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Stefan Haenni

Todlerone

Winterkrimis

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Inhalt

Impressum

Zartbitter

Gefahrenzone

Schöne Bescherung

Das Weihnachtspaket

Das wächserne Antlitz

Das seidenfeine Negligé

Die Christbaumkugel

Der Weise aus dem Morgenland

Empirischer Weihnachtsstunk

Schreckalp

Der gefräßige Schneemann

Bluteis

Fest der Liebe

Das Stadtbad

Die Persianermütze

Lichterglanz

Die Betriebsfeier

Der Pistenzwerg

Sterbenstraurig

Der missbrauchte Adventskalender

Todlerone

Die harte Tour

Im Eifer der Eifersucht

Alpöhis Geheimnis

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Zartbitter

Es war ein Desaster. Der heilige Nikolaus lag am Boden. Sein Gewand hatte einen Riss. Sein falscher Bart war ihm bis über die Augen hochgerutscht und die Hände trugen blutige Schürfungen. Weit schlimmer war jedoch, dass sein Jutesack mit den Geschenken im schmutzigen Schneematsch lag. Und zwar leer. Besser gesagt: geleert. Oder, um es auf den Punkt zu bringen: ausgeraubt!

Der zehnjährige Erich alias Nikolaus weinte. Er war soeben Opfer einer Bande von halbwüchsigen Thuner Burschen geworden, die sich jedes Jahr am sechsten Dezember einen Spaß daraus machten, nach Kläusen Ausschau zu halten. Hatten sie ein Opfer erspäht, wurde dieses durch die nächtlichen Straßen des verschneiten Lerchenfeld-Quartiers gejagt, verhauen und beraubt.

Nun half selbst der Trost des Weihnachtskindes wenig, eines robust gebauten Mädchens in weißem Nachthemd mit langem, offenem Haar und einer Krone aus gestanzter Goldfolie. »Wir haben doch immerhin noch unser Geld. Das haben die Saukerle nicht gefunden«, meinte Trudi.

Mit weinerlicher Stimme erwiderte der Nikolaus: »Ja, aber den Sack haben sie ausgeraubt. Jetzt können wir bei der letzten Familie keinen Besuch mehr machen. Wir haben nichts mehr, womit wir Haldimanns Kinder beschenken könnten.«

»Wir haben doch längst genug verdient«, meinte das Christkind und grabschte eine Handvoll Zweifränkler und Fünfliber unter dem flattrigen Nachthemd hervor. »Da, schau! Das sind bestimmt fast 20 Franken. Mehr als letztes Jahr!«

Bei der alljährlichen Klausentour ging es den beiden Kindern nämlich weniger um die Vergabe milder Gaben, als um die Mehrung ihres Sackgeldes.

Der Nikolaus hatte sich inzwischen aufgesetzt. Schniefend leckte er seine lädierten Handballen. Dann erhob er sich sperrig wie ein Greis, wischte Schnee und Schmutz von der Pelerine und brummte mit hasserfüllter Inbrunst: »Die verdammten Scheißkerle werden büßen. Ich werde sie umbringen. Allesamt!«

Diese für den heiligen Nikolaus unpassende Drohung überraschte selbst das sonst eher unzimperliche Christkind. Obschon es deutlich kräftiger und größer war als der Nikolaus, zweifelte es offenbar an der Durchführung eines mörderischen Planes.

Die beiden stellten ohnehin ein sonderbares Gespann dar. Nicht nur, dass der kleine Nikolaus neben dem mächtigen Christkind zur mickrigen Nebenfigur verblasste. Der Grund war vor allem die Tatsache, dass die beiden Darsteller einen weihnachtlich-kulturellen Widerspruch verkörperten.

Normalerweise wird der Nikolaus bekanntlich vom grimmigen Schmutzli respektive vom wortkargen Ruprecht begleitet. Allenfalls kommt noch ein mehr oder weniger störrischer Esel dazu. Das Christkind gehört einer anderen Legende an. Vom Nikolaus werden am sechsten Dezember Geschenke gebracht, vom Christkind an Heiligabend. Wenn nicht gar von den heiligen drei Königen aus dem Morgenland persönlich! Zudem präsentiert sich das Christkind in der Regel als kindlicher Engel. Sind Christkind und Jesuskind aber nicht ein und dieselbe Figur? Müsste das Christkind nicht eher einem männlichen Baby als einem weiblichen Engel ähneln? Bloß, wie sollte ein Baby imstande sein, haufenweise Geschenke zu verteilen? War es nicht ohnehin das Jesuskind selbst, das beschenkt wurde?

Über solche Widersprüche machten sich die beiden Nachbarskinder keine Gedanken. Vielmehr schmerzte der Verlust der Mandarinen, der Erdnüsse, der Lebkuchen und der bunten Schokoladen. Die Schürfungen waren schon fast vergessen, die erlittene Schmach jedoch keineswegs. Wut, Frustration und Enttäuschung mischten sich im brummenden Schädel des Nikolauses zu einem bedrohlichen Gemisch.

Das Christkind suchte inzwischen seine große weiße Kerze im Schnee, richtete sich das Krönchen und meinte aufmunternd: »Schau, Erich, es liegen ja noch Sachen auf der Straße. Da ein paar Erdnüsse und dort eine Mandarine.«

»Die ist doch total zermanscht«, nörgelte der Nikolaus. »Die können wir nicht verschenken.«

Das Christkind drückte das süße Früchtchen etwas zurecht und sagte: »So, auf den ersten Blick sieht man nicht mehr, dass die Schale geplatzt ist. Zudem sollte man Mandarinen ohnehin sofort schälen und essen.«

In diesem Augenblick fand der Nikolaus eine fast unversehrte Schokolade in blutrot glänzender Alufolie. »Na ja, diese Praline könnte man vielleicht auch wieder zurechtdrücken.« Ein erstes, leises Strahlen kehrte in sein Gesicht zurück.

