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Anja Wedershoven, 1968 in Rheydt geboren, wuchs mit Schnibbelskuchen, Hanns-Dieter Hüsch und dem Schimanski-Tatort auf. Sie studierte Kulturwissenschaften und Literatur und ist als Autorin dem Niederrhein treu geblieben. Am Kriminalroman faszinieren sie die Auseinandersetzung mit Menschen in Ausnahmesituationen und die Frage, welche Vorgeschichte Gewalttaten haben.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Peter Nolten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-687-6

Niederrhein Krimi

Originalausgabe

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There are voices still calling across the years.
And they’re all crying across the ocean,
And they’re cryin’ across the land,
And they will till we all come to understand.

Solomon Burke,
»None of us are free«

Prolog

Der quälende Husten hatte für kurze Zeit aufgehört, und sie war erschöpft eingeschlafen. Jetzt weckte sie das Schlagen der Wohnungstür. Manni!

»Ich hab Hunger. Haste nix gekocht?«, brüllte er mit schwerer Zunge. Das Baby begann zu schreien. Etwas fiel polternd um.

Kira schreckte in ihrem Bett hoch und sah sie mit aufgerissenen Augen an.

»Pscht.« Sie legte einen Finger an die Lippen. Unterdrückte ihren Hustenreiz. Die großen braunen Augen ihrer kleinen Schwester wirkten im Dämmerlicht des Raums wie tiefe schwarze Seen. Hoffentlich konnten sich ihre Brüder in Sicherheit bringen.

Sie setzte sich auf, ihr Gesicht glühte. Von der Bettkante aus öffnete sie leise die Zimmertür einen Spalt und spähte durch den vollgestellten Flur ins Wohnzimmer.

Der Freund ihrer Mutter zog sich die Jacke aus, ließ sich aufs Sofa fallen. Ihre Mutter hatte das Baby auf dem Arm. Ging schwankend auf und ab. Auch sie hatte getrunken.

»Bei der gestrigen Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm erschossen Mitglieder der RAF zwei Geiseln.« Die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Fernseher klang ernst. Die Welt ist ein Ort voller Gewalt, dachte sie.

»Wir müssen ins Bad«, wisperte sie ihrer Schwester zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Manni zuschlagen würde. Als sie vom Bett aufstand, hämmerte ihr Herz gegen die Rippen. Das Atmen tat weh. Bloß nicht husten. Dann würde er auf sie aufmerksam werden. Sie rang nach Luft. Kira drängte sich an sie und nahm ihre Hand. Vorsichtig öffnete sie die Zimmertür einen Spalt.

»Gib dem Blag endlich seine verdammte Milch. Und mir was Gescheites zu essen.« Manni fegte eine Reihe leerer Bierflaschen und den Aschenbecher vom Tisch. Ihre Mutter sprach so leise, dass sie sie nicht verstehen konnte.

»Schnell«, wisperte sie Kira zu. Auf dem Weg vom Mädchenzimmer ins Bad schob sich auch Martins klebrige Hand in ihre. Sie zog beide Geschwister ins Badezimmer und schloss ab. Dann lehnte sie sich keuchend mit dem Rücken gegen die Tür. Kira versteckte sich sofort in der Dusche. Nur ihre kleine dunkle Faust, die den Vorhang zuhielt, war noch zu sehen.

»Wo ist Michi?«, flüsterte sie Martin zu, als sie wieder zu Atem gekommen war. Ihre Hände glühten, über ihren ganzen Körper lief Schweiß. Diese Erkältung wollte nicht besser werden. Schon eine Woche konnte sie sich nicht um die Geschwister kümmern. Ihre Brüder waren nicht mehr zur Schule gegangen, Kira nicht in den Kindergarten.

»Michi ist draußen«, erklärte Martin von seinem Platz unter dem Waschbecken. »Er wollte einkaufen gehen.«

»Ich hab so Hunger«, klagte die Stimme ihrer Schwester hinter dem Duschvorhang.

Einkaufen? Sie runzelte die Stirn. Die Geschäfte hatten längst zu. Außerdem hätte ihre Mutter ihm niemals Geld gegeben. Wollte er Essen stehlen? Dann musste der Hunger groß sein. Ihr Blick fiel in den Spiegel über dem Waschbecken, und sie erschrak. Stirn und Wangen waren krebsrot und von kleinen Pusteln übersät, ihre Haare klebten fettig am Kopf. Sie zog das Nachthemd enger über den kleinen Wölbungen zusammen, die sich seit ein paar Wochen auf ihrer Brust zeigten und auf die Manni schon begehrliche Blicke geworfen hatte. Die Türklinke in ihrem Rücken bewegte sich, sie erschrak.

»Ey!« Er trommelte mit Fäusten gegen die Tür. »Mach auf, ich muss pissen.«

Martin zog den Kopf noch weiter unter das Waschbecken zurück und wimmerte leise. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag bis zum Maximum beschleunigte und der Schmerz in ihrem Brustkorb zunahm. Lange würde sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können.

»Bin gleich fertig, Papa.« Sie sank auf den Rand der Badewanne. Ihre heisere Stimme klang fremd. Wie viele Männer hatte sie schon »Papa« nennen müssen? Nur bei Kiras Vater, dem »Neger«, wie die Nachbarn abfällig getuschelt hatten, hatte sie sich gewünscht, er möge bleiben. Er war der Einzige gewesen, der nicht geprügelt hatte.

»Das Blag soll aufhören zu brüllen!« Gott sei Dank, Mannis Stimme kam wieder aus dem Wohnzimmer. Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, schob sich auf Knien zur Badezimmertür und zog den Schlüssel ab. Dann presste sie ein Auge gegen das Schlüsselloch. Sah Manni von hinten neben dem Fernseher stehen. Konnte nur ahnen, dass er gerade seine Hose öffnete und irgendwo reinpinkelte. Als er fertig war, baute er sich vor ihrer Mutter auf. »Gib her! Ich bring ihn raus.«

Das Baby! Nach dem letzten Saufgelage hatte er es unter kaltes Wasser gehalten, bis ihre Mutter ihn auf Knien angefleht hatte, dem Kind nichts zu tun. Dann hatte sie im Wohnzimmer vor dem Kleinen die Beine für Manni breitgemacht. Widerlich!

Jetzt schrie er den Säugling an. »Sei endlich still!« Ihre Mutter kreischte. Was machte Manni mit dem Kleinen?

Sie mussten weg hier. Mit dem Baby. »Wir gehen zu Francesco. Mama hat mir Geld für Süßigkeiten gegeben«, log sie. Francesco gehörte der Kiosk in der Hochhaussiedlung. Der hatte bis spätabends auf. Vielleicht konnte der nette Italiener ihnen helfen. Sie zog sich am Rand des Waschbeckens hoch. Nur noch ein paar Minuten durchhalten.

Kira schaute aus einem Spalt zwischen Vorhang und Fliesen hervor. »Süßigkeiten?«

»Ja.« Sie nahm die Hand ihrer kleinen Schwester und zog den Duschvorhang beiseite. »Aber wir müssen uns beeilen, sonst macht Francesco zu.«

Kira nickte und kletterte aus der Duschtasse.

»Martin, du bist doch stark.« War ein Achtjähriger wirklich kräftig genug, den Säugling zu tragen? »Du nimmst das Baby, und dann lauft ihr so schnell wie möglich nach unten. Nehmt die Treppen. Der Aufzug ist bestimmt wieder kaputt.«

»Und was ist mit Papa?« Martins Stimme klang kläglich. Kiras große Augen sahen voller Angst zu ihr hoch.

