Cover

Verena Petrasch wurde 1981 in der Schweiz geboren und wuchs in Österreich auf. Sie verbrachte ihre Freizeit als Leistungssportlerin in Fechthallen, mit Jazzmusikern am Klavier, spielte Bratsche in einem Orchester und ging nirgendwohin ohne Bücher, Notizblöcke und Stift. An der Universität für Angewandte Kunst in Wien und in Göteborg studierte sie Grafikdesign, in Innsbruck Management. Nach längeren Auslandsaufenthalten arbeitet sie nun als freie Schriftstellerin und Grafikdesignerin in Österreich. Bei Beltz & Gelberg ist auch ihr Debüt Sophie im Narrenreich erschienen.

Für meine Mama,
die trotzdem immer da sein wird.
In liebender Erinnerung.

Und für Felix,
den mutigsten und unerschütterlichsten Jungen der Welt.
Ich hab’ dich unendlich lieb!

Elnurbajram

Es war wie ein warmer, weicher Regen aus Klängen, der auf Noé niederging. Helle, glasklare Perlenklänge. Jede Perle eine andere Welt. Klangwelten, verbunden durch ein unsichtbares Band in einem atemberaubenden Zusammenspiel. Um Noé herum nichts als Weite. Er schloss die Augen und ließ sich fallen. Es war wie ein Schweben, ein Schwimmen in Klängen. Noé atmete frei wie noch nie. Für einen Augenblick stand die Zeit für ihn still.

Dann setzten die Klänge ihn sanft am Boden ab, und es wuchsen Töne. Töne, die Noé nicht kannte. Es waren Töne von anderen Menschen, Tieren und Dingen. Töne von einem anderen Ort und einem anderen Licht. Und mit den Tönen kamen Düfte aus einer unbekannten Ferne. Düfte wie Honig und Mandel, Vanille und Zimt, Orange und weißer Jasmin. Alles, die Töne, die Düfte, legte sich wie ein weicher Schleier über ihn, und als sich der Nebel lichtete, tat sich vor Noé eine Welt auf, die ihm schier den Atem verschlug:

Ein Marktplatz, so groß wie sein Heimatdorf. Vom Platz zweigten Gassen ab und schlängelten sich labyrinthartig durch eine weitläufige hügelige Häuserlandschaft. Ganz hinten, irgendwo am Horizont, erahnte Noé eine Wüste. Sofort fielen ihm die Farben auf: das satte Ocker der Häuser mit ihren ornamentverzierten Fassaden und den schattigen Arkadengängen. Aquamarinblaue, bauchige Kuppeln, die in einen azurblauen Himmel übergingen. Zwischen den Häusern immer wieder die tiefgrüne Blätterpracht hoch gewachsener Palmen.

Auf dem Marktplatz wimmelte es von Menschen. Auch ihre Farben fielen Noé auf: die kräftigen bunten Tücher, die die Frauen umhüllten. Frauen mit dunklen, ausdrucksstarken Augen. Das leuchtende Weiß der Kaftane der Männer. Dunkelhäutige, stolze Männer mit prächtig bestickten Kopfbedeckungen. Sie saßen und standen auf dem großen Platz und boten ihre Waren an: Teppiche mit fein gewebten Mustern in dunklem Rot und Dottergelb. Töpferwaren, tiefblau, weiß und orange verziert. Grüne und türkisfarbene Tonlampen mit goldenen Ornamenten. Es war, als sähe Noé zum ersten Mal in seinem Leben echte Farben. Leuchtend waren sie, kontrastreich, satt und üppig. Auch die Töne der Stadt – Elnurbajram hatte der Händler sie genannt – drangen klar und deutlich wie nie an Noés Ohren. Hatte der Klangbogen seine Sinne so geschärft, oder leuchtete das Licht hier einfach anders als in seinem kleinen, rückständigen Dorf?

Noé schmunzelte beim Gedanken an sein Heimatdorf. Ja, jetzt konnte er schmunzeln, denn jetzt hatte er einen Klangbogen durchquert und war weit, weit weg von zu Hause. Wie sehr hatte er diesen Moment herbeigesehnt! In seinem Dorf war das Leben trostlos gewesen und trist. Oft hatte Noé sich in Gedanken ein anderes Leben ausgemalt, doch nie hätte er geglaubt, dass er die Welt auf der anderen Seite eines Klangbogens eines Tages wirklich sehen würde.

Klangbogen sind die Tore zu anderen Orten der Klangwelt. Man findet sie nur, wenn man einen Kompass besitzt.

Der Händler besaß einen solchen Klangkompass. Vor einigen Wochen war er in Noés Dorf gekommen. Noé hatte seine Chance gewittert und sich ihm angeschlossen. Ganz freiwillig hatte der Händler ihn nicht mitgenommen. Aber Farouk, sein treuer Begleiter, hatte ihn dazu überredet. Aus irgendeinem Grund mochte er Noé.

»Was hast du nur mit diesem Jungen?«, hatte der Händler Farouk eines Abends gefragt, als er dachte, Noé schlafe. »Er ist ein neugieriger Nichtsnutz, der seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen.«

Dass er Noé nicht dabeihaben wollte, hatte der Händler ihm seit ihrem Aufbruch sehr deutlich zu verstehen gegeben. Er zeigte ihm, wo er nur konnte, die kalte Schulter und brachte ihm nichts bei. Noé hatte gehofft, er könne von ihm lernen. Doch diese Hoffnung hatte er bald aufgeben müssen. Der Händler wollte ihm nichts beibringen. Zudem verrichtete er seine Arbeit ohne Freude.

»Man kann nur von dem lernen, der das, was er tut, gern tut«, hatte Noés Freundin Minu einmal zu ihm gesagt. Wahrscheinlich hatte sie recht.

So hatte Noé im Stillen beschlossen, dem Händler nicht lange zur Last zu fallen. Wo man nicht gemocht wurde, sollte man nicht bleiben. Möglichst rasch wollte er einen guten Ort für Minu und sich finden und sich dann einen neuen Lehrmeister suchen.