Die beiden versorgten alle Fundsachen im Jutesack. Als das Christkind die große Kerze entzündete, zauberte das warme Licht ein seliges Lächeln auf die zwei Kindergesichter.

»Dann können wir doch noch zu den Haldimann-Kindern!«, stellte der Nikolaus erfreut fest. Das Christkind hob die Schultern, als hätte es die Wendung zum Guten längst erahnt. Allerdings können Ahnungen ab und zu trügerisch sein.

Der Nikolaus und das Christkind wurden von der Familie Haldimann herzlich empfangen. Im Flur leerte der Nikolaus den Jutesack vor den Augen der beiden kleinen Mädchen und ihrer Eltern aus. Dass bloß ein schäbiges Häufchen präsentiert werden konnte, schien niemanden zu stören. Die beiden Mädchen stürzten sich auf die wenigen Erdnüsschen, stritten sich um die einzige Mandarine und teilten sich die Schokolade. Die Eltern zeigten sich gegenüber Nikolaus und Christkind mit je einem Zweifränkler erkenntlich. So waren alle zufrieden – bis zu jenem dramatischen Augenblick, als Frau Haldimann plötzlich einen gellenden Schrei von sich gab und ihr Ehemann dem Christkind seinen Lodenmantel über den Kopf warf.

Völlig unerwartet war die wallende Haarpracht des Christkindes in Flammen aufgegangen. Die brennende Kerze, die Trudi bei Besuchsbeginn hinter sich auf eine Schuhkommode gestellt hatte, entflammte die gelockte Mähne explosionsartig. Hätte Herr Haldimann nicht reaktionsschnell den schweren Wintermantel von der Garderobe geangelt und über die lebende Fackel geworfen, wäre wohl der ganze Balg Opfer der Flammen geworden. Trotzdem hatte die kurze Feuersbrunst ausgereicht, um am Hinterkopf des Christkindes eine unübersehbare Schneise versengter Haare zu hinterlassen. Dazu verbreitete sich ein bestialischer Gestank.

Das Christkind selbst schien vom feurigen Intermezzo am wenigsten mitbekommen zu haben. Ringsum verharrten alle sprachlos. Bis der Nikolaus endlich mit zittrigem Stimmchen feststellte: »Trudi, du hast gebrannt.«

Das Christkind griff sich mit der rechten Hand an den Hinterkopf und realisierte jetzt erst, dass es hintenrum deutlich an Volumen fehlte. Erstaunlich gefasst meinte Trudi: »Dann geh ich jetzt besser nach Hause.«

Familie Haldimann entließ Christkind und Nikolaus, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ansonsten kein nennenswerter Schaden entstanden war.

Im Treppenhaus wandte sich das Christkind an den Nikolaus: »Ich denke, wir gehen nächstes Jahr nicht mehr auf Tour.«

Der Nikolaus blieb stehen und fragte: »Und was ist mit meiner Rache?«

»Du meinst, wegen dem Überfall?«

»Ja klar. Ich will es den Burschen heimzahlen.«

»Wir haben sie ja gar nicht richtig erkannt in ihren Strickmützen und den dicken Halstüchern. An wem willst du dich denn rächen?«

»Das waren auf jeden Fall zwei Kerle aus der Neubausiedlung. Um diese Ganoven anzulocken, gehen wir nächstes Jahr erneut auf Tour. Wenn sie dann angreifen, werden sie ihr blaues Wunder erleben!«

»Wieso blau?«, fragte das Christkind. »Wenn sie bluten, ist das Wunder doch rot.«

»Wer hat denn behauptet, dass sie bluten sollen? Sie sollen verrecken!« Mit diesen Worten schritt der Nikolaus entschlossen die letzten Treppenstufen zum Ausgang hinunter. Gemeinsam mit dem versengten Engel verließ er die Liegenschaft.

Nach einem Jahr war die Schmach des sechsten Dezembers so gut wie vergessen. Erst als Trudi Erich darauf ansprach, erinnerte er sich seines mörderischen Versprechens.

»Ich hätte da so eine Idee, wie wir es den Burschen heimzahlen könnten«, meinte Trudi, der die Haarpracht längs üppig nachgewachsen war.

Erich wurde neugierig. »Sag schon.«

»Die Lerchenfelder sollen dabei nicht sterben. Sonst kommen wir ins Gefängnis und verpassen das Weihnachtsfest.«

»Und die Idee?«, drängte Erich.

»Wir machen die Pralinen selbst.«

»Wo ist da die Rache?«

Trudi grinste böse. »Wir befüllen die Schokoladen nicht mit Marzipan, sondern mit Hundescheiße. Dann lassen wir uns absichtlich berauben. Wenn sich die Angreifer über ihre Beute hermachen, werden sie Bauchkrämpfe bekommen und kotzen.«

Erich zögerte. »Bist du dir sicher, dass man von Hundescheiße kotzen muss?«

»Hallo? Mann! Was für eine Frage! Willst du etwa behaupten, dass du dich davon nicht übergeben müsstest? Hast du schon mal die Kacke unseres Berner Sennenhundes gerochen?«

»Hm. Okay. Aber vielleicht merken die gar nichts, falls die Schokoladenschicht darum herum zu dick ist? Wir sollten etwas reintun, das ihnen garantiert Bauchweh bereitet.«

Trudi schaute ihren Spielgefährten erwartungsvoll an. »An was hast du gedacht?«

»Wir haben bei uns im Keller eine Schachtel Rattenkörner. Auch eine alte Kaffeemühle rostet dort unten. Wir könnten damit die Körner mahlen und das Giftpulver mit Marzipan vermischen, bevor wir die Kügelchen mit heißer Schokolade überziehen.«

»Oder, noch besser, wir mischen das Rattengift mit dem Hundedreck und drehen daraus die Pralinenfüllung.«

»Superidee!«, begeisterte sich der Junge. »Jetzt freue ich mich doch wieder auf unsere nächste Nikolaustour.«

»Ja, ich auch«, bestätigte das künftige Christkind. »Hoffentlich werden wir überfallen.«

»Und zwar von den Richtigen. Denen vom Vorjahr!«

Beide Kinder kicherten.

