Wo die Männer versagen, da ruft man nach dem Mann.

Der Faschismus, der überall anders, überall in neuer nationaler Vermummung auftritt, weist in allen Ländern diesen einen gemeinsamen Wesenszug auf: Die Sehnsucht nach dem Diktator.

Die erschlafften Völker suchen nach einem Hirn, das für sie denkt, nach einem Rücken, der für sie trägt.

Carl von Ossietzky (1889 - 1938),

Friedensnobelpreisträger 1935

in: Berliner Volks-Zeitung, Berlin, 13. Mai 1923

Meinen Töchtern Sophie und Vanessa gewidmet

Thorsten Klein

PSYCHE

3. Buch

Omnipotens

Roman

Inhalt:

Prolog            Unerwarteter Besuch

1. Kapitel … und es bleichen wie Steine

2. Kapitel Von hinten erdolcht

Intermezzo 1

3. Kapitel Feierlich naht der heilige Sieg

4. Kapitel Annäherung

Intermezzo 2

5. Kapitel Wer schmeißt denn da mit Lehm?

6. Kapitel Ein schwarzer Freitag

Intermezzo 3

7. Kapitel Der heimliche Aufmarsch

8. Kapitel Ermächtigung

Intermezzo 4

9. Kapitel … hinter der Trommel her …

10. Kapitel Machtübergabe

Intermezzo 5

Auf der Suche nach einem neuen MindScript

Richard Kummers MindScript endete mit seiner Ermordung. Und mit der von Alexandra Al Kahira.

Aber wie ging es weiter? Waren die beiden tatsächlich bei den Angriffen il caskars gestorben? Hatten die Mitglieder des Hohen Rates ihre echten Leichen für eine Beerdigung auf Psyche vorbereitet?

Das waren berechtigte Fragen. Denn Vater Roberts Tod in dieser Welt war nur vorgetäuscht. Die Ermordung des Mönches in Sankt Petersburg beendete dessen Existenz auf Psyche. Seine „Leiche“ wurde von den Einheimischen gefunden, obduziert und beerdigt.

Trotzdem lebte Robert von Waldenburg immer noch in vielen anderen Welten. Nur nicht auf Psyche.

Wollten Alexandra und Richard auf ähnliche Weise ihre Existenz auf Psyche beenden? Schließlich hatte Richard Kummer sein wichtigstes Ziel erreicht: Seine Frau Alexandra wurde geheilt.

Oder war Michaels schlimmste Befürchtung eingetreten? Hatte Alexandra diese Heilung nicht überlebt und Richard Kummer deshalb ihren Tod geteilt?

Ich suchte nach Antworten.

Thorsten Klein Großenhain, 18.08.2014

Prolog        Unerwarteter Besuch

Ich bin der Geist, der stets verneint!

Und das mit Recht; denn alles was entsteht,

Ist wert, dass es zu Grunde geht

Goethe, „Faust - der Tragödie 1. Teil“, (Erde, 1808)

Ort: Großenhain, Wohnung des Chronisten

Offene Enden mögen ja literarisch sehr interessant sein, befriedigen aber nicht die Neugier meiner Leserinnen und Leser. Und meine schon gar nicht.

So oft ich jedoch versuchte, im Internet ein neues MindScript zu finden, es tauchten immer nur die beiden mir bekannten auf. Ich benötigte eine andere Herangehensweise.

Im Urlaub hat man mehr Zeit für solche Dinge. Also beschloss ich, diesen Sommer nicht in geografische, sondern in mentale Fernen zu verreisen.

Mit einer Vollbürger-Trance sollte es mir gelingen. Ich besaß zwar weder die anatomischen, noch die mentalen Voraussetzungen zum Vollbürger, aber Richard Kummer hatte mir auf meine inständige Bitte gezeigt, wie man das macht. Dieses Wissen setzte ich ein.

An den ersten beiden Tagen bekam ich keinen Kontakt mit einem meiner Buchhelden. Ganz zu schweigen davon, dass ich irgendwelche Fähigkeiten erlangte, Gedanken zu lesen oder durch die RaumZeit zu reisen.

