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Dunja Voos

Ich hab dich lieb, Mama: Neue Kraft gewinnen, das Kind liebevoll begleiten (für Mütter)





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Ich hab dich lieb, Mama

 

Neue Kraft gewinnen, das Kind liebevoll begleiten

 

 

Copyright © 2020 – Dunja Voos

 

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Die Rechte des hier verwendeten Textmaterials liegen ausdrücklich beim Verfasser. Eine Verbreitung oder Verwendung des Materials ist untersagt und bedarf in Ausnahmefällen der eindeutigen Zustimmung des Verfassers.

 

 

Vorwort

 

Wenn Sie zu diesem Buch gegriffen haben, dann sind Sie wahrscheinlich: Mutter. Wenn ich ein Buch schreibe, dann spreche ich schon während des Schreibens im Geiste zu den Menschen, die einmal das Buch lesen werden und ich habe eine recht genaue Vorstellung von der sogenannten Zielgruppe.

 

Doch beim Schreiben dieses Buches merkte ich, wie schwer es mir fiel, mir eine bestimmte Leserschaft vorzustellen. Denn wer ist schon „Mutter“? Manche Mütter gehen in ihrem Muttersein auf und leben dafür – andere fühlen sich fast gar nicht als Mutter.

 

Ebenso haben viele Frauen ohne leibliche Kinder ganz viele Kinder, denen sie eine Mutter sind: Dazu zählen Lehrerinnen, SOS-Kinderdorfmütter, Kinderärztinnen, Therapeutinnen und auch Väter, die sich von der Säuglingszeit an um ihr Kind kümmerten, sodass sie verstärkt mütterliche Qualitäten entwickelten.

 

Wir haben die „Mutter Erde“, die gerade so malträtiert wird, dann gibt es Einzelkind-und Geschwisterkind-Mütter, Adoptivmütter, freiwillig oder unfreiwillig berufstätige und arbeitslose Mütter, gehörlose und blinde Mütter, Mütter von behinderten oder todkranken Kindern, jugendliche Mütter und werdende Mütter über 50, Sternenkindmütter, Mütter mit Depressionen, lesbische Mütter, Single-Mütter und geistige Mütter.

 

Immer häufiger entscheiden sich Frauen weltweit dazu, kein oder nur ein Kind zu bekommen, um unsere Welt zu entlasten. Sie sorgen sich um unsere Erde wie eine Mutter.

 

Darum ist dieses Buch einerseits für Sie als Mutter geschrieben, andererseits aber auch weiter gefasst: Es enthält viele Gedanken zur Mütterlichkeit im Allgemeinen. So werden wir uns auch mit den Gedanken an unsere eigene Mutter beschäftigen und mit der Frage, warum wir unsere Mutter oft so zwiegespalten erleben. Während wir uns als Kind gerne von unserer Mutter trösten ließen, können wir uns ihr als Erwachsene im Worst case vielleicht nur mit Wut und Ekelgefühlen nähern.

 

Manche Menschen versuchen ein Leben lang, sich mit ihrer Mutter zu versöhnen (leider gibt es das Wort „vertöchtern“ nicht), andere wenden sich vollkommen ab, wieder andere fühlen sich ihrer Mutter sehr dankbar verbunden.

 

Wenn wir unsere Mutter verlieren, ist dies ebenfalls mit sehr vielen gemischten Gefühlen verbunden: Trauer, heimliche Erleichterung und Befreiung, das Gefühl von Entwurzelung und Angst können dazu gehören. All dies beeinflusst auch unser eigenes Kind, denn es kann spüren, wenn wir innerlich stark beschäftigt sind.

 

Es ist und war schon immer sehr schwierig, Mutter zu sein. Verausgabung, Erschöpfung, Ratlosigkeit, Einsamkeit und Schuldgefühle sind Müttern ebenso vertraut wie grenzenlose Liebe und Freude.

 

Muttersein heißt sehr häufig, zu kämpfen – um Zeit mit dem Kind, um Geld, Liebe, Anerkennung, Wertschätzung, gleichberechtigte Positionen im Beruf und vieles mehr. Manche Mütter müssen auch darum kämpfen, ihr Kind behalten zu dürfen oder die Dinge für ihr Kind durchzusetzen, die ihnen wichtig erscheinen. Innere Kämpfe um das Richtige fürs Kind sind manchmal genauso anstrengend wie reale äußere Kämpfe. Die Angst, das eigene Kind aus irgendeinem Grund verlieren zu können, ist immer ganz nah.

