiterentwickelt und fand seine Vollendung in jenen buddhistischen Schulen, deren philosophische Grundlage die Lehren der Vijñānavādins waren. Diese Lehren waren auch unter dem Namen Yogācāra, d. h. »Wandel im Yoga«, bekannt, und ihre Überlieferung hat sich in Theorie und Praxis bis auf den heutigen Tag in den Ländern des Mahāyāna-Buddhismus von Tibet bis Japan erhalten.

Alexandra David-Neel beschreibt im 8. Kapitel ihrer »Tibetischen Reise« einen »Meister des Tones«, der nicht nur in der Lage war, alle möglichen Arten seltsamer Töne auf seinem Instrument, einer Art Zimbel, hervorzubringen, sondern der auch, wie Pythagoras, erklärte, dass alle Wesen oder Dinge Töne hervorbrächten, gemäß ihrer Natur und dem besonderen Zustand, in dem sie sich befänden. »Das kommt daher«, so sagte er, »weil alle diese Dinge und Wesen Anhäufungen von Atomen sind, die tanzen und durch ihre Bewegung Töne hervorbringen. Wenn sich der Rhythmus des Tanzes ändert, so ändert sich auch der Ton, den sie hervorbringen … Jedes Atom singt ständig sein Lied, und der Ton schafft in jedem Augenblick dichte oder feine Formen (von größerer oder geringerer Materialität). – Ebenso wie es schöpferische Laute gibt, so gibt es auch zerstörende. Wer in der Lage ist, beide hervorzubringen, kann, je nach seinem Willen, erschaffen oder zerstören.«

Wir müssen uns hüten, solche Feststellungen im Sinne materialistischer Wissenschaft falsch zu deuten. Es ist behauptet worden, die Kraft der Mantras bestehe in der Wirkung von »Tonwellen« oder Schwingungen kleinster Partikel der Materie, die sich, wie man durch Experimente beweisen kann, in bestimmten geometrischen Formen gruppieren, entsprechend der Qualität, der Stärke und des Rhythmus des Tones.

Wenn ein Mantra auf derart mechanische Weise wirken würde, könnte man dieselbe Wirkung erzielen, wenn man es durch ein Grammophon reproduzieren würde. Aber selbst seine Wiederholung durch ein menschliches Medium hat keine Wirkung, wenn es durch einen Unwissenden geschieht, und auch dann nicht, wenn seine Intonation in jeder Hinsicht der eines Meisters gleicht. Der Aberglaube, dass die Wirksamkeit eines Mantras von seiner Betonung abhänge, ist eine direkte Folge der von europäischen, »wissenschaftlich« sein wollenden Dilettanten aufgestellten Vibrationstheorie, die die Wirkungen geistiger Schwingungen mit den Auswirkungen physikalischer »Tonwellen« verwechseln. Wenn die Wirksamkeit der Mantras von der richtigen Betonung abhinge, dann müssten in Tibet alle Mantras ihren Sinn und ihre Wirkungskraft verloren haben, denn sie werden dort nicht nach den Lautregeln des Sanskrit ausgesprochen, sondern Tibetisch (z. B. nicht: OṂ MAṆI PADME HŪṂ, sondern »OṂ MAṆI Péme HŪṂ«).

Das bedeutet, dass die Kraft und die Wirkung eines Mantras abhängig sind von der geistigen Haltung, dem Wissen, der Verantwortlichkeit und der seelischen Reife des Individuums. Der »śabda« oder Ton eines Mantras ist kein physikalischer Ton (obwohl er von einem solchen begleitet sein mag), sondern ein spiritueller. Das Ohr kann ihn nicht hören, wohl aber das Herz. Der Mund kann ihn nicht hervorbringen, wohl aber der Geist. Mantras haben Kraft und Bedeutung nur für den Eingeweihten, d. h. nur für den, der durch die besonderen Erfahrungen und Erlebnisse hindurchgegangen ist, aus dem das mantrische Wort oder die mantrische Formel entstanden und mit dem sie unlösbar in ihrem innersten Wesen verknüpft sind.

