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Barnert/Kibler (Hrsg.)

Banken, Bembel und Banditen

Mord in Rhein-Main

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Zum Buch

Rhein-Main-CRIME! Unabhängig davon, ob wir uns im 50. Stock eines Frankfurter Finanzinstituts, in einer musealen Äpplerkneipe, im Darmstädter Naherholungsgebiet oder am Mainspitzdreieck befinden – letztlich bleibt nur eine beängstigende Erkenntnis: Im Rhein-Main-Gebiet gibt es überall Mörder und Banditen! Das beweisen in diesem Buch ortskundige, renommierte Autoren im Bermudadreieck zwischen Frankfurt, Wiesbaden und Darmstadt. In 19 Kurzgeschichten zieht sich ein bunter Reigen kriminellen Treibens durch die Region, in der über fünf Millionen Menschen leben. Die Buchmesse, die Banken, das urige Sachsenhausen, das bunte, ganz eigene Offenbach, der Jugendstil in Darmstadt oder das beängstigend große Heinerfest, die trügerischen Seiten der Landeshauptstadt Wiesbaden, aber auch die scheinbar idyllischen, ländlichen Gegenden – all das bietet Spannung und offenbart Abgründe verschiedenster Art, die unvermeidlich sind, wenn das eine zum anderen kommt …

Eric Barnert, Jahrgang 1968, lebt in seinem Geburtsort Darmstadt. Nach Jahren in Forschung und Lehre ist der promovierte Geologe und begeisterte Bergsportler freiberuflich tätig. Er verfasste zahlreiche Artikel über seine Bergerlebnisse und fand so den Zugang zum Schreiben. Gründlich recherchierte Fakten und authentische Charaktere spielen in seinen Büchern eine zentrale Rolle.

Michael Kibler wurde 1963 in Heilbronn geboren und ist Darmstädter aus Leidenschaft. Er studierte Germanistik, Filmwissenschaft und Psychologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt. 1998 promovierte er. Schreiben ist seine Passion, weshalb er seit 1991 als Texter arbeitet und bereits zahlreiche Krimis veröffentlicht hat.

Beide sind Mitglied des Syndikat e. V. – Verein zur Förderung deutschsprachiger Kriminalliteratur.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Stefan Daub, www.stefandaub.de

ISBN 978-3-8392-6566-6

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Eric Barnert: Die letzte Kugel

David Frogier de Ponlevoy: Lilienliebe

Michael Kibler: Die letzte Fahrt

Ralf Köbler: Der Tote am Stadtkirchturm

Andreas Roß: Braungebrannte und bitterböse Baggersee-Banditen

Ella Theiss: Träumerei

Uli Aechtner: Neunerregel

Franziska Franz: Bembel Horst

Ivonne Keller: Schlechte Presse

Andreas Schäfer: Jackpot

Leif Tewes: Der Sinn des Lebens

Roger Strub: Schweizer Momente

Belinda Vogt: Von null auf hundert

Dieter Aurass: Folter – rede oder stirb!

Bernd Köstering: Oldtimer

Christiane Geldmacher: Missing Link

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Markus Hoffmann: Speierling – Fleisch und Eisen

Richard Lifka: Es musste sein!

Fenna Williams: Muriels Plan

Die Autoren

Eric Barnert:
Die letzte Kugel

Die einen gehen ins Böllenfalltor-Stadion, andere fahren Rad, wandern im Odenwald, grillen mit Freunden, berauschen sich an den Exponaten eines Museums oder auch ganz praktisch bei einer Weinprobe. Vielleicht legen manche auch einfach nur die Füße hoch und lesen. Oder sie tun alles auf einmal. Nun ist es keineswegs so, dass wir so etwas nicht täten. Aber für uns beginnt jedes Wochenende am Freitagnachmittag auf der Darmstädter Mathildenhöhe mit Boulespielen. Zumindest von April bis Oktober, sofern es nicht gerade aus Kübeln schüttet. Das halten wir seit rund 20 Jahren so.

Im Schatten des Platanenhains der Großherzoglichen Bouleanlage unterhalb des Hochzeitsturms, inmitten der berühmten Jugendstilbauten von Olbrich und Behrens, lassen wir die Woche Revue passieren, witzeln über uns und unsere Partnerinnen, freilich etwas zurückhaltender, wenn eine davon dabei ist, trinken manchmal ein Glas Wein dazu, essen Baguette und Käse. Heute sind wir unter uns.