»Ich halte Papa auf, bis ihr unten seid.« Sie hatte keine Ahnung, wie sie das machen sollte, wollte nicht darüber nachdenken. »Und dann lauft ihr zu Francesco.«

»Und du?«

»Ich komme nach.«

Zitternd schloss sie die Tür auf. Ihre Mutter hatte sich aufgerappelt und hielt ihrem Freund eine halb volle Flasche Bier hin, um ihn zu besänftigen.

»So ’ne warme Plörre?« Er fuchtelte mit dem Baby herum, das plötzlich auf unheimliche Weise still war.

Sie drängte die Geschwister zur Wohnungstür und ging auf Manni zu. »Gib mir den Kleinen. Ich kümmere mich um ihn.«

Das hatte sie noch nie gewagt, wenn er betrunken war. Er sah sie überrascht an. Sie musste schnell sein. Tatsächlich ließ er den Säugling los, als sie nach ihm griff. Sie drückte ihn Martin in die Arme und schob ihn zu Kira ins Treppenhaus. »Und jetzt los!«, wisperte sie. Dann schloss sie die Tür und stellte sich mit dem Rücken dagegen. Spürte den Schweiß, der über ihren Nacken lief.

»Ey, was soll das?« Jetzt erst begriff Manni. Sie breitete die Arme aus, als er auf sie zukam.

»Nein.«

Er sah sie ungläubig an. »Du spinnst wohl.« Er drückte sie an der Schulter zur Seite und griff nach der Klinke.

Wie lange brauchten ihre Geschwister für fünf Etagen? Sie umklammerte Mannis Hand und biss zu.

Er heulte wütend auf. »Du kleine Schlampe!«

Der erste Schlag warf sie gegen das Sofa, es milderte ihren Sturz. Ihre Mutter schrie. Für einen kurzen Augenblick hoffte sie, sie würde ihr helfen. Gemeinsam könnten sie Manni aufhalten. Der zweite Schlag erwischte sie an der Schläfe. Er reißt mir den Kopf ab, dachte sie. Er wird mich töten. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Montag, 13. November

Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten Johanna und warfen Spiegelungen auf den nassen Asphalt. Die Landstraße nach Geldern war in der Dunkelheit schwer einzusehen; ein Milch-Tanklaster mit holländischem Kennzeichen bretterte mit Höchstgeschwindigkeit auf der Gegenfahrbahn an ihr vorbei. Als ob die hier nicht genug eigene Kühe hätten, dachte Johanna.

Sie öffnete das Wagenfenster trotz des Regens einen Spalt und atmete tief durch. War es ein Fehler gewesen, an den Niederrhein zurückzukehren? Sofort war die Erinnerung an den Unfall wieder da.

Die Straße machte eine Kurve. Johanna stieg auf die Bremse, als vor ihr ein Radfahrer auftauchte. Warum benutzte der nicht den Radweg? Immerhin hatte er eine Warnweste übergezogen.

»Gleich rechts abbiegen«, sagte das Navi. Sie blieb hinter dem Radfahrer und fluchte über den Kleintransporter hinter sich, der immer weiter auffuhr. Ihr Handy klingelte.

»Brenner.« Schon der zweite Anruf an diesem frühen Montagmorgen. Hätte es nicht ein ruhigerer Einstand bei der Kripo Krefeld sein können? Vorsichtiges Beschnuppern der neuen Kollegen, Kaffee und belegte Brötchen im Büro?

»Axel Holtz. Spreche ich mit … Kriminaloberkommissarin Johanna Brenner?«

Johanna lachte in sich hinein. Ihre tiefe Stimme. Die hatte schon viele irritiert. »Genau, ich bin Johanna.«

»Das tut mir echt leid, dass ich so früh störe.« Seine Stimme klang, als hätte er Schlaf noch viel nötiger als sie. »Aber wir haben eine Tote, und unsere Chefin meinte –«

»Ich weiß Bescheid, bin schon auf dem Weg.«

Shit, jetzt hatte sie die Abzweigung verpasst. Weiter vorne war eine Bushaltestelle; Johanna fuhr heran.

»Auf dem Weg?« Holtz klang überrascht, fast empört.

»Die Leitstelle hat mich angerufen. Vor ’ner halben Stunde etwa.«

»Die haben dich an deinem ersten Tag um halb sechs aus dem Bett geschmissen? Nicht schlecht.«

Das fand sie allerdings auch. In Berlin würde sie jetzt noch in den Federn liegen und sich allmählich von den Geräuschen der Großstadt wecken lassen. »Tja, shit happens. Mein Navi sagt, noch fünfundzwanzig Kilometer. Wir sehen uns dann gleich am Fundort?«

»Ich brauch bestimmt noch fast ’ne Stunde.« Es war ihm hörbar unangenehm. Im Hintergrund lief Wasser. Etwas klapperte. Offensichtlich versuchte der Kollege, sich während des Telefonierens fertig zu machen.

»Dann bin ich vor dir dort.« Ein Lkw donnerte an ihr vorbei; sie schwieg kurz und setzte erneut an. »Ich hab noch keinen Dienstausweis und keine Dienstwaffe. Die Schutzpolizei wird eine Unbekannte nicht zu der Leiche lassen.«

»Ich sag den Kollegen vor Ort Bescheid, zeig einfach deinen Perso.« Im Hintergrund wieder das Geräusch von laufendem Wasser, dann schlug eine Tür. »Ich beeil mich.«

»Kein Problem. Bis gleich.« Johanna drückte das Gespräch weg und griff zur Thermoskanne. Wenigstens die Kaffeemaschine hatte sie gestern Abend noch ausgepackt. T-Shirt und Hemd hatte sie eben in ihrem winzigen Dachgeschoss-Apartment aus dem Koffer gefischt. Sie goss zwei Fingerbreit Kaffee in den Becher und trank vorsichtig. Heiß. Zigarette dazu wäre toll. Aber die hatte sie mit Absicht in Berlin gelassen. Johanna behielt beim Trinken den rückwärtigen Verkehr im Auge. Hinter dem Mofa war die Straße endlich frei. Sie vergewisserte sich noch mal nach beiden Seiten, dann wendete sie.

Als sie in das Wohngebiet »An der Fleuth« einbog, sah sie am Ende der Straße schon das Blaulicht mehrerer Streifenwagen, Straßensperren, die reflektierenden Jacken der Kollegen. Eine tote Frau in dieser Gegend. Das sah nach einem privaten Drama aus. Johanna hielt wenige Meter vor der Absperrung und spürte das bekannte flaue Gefühl in ihrem Magen. Immerhin kein Kind. Der Anblick der missbrauchten Elfjährigen aus ihrem letzten Fall verfolgte sie bis heute. Sie zog die Kapuze ihres Parkas über und hielt der Polizeimeisterin am Flatterband ihren Ausweis hin.

»Frau Brenner aus Berlin? Sie können hier nicht durch. Wir warten auf die Kripo.« Natürlich wusste sie nicht Bescheid.

»Ich bin die Kripo. Wer leitet die Ermittlungen?«

»Polizeiobermeister Hilgers. Warten Sie, ich hole ihn.«

Während die Beamtin hinter einer langen Ziegelmauer verschwand, schaute Johanna sich um. Die schicken Eigenheime vom Anfang der Straße waren Mehrfamilienhäusern mit typischen roten Backsteinfassaden gewichen; ein paar Sträucher davor, eine Bank, eine kaputte Straßenlaterne. Vor der Mauer, die einen Friedhof mit riesigen Bäumen umgab, Parkbuchten, die meisten von ihnen leer.