»Und wenn sie am Rattengift krepieren?«, sorgte sich Trudi.

Erich beschwichtigte: »Wenn ein einzelnes Korn eine Ratte killt, wird es für einen Menschen sicher zu wenig giftig sein. Ich denke, ein Tier wiegt so um die 300 bis 400 Gramm.«

»Wow, ein rechter Brummer.«

»Die Jungs hingegen dürften schätzungsweise zwischen 40 und 50 Kilogramm auf die Waage bringen. Es bräuchte also ziemlich viele Giftpralinen, damit sie eine tödliche Dosis abkriegten.«

Trudi war damit beruhigt.

Als der erste Advent nahte, benutzten die Kinder die Abwesenheit von Erichs Mutter, um in deren Küche die Giftpralinen herzustellen. Trudi rollte mit Todesverachtung die Hundescheiße zu runden Pillen, Eric spießte diese auf Zahnstocher auf, bepuderte sie mit dem Mehl des Rattengifts und steckte die Spieße dann in ein Stück Sagex. Als zwölf Stück fertig waren, wurde schwarze zartbittere Schokolade in einer Blechdose im Wasserbad einer kleinen Pfanne geschmolzen. Trudi und Erich tauchten die bepuderte Kacke in die schwarze Masse, ließen die Pralinen zwischendurch immer wieder antrocknen und wiederholten das Prozedere mit jedem Stück fünfmal, bis eine akzeptable Schicht die Füllung ummantelte. Anschließend stellte Erich das Sagexbrettchen mit den zwölf Schokospießen in den Kühlschrank.

Nach einer Stunde und gerade rechtzeitig vor der Rückkehr der ahnungslosen Mama umwickelten die Kinder die fertigen Pralinen noch mit bunter Alufolie, die sie sich zu diesem Zweck aufgehoben hatten. Und fertig war das Hexenwerk!

Als Trudi und Erich den Eltern ihre Absicht eröffneten, auch dieses Jahr wieder auf Klausentour zu gehen, waren diese nicht begeistert. Trudi bekam die Auflage, sich das Haar hochzustecken und anstelle der brennenden Kerze eine elektrische Taschenlampe mitzutragen. Erich musste sich anhören, dass er selber schuld sei, falls er wieder überfallen werde.

Dann endlich konnten die kostümierten Kinder starten. Leise rieselte der Schnee. In den Vorgärten und auf den Balkonen des Quartiers funkelte und glitzerte elektrischer Weihnachtsschmuck. Nur wenig Menschen waren noch unterwegs. Wie im Vorjahr gingen der Nikolaus und das Christkind von Tür zu Tür. Um die vergifteten Schokoladen nicht irrtümlich an unschuldige Nachbarskinder zu verteilen, wurden die Pralinen separat in einer Papiertüte im Kapuzenmantel versteckt. Wie jedes Jahr sammelte das weihnachtliche Gespann reichlich Sackgeld ein. Nur von den letztjährigen Angreifern war weit und breit nichts zu sehen.

Das Christkind begann bereits zu zweifeln. »Und wenn die nicht kommen?«

»Was dann?«, maulte der Nikolaus.

»Ja, ich mein halt nur. Willst du deine Rache und die Pralinen bis nächstes Jahr aufheben oder wirst du den Lerchenfeldern vergeben?«

»Vergeben? Spinnst du?«

Das Christkind bröselte: »Papa sagt immer, vergeben sei besser als verdammen. Und wir beten doch jeden Sonntag das Vaterunser. Da heißt es: Vergib uns unsere Schulden wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«

»In meinem Gebet heißt es: Rache ist süß«, entgegnete der Nikolaus in abschließendem Tonfall.

Für weitere Diskussionen blieb ohnehin keine Zeit. Plötzlich tauchten zwei große Jungs aus der Dunkelheit auf. Die Gesichter waren bis zu den Augen mit bunten Strickschals vermummt. Sie trugen schwarze Baseballmützen, die sie tief in die Stirn gedrückt hatten. Herausfordernd verstellten sie dem Nikolaus und seiner himmlischen Begleitung den Weg.

»Hallo, ihr beiden!«, säuselte der eine. »Da seid ihr ja endlich. Was habt ihr uns denn dieses Jahr Schönes mitgebracht?«

Erich und Trudi hatten sich zuvor abgesprochen. Sie wollten sich anfänglich scheinbar wehren und den Jutesack mit den Leckereien nicht freiwillig abliefern. Die Diebe sollten keinen Verdacht schöpfen.

Der Nikolaus versteckte den Jutesack hinter seinem Rücken. Das war die vereinbarte Gelegenheit für das Christkind, die präparierten Pralinen aus Erichs Mantel zu fischen und unbemerkt in den Geschenksack plumpsen zu lassen.