Es ist Anfang Juni, das Blätterdach hat sich bereits geschlossen, das Grün der Bäume fließt ineinander und lässt die Sonnenstrahlen nicht bis auf den feinen Kies am Boden durchdringen, unser Spielfeld, auf dem wir üblicherweise in zwei Mannschaften gegeneinander antreten. So haben alle genug Zeit für das Drumherum, was mindestens genauso wichtig ist wie das Spiel selbst.

Sechs Freunde, allesamt Architekten, die sich während des Studiums in Darmstadt kennengelernt haben, alle inzwischen mit ein paar Kilo mehr auf den Rippen und ein paar Haaren weniger auf dem Kopf, alle zwischen Mitte und Ende 40, manche mit Kindern, manche verheiratet, manche arbeiten als Architekten, andere haben umgeschult, denn nirgendwo in Deutschland gibt es mehr Architekten pro Einwohner als in Darmstadt. Wer nicht wegziehen will, muss deshalb manchmal in Kauf nehmen, nicht in seinem Beruf zu arbeiten.

So ist es auch bei Michael und Karl. Michael arbeitet inzwischen auf dem Sportamt der Stadt, Karl wenigstens noch in der Immobilienabteilung der Sparkasse.

Auch Alfred hat der Architektur den Rücken gekehrt, er programmiert jetzt bei einer Software-Firma.

Nur Peter, Sven und ich arbeiten noch als Architekten. Peter bei der staatlichen Bauverwaltung, wo er sich mit Ausschreibungen für öffentliche Bauvorhaben beschäftigt, während Sven und ich jeweils ein kleines Architekturbüro betreiben, oder anders formuliert, wir sind die Einzigen, die wirklich Häuser bauen und zuweilen auch stolz darauf. Ehrlicherweise sei erwähnt, dass wir jedoch meist unsere Brötchen mit kleineren Renovierungen oder Umbauten im Auftrag von privaten Immobilienbesitzern verdienen. Dass Karl uns immer wieder Bauherrn vermittelt, die bei ihm eine Sparkassen-Immobilie gekauft haben, verrate ich hier nur am Rande, nicht dass er noch Ärger bekommt.

Alfred, dem Programmierer, kommt das Verdienst zu, unsere Runde ins Leben gerufen zu haben, und er ist vielleicht der Einzige, der das Boulespiel wirklich beherrscht und ernst nimmt. Wobei wir alle im Laufe der Jahre einen gewissen Ehrgeiz entwickelt haben, was aber keiner zugeben würde.

An diesem Freitag spielen die umgelernten gegen die praktizierenden Architekten, also drei gegen drei, ein sogenanntes Triplette, jeder hat zwei Kugeln. Diese Konstellation ergibt sich immer wieder, obwohl Peter, Sven und ich meistens verlieren. Aber so ist am meisten Raum, um sich zu unterhalten, zu scherzen, etwas zu trinken und zu essen. Außerdem sind meist noch andere Gruppen da, eigentlich immer dieselben, man kennt sich und tratscht entspannt.

Eben hat der schmächtige Alfred seine letzte Kugel ganz knapp neben der kleinen Holzkugel, dem sogenannten »Schweinchen«, platziert. Es steht ohnehin schon acht zu sechs für die nicht praktizierenden Architekten, und es zeichnet sich eine unserer üblichen Niederlagen ab. Aber noch sind es ein paar Punkte bis 13, und deshalb ist Sven kämpferisch, als er sich in den Kreis stellt, um die letzte Kugel noch näher an das Schweinchen zu werfen. Wenn er Alfreds Kugel herausschießen und zugleich seine daneben platzieren könnte, würden wir gleichziehen, es stünde acht zu acht, denn auch die Kugel mit der zweitbesten Platzierung ist eine der unsrigen.

Er hält seine Kugel am langen Arm in der rechten Hand, die nach hinten geöffnet ist, schwingt erst nach vorne, nimmt Maß über seinen Arm, geht in die Knie, lässt den Arm nach hinten durchschwingen, streckt dann gleichzeitig die Beine und wirft die Kugel nach vorne.