 

Die sorgenvolle, erschöpfte Mutter sehen wir überall. Viele müssen sich ganz alleine durchschlagen, andere sind gehalten durch gute Familienbande und verständnisvolle Partner.

 

Mutter zu werden und zu sein, eröffnet uns ganz neue Welten. Wenn unser Kind das erste Mal „Mama“ sagt, sind wir wahrscheinlich tief berührt. Wenn es älter wird und an einem Tag zum hundertsten Mal „Mama?!“ sagt, dann verlieren wir fast die Nerven und verwünschen dieses lästige Wort.

 

Seit einigen Jahren trauen sich Mütter, auch sehr negative Gefühle offen auszusprechen. Unter dem Hashtag #RegrettingMotherhood sprechen viele Frauen darüber, warum sie es in gewisser Weise bereuen, Mutter geworden zu sein. Nicht zu vergessen sind zahlreiche Mütter, die auch gegen ihren Willen schwanger geworden sind oder ein Kind von einem Mann haben, den sie nicht lieben.

 

Eltern zu sein ist etwas Endgültiges – man kann nicht mehr zurück und trägt auf eine bestimmte Art ein Leben lang Verantwortung. Es kann das Erfüllendste sein, was eine Frau erleben kann, mitunter aber auch das Schmerzhafteste. Die Schmerzen der Geburt sind auch ein Symbol dafür, was nun auf die Mutter in den nächsten Jahren zukommen wird.

 

Viele Mütter leiden unter dem Gefühl, gefangen zu sein. Trotz großer Erschöpfung und vielen Situationen, in denen sie verzichten müssen, bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als einfach weiterzumachen.

 

Doch es kann gelingen, ein Gefühl der inneren Freiheit zu entwickeln. In dem wunderbaren Film „Der kleine Lord“ (den sicher alle Mütter kennen!) sagt eine Frau zu Cedrics Mutter ganz entsetzt: „Aber Sie sind doch seine Mutter!“, worauf die Mutter sehr entschieden antwortet: „Ja, aber ich bin auch ich selbst.“ Diese Freiheit, auch Sie selbst bleiben zu dürfen in all den Wogen des Mutterseins, das wünsche ich Ihnen sehr.

 

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichte ich auch in diesem Buch auf das Gendern. Mit der weiblichen Form „Ärztin“ oder der männlichen Form „Lehrer“ ist immer auch das andere Geschlecht gemeint. Das Mütterliche ist natürlich auch in Vätern zu finden. In diesen Gedanken der Vielfältigkeit wünsche ich Ihnen nun viel Freude beim Lesen dieses Buches.

 

Mutterinstinkt in stürmischen Zeiten

 

„Wenn ihr ein Kind bekommt, dann öffnet sich nicht nur euer Leib, sondern auch euer Herz.“ Diesen Satz einer Hebamme im Geburtshaus werde ich nie vergessen – immer dachte ich, ich könnte mir das Muttersein vorstellen, auch ohne Mutter zu sein. Doch was ich mir im Geiste vorstellte, war nicht mit dem zu vergleichen, was ich nach der Geburt meines Kindes wirklich fühlte.

 

Die meisten Mütter, mit denen ich seither sprach, sehen es ähnlich. Plötzlich kann man keine Nachrichten im Fernsehen mehr angucken und wenn man irgendwo auf dieser Welt eine Mutter sieht, die ihr Kind auf die Stirn küsst, dann geht einem das Herz von Neuem auf. Egal, welche Hautfarbe und welchen sozialen Status die küssende Mutter hat: Diesen Blick, dieses Gefühl – wir kennen das.

 

Wohl die meisten Mütter fühlen dieses Mutter-Gefühl, das so unverkennbar ist und sich so schwer in Worte fassen lässt. Es ist ein tiefes Wissen, das die Mütter da miteinander teilen. Dieses tiefe Gefühl des Mutterseins trat bei mir tatsächlich erst auf, als ich schwanger war und schließlich mein Kind im Arm hielt.