»Komm mit«, brummte der Händler und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Noé tappte wie im Traum hinter ihm her. Er wusste nicht, wohin er seine Augen und Ohren richten sollte. Da waren Männer auf klingenden Teppichen, die Geschichten von fernen Ländern erzählten, und anmutige Frauen, deren schimmernde Kleider mit jeder Bewegung zartseiden klirrten. Fakire mit Flöten, die aus wundersamen Vasen Tongebilde wachsen ließen, und lachende Kinder, die unter wispernden Palmblättern ihre Reigen tanzten. Sie kamen an glasklar plätschernden Brunnen vorbei, an Menschen, die auf exotischen Instrumenten musizierten. Die Gewürze dufteten und tönten betörend. In den Lüften flogen wundersame Wesen, und immer wieder sauste ein eifriger Botentonträger an ihnen vorbei. Das war es also, dieses andere Leben, dieses Mehr, nach dem Noé sich immer gesehnt hatte. Und es war schöner und größer und wohltönender, als er es sich je hätte erträumen können!

Doch mit einem Mal war da etwas anderes, etwas, das unangenehm aus dem städtischen Tongewimmel herausstach: ein Klang! Ja, Noé war sich ganz sicher, dass es ein Klang war. Es war ein düsterer, unharmonischer Klang. Ein bisschen, wie wenn Fingernägel an einer rauen Wand kratzten und Wölfe dazu jaulten. Etwas an diesem Klang wirkte falsch und unecht. Als wäre er durch Gewalt entstanden. Noé bekam eine Gänsehaut davon. Suchend blickte er sich um und versuchte, den Träger des Klanges ausfindig zu machen. Irgendeine dunkle Gestalt.

Doch es war zwecklos. Es wimmelte hier von Menschen. Im Grunde konnte der Klang zu jedem gehören. Denn jedes noch so schöne Wesen konnte eine Seele mit einem dunklen Geheimnis in sich tragen. Und wer sagte überhaupt, dass dieser Klang von einem Menschen kam?

Noé seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Klang hörte, den er nicht zuordnen konnte. Auch zu Hause in seinem Dorf war das immer wieder vorgekommen. Manchmal hatte Noé tagelang nach dem Träger eines Klanges gesucht und war doch nicht fündig geworden. Die anderen Kinder hatten ihn ausgelacht, als er ihnen einmal von den herrenlosen Klängen erzählt hatte. Er schien der Einzige zu sein, der sie hörte.

»Du bist doch verrückt!«, hatten sie gesagt, »Klänge kann man nicht einfach so hören. Die schwirren nicht einfach in der Luft herum, das weißt du doch!« Kopfschüttelnd hatten sie sich von ihm abgewandt: »Was für ein Spinner!«, und waren davongerannt.

Traurig, allein und ratlos war Noé zurückgeblieben. Natürlich wusste er, dass man Klänge nicht einfach so hören konnte. Wie es sich mit den Klängen in der Klangwelt verhielt, wusste jeder: Klänge gehörten zu jemandem oder zu etwas. Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Ort und jedes beseelte Ding trugen einen Klang. Seinen Klang konnte man sich nicht aussuchen, er entsprang aus dem tiefsten Innern und konnte sich im Laufe eines Lebens verändern. Manche Klänge wurden voller und dichter, blühten auf wie eine wunderschöne Symphonie, andere wurden dünner, unscheinbarer, manchmal auch ein bisschen schräg oder sogar unharmonisch. Das hing ganz davon ab, welches Leben man führte. Im Grunde war der Klang so etwas wie ein Ausdruck der Seele. Klänge waren ständig da, doch im Gegensatz zu Tönen waren sie einzigartig, und man konnte sie nicht auf Anhieb hören. Sie wurden erst dann hörbar, wenn man sich füreinander öffnete und man die Seele seines Gegenübers, sei es nun Mensch, Tier, Pflanze, Ding oder Ort, zu spüren begann. Das geschah zum Beispiel, wenn man Freundschaft schloss.

So wusste Noé also, dass es keine herrenlosen Klänge geben konnte. Und doch hörte er sie.

Noé spürte einen sanften Stoß in seinem Rücken. Es war Farouk, der hinkende Perltonäugling, der Noé zum Aufsitzen einlud. Denn Noé war vor lauter Verwirrung stehen geblieben, und der Händler bereits im Gewimmel verschwunden. Zum Glück wusste Farouk, wohin der Händler wollte, und er kannte den Weg. Sie waren nämlich schon oft hier gewesen, der Händler und er. Ein Perltonäugling merkt sich alles, was er einmal erlebt hat, auch jeden noch so komplizierten Weg.

So trug er Noé zielsicher durch das Markttreiben und durch die verwinkelten Gassen, vorbei an kleinen, heruntergekommenen Häusern und weiteren Plätzen mit großen, prächtigen Gebäuden und Massen von Menschen. Noé fühlte sich erschlagen von der Fülle. So viele Menschen! So viele Eindrücke! Das war er nicht gewohnt. In seinem Heimatdorf war alles klein und überschaubar.

Noé atmete erleichtert auf, als Farouk schließlich auf einem etwas abgelegenen, kaum belebten Platz vor den Fenstern einer kleinen Werkstatt stehen blieb. Dort war es ruhig.

Er kletterte von Farouks Rücken und schaute durch die eisenbeschlagenen Fenster. Sein Blick fiel auf mehrere Tische. Auf ihnen lagen in einem wirren Durcheinander Schrauben, Nägel, Rohre, Platten, Haken und Drähte. Die Wände waren voll mit Regalen. Auf ihnen stapelte sich Werkzeug. Feines, filigranes Werkzeug, aus wertvollen Materialien. Von den Decken hingen seltsame Gebilde, wie kleine Maschinen. Manche groß, und andere klein, gebaut aus Holz, Metall, Stoff oder Glas. Es gab lange, schmale Gebilde und dicke, bauchige, gerade und geschwungene. Sie hatten Arme, Trichter und Schrauben, Spiralen und Räder, Löcher, Klappen, Ventile, Tasten und Seiten.

Es dauerte eine Weile, bis Noé verstand, dass es sich dabei um Geräte handelte, mit denen man Töne filtern konnte. Und als er es verstand, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Noch nie hatte er so viele dieser Geräte auf einem Haufen gesehen. Und schon gar nicht solche! Noé kannte nur die Geräte der Tonsammler in seinem Dorf. Damit filterten sie die Töne, die die Bauern für ihre Arbeit brauchten. Sie filterten das Tropfen des Regens bei Neumond, weil Neumondregentöne für die Tiere besonders bekömmlich waren. Sie filterten das helle Sirren der Sonnenstrahlen zur Mittagszeit, weil Mittagssonnentöne die Pflanzen besser wachsen ließen. Manche Bauern schworen auf die Verwendung von Waldvogelgesang, denn der verleihe den Früchten einen intensiveren Geschmack. Andere wiederum düngten einmal im Monat mit Wildbachrauschen und Alpenblumengeläut. Die Töne der Flügelschläge von Marienkäfern, Bienen und Schmetterlingen hielten im Allgemeinen das Ungeziefer fern. All diese Töne traten recht häufig auf und waren leicht zu finden. Man konnte sie mit einfachen Geräten filtern. Die Geräte in dieser Werkstatt aber, da war sich Noé sicher, waren für ganz andere Töne bestimmt.