Einer der beiden großen Burschen machte einen Schritt auf den kleinen Klaus zu. Er schaute auf sein Opfer herunter und drohte: »So, du Gartenzwerg. Jetzt rück mal die milden Gaben raus!«

Langsam schwenkte der Angesprochene den Jutesack hinter seinem Rücken hervor.

Der Angreifer machte jedoch keine Anstalten, danach zu greifen. »Was soll das, du Verlierer? Schleckzeug war letztes Jahr. Heute will ich Moneten!«

Der andere Bursche trällerte höhnisch: »Pinke, pinke, klingeling!«

Der Nikolaus und das Christkind erblassten.

»Also! Wer von euch beiden trägt den Silberschatz?«, wollte der Erste wissen. Der Zweite stellte sich direkt vor das Christkind. Beide Opfer wurden abgetastet. Die Sache war schnell geklärt. Die Münzen klimperten im Baumwolltäschchen, das Trudi um den Hals trug. Der Grobian zerrte den Beutel aus dem Ausschnitt des dünnen Nachtkleidchens und zerriss kurzerhand die Kordel.

»Na also«, meinte er befriedigt. »Hat sich doch gelohnt.«

Das Christkind und der Nikolaus standen wie erfroren im Schnee. Mit diesem Ausgang der Geschichte hatten sie nicht gerechnet.

Die Diebe hatten sich bereits umgedreht und waren im Begriff, davonzutrotten, als sich der eine nochmals an den Nikolaus wandte. »He, du Zwerg. Mach mal den Sack auf!« Er griff blindlings hinein, angelte eine blutrote Praline heraus, wickelte in provozierender Langsamkeit die Glanzfolie von der Schokolade, hielt die zartbittere Köstlichkeit zwischen Daumen und Zeigefinger, um sie anschließend vor den funkelnden Augen des Nikolaus genüsslich in den nimmersatten Schlund plumpsen zu lassen. Ohne weiteren Kommentar verschwanden die Angreifer in der Nacht.

Der Spuck war vorüber.

Jetzt erst brachen der Nikolaus und das Christkind in schallendes Gelächter aus. Erich weinte Tränen der Freude. Trudi lief in winterlicher Kälte der Rotz aus dem geröteten Näschen. Besser hätte die Tour nicht verlaufen können. Fast. Der Verlust des Sackgeldes ärgerte die beiden natürlich schon.

Noch am selben Abend fuhr in der Neubausiedlung ein Ambulanzfahrzeug mit Blaulicht vor.

Gefahrenzone

Das Walliser Bergdorf liegt sonnenverwöhnt auf einer Terrasse hoch über dem Rhonetal südlich von Visp. Der kleine familiäre Ferienort ist in erster Linie ein Wanderparadies. Erfreulicherweise fällt bereits Anfang Dezember ein halber Meter Schnee.

Weniger erfreulich ist die Neuigkeit, die Marta Balmer soeben von ihrem 30-jährigen Sohn Oli erfahren hat.

»Woher willst du das wissen?«, fragt sie halb ungläubig, halb verärgert.

»Ich habe es inoffiziell von einem Mitglied des Gemeinderats erfahren. Von wem, will ich aber nicht verraten. Das habe ich ihm versprochen«, antwortet Oli.

»Aha, also von einem der männlichen Mitglieder«, stellt Mutter Marta trocken fest. »Dann kann ich mir schon vorstellen, wer es sein könnte.«

»Lass es, Mutti. Hauptsache ist doch, dass wir rechtzeitig informiert worden sind.«

»Rechtzeitig? Wenn es stimmt, was du sagst, haben wir gerade noch vier Wochen Zeit, um unser Ferienhaus zu verkaufen«, folgert Marta konsterniert.

»Warum denn verkaufen?«

»Überlege mal. Wer wird unser schönes Chalet noch erwerben wollen, wenn bekannt wird, dass es in einer Gefahrenzone steht?«

Der Sohn kratzt sich seinen struppigen Rotschopf. »Tja. Daran habe ich gar nicht gedacht.«

Die Mutter nickt bloß.

Oli fährt fort: »Bis Ende des Jahres werden wir kaum noch einen spontanen Käufer finden.«

»Spontan vielleicht schon, aber naiv dazu?«, zweifelt die schlaue Alte.

Oli ergänzt: »Und zu welchem Verkaufspreis?«

»Wir werden weniger bekommen, wenn das Häuschen ab Januar offiziell im Plan der gefährdeten Zonen eingetragen ist«, stellt Marta klar.

»Es handelt sich doch nur um die gelbe Zone, nicht um die blaue oder rote«, räumt Oli ein.

»›Gefahrenzone‹ tönt immer gefährlich. Was spielen da Farben für eine Rolle?«

»Das kann ich dir genau sagen«, meint der Sohn. »Ich habe die entsprechenden Vorgaben des Kantons im Internet studiert. Demnach sind Gefahrenzonen Geländeabschnitte, die erfahrungsgemäß oder voraussehbar durch Naturgewalten wie Lawinen, Steinschlag, Rutschungen, Überschwemmungen oder andere Naturgefahren bedroht sind.«

Die Mutter winkt ab. »So viel ist mir auch klar. Mich nehmen nur die Unterschiede zwischen den Farben wunder.«

»Eine rote Gefahrenzone ist ein Gebiet mit starker potenzieller Gefährdung.«

»Was heißt das im Klartext?«

»In diesen Gebieten dürfen keine Bauten irgendwelcher Art erstellt werden.«

Marta nickt. »Verstehe. Und blau?«

»Blau ist ein Gebiet mit mittlerer potenzieller Gefährdung. Der Gemeinderat ist berechtigt, bauliche Sicherheitsvorkehrungen des Gebäudes zu verlangen.«