Und genau in diesem Moment, als die Kugel seine Hand verlässt und in einem hohen Bogen in Richtung des Schweinchens fliegt, fällt er der Kugel hinterher, er macht ein glucksendes Geräusch dabei, so etwas wie ein »Uh«, zischt den Atem zwischen den Zähnen hindurch und landet der Länge nach auf dem Boden. Es sieht lustig aus, und ich ziehe spontan die Mundwinkel hoch zu einem Grinsen, aber gleich darauf begreife ich, dass es nicht zum Lachen ist.

Peter, der, wie wir alle, zuerst nur auf die Kugel geachtet hat, ruft noch enthusiastisch: »Ja! Die kommt genau richtig!«, und in der Tat trifft sie mit einem »Klack« eine der gegnerischen Kugeln, genau jene, die bislang am nächsten an der kleinen Zielkugel lag und bleibt, statt ihrer, wenige Zentimeter entfernt liegen. Unentschieden.

Ich schaue in Richtung Hochzeitsturm und sehe ein paar Passanten, dann wandert mein Blick zurück zu Sven, der keine Anstalten macht wieder aufzustehen. Auch Peter wendet nun den Kopf zu ihm und ruft erstaunt: »Oh!«, während ich schon bei unserem am Boden liegenden Freund bin, um ihm aufzuhelfen. Jetzt erst bemerke ich ein Loch in seinem T-Shirt und realisiere, dass etwas nicht stimmt, dass gerade etwas aus dem Ruder läuft, dass hier etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Ich knie mich neben ihn und hebe seinen Kopf. Er stöhnt und ringt nach Luft. Deshalb drehe ich ihn etwas und sehe das Blut, das aus seiner Brust fließt, oder genauer gesagt, es spritzt mir regelrecht entgegen und tropft auf den Kies.

»Ruft einen Krankenwagen, schnell, Krankenwagen, Polizei. Los, macht schon«, schreie ich, gestikuliere unbeholfen und habe ein ganz mieses Gefühl dabei. »Ist hier ein Arzt oder Sanitäter?«, frage ich laut und schaue mich um. »Wir haben einen Notfall!«

Die benachbarten Gruppen hören auf zu spielen und kommen zu uns. Alle schauen ratlos in die Runde. Es ist keiner dabei, der uns helfen könnte. Also drehe ich Sven in die Seitenlage, auf die Seite, wo das Loch ist, damit, sollte dort die Lunge verletzt sein, der andere Lungenflügel frei bleibt zum Atmen. So viel weiß ich noch von meinem letzten Erste-Hilfe-Kurs. Glaube ich zumindest.

»Georg, hilf mir bitte«, flüstert Sven mir zu und ich höre mich sagen: »Ja, ich helfe dir, halt durch, das Krankenhaus ist ja gleich nebenan«, denn ich sehe es direkt vor mir, nur hundert Meter weg, das wird mir gerade erst klar. Das könnte die Rettung sein.

»Renn mal jemand zum Alice-Hospital und hol Hilfe, schnell!« brülle ich.

Ich ziehe mein T-Shirt aus und versuche damit das Loch zuzuhalten, aber es ist in kurzer Zeit voller Blut. Ich drücke trotzdem weiter.

Alfred rennt los, Karl hat schon die 112 angerufen, jetzt ruft er im benachbarten Krankenhaus an.

Alles ist ganz real, trotzdem passiert es wie in Zeitlupe, und es dauert viel zu lange. Sven hustet, Blut kommt aus seinem Mund, er röchelt, ich drücke auf die Wunde und bitte ihn ein weiteres Mal durchzuhalten.

Er atmet nur noch flach, er zuckt, spuckt noch einmal, dann verliert sein Körper die Spannung. Er bewegt sich nicht mehr. Seine Augen sind starr.

In der Ferne erklingt die Sirene eines Rettungswagens, die rasch lauter wird.

»Sven! Sven, hörst du? Bleib bei uns, komm schon, du hast es gleich geschafft. Sven? Scheiße! Bitte, Sven.« Es hilft nichts, er atmet nicht mehr.