Jaro

Ein dunkelhaariger Mann kam mit schnellen Schritten durch die Werkstatt. Er war mittelgroß und schlank, trug eine Schürze aus braunem Leder und eine Brille mit kleinen, ovalen Gläsern. Er öffnete die Tür mit einem warmen Lächeln und trat auf die Straße. Töne wie von einem Windspiel wehten aus der Werkstatt.

»Du musst Noé sein«, sagte der Mann, »Per ist schon da und hat mir von dir erzählt.« Väterlich breitete er die Arme aus und küsste Noé rechts und links auf die Wangen.

Noé wich verwundert zurück.

Der Mann mit der Lederschürze lachte: »So machen wir das hier in Elnurbajram. In deinem Heimatdorf begrüßt man sich wohl anders?«

Noé nickte. Ja, in seinem Heimatdorf begrüßte man sich ganz anders. Genau genommen höchst selten. Und wenn, dann war es nur ein kurzes, unmerkliches Nicken mit vorgeschobenem Kinn. Lediglich die Kinder winkten einander zu und riefen: »Hallo!« Noé aber grüßten sie nie. Meist taten sie so, als sähen sie ihn nicht. Wenn Noé frühmorgens zum Wirt in die Stube kam, sagte der: »He Junge, bring Kaffee fürs Frühstück und kümmer dich dann um den Stall!« Und wenn er vom Stall zurückkam, hieß es: »He Junge, geh zum Markt und hol Glockenquellbier und Brot für die Gäste!« Auch die Marktverkäufer grüßten ihn nicht. Sie schauten ihn nicht einmal an, wenn sie fragten: »He Junge, was willst du?« – He Junge, das war die Begrüßung, die Noé von zu Hause kannte. Berührungen wie die des freundlichen Mannes aus der Werkstatt war er nicht gewohnt.

»Mein Name ist übrigens Jaro«, hörte er den Mann sagen, und dann zu Farouk: »Mein lieber Farouk, wie schön, dich zu sehen!«

Farouk war gerade dabei, genüsslich die Töne zu verspeisen, die manchmal aus seinem schimmernden Pfauengefieder wie kleine, bunte Perlenbläschen aufstiegen. Beim Zerkauen platzten sie, und manchmal drang dann aus seinem Maul eine lustige Melodie. Noé hatte noch nie zuvor ein Tier gesehen, das sichtbare Töne absonderte, und er staunte jedes Mal aufs Neue darüber.

Farouk wandte seinen mächtigen Löwenkopf nach Jaro um. Dabei erwischte er versehentlich mit dem linken Ohr ein hellblaues Perltonbläschen und schleuderte es Noé in den Nacken. Wie das kitzelte, als es mit einem fröhlichen Klingeln zerplatzte!

Noé fuhr sich mit der Hand über den Nacken und betrachtete neugierig die blaunasse Tonfarbe auf seinen Fingern: Wie sich etwas, das so schön klingelte, wohl im Mund anfühlte? Vorsichtig tastete er mit der Zungenspitze danach, und das Prickeln ließ nicht auf sich warten. Innerhalb kürzester Zeit breitete es sich in seinem Mund aus. Es war sauer wie Brause, bitter wie Grapefruit und kribbelte wie ein Haufen klitzekleiner, orientierungsloser Ameisen. In Noés Mund zog sich alles zusammen. »Igitt!«, rief er und machte ein Zitronengesicht.

Farouk schmunzelte, Jaro reichte ihm ein Taschentuch. Noé nahm es dankbar, spuckte die Farbe hinein, und beschloss, das Verspeisen dieser Töne in Zukunft dem Perltonäugling zu überlassen.

»Ich habe den Stall schon für dich hergerichtet«, sagte Jaro zu Farouk. »Ausnahmsweise hat Per eure Ankunft ja angekündigt.« Er zwinkerte Noé zu: »Wahrscheinlich, weil er diesmal in Begleitung kommt. – Was für eine freudige Überraschung! Es geht wohl aufwärts mit ihm?« Er verstummte, und sein Blick schweifte in die Ferne. Ein nachdenklicher Schatten legte sich über sein Gesicht. Dann aber schüttelte er sich und legte Noé die Hand auf die Schulter: »Komm herein! Per wartet schon.«

Per … So hieß er also, der Händler. Seit seiner Ankunft im Dorf hatten ihn alle immer nur Händler genannt. Dass er einen Namen hatte, befremdete Noé irgendwie. Vielleicht lag es daran, dass auch der Händler Noé noch nie mit seinem Namen angesprochen hatte. Manchmal fragte sich Noé, warum sich seine Eltern überhaupt die Mühe gemacht hatten, ihm einen Namen zu geben. Leider konnte er sie das nicht mehr fragen. Seine Eltern waren schon lange tot. So lange, dass er sich nicht mehr an sie erinnerte. Das Einzige, was er von ihnen hatte, waren ein paar Buchtongabeln.

Seit Noé denken konnte, war er im Dorf umhergereicht worden. Vom einem zum anderen, und keiner wollte ihn wirklich haben. In der Tonwelt war es üblich, dass die Kinder die Berufe ihrer Eltern erlernten. Weil Noé aber keine Eltern mehr hatte, lebte er ein Jahr hier und ein Jahr dort und hatte im Laufe seines jungen Lebens schon viele Arbeiten verrichtet: Auf dem Markt hatte er Tonsamen verkauft, den Bauern bei der Ernte geholfen, Tonerde gedüngt, die Ställe ausgemistet, die Straßen gefegt und sich beim Tonschaufelschmieden die Hände verbrannt. Zuletzt hatte er beim Wirt gelebt, als Tonträger, Botenjunge, Bedienung, Tellerwäscher, kurz, als Junge für alles, und war von ihm schändlich behandelt worden. In stillen Stunden hatte Noé oft die Buchtongabeln seiner Eltern angeschlagen, ihren Erzählungen aus der Klangwelt gelauscht, und sich gefragt, ob seine Eltern mehr von der Klangwelt gekannt hatten als dieses Dorf. – Er jedenfalls würde nicht hierbleiben, hatte er eines Abends beschlossen! Er wollte die Welt sehen, von der die Buchtongabeln sprachen. Er wollte lernen und einen guten Beruf ergreifen. Er wollte einen Ort finden, an dem er sich wohlfühlte! Sosehr der Händler Noé auch zu verstehen gab, dass er ihn nicht mochte, so dankbar war Noé ihm, dass er ihn aus seinem Heimatdorf herausgeholt hatte. – War es denn wirklich erst drei Tage her, seit er mit ihm losgezogen war? Es kam Noé viel länger vor. Das Leben zuvor, das Leben im Dorf, schien ihm schon jetzt wie ein anderes, weit entferntes Leben. Ohne das geringste Gefühl von Wehmut hatte Noé alles hinter sich gelassen. Er vermisste nichts und niemanden aus diesem tristen, erbärmlichen Dorf. – Nein, das stimmte nicht! Eine vermisste er sehr: seine Freundin Minu, die Tochter des Wirts.