»Haben wir vielleicht doch noch Schwein?«, hofft Marta mit fragendem Blick. »Was hast du gesagt, in welcher Zone unser Chalet steht?«

»In der gelben. Solche Gebiete weisen eine geringe potenzielle Gefährdung auf. Exponierte Bauteile wie Türen oder Fenster müssen allerdings im Hinblick auf die zu erwartenden Staudrücke dimensioniert werden. Uns bleibt der Nachweis offen, dass die Gefährdung des Grundstückes und des Zugangs durch sichernde Maßnahmen behoben ist.«

»Das würde nicht alle Welt kosten«, relativiert Marta. »Was mir mehr Sorgen bereitet, ist die Gefahrenzone an sich. Die schreckt potenzielle Käufer ab. Da können wir noch so hoch und heilig versprechen, dass in all den Jahren nichts passiert ist.«

»Kommt dazu, dass der Gemeinderat eine Evakuierung anordnen könnte.«

»Sag ich doch«, meint Marta. »Darum müssen wir das Chalet loswerden, bevor dieser verfluchte Gefahrenplan offiziell vorliegt.«

»Schade«, antwortet Oli. »Nur gut, dass Vater das nicht mehr erleben muss.«

»Für Sentimentalitäten ist jetzt keine Zeit. Hol gescheiter den Fotoapparat und mach ein paar schöne Aufnahmen vom Haus. Ich suche inzwischen die Grundrisspläne und die Unterlagen der Gebäudeversicherung hervor.«

Der Sohn tut wie geheißen. Er ist es gewohnt, der energischen Mutter zu gehorchen. Nur in einem Punkt hat er sich ihren als Ratschläge getarnten Befehlen bisher widersetzt: Entgegen Marta Balmers Ansinnen ist Oli mit 30 Jahren noch immer Junggeselle. In den Augen seiner Mutter ein unhaltbarer Zustand. Alles gute Zureden war vergeblich. Die Mutter ist sogar so weit gegangen, ihrem zurückhaltenden Filius »geeignete« Partnerinnen vorzuschlagen. Wie zu Urgroßmutters Zeiten, als Ehen oftmals von den Eltern arrangiert wurden.

Bezüglich des Hausverkaufs sind sich die beiden Familienmitglieder allerdings einig: so schnell und so gut wie möglich verkaufen!

Die von Oli erstellte Online-Dokumentation des Chalets ist gelungen. Bei schönstem Winterwetter hat er das sonnenverbrannte Holzhaus von allen Seiten mit Weitwinkelobjektiv fotografiert. Sowohl die Aufnahmen von Süden mit weitem Ausblick auf das Rhonetal als auch die wundervollen Bilder aus nördlicher Richtung mit dem reizenden Birkenwäldchen oberhalb der Liegenschaft und den majestätischen Gipfeln des Hochgebirges dürften potenzielle Interessenten anziehen. Dass es dieselben Gipfel sind, von denen stiebende Lawinen herunterzudonnern drohen, und dass das Birkenwäldchen den Schutzwald keinesfalls ersetzen könnte, scheint fast unvorstellbar. Der ursprüngliche Schutzwald aus alten Bergföhren ist wegen der globalen Erwärmung größtenteils verdorrt und deshalb ausgedünnt. Den langen Trockenperioden im Sommer sind die Nadelhölzer nicht mehr gewachsen. Laubhölzer werden sie künftig ersetzen müssen. Nur sind diese noch längst nicht in ausreichender Anzahl und Stärke aufgeforstet. Der Entscheid der Gemeinde, neue Parzellen als Gefahrenzonen zu deklarieren, ist eine direkte Folge davon.

Olis Innenaufnahmen zeigen ein heimeliges Interieur mit viel Holz und einer offenen Feuerstelle, die mit einheimischen Schieferplatten umrandet ist. Die beiden Schlafzimmer überzeugen durch praktische Einbauschränke. Die Möblierung des Wohnzimmers, die im Kaufpreis enthalten ist, könnte als Alpinchic bezeichnet werden: robust, rustikal und alpenländisch. Die einfache Küche wirkt dank der geschickten Wahl des Aufnahmewinkels wesentlich größer, als sie tatsächlich ist. Zudem steht auf dem Foto das Küchenfenster weit offen und entführt den Blick in die Ferne der Walliser Alpen.

»Es müsste doch mit dem Teufel zu- und hergehen, wenn wir das ›Heimet‹ bis Weihnachten nicht verkaufen können«, betont die Mutter angesichts der schönen Dokumentation. »Jetzt müssen wir bloß noch einen angemessenen Kaufpreis festlegen.«

»Das Allerwichtigste!«, bestätigt Oli. »Wie hoch wird denn der Verkehrswert veranschlagt?«

»Der kann gut und gerne bei 400.000 Franken liegen.«

Oli staunt: »Auch in einer Gefahrenzone?«

»Nein, da natürlich nicht. Wir können froh sein, wenn wir noch den Gebäudeversicherungswert bekommen.«

»Das heißt?«

»Schlappe 180.000 Franken«, meint die Mutter.