Ich drehe ihn auf den Rücken, und Peter drückt nun das blutdurchtränkte T-Shirt auf das Loch in Svens Brust. Dann beuge ich mich über Sven und beginne mit der Herzdruckmassage, nach kurzem Zweifeln, denn das Loch ist nicht weit daneben. Ich beatme ihn. Die Sanitäter sind endlich da, und ich weiche zurück. Fast gleichzeitig kommen noch zwei Ärzte vom Alice-Hospital. Sie versuchen alles. Erfolglos. Sven ist tot. Ich stehe wie erstarrt daneben und möchte weinen, aber es geht nicht.

*

Kurz nach den Rettern ist die Polizei da. Sie sperren alles ab, nehmen die Personalien der Anwesenden auf und vernehmen uns. Die Spurensicherung trifft ein, während wir mit dem Ermittler reden, ein erfahrener Haudegen, wie es den Anschein hat.

»Guten Tag, mein Name ist Klaus Miller, ich bin Hauptkommissar beim Kommissariat 10 hier im Polizeipräsidium. Wir sind auch für Tötungsdelikte zuständig, und wie es ausschaut, liegt im Falle Ihres Freundes Sven Arnold leider ein solches vor. Bitte sagen Sie mir doch Ihre Namen. Danach würde ich mich da vorne gerne mit jedem von Ihnen unterhalten, wenn Sie einverstanden sind.«

Wir sind einverstanden. Alfred geht als Erster zu ihm, dann bin ich dran.

»Berichten Sie mir doch bitte, wie Sie den Tathergang erlebt haben.«

Ich erzähle, was ich mitbekommen habe. Hinweise zum Täter kann ich aber, wie alle anderen auch, nicht geben. Nicht mal einen Schuss habe ich gehört. Das Einzige, was ich Hauptkommissar Miller zeigen kann, ist, wo und in welcher Haltung Sven stand, als er seine letzte Kugel warf. Das sei wichtig, um den Standort des Schützen eingrenzen zu können, und erleichtere das Finden des Projektils, das meinen Freund getroffen habe, erklärt mir der Hauptkommissar. Dann nimmt er mich zur Seite, und wir setzen uns auf zwei Stühle vor dem Café, einer sympathischen Hütte aus Holz, die am Rande des Platanenhains steht.

Er befragt mich zu Svens Lebenssituation, meinem Verhältnis zu ihm, beruflichen Verbindungen und dergleichen. Schließlich kommt die Frage, auf die ich schon gewartet habe.

»Hatte er Feinde? Haben Sie eine Vorstellung, wer Interesse am Tod Ihres Freundes gehabt haben könnte?«

»Ja!«, sage ich und beginne zu erzählen. Von Luigi Ferraro, dem Karl bei der Sparkasse eine Immobilie in Darmstadt-Arheilgen verkauft hat. Wie er diesem Ferraro unseren Sven als Architekten empfahl. Dass sich beide einig waren, auf dem betreffenden Grundstück ein kleines Haus abreißen zu lassen, um dort ein Mehrfamilienhaus mit Feinkostgeschäft und Restaurant zu errichten. Dass sich Sven bei Karl noch bedankt habe, ohne zu ahnen, dass ihm dieser Kunde mal derart Ärger machen würde. Aber natürlich könne Karl nichts dafür, erkläre ich. Hauptkommissar Miller unterbricht mich und will wissen, weshalb ich das glaube. »Wegen der Anzeige«, sage ich. »Der Ferraro ist ein Mafiosi, wenn Sie mich fragen. Er hat Sven dazu gedrängt, einen bestimmten Rohbauer zu beauftragen, der in der Ausschreibung recht günstig war. Das war ja an sich erst mal kein Problem.«

»Sondern?«

»Die Arbeiterkolonne, die dann kam. Sven hat bald mitgeschnitten, dass die alle schwarzgearbeitet haben. Daraufhin hat er mit dem Ferraro gesprochen, dass so was nicht geht. Der hat ihm erst gesagt, dass er sich keine Sorgen machen solle, er sei sich sicher, dass die Baustelle nicht kontrolliert würde.«

»Aha. Woher wollte er das wissen?«

»Nun, er wird wohl damit gemeint haben, dass er gute Beziehungen zum Zoll hat, der ja dafür zuständig ist, nicht wahr?«