 

Doch was, wenn das Muttergefühl fehlt? Vielleicht sind Sie ja eine Mutter, die das hier liest und denkt: Ich kann damit rein gar nichts anfangen. Ich fühle mich ausgeschlossen aus dieser Mütter-Runde, ich habe immer auf so ein Gefühl gewartet, aber es hat sich nie eingestellt.

 

Jede Mutter hat ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Manche Mütter haben den Eindruck, dass sie ihre Kinder kaum lieben können. Manchmal empfinden wir so gar kein Gefühl der Zuneigung. Bei depressiven Müttern können solche gefühllosen Phasen lange anhalten. Nicht selten sind diese Mütter selbst in emotionalem Mangel groß geworden. „Mir fehlt einfach das Mutter-Gen, obwohl ich eine Tochter habe“, sagt eine Mutter.

 

„Ich kann mein Kind nicht lieben, weil ich den Vater nicht geliebt habe und es einfach nicht so geplant war“, sagt wieder eine andere Mutter. Muttergefühle können eben extrem unterschiedlich ausgeprägt sein. Manche Mütter wehren ihre Muttergefühle auch aus verschiedenen Ängsten heraus ab. Wenn man Bilder dieser angeblich nur wenig gefühlvollen Mütter mit ihren Kindern sieht, so schimmert eben doch auch die Liebe deutlich durch.

 

Gefühle von Zuneigung kann man nicht herbeizaubern und Gefühle von Abneigung nicht wegzaubern. Wo Liebe ist, ist der Hass natürlicherweise ganz nah. Wenn der, den wir am meisten lieben, uns plötzlich weh tut, können wir ihn sehr leicht hassen.

 

Es ist lohnenswert, sich mit unserer Psyche und unseren Emotionen genauer zu beschäftigen, damit wir Mütter uns selbst besser verstehen. Egal, ob wir uns da im positiven oder eher negativen Licht sehen – allein die Tatsache, dass wir uns aufmachen, zu entdecken, was da ist und wie wir dahingekommen sind, macht aus dem Muttersein eine ereignisreiche Reise.

 

Muttersein ist etwas, das man nicht „leisten“ kann.

 

„Du kannst alles erreichen, wenn Du nur wirklich willst!“ Nach dieser Devise leben heute sehr viele Menschen. Wir können uns in Schule und Studium um gute Noten bemühen, wir können eine Präsentation gut vorbereiten, ein Instrument hingebungsvoll üben oder einen Sport trainieren. Wir merken, wie wir stetig weiterkommen.

 

Doch Muttersein ist anders. Das kann man irgendwie lernen, irgendwie wächst man da hinein, aber irgendwie kann man da auch gar nichts machen. Ich kann nicht trainieren, zu lieben. Ich kann nicht üben, durch abfällige Bemerkungen meines Kindes nicht verletzt zu sein. Ich kann mein Kind nicht steuern oder kontrollieren – es sei denn, ich zwinge es, spiele meine Macht aus, züchte seine Wut und ernte später Rache und Kontaktabbruch.

 

Muttersein heißt allzu oft Ausgeliefertsein. Muttersein bedeutet häufig, ohnmächtig eine Situation abwarten zu müssen und nur wenig kontrollieren zu können. Das Beste, was wir beim Muttersein vielleicht trainieren können, ist, unser vegetatives Nervensystem zu beeinflussen und uns selbst zu beobachten.

 

Es ist ähnlich wie beim Schlaf: Wir können guten Schlaf nicht trainieren im Sinne von „Leistung erbringen“. Wenn ich heute noch zwei Kilometer mehr laufe, bin ich möglicherweise abends müder, aber ich weiß nicht, ob ich dadurch besser schlafe.

 

Vielleicht halten mich Sorgen um Geld und Gesundheit vom Einschlafen ab, egal, wie viel Schlafhygiene ich betreibe. Schlafen hat mit Regression zu tun, mit Sich-Fallen-Lassen, es ist sozusagen eine „Negativ-Leistung“, die höchstens durch „Negativ-Training“ erreicht werden kann. Einschlafen hat ebenso wie das Muttersein mit Loslassen zu tun, aber auch mit Vertrauen in sich selbst und die Welt.