Der Sohn ist enttäuscht. »Können wir es nicht vorerst mit einem höheren Preis versuchen?«

»Pah! Damit wir ihn danach kleinmütig nach unten korrigieren müssen?«, reklamiert Marta. »Kommt nicht in die Tüte. Im Gegenteil. Wir machen es so, dass wir den Preis überraschend tief ansetzen. Anschließend lassen wir ihn hochschaukeln, indem wir das Gebäude dem Meistbietenden zuschlagen.«

Im ersten Moment strahlen Olis Augen. Dann jedoch zeigen Stirnfalten, dass er Bedenken hegt. »Hm. Wenn der Preis zu tief ist, suchen die Interessenten nach einem Grund dafür. Nach der Devise: Wenn das so günstig ist, muss was faul sein. Und dann fordern Sie eine Erklärung.«

»Stimmt. Da hast du für einmal recht«, gesteht Marta zerknirscht. »Also doch nicht zu billig ausschreiben. Hm … Sagen wir, für 290.000 Franken?«

Oli ist damit einverstanden. Er ergänzt die Verkaufsdokumentation mit dem Preis und stellt sie anschließend auf einer der großen Immobilienplattformen online. »So, und jetzt geh ich in die Dorfbeiz. Mal etwas herumhören, was sonst noch so abgeht in diesem Bergkaff.«

»Hallo, Junior! Das ›Bergkaff‹ nimmst du zurück! Wir haben hier in den letzten 20 Jahren viele schöne Tage verbracht, vergiss das nicht!«

Oli errötet. »War als Witz gemeint«, entschuldigt er sich.

Die gestrenge Mama schüttelt das ergraute Haupt. »Dann schau, dass du im Dorf endlich eine Freundin findest.«

Darauf reagiert Oli verärgert: »Willst du, dass ich mit einem Dorftrottel nach Hause komme?«

Marta winkt ab und wiederholt Olis vorgängige Antwort: »War doch als Witz gemeint.«

Es dauert nicht lange, bis sich erste Interessenten für das Chalet melden. Noch am selben Abend vereinbart ein Berner Ehepaar eine Hausbesichtigung. Da am folgenden Tag weitere Neugierige auf eine Begehung des Chalets drängen, sieht sich Marta Balmer genötigt, einen Plan zu erstellen. Diesen gestaltet sie so, dass sich die Besucher »rein zufällig« über den Weg laufen. »So bekommen sie Schiss, dass ihnen jemand das Häuschen vor der Nase wegschnappen könnte«, erklärt Marta ihrem Sohn. »Wenn erstmal eine Partei zu bieten anfängt, werden wir für das Gefecht sorgen, bei dem die potenzielle Käuferschaft gegenseitig den Preis hochschaukelt.«

Ganz so einfach ist es dann doch nicht.

Zwar gibt es erfreulich viele Interessenten. Sind die Herrschaften aber vor Ort, beginnen sie mit Nörgeleien, Einwänden, Bedenken und Fragen.

»Muss man den Zugang im Winter selber freischaufeln?«

»Schade, dass der Parkplatz so weit unterhalb des Hauses liegt.«

»Gefrieren die Wasserleitungen im Winter zu?«

»Muss hier mit Lärmbelästigungen durch Kuh- oder Kirchenglocken gerechnet werden?«

»Eigentlich suchen wir ja ein Chalet direkt an einer Skipiste.«

»So, und jetzt möchte ich noch einen Blick auf den Öltank der Zentralheizung werfen.«

»Wie weit ist es bis zum nächsten Aldi?«

Den Vogel schießt eine Zürcherin ab, die bemängelt, dass man vom Balkon keinen Seeblick habe. »Mir würde ein Stausee schon reichen«, meint sie entschuldigend, nachdem sie Marta Balmers konsternierten Blick erhascht hat.

Einzig die Frage nach der drohenden Umzonung wird glücklicherweise von niemandem gestellt.

Marta Balmer beantwortet, erklärt oder beschwichtigt mit Engelszungen. Oli darf bei den Verkaufsgesprächen nicht dabei sein. »Du bist viel zu ehrlich«, kritisiert seine Mutter, als hätte sie auf diese Tugend bisher keinen Wert gelegt.

Nach rund zwei Wochen haben sich drei ernsthafte Käufer herauskristallisiert. Da ist einerseits das junge Schweizer Paar mit den beiden Kleinkindern. Außerdem hat ein deutsches Rentnerpaar aus Mannheim ein Angebot unterbreitet. Zuletzt hat eine Familie aus Holland echtes Interesse bekundet. Die Holländer sind es schließlich, die das schriftliche Bietgefecht für sich entscheiden. Bei 350.000 Franken erhalten sie den Zuschlag.

Die Verschreibung des Chalets findet in einer Kanzlei in Visp statt. Familie Bakker aus Holland ist zu dritt angereist. Neben den beiden Eltern ist auch die 27-jährige Tochter Vivienne dabei. Marta Balmer wird von Oli begleitet. Nachdem der Vertrag verlesen, unterzeichnet und beglaubigt ist, lädt der Notar die beiden Parteien in ein Bistro ein. Dort stoßen alle mit Walliser Weißwein, dem süffigen »Fendant«, auf die erfolgreiche Handänderung an. Vater Bakker sieht dabei etwas tief ins Glas. Oli und Vivienne hingegen vergucken sich ineinander. Dass ihr Techtelmechtel tatsächlich von Mutter Marta nicht bemerkt wird, freut den Sohn besonders. Diskret tauschen Vivienne und Oli ihre Handynummern aus.

Die Schlüsselübergabe soll auf Wunsch der Käuferschaft bereits am 23. Dezember stattfinden. Familie Bakker will Weihnachten im eigenen Ferienhaus feiern.

So haben Oli und Marta Balmer ausgerechnet die Eltern seiner neuen Freundin übers Ohr gehauen. Spätestens im Januar, wenn der Gefahrenplan publiziert wird, platzt die Bombe. Gut möglich, dass es Ärger geben wird. »Vielleicht werden die Bakkers versuchen, den Kauf rückgängig zu machen«, befürchtet Oli.