»Ja, das ist er. Und weiter?«

»Sven ist zum Schein darauf eingegangen und hat trotzdem Anzeige erstattet. Dann mussten sie kontrollieren. Und in der Tat, nicht einer der Arbeiter hatte einen Sozialversicherungsnachweis, nur zwei sprachen deutsch. Das war das Ende der Zusammenarbeit zwischen Sven und diesem Luigi. Was glauben Sie, wie Karl sich da schon geschämt hat, dass er Sven diesen korrupten Mensch vermittelt hatte. Aber es wurde noch schlimmer, denn nachdem Sven den Vertrag gekündigt hat, wollte Ferraro ihm sein Geld nicht bezahlen. Schließlich hat ihn Sven verklagt und gewonnen. Das Ganze wurde sehr teuer für den Herrn Ferraro, denn für die Schwarzarbeiter, die er wissentlich beauftragt hatte, musste er noch mal richtig hinblättern. Das Haus wurde dann erst ein Jahr später fertig. An Ihrer Stelle würde ich mir den Kerl sofort vornehmen, er betreibt jetzt die Pizzeria und den Laden dort. Es ist einfach zu finden, ich schreibe es Ihnen auf.«

»Danke. Wir werden mit Herrn Ferraro reden. Fällt Ihnen noch jemand ein?«

Ich überlege kurz und schüttele dann den Kopf.

»Nein, Sven war ein sehr lieber und verlässlicher Freund. Außer diesem Typen wüsste ich auch niemanden, der Sven nicht mochte. Haben Sie Svens Frau schon verständigt?«, frage ich.

»Ein Kollege ist gerade zu ihr unterwegs.«

Danach ist Karl dran. Ich sehe, wie seine Hände zittern, als er zurückkommt.

Hauptkommissar Miller bestellt uns alle für den kommenden Tag auf das Präsidium, gibt uns seine Karte, falls uns noch etwas Wichtiges einfällt, und verabschiedet sich, weil er gerufen wird. Offenbar haben sie das Projektil gefunden. Es steckt in einem Baum.

*

Danach sitzen wir alle bei Maria, Svens Frau, oder genauer gesagt, seiner Witwe. Ein Kommissar ist bei ihr gewesen, um die schreckliche Nachricht zu überbringen. Ihr Sohn Ole kommt abends noch dazu, aus Heidelberg, wo er unter der Woche studiert, Medizin im achten Semester. Vorher ist er Rettungswagen gefahren.

»Mutter, ich hätte Papa auch nicht helfen können, wenn ich dabei gewesen wäre, das Projektil hat offenbar die Aorta verletzt, meinte der Kollege. Ihr braucht euch keine Vorwürfe zu machen«, sagt er in die Runde und meint uns.

Ole hat die Kollegen angerufen, die als Ersthelfer vor Ort waren. Was er uns mitteilt, beruhigt uns nur wenig.

Unterdessen raschelt es im angrenzenden Büro. Hauptkommissar Miller und zwei weitere Beamte sichten die Unterlagen, um Indizien für den Tathintergrund zu finden. Einige Ordner und Materialien packen sie in Kartons, um sie auf der Dienststelle genauer zu studieren. Ab und an dringen gedämpfte Stimmen zu uns herüber.

Karl sieht noch schlimmer als Maria aus. Ich weiß genau, was in ihm arbeitet, und kann ihm doch nicht helfen.

»Wisst ihr von dem Umschlag, den Sven vor einem halben Jahr bekommen hat?«, sagt sie.

»Was für einen Umschlag meinst du?« frage ich.

»Er hat damals einen Umschlag mit einer Patrone bekommen. Das war fast ein Jahr nach dem Gerichtsurteil. Vielleicht haben sie extra so lange gewartet, damit der Zusammenhang nicht so offensichtlich ist. Hat er euch nichts davon erzählt?«

»Nein, keinen Ton. Hast du den Umschlag noch?«, möchte Alfred wissen.

»Hat Sven die Polizei informiert? Ich meine, das war doch eine konkrete Drohung, oder?«, wirft Michael noch ein.

»Ja, das hat er. Die haben auch den Umschlag. Sie haben eine Weile ermittelt und auch mit Luigi Ferraro gesprochen. Er hat natürlich abgestritten, dass er etwas damit zu tun hat.«

»Und was habt ihr darüber gedacht?«

»Sven war sich sicher, dass er es war. Er hat ihn für einen Kriminellen gehalten, nach der ganzen Sache mit den Schwarzarbeitern. Und dieser Ferraro hat ihm damals schon gedroht, als Sven sagte, er müsse das anzeigen. Natürlich nicht vor Zeugen.«

»Und was kam dann am Ende heraus?«

»Nichts. Nach drei Monaten wurden die Ermittlungen eingestellt. Er solle sich melden, wenn wieder etwas vorkäme, hat die Polizei gesagt.«

»Und jetzt ist er tot!«, bemerkt Karl bitter.