Ein uniformierter Kollege, kaum älter als Johanna, kam auf sie zu. Man sah ihm an, wie begeistert er war, am Ende seiner Wochenend-Nachtschicht auch noch einen Leichenfundort sichern zu müssen. Überstunden im strömenden Regen, die Kripo einweisen, Berichte schreiben.

»KOK Johanna Brenner.« Sie zeigte auch dem Kollegen ihren Ausweis und bot ihm gleichzeitig die Rechte zum Handschlag.

»Du bist die Neue?« Seine Hand war eiskalt. »Thorsten Hilgers. Dann komm mal mit.« Er hielt das Flatterband hoch und ging an der Mauer entlang auf Altglascontainer zu, die zurückgesetzt neben einem der Wohnhäuser standen. »Eine Tote direkt neben dem Friedhof, irgendwie gruselig.«

Johanna schob die Kapuze wieder vom Kopf. Sie behinderte ihren Blick. »Wer hat sie gefunden?«

»Der Zeitungsausträger. Der Notruf ging um vier Uhr vierundvierzig morgens ein. Und der arme Kerl versucht die ganze Zeit verzweifelt, jemanden zu erreichen, der seine Tour übernehmen kann.« Hilgers deutete mit dem Kopf in Richtung eines Streifenwagens, der ein wenig abseits geparkt war. Ein Kollege saß bei offener Tür auf dem Fahrersitz und rauchte. Auf der Rückbank konnte Johanna nur die Silhouette eines jungen Mannes mit Handy am Ohr erkennen. Später. Erst mal wollte sie sich um den Fundort kümmern.

»Wissen wir, wer die Tote ist?«

Hilgers schüttelte den Kopf. »Keine Handtasche, kein Handy, kein Schlüssel. Nix. Sieht nach Raubmord aus.«

Er blieb so plötzlich hinter den Containern stehen, dass Johanna fast in ihn reingelaufen wäre.

»Hier.« Er beugte sich mit einer Stablampe über den Körper, der rücklings auf dem durchnässten Boden lag. »Sie hat eine Kopfverletzung, hat stark geblutet.« Er leuchtete der Frau ins Gesicht. Sie war bleich, der Mund stand offen. Ihr langes Haar klebte am Kopf. Der hellgraue Wollmantel, der zum Zeitpunkt ihres Todes offen gewesen sein musste, hatte sich mit Wasser vollgesogen und war rechts und links von ihrem Körper gerutscht, sodass Bluse und Rock sichtbar wurden. Auf der linken Seite war der Mantel mit Dreck verschmiert.

»Hast du Überzieher und Handschuhe für mich?« Sie war wirklich aus der Übung. Die hatte sie im Außendienst normalerweise immer in der Jackentasche. »Und wir brauchen dringend eine Plane, wir müssen die Tote vor dem Regen schützen.«

»Bei der schlechten Spurenlage?«, warf der jüngere Beamte ein, der bei dem Leichnam Wache gestanden hatte.

»Eben.« Johanna verschärfte ihren Ton. »Die wenigen Spuren sollten wir auf jeden Fall sichern.«

»Wer hier schon alles durchgetrampelt ist! Notärztin, Sanitäter, der Zeitungsfritze.«

Johanna konnte verstehen, dass der junge Kollege schlechte Laune hatte. Trotzdem ging das so nicht. »Besorgt ihr jetzt eine Plane, oder muss ich mich selbst darum kümmern?« Sie sah dem Mann so lange in die Augen, bis der den Blick senkte. Hilgers drückte ihr die Lampe in die Hand.

»Ich kümmer mich drum. Solange kannst du schon mal mit der Frau Doktor reden, die wollte unbedingt warten, bis die Kripo eintrifft.«

Eine aufgeregte Endzwanzigerin in durchsichtigem Regencape kam unter einem gepunkteten Schirm auf Johanna zu. »Ich hab jetzt noch keine Todesbescheinigung ausgestellt, weil diese Wunde am Kopf … Also ich kann nicht sagen, wie tief die geht und ob die Frau einfach nur gestürzt ist oder ob jemand absichtlich –«

Johanna unterbrach sie. »Das brauchen Sie auch gar nicht zu beurteilen, das ist Sache der Rechtsmedizin. Haben Sie die Leiche bewegt, bevor Sie die Polizei informiert haben?«

»Ich musste doch sehen, ob sie schon Totenflecke hat. Aber ich hatte Handschuhe an.«

Das hatte bei der miesen Spurenlage gerade noch gefehlt. Eine junge, unerfahrene Notärztin, die die Lage des Leichnams verändert hatte. »Wie genau haben Sie den Körper bewegt?«

»Ich hab sie nur kurz auf die Seite gedreht und die Bluse hochgeschoben. Wissen Sie, das ist meine erste Tote im Notdienst, die keines natürlichen Todes gestorben ist. Aber ich hab sie genauso wieder hingelegt, wie sie lag.«

Johanna fluchte innerlich. Also daher der einseitig verschmutzte Mantel der Toten. »Okay. Beim nächsten Mal, wenn Sie zu einer leblosen Person gerufen werden, die bei zwei Grad im Regen liegt und deren Kiefer Sie wegen der Totenstarre schon nicht mehr schließen können, überlassen Sie die Untersuchung bitte den Profis.«

»Verstanden.« Die junge Ärztin wirkte ehrlich zerknirscht.

»Und geben Sie die Untersuchungshandschuhe bei den Kollegen ab, bevor Sie gehen. Für die Kriminaltechnik.« Eine leichte Röte überzog das Gesicht der Medizinerin. Eigentlich sieht sie ganz niedlich aus, dachte Johanna.

Hinter der Frau tauchte die Silhouette eines großen, schlanken Mannes auf, der mit Riesenschritten auf sie zukam. Kollege Holtz? So schnell? Sie hatte ihn sich älter vorgestellt.

»Lars Oehmen. Spurensicherung.« Der Mann streckte ihr die Hand hin. »Wie sieht das denn hier aus? Rennt hier jeder rum, wie er will?«

Johanna nahm Handschuhe und Überzieher, die Hilgers ihr endlich brachte. »So okay für dich? Ich will nur einen kurzen Blick auf die Tote werfen.«

Oehmen brummte etwas vor sich hin und verschwand wieder, um sich die Schutzkleidung anzulegen.

Johanna hockte sich neben den Oberkörper der Toten. Anfang dreißig, gut gekleidet, sie hatte offenbar ausgehen wollen. Kein Ehering, aber ein Smaragd an der linken Hand. Johanna leuchtete der Toten ins Gesicht. Irgendetwas störte sie. Das Make-up war vom Regen verlaufen, nur die Augen sahen noch ziemlich perfekt aus. Vermutlich wasserfeste Schminke. Johanna beugte sich näher zum Gesicht der Leiche. Tatsächlich, da waren winzige Blutungen an den Augenlidern, unter den Resten des Lidschattens nur schwer zu erkennen. Vorsichtig schob sie die langen Haare beiseite. Hinter dem Ohr waren die Punktblutungen besser zu sehen, aber es gab keine Drosselmarke am Hals. Da musste die Rechtsmedizin weiterhelfen. War die eigentlich schon informiert?