Ein trauriger Schatten legte sich über Noés Gesicht, als er an sie dachte. Schon lange hatten sie von einem gemeinsamen Ausbruch geträumt. Minu gehörte genauso wenig in dieses Dorf wie Noé: Sie hatte früh ihre Mutter verloren, bei ihrem Vater ging es ihr nicht gut. Er war launisch und jähzornig, wollte eigentlich nichts von seiner Tochter wissen, duldete sie nur, weil sie ihm im Wirtshaus half. Außer Noé hatte Minu keine Freunde. Etwas unterschied sie von den anderen Kindern: Sie dachte über andere Dinge nach, hatte andere Träume, spielte andere Spiele, redete mehr. Und weil etwas an ihr anders war, war sie den Dorfkindern suspekt. Noé aber mochte Minu genau deshalb. Es schmerzte ihn, dass er das Dorf ohne sie verlassen hatte. Wehmütig dachte er an den letzten Nachmittag mit Minu im Wald. Das war der Tag gewesen, bevor der Händler ins Dorf gekommen war …

Minu

»Kannst du seinen Klang hören?«, fragte Noé.

»Nein, ich höre nur seine Töne«, sagte Minu und strich sich eine ihrer langen, zerzausten Haarsträhnen hinters Ohr.

Sie saßen auf einem Baum und beobachteten ein Klangschalenhörnchen, das mit schnellen, sicheren Bewegungen nach Futter suchte. Sein Fell schimmerte golden, besonders am schalenrunden Bauch. Zum Rücken hin ging das Gold in ein grünliches Blau über. Von Zeit zu Zeit hielt das Tier inne und gab einen hellen, metallischen Ton von sich. Minu jauchzte jedes Mal vor Vergnügen, und ihre haselnussbraunen Augen leuchteten glücklich. Sie sah und hörte das Klangschalenhörnchen heute zum ersten Mal.

»Ach, wie gerne wüsste ich, wie man seinen Ton filtert!«, seufzte sie. »Dann könnte ich ihn auch zu Hause hören.«

»Hm«, machte Noé. Für den Ton eines Klangschalenhörnchens benötigte man bestimmt ein ganz besonderes Filtergerät, denn das Klangschalenhörnchen war ein seltenes, ja, vielleicht sogar magisches Tier.

Im Dorf erzählte man sich von dem Klangschalenhörnchen, als wäre es ein Mythos. Keiner hatte es je gesehen. Bis auf Noé. Der aber hatte niemandem davon erzählt. Sie hätten ihn nur Lügenmaul geschimpft. Auch vor Minu hatte er es lange geheim gehalten. Als das Klangschalenhörnchen ihm dann aber seinen Klang offenbart hatte, war es wie ein Wunder für Noé gewesen. Da hatte er es nicht mehr ausgehalten und Minu davon erzählt.

Minu hatte Noé nicht Lügenmaul geschimpft, sondern darauf gepocht, das Hörnchen selbst zu sehen. Das war vor zwei Tagen gewesen.

Minu fasste Noé aufgeregt am Arm: »Beschreib mir seinen Klang!«

Noé lächelte. Das war ein Spiel zwischen ihnen. Noé konnte nämlich viel mehr Klänge hören als Minu. Besonders jene von Tieren. Er wusste nicht, woran das lag. Da war irgendeine Verbindung zwischen ihm und den Tieren. Manchmal war es, als könnte er in ihre Seele schauen. Noé mochte die Tiere. Mit ihnen hatte er noch nie schlechte Erfahrungen gemacht. Sie waren, im Gegensatz zu den Menschen, gut zu ihm. Die Tiere spürten wahrscheinlich seine Sympathie, und die beruhte auf Gegenseitigkeit. Und wenn aus Sympathie Vertrauen wurde, und aus Vertrauen Vertrautheit, offenbarte man sich gegenseitig seinen Klang.

Minu hingegen hatte eine wunderschöne Stimme und war in der Lage, die Klänge zu singen, die Noé ihr beschrieb. Noé bewunderte Minu für diese Gabe. Er kannte sonst niemanden, der Klänge singen konnte, und er liebte es, wenn Minu das tat.

So schloss er die Augen, lauschte und fing an, den Klang zu beschreiben: »Das Trippeln von kleinen Füßchen auf Herbstblättern im Wald … Pizzikatotöne von Streichinstrumenten … zwischendurch ein leiser, heller Gong …« Er hielt inne und horchte abermals. »Ein fröhlicher, schneller Wechsel zwischen hohen und mittelhohen Tönen … sehr lebhaft … und immer wieder so etwas wie ein Kinderlachen im Hintergrund.«

Minu begann leise zu singen, während Noé den Klang weiter beschrieb.

Von Eigenschaft zu Eigenschaft näherte sich Minus Gesang dem Klang des Hörnchens an. Noé beschrieb ihn so lange, bis Minu den Klang exakt erfasst hatte und kein Unterschied zum Original mehr zu hören war.

Da lief plötzlich ein Mann mit braunem Hut und grünem Rock an ihnen vorbei. Seine auffallend kräftigen Waden steckten in weißen Strümpfen, die Füße in weichen, abgenutzten Lederschuhen, den Hut zierte die Feder eines Fasans.

»Höret her, höret her!«, rief der Mann und schwenkte mit hoch erhobenem Arm eine Tongabel durch die Luft. »Wichtige Nachricht für die Bewohner des Dorfs! Höret her, höret her, was der Händler der Töne zu verlautbaren hat!«

Noé und Minu warfen einander verwunderte Blicke zu. Rasch sprangen sie auf und rannten dem Mann hinterher.