Bevor ich mich verabschiede, übergebe ich Maria noch Svens Boulekugeln. Wir hatten sie bei einem gemeinsamen Urlaub in der Provence auf einem Flohmarkt gekauft. Sie drückt sie still weinend an sich.

Als ich das Treppenhaus hinuntergehe, laufen auch mir die ersten Tränen über die Wangen, endlich.

*

Schon wieder ein Gewitter. Seit Tagen gibt es immer wieder welche, nur gestern, an diesem furchtbaren Freitag, war das Wetter tagsüber stabil. Leider. Vielleicht wäre das sonst alles nicht passiert.

Ich sitze rauchend allein zu Hause auf dem überdachten Balkon, vielleicht einen Meter von mir entfernt fällt der Regen in langen Fäden hinab und prasselt auf die Straße. Eigentlich eine dumme Idee Zigaretten zu kaufen, nachdem ich mit dem Rauchen vor ein paar Jahren aufgehört habe, aber heute Mittag, nachdem wir alle das Polizeipräsidium verlassen hatten, spürte ich ein unheimliches Verlangen danach. Und eine vollkommene Gleichgültigkeit, ob es mir irgendwie schaden könnte. Zu viele Gedanken, zu viel Verzweiflung, zu viel Wut spürte ich, und das ist jetzt immer noch so, es wird auch nicht besser. Ich sehe immer wieder Sven, sehe seine Kugel hoch durch die Luft fliegen, sehe, wie er fällt, wie er mich anfleht, und den Moment, in dem er stirbt.

Nachher kommt Anna, die mich sicher trösten wird und die ich liebe, aber ich möchte mit jemandem reden, der sich auskennt. Mit jemandem, der meine Nöte versteht und Fragen beantwortet, ohne mich zu vernehmen. Schließlich überwinde ich mich und beschließe, meinen Freund Bernd Friedrich anzurufen, mit dem ich nicht nur zur Schule gegangen bin, sondern dem ich auch ein Haus gebaut habe, wie ich finde sogar ein besonders schönes. Er sieht das glücklicherweise auch so. Außerdem ist er Kriminalrat und arbeitet im Kommissariat 10 in Darmstadt: Tötungs-, Brand- und Sittendelikte.

*

Bernd empfängt mich herzlich am kommenden Abend. Er weiß schon alles, natürlich. Er ist ja ein Vorgesetzter des Hauptkommissars Miller. Außerdem stand das Meiste inzwischen schon im »Darmstädter Echo«.

»Georg, ich kann dir nicht viel Neues berichten, und ich darf es auch gar nicht. Der Schuss wurde offenbar durch die Hecke abgegeben, die an den Weg zwischen Platanenhain und Alice-Hospital grenzt. Wir konnten das recht zuverlässig rekonstruieren. Der Schütze muss einen Schalldämpfer benutzt haben und ist danach durch das Gelände des Hospitals in Richtung Dieburger Straße geflüchtet. Dort hat er wahrscheinlich ein Fluchtfahrzeug bestiegen. Wir suchen noch nach Zeugen, ein paar haben wir schon, aber die Aussagen sind widersprüchlich. Das ist aber meistens so. Insgesamt würde ich sagen, dass da ein Profi am Werk war. Aber das ist nur eine Vermutung. Mehr kann ich dir nicht verraten, entschuldige bitte.«

»Sind das die berühmten ermittlungstaktischen Gründe?«, frage ich ihn.

»Wenn du so willst, ja. Du kannst mich alles fragen, aber du darfst nicht erwarten, dass du immer Antworten bekommst, die dir weiterhelfen. So ist es nun mal. Sorry. Ich hoffe, das ändert nichts an unserer Freundschaft, mir sind da die Hände gebunden. Aber glaube mir bitte, es ist auch im Sinne der Sache, sonst würde ich das nicht machen.«

Ich glaube ihm, denn ich weiß, dass er einer von den Guten ist. Aber in mir brennt es. Wir trinken zwei Flaschen Rotwein, ohne dass ich mehr erfahre. Ich verstehe jetzt, dass es Geduld braucht, wenn man Gerechtigkeit möchte.