Die Tote trug keinen Schal, obwohl der Blazermantel Hals und Ausschnitt frei ließ. Johanna blickte sich um, konnte aber weder Schal noch eine Handtasche entdecken. Die Spurensicherung musste unbedingt den Inhalt aller Müllcontainer checken. Hatte der Täter beides mitgenommen?

Unter den kurzen, nicht lackierten Fingernägeln der Toten fielen ihr dunkle Spuren auf, die nicht zum gepflegten Äußeren passten. Die Verunreinigungen waren nur an der rechten Hand. Abwehrspuren? Dreck? Blut? Dann hätte sie ihre blutende Kopfverletzung angefasst. Der Kopf ließ sich noch anheben. Johanna beugte sich über die Wunde. Der Regen hatte das Blut daran gehindert, feste Krusten zu bilden, der Schädelknochen schien unversehrt. Aber Kopfverletzungen konnten tückisch sein. Johanna legte den Kopf behutsam wieder ab und richtete ihren eigenen Oberkörper auf, weil ihr Haar mittlerweile so durchnässt war, dass das Wasser auf den Leichnam zu tropfen drohte. Ein altes, bedrohliches Gefühl stieg in ihr auf. Jetzt nicht in Panik geraten. Bauchdecke locker und den Atem fließen lassen …

Der Schwindel verschwand wieder. Sie berührte mit den Fingerspitzen leicht die Wange der Toten: Du bist nicht allein. Wir werden herausfinden, wer das getan hat. Das verspreche ich dir. Dann strich sie der Frau eine Strähne ihrer nassen Haare aus der Stirn und erhob sich.

***

Hier passte nichts zusammen. Die Geste, die die Frau neben der Toten gerade machte und die Axel Holtz im ersten Augenblick annehmen ließ, die Kollegen von der Schutzpolizei hätten eine Angehörige an den Fundort gelassen, passte nicht zur Kripobeamtin. Und das Gesicht, das so hell und ebenmäßig war, dass Axel es eher auf der Bühne des Jazzkellers, seines Lieblingsclubs in Krefeld, als in einem nüchternen Polizeibüro vermutet hätte, passte nicht zu der dunklen Stimme vorhin am Telefon. She walks in beauty, like the night. Warum kam ihm das jetzt in den Sinn? Ach ja, sein Sohn musste in der Schule gerade Lord Byron lesen. Und Axel hatte gedacht, was für ein cooler Songtext das wäre.

Jetzt kam die Frau auf ihn zu und streifte im Näherkommen die Handschuhe ab.

»Hallo. Ich bin Johanna Brenner. Haben wir telefoniert?«

»Genau. Axel. Tut mir leid, ging nicht schneller.« Seine Irritation hielt an. Nein, sein Brummschädel und dieser frühe Montagmorgen wollten auch nicht zusammenpassen.

»Unsere Tote ist eine junge Frau. Den Zeugen, der sie gefunden hat, konnte ich noch nicht befragen.«

Wache hellblaue Augen, die ihn neugierig musterten. Kurzes rotblondes Haar, das sie sich in einer entschlossenen Geste mit beiden Händen aus dem Gesicht strich.

Die Spurensicherer begannen, das Zelt über der Toten aufzubauen. Axel beschloss, mit dem Inspizieren der Leiche zu warten, bis sie fertig waren.

»Lass uns erst zu dem Zeugen gehen, damit der endlich weiterkann. Oder hat er möglicherweise mit der Tötung zu tun?«

Seine neue Kollegin zuckte die Achseln. »Er hat hier Zeitungen ausgetragen. Hat sie vermutlich einfach nur als Erster entdeckt. Aber ich bin sicher, dass es ein Tötungsdelikt war. Außer einer Kopfverletzung sind auch Petechien zu sehen.«

Punktblutungen! Das klang nach Erwürgen. Bevor Axel nachfragen konnte, bekam er einen kräftigen Schlag auf die Schulter. Die Begrüßung konnte nur zu Lars Oehmen gehören.

»Morgen, Axel. Na, spät geworden gestern? Ist der Bass noch im Wagen?«

»Halt bloß die Klappe.« Sie kannten sich seit so vielen Jahren, dass Frotzeleien zum Umgangston gehörten. »Sag mir lieber, was du weißt.«

»Später. Hab noch nix.«

»Ist die Rechtsmedizin schon informiert?«

»Bin ich ein Anfänger, oder was?« Lars Oehmen lief weiter. Seine neue Kollegin schien amüsiert. Wann wirkte das Scheiß-Aspirin endlich?

Der Zeitungsausträger saß verfroren und genervt im Streifenwagen. »Das erklären Sie aber meinem Chef«, beschwerte er sich. Ein junger Typ, vielleicht Anfang zwanzig. Strubbliges blondes Haar, großes Loch mit schwarzem Ring im Ohrläppchen, breiter Ehering. Das Tattoo einer Meerjungfrau am Hals verschwand zur Hälfte unter der dicken Steppjacke. Keine Ausbildung, keine Chance auf Arbeit, den Absprung vom Land nicht geschafft, weil Frau und Kind, tippte Axel.

»Keine Sorge. Als Zeuge in einem Kapitaldelikt sind Sie auf der Arbeit entschuldigt.«

»Wieso Zeuge? Ich hab doch gar nichts gesehen.«

Tatsächlich konnte der Mann zur Klärung der Identität oder sonstiger Umstände nichts sagen. Axel ließ ihn kurz wiederholen, wie und wann er die Tote gefunden hatte, dann entließ er ihn. »Ihre Personalien haben wir ja.« Er rieb sich die Stirn.

»Haben Sie sie angefasst?« Die raue Stimme Johanna Brenners vom Fahrersitz. Der Junge, der gerade hatte aussteigen wollen, zog die Autotür wieder zu.

»Nee, warum sollte ich die anfassen? Das ist ja wohl Ihr Job.«

»Und wenn sie noch gelebt hätte? Wenn sie nur verletzt gewesen wäre?«

»Aber das war doch klar, dass die hin ist.« Er schaute Axel hilfesuchend an. »Das habe ich sofort gesehen.«

»Sie konnten das sehen? In der Dunkelheit?«

Worauf wollte die Kollegin hinaus? Dachte sie wirklich, dieser Junge könne der Täter sein? Oder redete sie von unterlassener Hilfeleistung?

»Na ja, das spürt man doch.«

»So was wie männliche Intuition, ja?«

Oh nein, kein Geschlechterkrieg, verkatert, am frühen Montagmorgen. Der Junge hatte die 110 angerufen und war vor Ort geblieben. Das war schon mehr, als man von vielen erwarten konnte.

Jemand klopfte ans Fenster des Wagens. Das vertraute Gesicht von Staatsanwalt Wittkopf tauchte auf.

»Ich glaube, da will dich jemand kennenlernen«, beendete Axel das Gespräch im Wageninneren, entließ den erleichterten Zeugen und stieg ebenfalls aus.

Es war schweinekalt für November. Letzte Nacht hatte ihm die Kälte nichts ausgemacht, aber jetzt fror er. Von der Chefin weit und breit keine Spur. Dabei hatte sie ihn persönlich um kurz vor sechs angerufen, um ihm noch einmal einzuschärfen, er solle ein Auge auf die neue Kollegin haben. War das eine Breitseite gegen ihn oder gegen Johanna Brenner gewesen? Die konnte nach seinem ersten Eindruck ganz gut auf sich selbst aufpassen.