»Das könnte schwierig werden«, beurteilt die Mutter gelassen. »Immerhin haben wir den mehrdeutigen Satz ›das Chalet befindet sich an exponierter Lage mit prächtigem Weitblick‹ in die Dokumentation geschrieben.« Man könne halt nicht alles haben, meint sie lapidar, eine atemberaubende Aussicht und eine absolut sichere Wohnlage. Oli plagt das schlechte Gewissen. Vor allem wegen Vivienne.

Als Marta Balmer zum letzten Mal den freigeschaufelten Fußweg zum Parkplatz hinuntersteigt, kommt Wehmut auf. Oli hingegen nimmt es locker. Er weiß, dass Viviennes Eltern in der Neujahrswoche nach Holland zurückreisen werden, während seine neue Freundin mit ihm im Walis bleibt.

So verwundert es nicht, dass sich Vivienne und Oli im Elternschlafzimmer des Chalets bald schon in den Armen liegen. Was kümmern Oli jetzt blaue, rote oder gelbe Zonen? Er sieht nur noch rosa.

Da hören die beiden Turteltauben ein fernes Donnern. Wenige Augenblicke später hat es sich zu einem gewaltigen Beben und Poltern entwickelt. Vom Berggipfel hat sich eine Schneelawine gelöst, die jetzt mit zerstörerischer Wucht über das Chalet hinwegfegt und das junge Paar in den Tod reißt.

Schöne Bescherung

Der herrlich nach Butter riechende und mit Eigelb goldgelb gebackene Grittibänz, auch als Stutenkerl oder Weckmann bezeichnet, war keine Überraschung. Die leichenblasse Spanischlehrerin hingegen schon. Sie lag mit dem Gesicht in ihrem Erbrochenen, das sich als eine Art hingekotzte Tortilla vor ihrem halb geöffneten Mund über den runden Lehrerzimmertisch ausbreitete.

Eigentlich sollte das Lehrerzimmer geschlechtsneutral als Lehrkräftezimmer und der runde Tisch darin als Begegnungstafel bezeichnet werden. Daran hielt sich mit Ausnahme von Frau Reber aber niemand. Und sie würde bis auf Weiteres die Einzige gewesen sein, denn jetzt war sie offensichtlich tot. Als Lehrkraft war sie eindeutig außer Kraft. Offiziell musste das natürlich ein Notarzt bestätigen, der von jemandem gerufen werden sollte. Das wiederum erforderte das bislang ausstehende Auffinden der Leiche, die Entdeckung durch eine andere Lehrkraft, eine Hilfskraft des Reinigungspersonals oder eines der zahlreichen Mitglieder der Schulleitung, von denen kein einziges als Kraft, zum Beispiel als Leitungskraft, Rektoratskraft oder ähnlich bezeichnet wurde. Immerhin waltete die Rektorin der Schule Kraft ihres Amtes. Normalerweise. Heute war sie abwesend.

An einem Arbeitsplatz wie dem eines kantonalen Gymnasiums, in dem es von Kräften nur so wimmeln sollte, lag eine entkräftete Spanischlehrerin bereits vor der großen Zehnuhrpause auf der Begegnungstafel in ewigem Schlummer.

Die Schulleitung hatte angekündigt, dem Kollegium am heutigen sechsten Dezember in der großen Pause traditionell einen ofenfrischen Grittibänz zu offerieren. Der Wicht aus gesüßtem Hefeteig lag eine halbe Stunde vor der großen Pause inmitten dekorativen Tannengrüns, geschmückt mit Schokoladenplätzchen in bunter Silberfolie. Das hatte Tradition in der Mittelschule am Thunersee.

Selbstverständlich war das der Spanischlehrerin bekannt gewesen. Da sie sich den Kopf des Grittibänz mit den drei Rosinen sichern wollte, hatte sie die Schülerschaft vorzeitig sich selbst überlassen. Lehrkräfte unterrichten wohlgemerkt keine Lern- oder Schülerkräfte, sondern die sogenannte Schülerschaft. Madeleine Reber hatte die ihre mit einer schriftlichen Arbeit beschäftigt, um selbst den Unterricht früher verlassen und sich als erste Lehrkraft über den Gabentisch hermachen zu können. Ihre Gier hatte sie offensichtlich das Leben gekostet.

Das Opfer wurde von Prorektor Dieter Sommer entdeckt. Auch er war kurz vor dem eigentlichen Pausenläuten ins Lehrerzimmer geeilt. Allerdings nicht, um sich in Ruhe die Backen zu stopfen, sondern um zu kontrollieren, ob die von ihm angeordnete Bescherung durch die Bürokräfte pünktlich vorbereitet worden war. Herr Sommer musste jedoch zweimal hingucken, bis er begriff, dass die Weihnachtsbescherung quantitativ geschätzte 90 Kilo Übergewicht hatte.

Der verhinderte Militarist wurde seiner Führungsrolle sofort gerecht. Er fühlte Frau Reber den nicht mehr vorhandenen Puls, ließ im Weiteren alles, wie es war, schloss das Lehrerzimmer ab und verfasste eine Kurzbotschaft auf einem Blatt A4 aus dem Fotokopiergerät. Mit dickem rotem Filzstift hielt er die zwei Worte »NICHT EINTRETEN!« in Großbuchstaben darauf fest. Diesen Zettel befestigte er mit transparentem Klebeband in Sichthöhe an der Tür. Dann eilte er in sein Büro, um Polizei und Rettungskräfte zu alarmieren. Bis zu deren Eintreffen bewachte er die verschlossene Tür persönlich. Das war auch notwendig, denn im Kollegium gab es Untergebene, die gelegentlich meinten, Anordnungen der Rektoratsobrigkeit nicht einhalten zu müssen. Solche Querulanten galt es jetzt, am Eindringen zum Tatort zu hindern.