 

„Nun vertrau‘ doch mal“, sagt die Freundin. Doch auch Vertrauen gehört in diese Kategorie des Nicht-Leisten-Könnens. Ob wir vertrauen können oder nicht, hängt stark von unserer Lebensgeschichte ab. Es spielen so viele Faktoren mit hinein, dass man gar nicht weiß, wo man mit dem Nichts-Tun anfangen soll.

 

Natürlich kann ich mir vornehmen, mir eine grundsätzlich vertrauensvolle Haltung anzueignen. Ich kann mich manchmal bewusst dazu entscheiden, zu vertrauen, und manchmal bin ich auch gezwungen, zu vertrauen – zum Beispiel unter der Geburt oder in Krankheit oder wenn mein Kind beim Vater oder bei anderen Menschen ist.

 

Mutter zu sein heißt, sich täglich auseinanderzusetzen mit Dingen, auf die wir nur wenig Einfluss haben. Doch was wir immer tun können ist alles, was geschieht, zu beobachten. So lernen wir uns kennen – wir wissen mehr und mehr, wie wir im Ausgeliefertsein reagieren, was wir denken und wie wir inneres Erleben abwehren. Und schließlich machen wir dann immer wieder bewusst die Erfahrung, dass vieles gut ausgeht, wenn wir geduldig abwarten und Tee trinken.

 

Die Gesellschaft und die Rabenmutter

 

„Ich finde es unfair, wie die Gesellschaft die Mutter immer anprangert, egal, was sie tut: Bringt sie das Kind in die Kita, ist sie eine Rabenmutter, bleibt sie zu Hause, ist sie eine Glucke.“ Immer wieder bekommen wir zu hören, wie wir als Mutter sein sollten. Wir sollen die Rollen nicht verdrehen, wir sollen konsequent sein, nicht parentifizieren, wir sollen den Kindern Wurzeln und gleichzeitig Flügel geben und vieles mehr. Wenn wir uns dann schlecht fühlen, weil wir es nicht schaffen, lesen wir im Hochglanzmagazin: „Hab‘ kein schlechtes Gewissen!“, oder „Es ist egal, was andere sagen!“

 

Doch egal ist es uns natürlich nicht, denn wir sind soziale Wesen. Oft arbeiten wir innerlich hart daran, dass es uns egal wird, aber so richtig will es uns häufig nicht gelingen. Auch das schlechte Gewissen lässt sich nur schwer wegreden.

 

Das Problem bei der Sache ist, dass wir allzu oft unsere eigenen inneren Zweifel wegschieben wollen. Was immer die Gesellschaft uns sagt: Es ist möglicherweise auch eine Stimme in uns selbst. Die anderen bringen also das, was wir selbst irgendwo in unserem Hinterkopf über uns denken, zum Schwingen. Wir sagen dann rasch: „Das ist die Gesellschaft!“, doch wenn wir es einmal so sehen, dass die Gesellschaft auch eine Projektionsfläche von eigenen Gefühlen ist, kann sich viel verändern.

 

„Immer, wenn ich mein Kind morgens weinend in der Kita zurücklasse, komme ich mir so schlecht vor. Erst wenn meine Freundinnen mir versichert haben, dass es ok ist, kann ich mich selbst wieder beruhigen.“ Wir meinen oft, das schlechte Gewissen sei eine Stimme in uns, die uns einfach unser Leben madig machen will. Natürlich kann unser Gewissen überstreng sein, z. B. wenn wir bei sehr strengen Eltern aufgewachsen sind. Manche psychischen Störungen gehen auf ein überstarkes schlechtes Gewissen zurück – das merken wir daran, dass es wirklich einen quälenden Charakter erhält, den wir selbst als nicht mehr normal erkennen. Doch ein schlechtes Gewissen ist nicht immer falsch.

 

Oft haben wir es mit einem gesunden schlechten Gewissen zu tun, das uns genauso stört wie andere negative Gefühle auch. Wir mögen es nicht, Neid, Schuldgefühle, Scham und Eifersucht zu fühlen.