Eine Woche später tragen wir Svens Sarg zu Grabe. Ein furchtbarer, trauriger Tag.

*

Ab und an treffe ich mich mit Bernd und versuche etwas zu erfahren, aber offenbar gibt es nichts zu erzählen. Die Ermittlungen laufen weiter, aber führen trotz Verdachts zu keiner Festnahme. Auch die ausgesetzte Belohnung hat offenbar keine verwertbaren Hinweise gebracht. Das K 10 leitet immer noch die Ermittlungen, würde es seriöse Anhaltspunkte auf Verbindungen zur Mafia geben, hätte schon das Zentralkommissariat 30 übernommen, das sich um die organisierte Kriminalität kümmert, verrät er mir.

Wir sind ernüchtert. Karl schlägt vor, Maria solle doch ihren Anwalt in die Ermittlungsakten schauen lassen und uns informieren. Vielleicht hätte dann ein Privatermittler Chancen, mehr herauszufinden. Aber da die Ermittlungen noch laufen und der Anwalt erst danach, wenn die Akten bei der Staatsanwaltschaft liegen, Einsicht bekommt, macht das keinen Sinn.

Die Wochen und Monate vergehen, wir treffen uns manchmal, trinken etwas zusammen, aber seit diesem Tag im Juni gehen wir nicht mehr Boulespielen. Alfred fragt ab und zu, aber irgendwie wollen wir erst mal nicht mehr. Aus Respekt vor Svens Tod, vielleicht auch einfach aus Angst. Niemand möchte das noch mal erleben.

Alles ändert sich an einem trüben, verregneten Tag Mitte November. Zuerst höre ich es im Radio. Am Vorabend sei ein Wirt in Darmstadt-Arheilgen in seinem Restaurant einer Gewalttat zum Opfer gefallen.

In der Hessenschau sehe ich dann die Bilder der Pizzeria von Luigi Ferraro. Die Freunde rufen an, als Erstes Michael. Er ist aufgeregt und hat schon mit Karl gesprochen, der in den letzten Monaten immer depressiver wurde und inzwischen zu einem Therapeuten geht. Die Nachricht von Luigis Tod hätte ihn geradezu in Hochstimmung versetzt, schildert Michael. Wer kann es ihm verdenken, hoffentlich lässt ihn das seine Lebenskrise besser überstehen.

Wir sind uns einig, dass wir niemandem den Tod wünschen, aber in diesem Fall hat es nicht den Falschen getroffen. Wahrscheinlich war es eine Abrechnung im kriminellen Milieu, vermutet Peter und spricht aus, was ich auch glaube. Trotzdem werden wir jetzt sicher noch mal vernommen, spekuliert er. Und er soll recht behalten.

*

Am nächsten Morgen sind sie schon da. Hauptkommissar Miller sitzt in meinem Wohnzimmer und erkundigt sich nach meinem Alibi. Rein routinemäßig, sagt er, er müsse das tun, obwohl er nicht glaube, dass ich oder einer meiner Freunde mit der Tat in Verbindung stünden.

Ich sei an dem Abend mit meiner Freundin zum Essen in einem Lokal am Riegerplatz gewesen, danach habe sie bei mir übernachtet, erzähle ich wahrheitsgemäß. Schließlich hat Miller noch eine Bitte.

»Würden Sie mir bitte mal Ihre Boulekugeln zeigen?«

»Gerne«, antworte ich überrascht, stehe auf und nehme sie aus dem Schrank. »Weshalb das denn?«, frage ich, als ich sie ihm überreiche.