In der Zwischenzeit hatte der elektrische Schulgong die Pause eingeläutet. Im Sekundentakt erschienen vor der verschlossenen Tür Lehrkräfte in Vorfreude auf den Gabentisch. Es wimmelte innert kürzester Zeit von kräftig lamentierenden Pädagogen. Immer wieder wurde dieselbe Frage in die Runde geworfen: »Warum dürfen wir nicht rein?«

Der Aufritt von Polizei und Rettungsdienst milderte das Chaos nicht im Geringsten. Umso weniger, als die Vertreter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einen zusätzlichen Pulk neugieriger Schülerinnen und Schüler angezogen hatten.

Die anwesenden Uniformpolizisten realisierten, dass im Fall von Frau Reber eine unnatürliche Todesursache nicht ausgeschlossen werden konnte. Sie alarmierten die Kollegen vom Dezernat Leib und Leben sowie den kriminaltechnischen Dienst. Dieser nahm Proben vom Erbrochenen, vom Grittibänz, von den verschiedenen Schokoladen und vom Kaffee, der in einer großen Henkeltasse erkaltete. Nachdem diverse Fingerabdrücke gesichert, Textilfasern in der näheren Umgebung der Leiche mit der Pinzette gesammelt worden waren und der Schauplatz der Tragödie aus verschiedenen Perspektiven fotografisch festgehalten worden war, wurde das Lehrkräftezimmer dem Kollegium wieder freigegeben. Allerdings kamen die Pauker nicht darum herum, der Leiterin der Untersuchung, Frau Hauptmann Krüger, in einem Nebenraum für Befragungen zur Verfügung zu stehen. Diese Interviews hielten die Lehrkräfte unfreiwillig vom Unterrichten ab. Deshalb verfügte der Prorektor kurzerhand, dass sämtliche Vormittagslektionen ausfielen.

Inzwischen brodelte es an der Gerüchtebörse. Sowohl die Schüler- als auch die Lehrerschaft spekulierte wild herum, und der Prorektor bangte um eine angemessene Pietät angesichts der verstorbenen Kollegin.

Dass Madeleine Reber krank oder an ihrem Erbrochenen erstickt war, wurde ausgeschlossen. Im kollegialen Umfeld der Verstorbenen gab es zu viele Minenfelder. Gleich mehrere Widersacher kamen als Täter infrage.

Allgemein bekannt waren beispielsweise die Auseinandersetzungen innerhalb der Fachschaft Spanisch bezüglich der Verteilung der vorhandenen Lektionen. Zu 100 Prozent angestellte Lehrer und Lehrerinnen beanspruchten eine fixe Lektionenzahl. Teilpensumlehrkräfte mussten eine volatile Anstellungssituation hinnehmen. Wer zuletzt angestellt worden war, musste zuerst kürzertreten. Es sei denn, jemand der Vollpensumler verzichtete freiwillig auf ein paar Lektionen.

Tatsächlich hatte der Stundenplanwechsel zum Semesteranfang einen Härtefall beschert. Die junge Lehrerin und alleinerziehende Mutter Sabine Hutter hatte zu einem empfindlich großen Teil ihre pekuniäre Lebensgrundlage verloren. Und das wegen der kinderlos verheirateten Doppelverdienerin Madeleine Reber. Das konnte selbst die sozial eingestellte Rektorin nicht verhindern. Das Prinzip der Anciennität und das Vorrecht der vertraglich geregelten Vollpensumlehrkräfte waren nun mal nicht zu umgehen. Für mindestens ein Semester musste Familie Hutter den Gürtel enger schnallen.

Ein weiteres Schlachtfeld lag quasi zwischen Madrid und Moskau. Die Fachschaft Russisch kämpfte erbittert um ihre Existenz. Die Schülerzahlen nahmen dennoch von Jahr zu Jahr ab, während die Spanischfraktion konstant zulegen konnte. Da sich sowohl Russisch als auch Spanisch um die Gunst der Ergänzungs- und Freifachschülerschaft stritten, herrschte zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der konkurrierenden Fachschaften alles andere als ein kollegiales Verhältnis. Ob dieser Zwist allerdings als Mordmotiv ausreichte, konnte bezweifelt werden. Andererseits erforderte ein Tötungsdelikt erfahrungsgemäß keinen vernünftigen Beweggrund.

Bei der Befragung der Sekretärin erfuhr die Untersuchungsleiterin, dass Frau Scherrer am frühen Morgen die Begegnungstafel in einen Überraschungstisch mit Grittibänz und Schokolade verzaubert hatte.

»Gerade als ich die Vorbereitungen abgeschlossen hatte, kam ein Lehrer ins Zimmer«, erinnerte sich die Sekretärin. »Er beachtete die Bescherung erst nicht, sondern strebte seinem persönlichen Brieffach zu. Erst nachdem er dieses konsultiert hatte, trat er an den Tisch, um Schokolade zu naschen. Da habe ich ihm aber die Meinung gesagt und gemeint, er solle gefälligst bis zur großen Pause warten.«

Frau Hauptmann Krüger notierte sich alles in ihrem Notebook und fragte nach: »Können Sie mir bitte den Namen dieses Lehrers sagen?«

»Selbstverständlich«, wunderte sich die Sekretärin. »Ich kenne das ganze Kollegium. Immerhin arbeite ich seit 23 Jahren an der Schule.«

»Also?«, hakte Frau Krüger freundlich nach.

»Ach so, ja, es war Hans Steffen.«

Die Untersuchungsleiterin schmunzelte. »Und? Hat er Ihren Einwand beherzigt?«