 

Aber ist das schlechte Gewissen nicht einfach auch ein Hinweis auf einen inneren Zustand, der uns sehr bewegt? Wenn wir morgens unser Kind in der Kita weinend zurücklassen, dann spüren wir einen Stich in unserem Herzen. Wir können nachempfinden, wie sich unser Kind fühlen mag, weil wir uns in gewisser Weise sehr ähnlich fühlen: Wir selbst haben einen Abschiedsschmerz und wir selbst trauern, weil wir einen Trennungsschmerz spüren. Wir spüren instinktiv, dass wir dem Kind hier gerade zu viel zumuten und ihm wehtun. Doch die Umstände lassen uns häufig keine andere Wahl.

 

Wir haben nur den Gedanken „Ich muss schnell zur Arbeit.“ Dabei geht oft unter, was wir wirklich fühlen. Doch wenn wir uns selbst etwas inneren Raum verschaffen, dann spüren wir, wie wir eben auch mit unserem Kind trauern. Diese Gefühle nicht gleich abzuwehren, sondern in Ruhe zu erspüren ist sehr wertvoll und fördert die innere Freiheit.

 

So unangenehm es zunächst auch erscheinen mag, so sehr hilft die genaue Wahrnehmung der eigenen Gefühle sowohl mir als Mutter als auch meinem Kind. Psychische Gesundheit zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man fähig ist, auch Unangenehmes in sich zu halten (Grotstein, 2007). Psychisches Leid beginnt oft da, wo man wegläuft und Spürbares nicht wahrhaben will.

 

Der Schmerz, den das Kind bei der Trennung spürt, ist auch bei der Mutter vorhanden. Beispielsweise kann die Mutter ihr Neugeborenes kaum für zwei Minuten aus den Augen lassen. Sowohl das Baby als auch die Mutter wissen: Der menschliche Kontakt ist lebensnotwendig. Ohne nährende Mama gerät das Baby in eine bedrohliche Situation.

 

Je älter das Kind wird, desto leichter können sich Mutter und Kind voneinander trennen. Sobald das Kind laufen lernt, überbrückt die Sprache den körperlichen Abstand. Mit der Zeit baut das Kind die Vorstellung von der Mutter fest in sich ein, sodass es sich die tröstende Mutter auch vorstellen kann, wenn sie nicht da ist (das wird in der Psychoanalyse als „Objektkonstanz“ bezeichnet).

 

Die Objektkonstanz macht zunehmend längere Trennungen in Kindergarten und Schule möglich. Wenn sich Mutter und Kind in Ruhe entwickeln können, zeigt sich: Die Mutter trennt sich in dem Maße vom Kind, wie es das Kind auch ertragen kann. Mütter tragen sozusagen das Gefühl des Kindes als Spiegelbild in sich.

 

Es ist nun die Herausforderung für die Mutter, vor diesem inneren Wissen nicht wegzulaufen. Wenn wir einmal bei uns selbst bleiben und uns selbst nicht in Ausflüchten verlassen, dann spüren wir auf einmal unsere Trauer und unsere Sorge, ob diese Situation nicht zu viel ist für unser Kind. Wir spüren unseren eigenen Trennungsschmerz, aber auch die Wut über unsere vielen Abhängigkeiten.

 

Wir fühlen uns in unseren Pflichten gefangen und vielleicht hassen wir das Kind sogar dafür, dass es nicht einfach ganz leicht in der Kita bleibt und uns guten Gewissens zur Arbeit gehen lässt. Vielleicht verspüren wir einen großen inneren Freiheitsdrang und erleben deshalb ein schlechtes Gewissen.

 

In uns selbst ist ein ganz buntes Gefühlsbild, das wir vielleicht gar nicht einordnen können. Es beunruhigt uns vielleicht und führt zu einem Zustand des Unwohlseins.

 

Was passiert, wenn wir genau hier stehenbleiben und in uns hineinhorchen? Das kann sehr interessant sein – vielleicht können wir uns selbst und auch unser Kind auf einmal verständnisvoller betrachten.

 

Vielleicht bemerken wir dann auch, dass all die Vorwürfe, die aus der Gesellschaft kommen, in uns selbst schon als Selbstvorwürfe und Ängste vorhanden sind. Wenn wir das erkennen, dann werden wir sehr viel freier von dem, was die Gesellschaft sagt. Wir müssen uns dann nicht mehr ärgern und wir müssen nichts mehr abwehren – wir können sagen: „Ja, da ist was Wahres dran, aber leider ist es gerade so. Ich gebe mein Bestes – und doch kann das Leben mit Kind nicht ohne Schmerzen, Ungereimtheiten oder Konflikte bestehen.“

 

Wenn wir das alles bei uns selbst feststellen, was angeblich die Gesellschaft sagt, dann merken wir vielleicht sogar, wie die schwere Gesellschaft als Last von uns abfällt.