So wie eine chemische Formel nur demjenigen Macht gibt, der um das Wesen ihrer Symbole und die Gesetze und Methoden ihrer Anwendung weiß, so gibt ein Mantra nur demjenigen Macht, der sich seines Wesens bewusst, mit seinen Anwendungsmethoden vertraut ist, und der weiß, dass es ein Mittel ist, die in ihm schlummernden Kräfte wachzurufen, mit denen er auf sein Schicksal und seine Umgebung einzuwirken imstande ist. Mantras sind also keine »Zauberworte«, wie selbst namhafte Gelehrte des Westens immer wieder behaupten, d. h. sie wirken nicht kraft ihrer eigenen Natur, sondern nur durch das Medium des sie erlebenden Geistes. Ihnen selbst wohnt keine Macht inne; sie sind nur Mittel, um bereits vorhandene Kräfte zu konzentrieren, – so wie ein Brennglas, das selbst keine Hitze enthält, aber bei richtiger Anwendung die an sich harmlosen Sonnenstrahlen zur flammenentfachenden Glut zusammenfassen kann. Dies mag dem Buschmann als reine Zauberei erscheinen, weil er nur das Ergebnis, nicht aber die Zusammenhänge sieht. Wer also Mantrik mit Zauberei verwechselt, unterscheidet sich in diesem Punkte kaum vom Buschmann, und wenn es gar Forscher gegeben hat (und wahrscheinlich noch gibt), die mit den Werkzeugen philologischer Wissenschaft den Mantras zuleibe gingen und nach Feststellung ihrer völlig ungrammatikalischen Struktur oder ihres mangelnden logischen Zusammenhanges zu dem Ergebnis kamen, dass Mantras sinnloses Geplapper (»gibberish«)2 seien, dann glich dieses Unternehmen dem Versuch, Schmetterlinge mit der Feuerzange zu fangen. Ganz abgesehen von der Untauglichkeit der Mittel, ist es erstaunlich, dass jene Forscher, ohne die geringste persönliche Erfahrung auf diesem Gebiet zu besitzen und ohne auch nur den Versuch zu machen, unter einem kompetenten Guru (geistlichen Lehrer) die Natur und die Methoden der mantrischen Überlieferung zu studieren, sich Urteile anmaßten, die jeder sachlichen Begründung entbehrten. Erst Arthur Avalons mutiges Pionierwerk (vorwiegend auf dem Gebiet des hinduistischen Tantrismus), das in dem leider allzu früh verstorbenen deutschen Indologen Heinrich Zimmer seinen genialsten Interpreten und Vertiefer fand, zeigte der Welt zum ersten Mal, dass Tantrismus weder degenerierter Hinduismus oder Buddhismus war und in der mantrischen Überlieferung die tiefsten Erkenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet menschlicher Psychologie zum Ausdruck kamen.

Aber diese Erkenntnisse und Erfahrungen können nur durch einen in der lebendigen Tradition erfahrenen Guru und durch eigene Praxis, in Form ständiger Übung, erreicht werden. Erst nach einer derartigen Vorbereitung können Mantras Sinn haben, denn nur dann können sie die notwendigen gedanklichen und seelischen Assoziationen und die in früheren Erlebnissen aufgespeicherten Kräfte im Eingeweihten wachrufen und so die Wirkungen auslösen, für die das mantrische Wort geschaffen war. Der Uneingeweihte mag ein Mantra aussprechen, so oft er will: Es wird ihm nicht gelingen, auch nur die geringste Wirkung hervorzurufen. Darum können Mantras zu Tausenden in Büchern abgedruckt werden, ohne dass sie ihr Geheimnis preisgeben oder ihren Wert verlieren.

Das »Geheimnis« von dem hier die Rede ist, hat also nichts mit der absichtlichen Geheimhaltung eines Wissensgutes zu tun, sondern bezieht sich auf die Tatsache, dass dieses durch Selbstdisziplin, Konzentration und Verinnerlichung erworben werden muss. Wie alles Wertvolle und jede Form des Wissens, kann es nicht ohne Anstrengung erlangt werden. Nur in diesem Sinne ist es esoterisch. Das gilt in noch größerem Maße von aller tiefen Weisheit, die sich nicht auf den ersten Blick enthüllt, weil sie nicht ein Produkt verstandesmäßigen Begreifens, sondern geistiger Verwirklichung ist. Als daher der fünfte Patriarch der chinesischen Meditationsschule (des Ch’an-Buddhismus) von seinem Schüler Hui-Neng gefragt wurde, ob er irgendwelche esoterischen Lehren zu verkünden hätte, antwortete er: »Was ich dir sagen kann, ist nicht esoterisch. Aber wenn du dein Licht nach innen wendest, wirst du das, was esoterisch ist, in deinem eigenen Geist finden.« Esoterisches Wissen steht somit allen offen, die willens sind, sich aufrichtig darum zu bemühen und die Fähigkeit haben, es sich anzueignen.

Ebenso aber, wie zum Studium höherer Wissenschaften nur diejenigen zugelassen werden, die dafür die nötige Begabung und gewisse Qualifikationen haben, so verlangten die geistlichen Lehrer aller Zeiten gewisse Qualitäten und Qualifikationen von ihren Schülern, bevor sie sie in die inneren Lehren der Mantrik einweihten. Denn nichts ist gefährlicher als Halbwissen oder ein Wissen, das nur theoretischen Wert hat.