Aber am dritten Tag (wieso eigentlich immer am dritten?) gelang mir dann doch der Kontakt.

Der schwarze Herzog stand grinsend in meinem Wohnzimmer. In Lebensgröße. Richard Kummers holografische Abbilder waren immer viel kleiner.

Außerdem war ich in der Lage, ihn zu berühren. Er fühlte sich sehr echt und sehr menschlich an. Stellen Sie sich meine Überraschung vor. Und meine Skepsis.

Ich fragte ihn, ob er der echte schwarze Herzog sei.

„Einen schönen guten Tag“, antwortete er beleidigt. „Eine Höflichkeit ist das in deiner Zeit. Bei euch begrüßt man Gäste nicht, bevor man sie anspricht, sondern man begrabscht sie erstmal?“

Selbstverständlich begrüßt man zuerst seine Gäste. Auch in meiner Zeit. Ich begrüßte ihn und hoffte, dabei nicht rot zu werden.

„Nimmst du irgendwelche Drogen?“, fragte der Herzog nach meinem Gruß.

„Ist diese Frage vielleicht höflich? Nein, ich nehme keine Drogen. Ich trinke nur ab und zu mal ein Bier.“

„Hast du welches intus?“

„Um diese Zeit? Natürlich nicht.“

„In der Gegend, in der du wohnst, ist es nicht ungewöhnlich, den Morgen mit ein paar Bierchen zu beginnen.“

„Man muss ja nicht alles nachmachen.“

„Stimmt. Aber es wäre sehr gefährlich für dich, dann weiter in der Trance zu bleiben. Du könntest deine Trance vielleicht nie mehr verlassen und ich könnte dir nicht helfen, wieder in die Realität zurückzufinden.“

„Du könntest mir nicht helfen? Du? Als Vollbürger und als Arzt?“, fragte ich erstaunt.

Er nickte mit jenem typischen Gesichtsausdruck des spöttischen Bedauerns, den ich bei ihm so oft in Richard Kummers MindScript-Projektionen gesehen hatte. „Der echte Herzog könnte dir sicher helfen, aber ich bin nur ein holografisches Abbild eines MindScriptAutors. Da du in Trance bist, komme ich dir real vor. Ich habe gespürt, dass du Richard Kummer suchst. Das hat meine Neugier geweckt.“

„Ist er tot?“, polterte ich sofort mit dem heraus, was mich am meisten interessierte.

„Ja, leider. Richard Kummer ist definitiv gestorben.“

„Ist er nur auf Psyche tot oder so ganz allgemein?“

„Auf Psyche sowieso, aber auch ganz allgemein.“

Nicht einmal der gewiefteste Quizmaster hätte des Herzogs Lächeln imitieren können, das er bei dieser Antwort zeigte. Es gab keine Hinweise darauf, inwieweit die Antwort wirklich zutraf.

Mir half es trotzdem. Ich hatte diese Art seines Lächelns bereits kennengelernt. „Aber Richard Rath lebt noch?“, fragte ich deshalb.

Die Miene des Herzogs zeigte mir, dass er Spitzfindigkeiten mochte. „Die vielen Leben und Masken des Herrn Richard Rath sind natürlich ein Thema, das sich nicht in einem Satz erörtern lässt, sondern längere Zeit in Anspruch nimmt. Hast du die Zeit dafür?“

„Ich habe Urlaub.“ Ich machte es mir bequem und war bereit, eine sehr lange Zeit zuzuhören.

„Dein Urlaub dauert nicht lange genug, um alles zu erfahren. Die Antworten auf deine Fragen werden einige Wochen in Anspruch nehmen und dich möglicherweise dazu bringen, wieder als Chronist aktiv zu werden.“

„Wenn es Richard Kummer nicht mehr gibt, kann ich auch nicht sein Chronist sein.“

„Du musst ja nicht sein Chronist sein. Es gibt auch noch andere MindScripte, als nur das von Richard Kummer.“

„Deins zum Beispiel?“

„Meins zum Beispiel. Aber auch die Augusta, Sophia Demeter, selbst mein Bruder, sie alle haben MindScripte veröffentlicht. Selbstverständlich sind die meines Bruders am langweiligsten.“