 

Wenn die Freundin dann mit hochgezogener Augenbraue fragt: „Was, du lässt sie jetzt schon so lange in der Kita?“, dann müssen wir nicht mehr hektisch ärgerlich antworten. Dann können wir vielleicht sagen: „Ja, das muss ich leider. Es tut mir selbst weh. Aber wir brauchen das Geld aus meinem Job. Außerdem ist es mir wichtig, dass ich Verbindung zu meinem Beruf halte, den ich gerne mache. Es ist jetzt schmerzlich, aber auf Dauer ist dies vielleicht der sinnvollste Weg. Es fühlt sich jeden Morgen auch für mich ganz scheußlich an. Ich könnte da wirklich manchmal mitweinen.“

 

Diese ehrliche Antwort kann sehr viel bewirken. Kommt so eine Antwort nach viel innerer Arbeit in die eigene Innenwelt, dann können die anderen auf einmal sehr mitfühlend reagieren. Spott und Hohn können verschwinden.

 

Die anderen werden sich höchst wahrscheinlich das nächste Mal mit verletzenden Äußerungen mehr zurückhalten. Oder aber sie werden selbst traurig und erinnern sich an eigene Trennungszeiten. Manchmal kommen die anderen auch plötzlich mitfühlend auf uns zu – sie zeigen Reaktionen, mit denen wir nicht gerechnet hätten.

 

Wenn wir unsere Innenwelt auf unsere eigenen kritischen Stimmen hin überprüfen, dann haben wir die Gesellschaft als Kritiker viel weniger nötig. Natürlich begegnet uns furchtbarer Gegenwind jeden Tag aus der Gesellschaft; doch wenn wir erkannt haben, dass wir in anderen eben oft das vorfinden, was irgendwo in uns selbst schlummert, dann lassen häufig viele Spannungen nach.

 

Der größte Feind ist die andere Mutter

 

„Meine ist ja letztes Jahr aufs Gymnasium gekommen.“ … „Ach, Deiner läuft noch nicht? Vielleicht solltest Du mit ihm mal zum Arzt gehen?“ Mütter können sich gegenseitig sehr leicht nervös machen. Oder vielleicht: „Marie hat letzte Woche ihre ersten Schritte getan! Ich konnte es kaum glauben! Seither ist sie viel zufriedener und schläft besser. Bei uns in der Familie sind sie ja alle so früh. Ich hab‘ da echt Glück gehabt.“

 

Wenn Mütter untereinander sind, dann haben wir häufig mehrere Probleme: Sie sind erschöpft und sie verspüren oft einen enormen Mangel.

 

Mütter haben häufig einen Mangel an Schlaf, oft an körperlicher Zuwendung, an Anerkennung, an Freizeit und Ruhe. Da kann leicht Neid aufkommen auf Mütter, die besser versorgt zu sein scheinen.

 

Der Ausdruck „Mothering the mother“ (Die Bemutterung der Mutter) bezieht sich zwar oft auf die junge Mutter während der Babyzeit, doch auch „ältere“ Mütter haben oft große Sehnsucht danach, selbst einmal bemuttert, bekocht und versorgt zu werden. Wenn viele bedürftige Mütter zusammenkommen, dann gelingt es ihnen manchmal nicht, sich gegenseitig Kraft zu geben.

 

Die Lage ist zudem oft sehr angespannt, weil eines ganz besonders verpönt ist: die Aggression. Mütter wollen nicht offen aggressiv sein, daher findet sich am Kaffeetisch sehr viel versteckte Aggression. Die Mütter spüren die aggressive Luft, aber wissen nicht so recht, wie sie damit umgehen sollen. Sie werden dann entweder sehr vorsichtig mit dem, was sie sagen, oder das Gegenteil ist der Fall: Sie schlagen über die Stränge, weil sie die Hemmungen spüren und sozusagen kontraphobisch dagegen angehen.