Was hatte sie aus Berlin hierher an den Niederrhein verschlagen? War das freiwillig oder gezwungenermaßen? »Berlinern« tat sie auch nicht. Axel hatte ein feines Gehör für Dialekte. Die Phrasierungen der Sprache. Während er zu der Toten hinüberging, kam ihm sein Solo vom Vorabend wieder in den Sinn. Ein klasse Gefühl, den Lauf durchzuziehen. Fehlerfrei. Flüssig. Genau im Takt.

»Was grinst du denn so?« Kollege Oehmen hockte neben dem Leichnam und machte Fotos.

»Kannst du mir schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Körpertemperatur ist bei sechsundzwanzig Grad. Es war kalt heute Nacht. Ich schätze, sie ist seit zwölf bis dreizehn Stunden tot.«

»Also gestern Abend zwischen achtzehn und neunzehn Uhr?«

»Genau.« Oehmen zog einen Zigarettenstummel aus dem Haar der Toten und tütete ihn sorgfältig ein.

»Letzter Atemzug in lauter Müll und Dreck. Was die Leute alles in die Landschaft werfen. Mannomann.«

»Yep. Das wird eine schöne Arbeit, das ganze Zeug durchzugehen. Viermal Altglas und zweimal Altpapier! Plus der ganze Unrat auf dem Boden.«

»Du hast mein Mitgefühl.«

»Chef?« Eine Frau in weißem Schutzanzug winkte die beiden Männer an die Bordsteinkante unter die kaputte Straßenbeleuchtung. »Hier ist Blut.« Sie deutete auf einen der Betonpilze, die die Parkplätze vom Bürgersteig trennten. Der Regen hatte den Pfeiler sauber gewaschen, nur auf der unebenen Oberflächenstruktur fanden sich winzige dunkle Stellen.

Axel nickte anerkennend. »Guter Blick. Das hätte ich im Leben nicht gefunden.«

Die Frau im Overall ging ein paar Schritte rückwärts und wies auf die Achse vom Betonpilz zur Leiche. »Das könnten Schleifspuren sein, das Laub sieht in diesem Bereich anders aus. So bin ich überhaupt drauf gekommen.«

»Das Blut muss mit in die Rechtsmedizin. Wir müssen wissen, ob es von der Toten stammt.« Oehmen fotografierte erneut. »Und dann müssen wir in diesem Bereich alles auf Faserspuren untersuchen.« Er fluchte. »Wenn jemand sie von hier hinter die Müllcontainer geschleift hat, dürfte selbst der Regen nicht alles weggewaschen haben.«

»Dann scheidet ein Unfall schon mal aus.« Axel schaute zu seiner neuen Kollegin hinüber, die mit dem Staatsanwalt bei der Leiche stand. Allmählich dämmerte es. Das Aspirin wirkte endlich, nur in Axels Magen rumorte es. Er fischte einen Blister mit Säureblockern aus der Jackentasche und kaute zwei davon. »Also … sie fällt mit dem Hinterkopf auf diesen Poller hier – ob Sturz oder Stoß müssen wir noch offenlassen –, irgendwer zieht sie ins Gebüsch, erwürgt sie und klaut ihr die Handtasche?«

»Gelegenheit macht Diebe.« Oehmen grinste.

»Vielleicht auch Mörder«, setzte die Spurensicherin hinterher.

»Sehr witzig.« Manche hatten echt einen merkwürdigen Humor.

An der Absperrung zum Wohngebiet entstand Unruhe. Bisher waren nur vereinzelt Anwohner auf dem Weg zur Arbeit oder mit Hund an der Leine vorbeigelaufen. Jetzt kamen auch die ersten Schüler aus den Häusern und ließen sich nicht so schnell abwimmeln. Axel lief auf die Wand aus filmenden Smartphones zu. »Packt die Dinger weg. Hier gibt’s nichts zu sehen. Oder hat jemand von euch gestern Abend etwas beobachtet?«

Ein Mädchen in grünem Anorak hob den Arm. »Hier war gestern schon mal Polizei.«

Warum hatte ihm das vorher niemand gesagt? Er ging unter dem Flatterband durch auf die Jugendliche zu. »Wie heißt du?«

***

Leonie erwachte vom Lärmen der Müllmänner, die die Tonnen ratternd über den Bürgersteig zogen. Dann prallten die Müllgefäße gegen den Wagen, wurden geschüttelt. Wie spät? Sie schaute auf ihr Smartphone. Zehn nach acht, Mist! Die erste Stunde hatte schon angefangen. Mathe bei Knippertz. Warum hatte ihr Vater sie nicht geweckt? Sie sollte doch heute in Biologie das Referat über die »Geschichte der Kopfbäume am Niederrhein« halten.

Das Handy stand auf lautlos. Achtundfünfzig ungelesene Nachrichten. Leonie scrollte den Bildschirm herunter und las nur die wichtigen. Eine von ihrer Mutter, dass es Lukas heute besser gehe und wann sie am Nachmittag ins Krankenhaus komme. Und ganz viele von Antonia, ihrer besten Freundin. Sogar ein Anruf von ihr. Um zehn vor acht, kurz bevor der Unterricht losgegangen war.

Leonie hörte die Mailbox ab: »Hey, wo bleibst du denn? Warum reagierst du nicht auf meine Message? Es ist doch hoffentlich nichts mit Lukas? Ich sag Knippertz, du musst noch mal zum Arzt oder so. Aber melde dich, okay?«

Obwohl es schon so spät war, wurde es draußen nicht richtig hell. Leonie knipste die Lichterkette über ihrem Bett an. Ihr Blick fiel auf ein Foto von Antonia und ihr, das unter dem von Lukas hing. Zu Antonias vierzehntem Geburtstag hatte deren Vater ihr zwei Karten für das Ed-Sheeran-Konzert in Köln geschenkt und die Mädchen gefahren. Mega. Auf dem Foto standen sie mit einer Cola vor dem Stadion, hinter sich eine riesige Menschenmenge. Und wenn Antonia letzte Woche der Ärztin den Zettel nicht gebracht hätte … Leonie antwortete im Telegrammstil: Lukas ist okay. Habe verpennt. Melde mich später. Danke für Knippertz. Hdl smiley

Sie sprang aus dem Bett und lief barfuß in den Flur. Die Schuhe ihres Vaters standen unter der Garderobe, völlig verdreckt. Hatte er etwa auch verschlafen? Leonie öffnete vorsichtig die Tür des Elternschlafzimmers, aber es war leer, seine Bettseite zerwühlt, es roch nach Zigaretten und Alkohol. Sie stellte das Fenster auf Kipp und vermied es, die getragenen Klamotten, die überall herumlagen, genauer anzuschauen. Was war bloß mit Papa los? Seit ihre Mutter mit Lukas im Krankenhaus war, war er total neben der Spur.

Okay, er war sauer gewesen, dass die Ärztin Lukas ins Krankenhaus gebracht hatte, so richtig mit Krankenwagen und Blaulicht. Aber er hatte diesen Schwachsinn mit der Medizin ja auch angefangen. Und dafür, dass die Grippe Lukas dann den Rest gegeben hatte, konnte keiner was. Aber gestern Nachmittag im Krankenhaus hatte Leonie gedacht, es sei wieder alles in Ordnung. Ihr Vater hatte Lukas Smarties-Eis besorgt und ihr vorgeschlagen, abends gemeinsam Pizza zu essen. Er wollte vorher nur kurz bei seinem Kumpel Ralf vorbeischauen. Aber dann war er den ganzen Abend nicht nach Hause gekommen. Leonie war irgendwann ins Bett gegangen. Um halb zwei noch mal wach geworden, weil ihr Vater in der Wohnung umherlief und Türen schlug.