„Selbstverständlich. Und die des schwarzen Herzogs sind am spannendsten.“

„Richtig. Leider würdigt das keiner. Ich habe einen schlechten Ruf, musst du wissen. Völlig unberechtigt natürlich.“

„Absolut unberechtigt. Du bist einer jener Menschen, die vollkommen verkannt werden, weil sie aus der üblichen Norm schlagen.“

Der Herzog schien mir mit einem heftigen Nicken zustimmen zu wollen, runzelte aber plötzlich die Stirn und sah mich genauer an. „Verarschst du mich vielleicht?“, fragte er und fuhr dann erklärend fort: „Ein MindScript ist nicht besonders helle, weißt du. Und es versteht überhaupt keine Ironie.“

Ich benötigte ein Räuspern, bevor ich antworten konnte: „Falls das so rübergekommen sein sollte, entschuldige ich mich. Natürlich will ich wissen, wie es weitergegangen ist. Ist Richard Kummer gestorben, kann ich nicht mehr sein Chronist sein. Für eine gute Story bin ich immer bereit, einen anderen Job anzunehmen.“

„Dann habe ich einen für dich: Werde mein Chronist.“

„Und was bietest du mir dafür?“, fragte ich. Und gab mir große Mühe, desinteressiert zu klingen. Denn diesen Job wollte ich unbedingt.

„Ich erzähle dir, wie es weiterging. Natürlich biete ich dir die spannendste Version von den Vielen, die ich dir aufgezählt habe. Ich hoffe, ich habe mich beeilt. Sophia oder die Augusta sind mir nicht zuvorgekommen?“

Der Herzog sah sich um, als würde ich irgendwo schöne Frauen versteckt halten, konnte aber keine finden.

Ich auch nicht. Leider. Aber ich war interessiert. „Die Augusta oder Sophia sind auf dem Weg hierher? Sind sie auch in der Realität so überirdisch schön, wie sie Richards MindScript gezeigt hat?“

„Warum nicht? In der Zeit, in der wir leben, ist die Optimierung des eigenen Aussehens kein Problem mehr. Vor allem, weil sie ohne die Zuhilfenahme von Schönheitschirurgie funktioniert. Falls Frau darauf Wert legt, kann sie durch überirdische Schönheit glänzen.“

„Legt nur Frau darauf Wert? Männer nicht? Du siehst jedenfalls aus wie ein germanischer Junggott.“

„Bei mir ist das etwas Anderes. Ich sehe seit meiner Geburt so toll aus, denn ich bin ein Gott. Als solcher muss man auch so aussehen. Schließlich ist man das den anderen Göttern und der allgemeinen Erwartung der Menschheit schuldig … Keine weiteren Fragen zu meiner Herkunft“, wehrte er ab, noch ehe ich richtig den Mund dazu aufmachen konnte. „Darum geht es hier nicht. Nicht meine Geschichte, sondern die Geschichte Psyches ist von Bedeutung. Meine Bedingung ist: Wenn du einwilligst, mein Chronist zu sein, kommen die anderen nicht zum Zug.“

„Du stichst sie also aus?“, fragte ich.

„Wie immer.“, strahlte der Herzog.

„Was habe ich davon, dir irgendwelche Exklusivrechte einzuräumen?“, fragte ich weiter.

„Die spannendere Story“, war er sich sicher.

„Du wiederholst dich. Vielleicht gleicht ja die Gesellschaft schöner Frauen deren mangelnde Fähigkeit zum Spannungsaufbau aus? Ich ziehe die Gesellschaft schöner Frauen immer vor.“

„Was den Vorzug der Gesellschaft schöner Frauen betrifft, bin ich ganz deiner Meinung. Aber glaube mir, man kann mit holografischen Frauen bei Weitem nicht so viel anfangen, wie mit denen aus Fleisch und Blut“, hielt mir der Herzog entgegen.