 

Doch die angespannte Stimmung führt mitunter zu dem Dilemma, dass man gar nicht mehr weiß, was man erzählen darf und was nicht. Die Mutter von Marie erzählt vielleicht ohne Hintergedanken einfach über ihre Freude. Doch wir übersetzen es möglicherweise für uns so: „Mist. Die doofe Kuh will doch nur prahlen. Ich hab‘ nicht so ein Glück. Mir tut ständig der Rücken weh vom Bücken. Wer weiß, wie lange ich noch warten muss, bis es bei uns so weit ist. Ich mache mir ja schon lange Sorgen, ob sich Leon normal entwickelt. Wenn ich da Marie sehe, werde ich immer ganz unruhig. Und diese Scheiß-Harmonie zwischen den beiden! Ich kann das nicht mehr ertragen!“

 

Wir beäugen andere Mütter mitunter mit großem Argwohn, weil wir als Mütter extrem verletzlich sind. Mutter zu sein heißt, von früh bis spät emotionale Arbeit zu leisten, und das ist etwas, das kaum einer sieht und auch etwas, das wir nie bewusst gelernt haben.

 

Es wird allgemein angenommen, dass wir Mütter das alles irgendwie können. So ist es ja zum großen Teil auch. Und doch spüren wir genau, wo unsere Schwächen liegen, gegen die wir einfach nicht ankommen. Gleichzeitig leben wir in einer Leistungsgesellschaft, von der es heißt, man könne alles erreichen, was man wolle, wenn man nur will. Man müsse eben einfach fleißig sein, viel lernen und trainieren.

 

Beim Muttersein haben wir es oft mit ganz anderen Dingen zu tun: mit Ohnmacht, mit Hoffen und Bangen, mit den Lasten der eigenen Vergangenheit, mit emotionaler Intelligenz und vielen, vielen Ängsten.

 

Leistungsthemen und gesellschaftliche Themen werden mit dem eigenen Kind auch auf anderer Ebene relevant: Wenn ich selbst „nur“ einen Realschulabschluss habe, dann wird das vielleicht gerade dann offensichtlich, wenn ich als Mutter mit Akademiker-Müttern im Kindergarten zusammenstehe. Wir können die Unterschiede zwischen uns und anderen Müttern sehr fein wahrnehmen.

 

Eine Mutter erzählt: „Lisas Tochter ist das Abitur schon in die Wiege gelegt. Lisa ist Ärztin, kann sich alle Lernmaterialien leisten, hat Beziehungen und keine Geldsorgen. Doch mein Sohn, der schon im Kindergarten als Zappelphilipp auffiel, sieht nicht so aus, als würde er es in der Schule weit bringen. Und wenn, dann würde mir das gehörig Angst machen. Irgendwie schäme ich mich, dass ich selbst nicht sehr weit gekommen bin in Schule und Beruf.“

 

All das, womit wir uns in der Schule oft plagten, kommt uns im erzwungenen Zusammensein mit anderen Müttern wieder ganz nah. Wider Willen basteln wir mit arroganten Tussen zusammen die Sankt-Martins-Laternen, während die Mutter, die sich für was Besseres hält, über die Mütter in der Raucherecke lästert.

 

„Mir geht es ganz anders“, sagt eine Mutter. „Ich habe auch nicht studiert, aber meine beste Freundin habe ich beim Babyschwimmen kennengelernt – sie ist Anwältin. Wir helfen einander, wo wir nur können.“ Auch das gehört dazu: Neue Freundschaften entstehen und es ist egal, wo man herkommt und wer man ist. Doch der Leistungsdruck schleicht sich auch unter Müttern immer wieder ein und es ist nicht immer leicht, sich davon nicht ärgern zu lassen. Der Leistungsdruck der Mütter hängt zudem unmittelbar mit demjenigen der Kinder zusammen.

 

Ich weiß noch, wie furchtbar ich es fand, als die Kindergärtnerin mit mir den Anforderungskatalog durchging, und mir fein säuberlich auflistete, was mein Kind noch nicht konnte. Da wurden das Schleifenbinden, das Hoseschließen und das Halten der Schere zu den wichtigsten Problemen dieser Welt.