Leonie holte sich Bademantel und Hausschuhe und ging in die Küche. Sie hatte Hunger. Statt der Pizza hatte sie am Vorabend nur die zwei letzten Joghurts aus dem Kühlschrank gegessen.

Zwanzig nach acht. Selbst wenn sie sich jetzt total beeilte und ohne Frühstück zum Bus rannte, wäre sie doch nicht pünktlich zur zweiten Stunde in der Schule. Geschichte bei der Weyermanns, dieser Schnarchtante. Die ließ sie eh immer nur weiter aus dem Buch vorlesen, die Französische Revolution, todlangweilig, das konnte sie auch zu Hause allein lesen. Leonie beschloss, erst nach der großen Pause in der Schule aufzutauchen. Sie war die ganze letzte Woche krank gewesen und hustete immer noch. Sollte ihr Vater ihr doch eine Entschuldigung schreiben, falls es Ärger gäbe. Der hatte sie schließlich nicht geweckt.

In der Küche standen schmutziges Geschirr und Müll von zwei Tagen herum. Teller mit Apfelkitschen und Käserinde stapelten sich neben leeren Joghurtbechern, Gläsern und Papas tausend angefangenen und nicht leer getrunkenen Kaffeetassen. Nirgendwo mehr Platz. Leonie stellte den Bluetooth-Lautsprecher an und wählte auf dem Smartphone einen Live-Mitschnitt von Sheeran. Ihr Magen knurrte, aber der Kühlschrank war fast leer. Ein Rest Milch und eine aufgerissene Packung Salami, ansonsten nur ein angebrochenes Marmeladenglas, Ketchup, Senf und saure Gurken.

Ihr Handy piepste. Antonia. Endlich. Knippertz hat die Ausrede gefressen. Sind noch vier andere krank. Schon wieder Gleichungen mit zwei Unbekannten … Ich könnt kotzen. Dahinter ein Emoji, das sich übergab.

Leonie lachte und griff nach der Wurst. Die Scheiben waren am Rand eingetrocknet. Mhm. Ging zur Not noch. Aber das Brot hatte angefangen zu schimmeln. Sie warf beides in den Müll, der ebenfalls überquoll. Was für ein Chaos. Wo sollte sie hier anfangen aufzuräumen? Im Apothekerschrank war immerhin noch H-Milch. Während sie eine große Schale mit Cornflakes füllte und Milch und Zucker dazugab, textete sie ihren Vater an: Wo warst du gestern Abend? Warum hast du mich nicht geweckt? Wir müssen dringend einkaufen. Bis nachher, Leonie.

Dann schaffte sie durch noch höheres Stapeln des Geschirrs etwas Platz auf dem Tisch und aß ihre Cornflakes. Ihre Mutter schrieb immer Einkaufslisten. Leonie nahm einen Zettel von der Pinnwand, notierte Brot, Wurst, Käse. Was noch? Joghurt. Was kaufte ihre Mutter sonst ein? Sie schaute genervt auf den fast leeren Zettel, griff zu ihrem Smartphone und schrieb eine Nachricht an Antonia: Komme nach der Pause. Bis zur Arbeit am Freitag kriegen wir die Gleichungen hin. Versprochen. Dann drehte sie die Musik lauter, tänzelte ins Bad hinüber und ließ die Türen offen. Es hatte auch Vorteile, verschlafen zu haben.

***

Auf der Motorhaube des schwarzen Golfs prangte ein weißes Herz mit der Aufschrift »Forever yours«. Daneben der eher missratene Versuch, eine Rose zu sprayen. Rund um den Wagen lagen eine Menge echter roter Rosen auf dem Asphalt und in den Pfützen. Johanna ging langsam einmal um das Auto herum. Bloß nicht hinken vor den neuen Kollegen. Ihr rechtes Hüftgelenk schmerzte. Zu viel rumgesessen im letzten Jahr. Dazu das typisch niederrheinische, nasskalte Nieselwetter. Hoffentlich blieb das nicht bis Mai so.

Unter dem Heckscheibenwischer klemmte noch ein Rosenblatt. Johanna ließ es für die Spurensicherer stecken. Das Opfer hatte laut Aussage der Schülerin die Blumen in großer Wut vom Wagen gerissen. Danach mit dem Mann, der auf sie gewartet hatte, einen lautstarken Streit gehabt. Axel brachte die Siebzehnjährige, die die Aussage gemacht hatte, gerade zu einem Streifenwagen, der sie zur Schule fahren sollte. Für Johannas Geschmack hofierte er das Mädchen ein bisschen zu sehr.

Aber gut, sie hatte ihnen wirklich weitergeholfen. Sie hatte nicht nur den Hinweis auf den Polizeieinsatz am Vorabend gegeben, sondern auch viel zum Ablauf des Streits erzählen können, weil sie mit dem Hund der Familie Gassi gegangen war. Was eigentlich »megascheiße« gewesen sei bei dem Wetter, ihr dann aber unverhofft diese »total krasse Situation« beschert habe. Irgendwie habe die Frau Angst gehabt. Sie sei immer wieder zurückgewichen, wenn der Mann ihr zu nahe gekommen war. Und habe dann die Polizei gerufen, aber bis die angekommen sei, sei der schon abgehauen. Ein »cooler Typ«, der mit einem »Porsche oder so was« weggefahren sei.

Johanna hatte ihr ein Foto der Leiche zeigen wollen, um sicherzugehen, dass es sich um dieselbe Frau wie am Vorabend handelte, aber ihr Kollege hatte sie mit einem warnenden Kopfschütteln davon abgehalten.

»Kannst du die Frau beschreiben?«, hatte er stattdessen gefragt. »Haare, Kleidung, Schuhe, hatte sie Handtasche und Schirm dabei?« Und tatsächlich hatte die Schülerin das Opfer dann genau so beschrieben wie die Tote an den Müllcontainern.

»Das ist das Corpus Delicti?« Axel Holtz stand neben ihr; sie hatte ihn nicht kommen hören.

Johanna nickte und betrachtete ihn prüfend von der Seite. Er sah verkatert aus, aber wenigstens schien er sich wieder beruhigt zu haben. In der vergangenen Stunde hatte er erst Polizeiobermeister Hilgers zur Sau gemacht, weil der den Polizeieinsatz vom Vorabend nicht erwähnt hatte. Wie sich herausstellte, war er gerade mit mehreren Kollegen bei einer Kneipenschlägerei im Einsatz gewesen. In der Leitstelle hatte der Wochenenddienst schon Feierabend, aber Holtz hatte den völlig unbeteiligten Kollegen am Telefon trotzdem zusammengestaucht, dass mit dem Leichenfund die Info über die Anzeige vom Vorabend hätte rausgehen müssen.