Kurz darauf hatten sich alle auf dem Dorfplatz versammelt. Sogar die Bauern hatten ihre Feldarbeit und liegen lassen und waren herbeigeeilt. Es kam nicht oft vor, dass sich ein Botentonträger hierher verirrte. Alle Blicke waren gespannt auf den Mann gerichtet, als er seine Tongabel mit einer für die Tonbauern lächerlichen Eleganz an seinem Handgelenk anschlug und in die Höhe hielt.

»Melde meine Ankunft. Morgen zur Mittagszeit«, nuschelte eine tiefe, brummende Stimme aus der Tongabel heraus. »Komme mit einem Perltonäugling. Benötige Unterkunft und Verpflegung, sowie einen Stallplatz und Futter für meinen Begleiter. Bringe Töne zum Tausch. Bitte bestätigen.« Die Stimme verstummte.

Der Botentonträger ließ die Tongabel sinken und schaute erwartungsvoll in die Runde.

Schweigen auf dem Platz. Noé konnte in den Augen der Dorfbewohner lesen, dass sie nicht sicher waren, ob sie den Händler hier haben wollten. Sie dachten wahrscheinlich an die Feldarbeit, die nicht warten konnte. Wer würde sich um den Händler kümmern? Außerdem war es ein armes Dorf. Kaum einer besaß Dinge zum Tausch. Und dann war da noch die Sache mit der Entführung. Die Dorfbewohner erzählten oft davon, ganz besonders die alte Alma: Acht Jahre sei es nun her, hatte Noé sie vor Kurzem wieder sagen hören, seit sich die Fremden im Wirtshaus einquartiert und über Nacht zwei Dorfbewohner entführt hatten.

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«, hatte die alte Alma mit hoch erhobenem Zeigefinger kundgetan. Allerdings wusste Noé nicht, wie viel von der Geschichte wahr war. Die alte Alma war schon etwas wunderlich, und Noé konnte sich nicht mehr daran erinnern, was vor acht Jahren gewesen war. Aber solange er denken konnte, warnten die Dorfbewohner ihre Kinder vor Fremden. Es gab sogar ein Lied, das sie ihnen immer wieder vorsangen: »Fürchte dich und geh nicht weg, sonst entführet dich der Menschenschreck!«

Der Botentonträger tappte ungeduldig von einem Bein auf das andere. Keiner sagte ein Wort.

»Nun?«, fragte der Fremde schließlich. »Welche Antwort darf ich dem Händler überbringen?«

»Ähm … da müssen wir uns erst beraten«, brummte der Dorfälteste.

Schon steckten die Dorfbewohner ihre Köpfe zusammen und begannen zu tuscheln.

Da spürte Noé einen sanften Stoß in den Rippen: »Noé! Denkst du, was ich denke?« Es war Minu. Die Aufregung war sogar in ihrem Flüstern zu hören.

»Hm?«, machte Noé. Seine Gedanken kreisten noch immer um die Entführung.

»Vielleicht ist dieser Händler unsere Chance!« Und weil Noé sie nur verwirrt anschaute, fuhr sie fort: »Händler kommen weit herum. Sie kennen die Welt. Vielleicht nimmt er uns mit?«

Noé dachte einen Augenblick nach, dann leuchteten auch seine Augen auf: »Ja, Minu, du hast recht! Vielleicht ist das unsere Chance!«

Im selben Moment hörte er den Dorfältesten sagen: »Na gut. Der Händler soll kommen.«

Jaro

Jaro führte Noé quer durch die Werkstatt. Im Vorbeigehen warf Noé neugierige Blicke auf die vielen wundersamen Geräte.

»Die Werkstatt zeige ich dir morgen«, sagte Jaro, dem Noés Interesse nicht entging. »Per hat Hunger.«

In einem Nebenzimmer saß der Händler an einem Tisch. Sein Blick war starr auf einen Krug Glockenquellbier gerichtet.

Als Noé den Raum betrat, schaute er verärgert auf: »Wo bleibst du denn, Junge? Hopp, hopp, mach dich frisch, damit wir endlich aufbrechen können! Du riechst, als hättest du dich zehn Tage nicht gewaschen! Das verdirbt mir den Appetit.«

Noé überlegte. Er hatte die Tage nicht gezählt, seit er sich zuletzt gewaschen hatte, aber wahrscheinlich war es noch viel länger her. Der Wirt hatte nie gewollt, dass Noé sein wertvolles Wasser für Körperpflege vergeudete, war es doch für seine Gäste mit Amselgesang verfeinert.

»Genug schon, dass du jeden Tag so viel davon trinkst«, hatte er Noé einmal vorgeworfen, »Waschen kannst du dich unten am Fluss.«

Doch zum einen war das Flusswasser eiskalt, und zum anderen war Noé ohnehin meist keine Zeit zum Waschen geblieben. Der Wirt hatte ihn von frühmorgens bis spät in die Nacht beschäftigt. Die seltenen, wertvollen Ruhestunden hatte Noé lieber mit Minu im Wald verbracht als beim Waschen am Fluss.

»Ich verstehe nicht, warum du ihn unbedingt dabeihaben willst«, fauchte der Händler nun in Jaros Richtung.

Jaro aber lachte nur: »Ach, wie habe ich dich doch vermisst, du alter Griesgram! Gönn dem armen Jungen doch ein gutes Essen!« Er zwinkerte Noé zu. »Nimm ihn nicht so ernst. Du weißt ja: Bellende Hunde beißen nicht.«

Doch Noé, der darin geübt war, sich unsichtbar zu machen, wenn er merkte, dass er störte, schüttelte den Kopf: »Ich bin nicht hungrig. Geht ruhig ohne mich.«

Jaro musterte den hageren Jungen mit einem durchdringenden Blick, als wolle er herausfinden, ob er die Wahrheit sagte.

Noé aber lächelte tapfer: »Wirklich. Ich bin müde von der Reise.«

»Na gut«, sagte Jaro, »Wenn es dir so lieber ist … Dann geh doch schon mal hoch und mach dich frisch. Ich richte dir noch rasch eine kleine Mahlzeit. Nur für den Fall, dass der Hunger doch noch kommt.« Er zwinkerte verschwörerisch. Ihm war das protestierende Grummeln von Noés Magen nicht entgangen. »Das Bad ist oben, die zweite Tür rechts. Nimm dir, was du brauchst. Handtücher findest du im Kästchen unter dem Waschbecken, ein Schlafanzug liegt auf der Badewanne für dich bereit.«

»Badewanne?«, wiederholte Noé. Dieses Wort hatte er noch nie gehört.