 

Obwohl ich mich danach beeilte, die Kita zu verlassen, begegnete mir eine andere Mutter mit den Worten: „Wie war’s? Ich bin gerade ganz erleichtert: Bei uns ist alles gut! Die Erzieherin hatte gar nichts auszusetzen!“ So richtig mitfreuen konnte ich mich da nicht, sodass wir uns beide gegenseitig wohl für nicht sehr schwingungsfähig hielten.

 

„Es gibt keinen größeren Feind als die andere Mutter“, höre ich manchmal von Müttern. Ich denke, dass Mütter von vielen Seiten aufgescheucht werden. Der Druck, der auf ihnen lastet, ist enorm und so kann fast jede Bemerkung einer anderen Mutter als Bedrohung, Angeberei oder Verletzung empfunden werden. Natürlich können wir dann selbst nicht viel Mitgefühl für andere Mütter aufbringen.

 

Wenn es uns an Verständnis für andere Mütter mangelt, ist das jedoch auch oft ein Zeichen dafür, dass wir uns selbst mit zu strengen Augen anblicken und uns selbst nicht genügend Verständnis entgegenbringen. Wenn wir davon ausgehen, dass sich andere Mütter genauso alleingelassen und verzagt fühlen wie wir, dann können wir mit anderen Ohren hören. Und wenn wir Mitgefühl für uns selbst entwickeln, wird es leichter möglich, mit anderen Müttern zusammen zu sein, ohne sich so verloren zu fühlen.

 

Das Klima unter Müttern verbessern

 

„Unsere Gesellschaft ist so anti-Mind“, sagt die Psychoanalytikerin Hanna Segal im Film „Encounters through Generations“ (2010) und damit hat sie recht. Wir leben in einer „Psyche-feindlichen“ Welt, in der immer noch wenig davon verstanden wird, wie die Psyche funktioniert. Rasch heißt es: „Jetzt muss doch mal Schluss sein!“

 

Doch so gut dieser Stopp-Ruf manchmal auch tun kann, so bemerken wir doch, dass die Seele an ihren Themen weiterkaut und dass man nicht einfach Schluss machen kann mit unangenehmen Themen und inneren Verarbeitungsprozessen.

 

Schwierige Gefühle sind gerade bei Müttern oft chronisch. Das führt oft auch zu einer schwierigen Stimmung, wenn mehrere Mütter beisammen sind. „Was, sie geht schon wieder arbeiten? Wenn ich so viel Unterstützung hätte wie sie, dann könnte ich es auch“, denken wir uns. Und vielleicht ziehen wir uns in dem Moment in uns zurück und wirken auf die anderen abweisend, ja vielleicht sogar schnippisch.

 

Wenn wir uns darüber bewusst werden, wie oft wir im Abwehrmodus unterwegs sind, dann ist schon viel gewonnen. Wenn es uns gelingt, zu einem möglichst liebevollen Umgang mit uns selbst zu finden und offen zu sein für unsere eigene Traurigkeit, dann werden wir selbst weicher und aufmerksamer. Wir können dann in der Mütterrunde ein anderes Bild von uns selbst zeigen und können mitunter erstaunt sein, wie sich die Atmosphäre verändert.

 

Zuvor aber sind wir oft in Habachtstellung vor den anderen Müttern, weil wir wissen, wie verletzlich wir selbst sind. Wohl jede Mutter ist sehr verletzlich, ganz besonders in den ersten Jahren. Und wenn viele verletzliche Frauen an einem Tisch sitzen, kann es eine schwierige Runde werden. Doch wenn nur ein oder zwei Frauen einen Sinn dafür haben und diese Verletzlichkeit spüren und annehmen, anstatt sie abzuwehren, dann geht es vielleicht der ganzen Runde besser.

 

Wenn wir selbst unsere Verletzlichkeit bemerken und uns mit ihr auseinandersetzen, dann fühlen wir uns auch nicht mehr so leicht durch die anderen Mütter verletzt, weil wir ein Gespür dafür bekommen, dass auch sie sich an so vielen Stellen schwach fühlen. Die Schwäche wird erst dann zum Problem, wenn wir sie abwehren. Wenn wir ihr jedoch Raum geben, dann kann daraus sehr vieles entstehen: Mitgefühl, Verständnis, Kreativität und letzten Endes neue Stärke.