»Haben wir schon den Bericht vom Einsatz gestern?«

Johanna warf einen Blick auf ihr Smartphone, auf das die Kollegen den eingescannten Bericht gemailt hatten. »Nicht nur den. Das war gestern schon die zweite Anzeige des Opfers gegen ihren Ex-Freund.«

»Stalking?« Axel Holtz zog einen Blister aus seiner Jackentasche und drückte eine Tablette heraus. »Gegen mein Sodbrennen.«

Johanna grinste. »Zu viel gefeiert gestern?« Kam ihr bekannt vor. Der neue Kollege ging nicht auf ihre Bemerkung ein. »Unsere Tote ist Dr. Yvonne Hendricks, dreiunddreißig Jahre alt, Kinderärztin. Sie ist direkt drüben An der Fleuth 107 gemeldet.«

»Da ist sie ja nicht weit gekommen.«

»Ihr Ex heißt Michael Fürst, ebenfalls Arzt, gemeldet in Düsseldorf-Oberkassel. Gegen den hatte sie im September Anzeige wegen«, Johanna wischte auf ihrem Smartphone weiter, bis die ältere Anzeige auf dem Display erschien, »Nachstellung nach Paragraph 238, Absatz 1 Strafgesetzbuch und sexueller Belästigung nach Paragraph 184 erstattet.«

»Sexuelle Belästigung.« Axel zog die Augenbrauen hoch. »Auch das noch. Unser feiner Herr Doktor kam mit der Trennung nicht klar.«

»Sieht so aus.« Johannas Magen knurrte. »Es gab sogar schon ein Kontaktverbot, aber da hat er sich offensichtlich nicht dran gehalten.«

»Stattdessen hat er ihr eine Liebeserklärung aufs Auto gesprayt.« Holtz klopfte kurz mit dem Fingerknöchel auf die Motorhaube und sah dann auf. »Na endlich«, murmelte er.

Eine Frau, Mitte bis Ende fünfzig, die kurzen schwarz gefärbten Haare hochgegelt, kam mit energischen Schritten auf sie zu und fasste Johanna dabei durch ihr rotes Brillengestell fest ins Auge.

»Unsere Chefin, sie legt Wert auf das ›Sie‹«, flüsterte Axel Johanna zu und streckte der kleinen, aber resolut wirkenden Frau die Hand hin. »Guten Morgen, Frau Gruber.«

»Herr Holtz.« Sie drückte kurz seine Hand und musterte Johanna dabei von oben bis unten. »Wollen Sie mich der neuen Kollegin nicht vorstellen?« Ihre Stimme hatte etwas Metallisches.

Schultern zurück, Kinn vorgereckt. Ihre ganze Körpersprache ist eine Kampfansage, dachte Johanna. Sie stellte sich instinktiv auf Verteidigung ein.

»Natürlich.« Axel deutete jetzt auf seine Chefin. »Kriminaldirektorin Cornelia Gruber … und das ist unsere neue Kollegin KOK Johanna Brenner.«

Cornelia Gruber reichte ihr die Hand. »Willkommen im Team, Frau Brenner. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Vielen Dank.« Johanna ignorierte den ironischen Unterton und drückte die schmale Hand mit dem großen Siegelring etwas kräftiger, als sie es normalerweise getan hätte. »Joachim … Herr Rohloff hat mir erzählt, dass Sie zusammen studiert haben.« An das Siezen der Chefetage musste sie sich erst gewöhnen.

»Der Joachim. Ist der immer noch so ein Gutmensch? Das Studium ist jetzt … ach Gott … das ist eine Ewigkeit her.« Die Gruber zog eine Augenbraue hoch, als wäre das gemeinsame Studium mit dem zeitlichen Abstand nicht mehr real. Dann warf sie einen Blick auf die Tote, um die herum die Spurensicherer geschäftig ihre Arbeit verrichteten. »Aber über die Vergangenheit können wir ein andermal plaudern. Bringen Sie mich erst mal auf Stand, Frau Oberkommissarin Brenner.«

Johanna referierte kurz und knapp die wichtigsten Informationen. Ihre neue Chefin rückte währenddessen den Stein ihres Rings wieder exakt in die Mitte des Fingers und nickte ungeduldig zu ihren Ausführungen.

»Sind die Kollegen in Düsseldorf schon informiert?«, unterbrach sie Johanna. »Die sollen diesen Michael Fürst zur Befragung ins Präsidium bringen.«

»Wollte ich gerade machen.« Meine Güte, war die neue Chefin ungeduldig. Aus den Augenwinkeln nahm Johanna wahr, wie sich ein Mann mit zwei Koffern der Absperrung näherte. Vermutlich der Rechtsmediziner.

»Die Obduktion hat der Staatsanwalt schon beantragt, weil wir von einem –«

»Ja, ja. Ich weiß«, unterbrach Cornelia Gruber sie erneut. Dann sah sie stirnrunzelnd zu den Schaulustigen hinüber, unter denen jetzt auch ein erster Mann mit Kamera und Mikro aufgetaucht war. »Keinerlei eigenmächtige Informationen an die Presse! Klar?«

Ich bin doch keine Anfängerin, dachte Johanna. Axel neben ihr brummte zustimmend.

»Das mit den Kollegen in Düsseldorf übernehme ich selbst. Jochen Siemes, der Chef vom LKA, war ein Freund meines Vaters.«

Jetzt auch noch Namedropping. Als ob sie sich von so etwas beeindrucken lassen würde. Johanna suchte Blickkontakt zu Frau Gruber, aber die schaute unruhig zwischen dem Fundort und dem Mann mit Mikro hin und her.

»Die Wohnung des Opfers ist gleich da drüben.« Johanna deutete auf die Straße An der Fleuth. »Wir sollten einen Blick hineinwerfen.«

Die Kriminaldirektorin zupfte ihren Schal zurecht. »Die Wohnung hat Zeit bis morgen.« Sie durchwühlte den Inhalt ihrer Handtasche. »Zuerst will ich eine Lagebesprechung im Präsidium. Und Sie, Frau Brenner, finden als Nächstes heraus, wer die Angehörigen des Opfers sind und wo sie leben. Wenn eine Kinderärztin ermordet wird, macht das hier schnell die Runde. Wir sind auf dem Land. Da braucht es dazu nicht mal die Presse.« Sie nahm einen Lippenstift und einen silbernen Spiegel aus der Tasche.

Zu Johannas Hungergefühl mischte sich ein ungutes Grummeln im Magen. Die Gruber wollte klarstellen, wer das Sagen hatte. Aber Johanna wollte nicht zurück nach Krefeld fahren, bevor sie nicht kurz in die Wohnung geschaut hatte. »Je mehr wir von der Toten wissen, desto gezielter können wir ermitteln.«

Axel neben ihr schüttelte fast unmerklich den Kopf. Der Fotograf schoss jetzt Bilder von den Spurensicherern.

»Hat Staatsanwalt Wittkopf eine Durchsuchung der Wohnung beantragt?« Die Kriminaldirektorin ließ den Lippenstift sinken und fixierte Johanna über den Taschenspiegel hinweg.

Die starrte zurück. Wollte die Gruber dem Pressefuzzi etwa jetzt ein Interview geben? Wäre schön, wenn ihr Kollege auch mal was sagen würde. Aber Axel Holtz schwieg weiter.

»Es wäre sicher kein Problem, den Staatsanwalt darum zu bitten«, setzte Johanna erneut an. Gehörte zur Ermittlungsroutine. Wo war das Problem?

»Ich diskutiere das nicht mit Ihnen, Frau Brenner. Es mag an Ihrer Dienststelle in Berlin möglich gewesen sein, mit Recht und Gesetz ein wenig … eigenständig umzugehen. Bei mir ist das nicht so.«

War das eine Anspielung auf die Notwehr-Sache vor einem Jahr? Wie viel wusste die Gruber darüber?