Der Händler rollte mit den Augen, als hätte Noé etwas Dummes gefragt.

»Eine Badewanne ist eine große Wanne, die man mit Wasser befüllen kann«, erklärte Jaro.

»Wozu?«, fragte Noé.

Der Händler stöhnte und griff sich an die Stirn.

»Zum Baden«, antwortete Jaro. »So etwas kennt ihr in eurem Dorf wohl nicht?«

Noé schüttelte den Kopf.

Der Händler lachte laut auf: »Kein Wunder, dass er so stinkt!«

Jaro überging die spöttische Bemerkung: »Na, dann würde ich dir wärmstens empfehlen, es auszuprobieren. Baden in einer Badewanne ist etwas sehr Entspannendes. Ganz besonders nach einer anstrengenden Reise. Gib ruhig einen Badetonzusatz ins Wasser. Dann ist es noch schöner. Die Badetöne findest du in einer Schachtel neben der Wanne.«

Noé nickte. Er wusste zwar nicht, ob er mit dieser Badewanne zurechtkommen würde, aber er wollte es versuchen.

»Du schläfst übrigens mit Per im Gästezimmer«, fuhr Jaro fort. »Das ist auch oben. Die zweite Tür links. Die Betten sind schon bezogen.«

»Danke«, murmelte Noé beschämt. So viel Freundlichkeit war er nicht gewöhnt. Dann verabschiedete er sich in den oberen Stock.

Pegasusflügelschlag

Als Noé die Badezimmertür hinter sich schloss, war mit einem Mal alles ganz still um ihn herum. Er war trotz Hunger froh, dass er Jaros Haus heute Abend nicht mehr verlassen musste. Die vielen Eindrücke der letzten Tage waren anstrengend für ihn gewesen. Noé freute sich auf Zeit für sich, auf Zeit zum Atmen.

»Wie geht es dir?«, fragte er sein Spiegelbild und horchte tief in sich hinein. Dort, und auch auf den Mundwinkeln seines Spiegel-Ichs, fand er ein zufriedenes Lächeln. Gut ging es ihm! So lange hatte er von einem anderen Leben an einem anderen Ort geträumt. Nun war Noé diesem Traum plötzlich ein großes Stück näher. Endlich war es ihm gelungen, der Enge seines Heimatdorfes zu entfliehen. Jeder Tag dort war mühsam gewesen. Jeden Abend war Noé erschöpft und ohne Hoffnung in sein Bett gekrochen. Jeden Morgen war er freudlos aufgestanden. So etwas wie Glück hatte er nur in den wenigen Stunden mit Minu gekannt. Nun aber war Noé frei, und seine Zukunft lag wie ein unbeschriebenes Blatt vor ihm. Alles war möglich! Alles war groß. Alles war ungewiss. Zugegeben, ein bisschen Angst machte ihm diese Ungewissheit, doch alles war besser als das trostlose Leben in seinem Dorf. Und wenn erst Minu wieder bei ihm war, würde die Angst augenblicklich verschwinden, denn mit einem Freund an der Seite wurde das Ungewisse zu einem großen, aufregenden Abenteuer.

Da entdeckte Noé im Spiegel hinter sich eine menschengroße, silbergraue Blechwanne. Das musste die Badewanne sein, von der Jaro gesprochen hatte! Staunend wandte er sich nach ihr um. In dieser Wanne konnte man ja fast liegen!

›So viel Wasser für einen einzelnen Menschen?‹, dachte er, ›Was für eine Verschwendung!‹

Doch Jaro hatte ihn ja ausdrücklich zum Baden eingeladen, also drehte Noé den Wasserhahn auf.

Klares Wasser plätscherte in die Wanne, und Dampf stieg auf. Ein breites Lachen zog sich über Noés Mund. Voller Vorfreude stieg er aus seinen Kleidern und setzte sich in die Wanne. Warm umschloss das Wasser seinen Körper. Noé musste erst mit dem Kopf untertauchen, damit er verstand, dass es wahr war. Er jubelte beim Auftauchen und schüttelte sich wie ein junger Hund.

Dann fielen ihm die Badetonzusätze ein. Etwas unsicher öffnete er die ornamentverzierte Schachtel, die neben der Wanne lag. Etwa zehn Tongabeln lagen darin und schimmerten verheißungsvoll. Noé nahm eine und las die Beschriftung auf dem Tongabelhals: Meerjungfrauengesang. Ungläubig starrte Noé auf das Wort. So einen Ton fand man nicht alle Tage! Er musste sehr wertvoll sein. Suchend blickte er sich nach einer anderen Schachtel um. Das konnte wohl nicht die richtige sein! Aber da war keine andere Schachtel. Noé zog eine weitere Tongabel heraus: Faunflötenspiel. Noé traute seinen Augen nicht. Da lagen ja richtige Schätze in Jaros Bad! Hatte er es wirklich ernst gemeint, als er gesagt hatte, Noé solle sich einen Badetonzusatz nehmen? Noé nahm die nächste Tongabel: Nymphengesang. Dann Eislaternenfischgähnen, Nordlichtschimmern, Pegasusflügelschlag und Einhornleuchten. So ging es dahin. Noé wollte eigentlich bescheiden sein und suchte nach einem einfachen Badetonzusatz, doch so einen gab es in dieser Sammlung nicht. Nach einigem Zögern entschied er sich für den, der für ihn am aufregendsten klang; den Pegasusflügelschlag.