„Akzeptiert. Dann stelle ich eine andere Bedingung: Habe ich meine Arbeit als Chronist für dich beendet, bringst du mich mit jemandem vom Hohen Rat zusammen, der mir weitere Geschichten erzählen kann.“

„Einverstanden. Wo soll meine Erzählung beginnen?“

„Dort, wo Richard Kummers MindScript aufhörte. Bei dem Schlamassel, den ihr auf Psyche zurückgelassen habt. Erst war Weltkrieg, dann war Revolution und dann war Bürgerkrieg.“

„Jaja, aber das war nicht unser Schlamassel, sondern der der Psychaner. Unser Einmischen hatte allein mit Alexandras Heilung zu tun. Durch uns war sie krank geworden, wir mussten sie heilen. Das war nur so möglich. Jeder andere Versuch hätte sie umgebracht. Denn nur aus diesem Grund war Robert Severes Geist in ihren Kopf geflohen. Der wollte sie und Richard Kummer töten, um seine Niederlage doch noch in einen Sieg zu verwandeln.“

„Und das wusste il caskar?“

„Natürlich.“

„Und ihr habt ihn machen lassen?“

„Er suchte eine Aufgabe. Wenn die darin bestand, Götter zu töten, warum sollte er es nicht versuchen?“

„Er benimmt sich ziemlich kindisch. Seine Community auch. Ihr hättet sie davon abhalten sollen.“

„Warum? Die pubertieren nun schon fast sechshundert Jahre lang vor sich hin. Sie sollten endlich erwachsen werden. Das wollten wir erreichen, indem wir ihnen helfen, ihre Suche zu beenden.“

„Ihre Suche? Was suchen Sie denn?“

„Das ist dir nicht aufgefallen? il caskar versucht sich von seinen Eltern zu lösen. Obwohl sie die einzigen sind, die ihn unterstützen. Bcoto und Takhtusho sind arme Waisen, die nur sich selbst und ihre Geschwisterliebe haben. Sie wissen nicht einmal, wer ihre Eltern sind. Also suchen sie eine Familie. Die glaubten sie, in dieser Community zu finden. Mal sehen, wie lange sie das noch glauben.“

„Aber Ala Skaunia sucht doch nicht. Sie fühlt sich als First-Lady an der Seite ihres Anführers wohl“, warf ich ein.

„Hat sie ihm geholfen, Richard Kummer zu töten, als der unbedingt sterben wollte? Nein. Da hat sie versagt. Werden die beiden noch ein trautes Paar sein, wenn herauskommt, dass Alexandra noch lebt? Was meinst du?“

„Also ist sie doch nicht gestorben?“, frohlockte ich. Ich hatte es immer gehofft. Schöne Frauen sterben zu lassen, lehne ich als Autor ab. Als Mensch sowieso.

„Natürlich ist sie nicht gestorben. So viele von uns haben auf sie aufgepasst. il caskar hatte keine Chance, sie wirklich zu töten.“

„Aber er war sich so sicher.“

„Auch das war Teil des großen Planes. Etwas weniger Selbstgefälligkeit seinerseits und er hätte es erkannt. il caskars Charakter sollten uns noch lange beschäftigen.“

„Dann handelt die weitere Geschichte Psyches von il caskar und seiner Community?“ Ich war ein wenig enttäuscht. Neue Bücher sollten auch neue Helden haben. Und nicht die, die man schon kannte. Ich wollte nicht schon wieder die gleiche Geschichte erzählen müssen.

„Sie handelt nicht nur von il caskars Community. Alexandra wollte nach ihrer Genesung sofort wieder nach Psyche zurück. Wegen Michael Arx, wegen Richard Kummers Vermächtnis, aber hauptsächlich ihrer Revolution wegen. Sie wollte mir nicht glauben, dass die ins genaue Gegenteil verkehrt war. Den Menschen ging es nicht besser, sondern schlechter.“

„Schlechter? Auch denen in Russland?“

Der Herzog setzte sich in einen unsichtbaren Sessel und ließ mit einem Fingerschnippen eine MindScriptProjektion erscheinen. „Gerade in Russland. Wann ist es den einfachen Menschen in diesem Land schon mal gut gegangen? Aber auch in Deutschland ging es drunter und drüber.“

Dann sahen wir beide auf die dreidimensionale Darstellung seiner MindScriptProjektion.