»Sie fahren jetzt erst mal ins Präsidium und holen sich Ihre Ausrüstung. Bei der Dienstbesprechung um elf stelle ich Sie den Kollegen vor. Und danach haben die Angehörigen und die Vernehmung des Verdächtigen Priorität.«

Das Brodeln in Johannas Magen wurde stärker.

»Haben wir uns verstanden, Frau Brenner? Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie auf Bewährung hier sind.«

»Ich habe sehr gut verstanden.« Aber ich bin nicht einverstanden, dachte Johanna. Diese Frau wollte sie nicht in ihrem Team haben. Würde jeden ihrer Schritte überwachen.

Cornelia Gruber ging zur Absperrung hinüber und hielt dem Kameramann das Objektiv zu, während der Rechtsmediziner Schutzkleidung anzog.

»Ist die immer so drauf?« Johanna atmete geräuschvoll durch die geschlossenen Lippen aus. »Findest du nicht, wir sollten in die Wohnung gehen?«

Axel zuckte die Schultern. »Sie lässt sich nicht gern widersprechen.« Er grinste. »Es gibt Kollegen, die nennen sie heimlich ›Bonaparte‹. Klein und herrisch. Aber man gewöhnt sich dran.«

Daran gewöhnen? Na toll. Rohloff hatte ihr zum Abschied gesagt, sie solle es ihrer neuen Chefin nicht zu schwer machen: »Sieh es als Chance, wieder Wind um die Nase zu kriegen. Du kannst dich nicht ewig im Innendienst verkriechen.«

So schlecht war der Innendienst gar nicht, dachte Johanna, während sie ihre klatschnassen Haare aus dem Gesicht strich. Die Kollegen in Berlin hatten wenigstens gewusst, was sie an ihr hatten. Ob sie hier einen Platz finden würde? Unter dieser Chefin? Sie spürte Axels Blick auf sich ruhen.

»Sieh’s mal positiv. Du kannst dir im Präsidium die Haare trocknen und deine Ausrüstung abholen. Und ich besorg uns auf dem Weg Frühstück. Gibt einen guten Bäcker in der Nähe des Präsidiums, Familienbetrieb in der x-ten Generation.« Er zwinkerte ihr zu und machte sich auf den Weg zur Absperrung. »Hast du ein Handtuch dabei?«

»Handtuch?« Johanna lachte gepresst auf. »Nee, aber Brötchen klingt gut. Mein Magen hängt ungefähr hier.« Sie deutete auf die Knie.

Axel lachte. »Meiner auch.« Er hielt ihr das Absperrband hoch und ging zu einem alten Passat-Kombi hinüber, dessen rechte Seite komplett eingedrückt war. »Mein Sohn.« Er öffnete die Heckklappe und reichte ihr ein Handtuch. »Hat beim Linksabbiegen den Gegenverkehr übersehen.«

»Sieht übel aus. Ist ihm was passiert?«

»Nee, aber er ist erst siebzehn und hätte gar nicht unbegleitet fahren dürfen.« Der Kollege hatte also Familie.

»Shit. Dann ist der Führerschein wieder weg.«

Axel nickte. Eine Bassgitarre konnte Johanna im Fond nicht entdecken.

»Immerhin lässt sich die Fahrertür noch öffnen.«

Sein Humor gefiel ihr. Mit ihm würde sie klarkommen. Während Johanna sich die Haare frottierte, sah sie noch einmal in die Fleuth hinüber. Die Kollegen der Schutzpolizei schwärmten gerade in die Wohnstraße aus, um die Nachbarn zu befragen. Morgen, dachte sie, spätestens morgen schaue ich mir die Wohnung an.

***

Wo war bloß der coole schwarz-weiße Pulli mit dem Zickzackmuster? Leonie hatte ihren Kleiderschrank durchwühlt und schaute auf das Chaos im Zimmer. Wo war der verdammte Pulli? Wahrscheinlich hatte ihre Mutter den letzte Woche heimlich in die Wäsche getan, als sie krank war. Hoffentlich war er jetzt noch so weich wie vorher. Sie zog ein weites graues Sweatshirt über und rannte in den Hausflur. Blieb abrupt am Treppenabsatz stehen, aber zu spät: Frau Janssen aus dem Erdgeschoss hatte sie schon entdeckt. »Alter Bauernadel«, spottete ihr Vater immer.

»Nicht in der Schule heute, Leonie?«

Klar, dass die sich einmischen musste. Da durfte man zur Not auch mal lügen. »Mathe ist ausgefallen, unser Lehrer hat die Grippe.«

Frau Janssen sah missbilligend auf Leonies feuchte Haare. Die Frisur der verwitweten Metzgersgattin war wie immer hochtoupiert und künstlich in Locken gelegt.

»Warst du nicht selbst krank? Und dann bei der Kälte mit nassen Haaren hier im Flur?« Sie zog ihren Schal noch sorgfältiger im Ausschnitt ihrer Pelzjacke zurecht. »Fön dir die mal besser.«

Leonie blickte auf die dicken Klunker an den Händen der Nachbarin. Dass die immer einen auf vornehm machen musste, obwohl im Haus gemunkelt wurde, dass die Miete vom Amt kam.

»Ich muss mich beeilen.« Sie lief an dem Parfümgeruch vorbei in den Keller. »Mein Bus kommt gleich.«

»Jetzt warte mal, Mädchen.« Frau Janssen blieb an der obersten Stufe der Kellertreppe stehen. »Wie geht es deinem Bruder?«

»Besser.« Die war immer so neugierig.

»Und wann kommt er nach Hause?«

Leonie stieß ungeduldig mit der Schuhspitze gegen das Geländer. »Ich weiß nicht. Aber ich muss jetzt wirklich –«

Frau Janssen unterbrach sie. »Daran ist nur dein Vater schuld. Was der dem armen Jungen angetan hat. Das Geschrei ging einem ja durch Mark und Bein.« Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, als höre sie Lukas wieder schreien.

Leonie zögerte. Das stimmte. Und es stimmte nicht. Warum dachten Erwachsene bloß immer, dass es die eine, ganz und gar richtige Wahrheit gab? Ja, Lukas hatte geschrien, wenn ihr Vater ihm diese ekligen Einläufe verpasst hatte. Papa hatte sie dann in ihr Zimmer geschickt und alle Türen geschlossen. Und dass ihre Eltern die Grippemedikamente nicht gegeben hatten … das war blöd gewesen. Alles, weil irgend so ein Typ behauptete, seine Medizin könne Autisten heilen. War der nicht mindestens genauso schuld?

»Papa hat damit nichts zu tun. Lukas’ Fieber ging nicht runter. Deshalb musste er ins Krankenhaus.«

»Ach was, geschrien hat er doch vorher schon. Seit Wochen.« Die Nachbarin musterte noch einmal missbilligend Leonies nasse Haare. »Ich hätte wirklich die Polizei –«

»Auf Wiedersehen, Frau Janssen.« Leonie verschwand schnell in der Waschküche. Sollte die Alte doch denken, was sie wollte. Normalerweise hatte sie für Lukas, den »Behinderten«, nur verächtliche Blicke übrig. Und jetzt nannte sie ihn »armen Jungen«. Verlogen war das. Sie hatte Leonie auch schon mal verdächtigt, ihr Portemonnaie gestohlen zu haben. Dabei hatte sie es einfach beim Friseur liegen lassen.