Bedächtig schlug Noé die Tongabel am Badewannenrand an und richtete ihre Zinken zum Wasser hin aus. Der Ton eines kraftvollen Flügelschlags entwich der Gabel und breitete sich über dem Wasser aus. Mit leisen Wiederholungen sickerte der Ton ins Wasser ein und ging als leichtes, belebendes Kribbeln in Noés Körper über. Ein weiterer Flügelschlag kam aus der Tongabel. Das Wasser begann sanft zu vibrieren. Noch ein Flügelschlag. Kleine Bläschen stiegen auf. Bald saß Noé in einem wohltuenden Sprudel, und die Flügelschläge, die sich nun in regelmäßigen Abständen wiederholten, verwandelten sich in das Kommen und Gehen eines angenehmen Rauschens. Noé schloss die Augen und glitt bis zum Hals ins Wasser. Er atmete tief ein. Der Geruch von Salz drang an seine Nase. Noé war noch nie am Meer gewesen, aber so stellte er sich den Geruch des Meeres vor. Es fühlte sich verblüffend echt an. Der Geruch, das sanfte Wellenströmen an seinem Körper … Noé kam nicht umhin, die Augen wieder zu öffnen, und konnte kaum glauben, was er sah:

Das Licht im Badezimmer war verschwunden. Um ihn herum Dunkelheit. Nur ein kreisrunder Vollmond leuchtete hell. Spiegelte sich … ja, war es denn möglich? … im Meer! Noé saß nicht mehr in Jaros Badewanne. Nein, er saß im Sand am Ufer eines Ozeans, und lauwarme Wellen umspülten seinen Körper mit ihrer weißen Gischt. Ungläubig tauchte Noé einen Finger ins Wasser, probierte … Es schmeckte salzig!

Da erhob sich ein geflügeltes Pferdewesen aus dem Wasser. Sein weißes Fell glitzerte zartsilbern im Mondlicht. Das Tier hielt für einen Augenblick inne und betrachtete Noé, dann breitete es seine Schwingen aus und erhob sich hoch in die Luft. Voller Andacht beobachtete Noé, wie das Tier seine eleganten Kreise im Mondlicht zog und schließlich wieder im Wasser verschwand.

Mit seinem Verschwinden verfärbte sich der Mond rot und sank rasch tiefer. Es sah aus, als ginge er im Meer unter. Dann wurde es dunkel.

Als das Licht wiederkam, fand Noé sich in Jaros Badezimmer wieder. Das Wasser in der Wanne stand ruhig. Die Pegasusflügelschläge waren verebbt.

Ein Klang

Nach dem Bad war Noé viel zu müde, um noch etwas zu essen. Selig schlüpfte er in den Schlafanzug, den Jaro für ihn bereitgelegt hatte. Fast ehrfurchtsvoll strich er über den Ärmel. Man sah dem Gewand an, dass ganz besondere Töne eingewebt waren. Und als sich mit dem weichen Stoff ein warmes Gefühl der Geborgenheit um seinen Körper legte, fragte sich Noé, welche Töne ein solch wunderbares Gefühl erzeugen konnten. Er hätte sie in den letzten Jahren gut gebrauchen können. Als Ersatz für die fehlende Familie und als Ausgleich zur Kälte, die ihm aus jedem Winkel im Dorf entgegengeweht war. So ein Pyjama hätte ihm wahrscheinlich viele schlaflose Nächte erspart. Nächte, in denen er sich die Frage nach seinen Eltern gestellt hatte. Nächte, in denen er wach gelegen war und sich nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine Familie: die liebenden Arme einer Mutter, die weisen Ratschläge eines Vaters, die tiefe Verbundenheit mit einem Bruder. Nur Minu hatte ihm immer wieder das Gefühl von Familie geben können. Sie war im Laufe der Zeit wie eine Schwester für ihn geworden. Vor nicht ganz einem Jahr hatten sie im Wald Blutsgeschwisterschaft geschlossen.

»Nun sind wir auf ewig miteinander verbunden«, hatte Minu gesagt und gelacht.

Und tatsächlich war es Noé von diesem Tag an vorgekommen, als trage er Minus Klang in sich. Wann immer er sich einsam fühlte, konzentrierte er sich darauf und konnte ihn hören. Dann fühlte sich sein Leben schon viel weniger einsam an.

Noé warf noch einen letzten Blick aus dem Schlafzimmerfenster auf die leuchtende Stadt. So viele Lichter, so viel Leben! Ach, wenn Minu das doch auch sehen könnte! Doch der Händler hatte sich partout geweigert, sie mitzunehmen.

»Nein«, hatte er entschieden gesagt, »ein Balg ist schon mehr als genug! Deine Freundin kann sich einen anderen suchen, der sie mitnimmt.«

»Wenn Minu nicht mitkommen darf, bleibe ich auch im Dorf!«, hatte Noé schon trotzig antworten wollen, doch Farouk hatte ihm einen eindringlichen Blick zugeworfen, als wollte er sagen: »Noé, sei nicht dumm! Wenn du dieses Dorf wirklich verlassen willst, ist das deine einzige Chance! Komm mit uns mit, und sobald es an der Zeit ist, holen wir Minu nach.«

Mit gemischten Gefühlen war Noé zu Minu gegangen, um sich mit ihr zu besprechen. Doch auch Minu hatte ihm zugeredet. »Natürlich gehst du mit! Ich halte hier die Stellung, und wenn du einen geeigneten Ort für uns gefunden hast, komme ich nach.« Sie hatte gelächelt, und Noé hatte sie in diesem Moment sehr für ihre Stärke bewundert, denn ihm war beim Gedanken an einen Abschied zum Weinen zumute gewesen.

Seitdem hatte Noé Minu jeden Abend einen Botenton geschickt. Bis jetzt hatte sie nicht geantwortet. Ob ihre Stärke nur gespielt gewesen war und sie doch gekränkt war, weil er ohne sie losgezogen war? Noé spürte ein Drücken in seiner Brust. Auch heute wieder keine Nachricht von ihr.

Obwohl er müde war, besprach er noch eine Botentongabel, ging dann zum Fenster, schlug die Gabel an und hielt sie in die Nacht hinaus. Ein leises, glitschiges Schlurfen ertönte. Der Ton einer Posthornschnecke; ein Botentonruf.

Binnen weniger Sekunden kam ein Mann im Gewand eines Botentonträgers gelaufen: »Wer rufet den Boten?«

»Hier, ich!«, rief Noé aus dem Fenster und schwenkte die Nachricht für Minu.

Der Bote lief eilig herbei und streckte seinen Arm nach der Tongabel aus: »Wer ist der Empfänger?«

»Meine Freundin Minu.«

»Freundin Minu, mhm«, wiederholte der Bote und zog einen Klangkompass aus seiner Tasche. »Ist die Tongabel mit ihren Koordinaten bespielt?«

Noé nickte. Ja, er hatte die Tongabel mit Minus Koordinaten bespielt. Der Botentonträger benötigte diese Koordinaten, damit sein Klangkompass ihm den Weg zu Minu zeigen konnte. Es war nicht schwierig, eine Botentongabel mit den Koordinaten eines Menschen zu bespielen: Man musste lediglich den Hals der Gabel zwischen Daumen und Zeigefinger halten und dabei fest an den Klang des Empfängers denken. Dadurch übertrugen sich seine Klangkoordinaten auf die Gabel, und der Kompass des Boten konnte ihn ausfindig machen, wo auch immer er gerade war.

»Gabel mit Koordinaten bespielt, mhm«, wiederholte der Tonträger beflissen und steckte sie in den Kompass. Er wartete einen Augenblick, dann schaute er zufrieden zu Noé auf: »Koordinaten empfangen!«, und eilte davon.

Noé gähnte und kroch in sein Bett.

Wie lange Noé geschlafen hatte, konnte er nicht sagen, doch es war noch tiefe Nacht, als ein Rumpeln und Poltern ihn weckte. Die Gästezimmertür stand offen, jemand murmelte mit sich selbst im Gang. Dann wieder ein Poltern.

»Gudenachtjaromeinbester! Gudenacht.« Die lallende Stimme des Händlers.

Schon wankte er durch die Tür. Er hatte wohl zu viel Glockenquellbier getrunken.

Rasch schloss Noé die Augen und rührte sich nicht. Der Händler sollte sich nicht von ihm ertappt fühlen. Noé lauschte: das Geräusch einer Gürtelschnalle. Kleider, die etwas umständlich aus- und angezogen wurden. Weitere wankende Schritte. Schweres Atmen. Stille. Noé rührte sich nicht. Es hatte nicht so geklungen, als hätte sich der Händler schon ins Bett gelegt.

Da plötzlich, ein Seufzen, und Noé hörte ganz leise ein zartes Mädchensummen und etwas wie das silberne Glitzern des Mondes. Kurz darauf kam eine wunderschöne Regentropfenmelodie hinzu und das sanft-dumpfe Fallen des ersten Schnees. Es wurde immer mehr und schöner und dichter. Glasklare Harmonien in einem faszinierenden Wechsel. Noé lauschte tief berührt. Woher kam diese Melodie? Vorsichtig öffnete er nun doch die Augen. Nur einen Spaltbreit. Was er sah, war aber nur der Händler. Er stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster und starrte hinaus. Da verstand Noé, dass es ein Klang war, den er hörte. Wohl wieder einer dieser herrenlosen Klänge. Denn der Klang des Händlers konnte es nicht sein. Ein so feiner Klang passte nicht zu diesem ruppigen Mann. Außerdem kannte Noé den Händler ja noch überhaupt nicht. Sie waren zwar schon mehrere Tage gemeinsam unterwegs, aber sie hatten noch nicht einmal ein richtiges Gespräch zustande gebracht. Wie sollte man sich da kennenlernen und füreinander öffnen?

Noés Blick zog die dunkle Silhouette des Händlers nach; den großen, fülligen Körper, die hängenden Schultern, die kräftigen Hände, den Kopf mit den kinnlangen, verfilzten Haaren. Wer war dieser Mann?

Mit einem Mal krümmte sich die Gestalt am Fenster und ächzte. Noé erschrak. Was tun? Brauchte der Händler Hilfe? Sollte er Jaro rufen? Doch noch ehe Noé entscheiden konnte, was richtig war, schlug der Händler mit beiden Fäusten gegen den Fensterrahmen und nahm keuchend wieder Haltung ein.

Noé verhielt sich ruhig. Wahrscheinlich war es besser, so zu tun, als wäre er nicht Zeuge dieses Moments gewesen. – Ob es verrückt gewesen war, sich einem Fremden anzuschließen? Was wusste Noé schon über ihn? Er schloss wieder die Augen und dachte an den Tag, an dem der Händler ins Dorf gekommen war. Minu und er hatten ihn als Erste gesehen. Sie hatten vor dem Stadttor auf ihn gewartet. Wie aufgeregt waren sie doch gewesen!

Der Händler

»Meinst du, er kommt bald?«, fragte Minu.

Noé hob die Schultern und schaute nach der Sonne. Es war noch nicht Mittag. Wahrscheinlich würden sie noch eine Weile auf den Händler warten müssen.

»Wie er wohl aussieht?«, fragte Minu.

Wieder hob Noé die Schultern.

»Ich stelle ihn mir groß und stattlich vor!«, sagte Minu. »Mit einem stolzen, aufrechten Gang.« Ihr Blick schweifte verträumt in die Ferne. »Ein edler, großzügiger Mann, in goldenem Gewand, der Glück in unser Dorf bringt.«

»Da kommt jemand!«, unterbrach Noé sie und zeigte zum Waldrand.

Minu richtete sich auf und reckte den Hals.

Ein Mann trat aus dem Schatten der Bäume und kam langsam auf sie zu. Hinter ihm ging ein Tier. Noé, der schon viele Tiere gesehen hatte, blieb vor Staunen der Mund offen.

»Siehst du das, Minu?«, flüsterte er.

So ein schönes, aber auch wundersames Wesen war ihm noch nie untergekommen. Es hatte die Statur, das Gesicht und die Anmut eines Löwen, doch war es mindestens zwei Ochsen groß, und sein Körper war über und über mit blauen, grünen und türkisfarbenen Pfauenfedern bedeckt, deren Augen je nach Lichteinfall anders schimmerten. Von Zeit zu Zeit stieg ein farbiges Bläschen, wie eine Perle, aus dem Gefieder auf und zerplatzte einmal mit einem Klingeln, dann mit einem Rasseln, und dann wieder mit einem Kichern in der Luft oder an einem Ast, und hinterließ dort farbige Spuren, die noch eine ganze Weile nachtönten.

»Wie schön!«, rief Minu.

Doch als der Mann und das Tier näher kamen, sanken ihre Mundwinkel nach unten: Der Mann war zwar groß, und er trug ein schönes Gewand aus grüner Seide und Samt, aber es saß schief und spannte über dem beachtlichen Bauch. Auch sonst entsprach dieser Mann so gar nicht ihrer Vorstellung: Sein Gang war schwer und träge, die kinnlangen, grau melierten Haare hingen in ungepflegten Strähnen vom Kopf herab und umspielten ein Gesicht, das ein nicht nur glückliches Leben zeichnete. Seine Haut war ledern und trocken, die Lippen schmal und rissig, das Kinn unrasiert. Der Blick des Mannes war trüb, erschöpft, ja fast verbittert, und eine Unzahl Falten ließ ihn, so vermutete Noé, älter aussehen, als er war. Aus der Nähe erkannten die Kinder außerdem, dass der rechte Flügel seines tierischen Begleiters merkwürdig schlaff herabhing.