»Herr Ferraro wurde mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Es ist bloß eine fixe Idee, die ich ausschließen möchte, mehr nicht. In unserem Beruf müssen wir vielen Möglichkeiten nachgehen, wenn wir mal einen Treffer landen möchten. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich nehme die Kugeln mit und bringe Sie Ihnen bald zurück. Ist das in Ordnung?«

»Ja, natürlich. Wissen Sie, wir haben seit Svens Tod ohnehin nicht mehr gespielt. Die Kugeln liegen seit Juni hier im Schrank.«

»Traurig. Ich hoffe, Sie spielen bald wieder.«

»Ich weiß es nicht. Im Frühling vielleicht. Im Grunde brauchen wir ja auch noch einen sechsten Mann. Vielleicht möchten Sie ja mal mitgehen.«

»Normalerweise gerne, ich weiß Ihre Einladung zu schätzen, aber es ist bei uns leider nicht üblich, dass wir zu Beteiligten in einem Fall private Kontakte aufbauen. Auch wenn ich sicher bin, dass Sie keine Schuld trifft. Es tut mir leid.«

»Oh, nicht schlimm, das kann ich verstehen.«

»Wo kauft man eigentlich solche Boulekugeln?«

»Da gibt es ein Fachgeschäft hier in Darmstadt, es heißt ›Au Fer‹, fast alle kaufen ihre Kugeln dort.«

»Sie auch?«

»Ja, die sind auch daher. Allerdings habe ich sie vor vielen Jahren von unserem Freund Alfred zum Geburtstag bekommen. Der Laden liegt am Friedrich-Ebert-Platz im Martinsviertel.«

»Danke. Ich melde mich bei Ihnen.«

Dann geht er mit meinen Kugeln davon. Ich rufe die anderen an, die alle auch gerade Besuch von der Polizei hatten. Und alle haben keine Boulekugeln mehr im Haus. Selbst bei Maria waren sie und haben Svens Kugeln mitgenommen. Sie klingt ein bisschen aufgeregt und möchte gerne mit mir reden. Ich solle doch abends vorbeikommen, meint sie.

Nur Karl kann ich nicht erreichen, später ruft er mich an und berichtet, dass sie seine Wohnung durchsucht, ihn mit aufs Präsidium genommen und so lange befragt haben, bis sein Alibi geklärt war. Armer Kerl. Hoffentlich kann er jetzt mal zur Ruhe kommen.

Als ich abends bei Maria sitze, erzählt sie mir etwas Seltsames.

»Weißt du, Georg, heute Morgen bin ich zum Schrank in Svens altem Arbeitszimmer gegangen, um die Boulekugeln zu holen. Du weißt vielleicht, dass wir drei Sets hatten. Zwei neue, die er uns mal zu Weihnachten geschenkt hat, damit wir zusammen spielen können. Und seine alten, die vom Flohmarkt. Du erinnerst dich sicher, dass wir die damals im Urlaub zusammen gekauft haben, oder? Du hast sie mir an dem Tag zurückgegeben, als er starb.«

»Ja, ich erinnere mich. Sven liebte seine alten Kugeln.«

»Genau, und das ist eben das Seltsame. Sie sind nicht mehr da. Obwohl ich mir sicher bin, dass ich sie damals zu den anderen gelegt und seitdem nicht wieder rausgenommen habe.«

»Wirklich? Komisch. Hast du das der Polizei gesagt?«

»Nein. Ich habe es mit der Angst zu tun bekommen. Was, wenn Ole sie genommen hat, um diesen Luigi … Du verstehst?«

»Um seinen Vater zu rächen?«

»Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber ich wollte in diesem Moment nicht unseren Sohn belasten.«

»Das hast du völlig richtig gemacht. Wir sind uns ohnehin einig, dass es wahrscheinlich irgendwelche Mafiosi waren, die mit Luigi abgerechnet haben. Es ist nicht nötig, auch noch Ole damit zu belasten. Er hat genug gelitten und du auch, liebe Maria.«

»Danke, Georg. Danke, dass du da bist«, sagt sie, steht auf und nimmt mich in die Arme. Ich drücke sie fest an mich, und sie schluchzt leise.

Wir waren alle oft bei Maria. Und wir wussten alle, wo Sven seine Kugeln aufbewahrte. Vielleicht war es doch kein Mafiosi, denke ich und hoffe gleichzeitig, dass ich mich irre.

*

Als ich höre, dass alle Freunde ein Alibi haben, bin ich erleichtert. Auch Ole haben sie befragt, er war an dem Abend in Heidelberg auf einer Party, zum Glück. Anfang Dezember kommt Hauptkommissar Miller und bringt meine Kugeln zurück.

»Und, sind Sie fündig geworden?«

»Eigentlich darf ich Ihnen das nicht sagen, aber ich mache eine Ausnahme. Nein, bin ich nicht. Und ich bin froh darüber. Ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe, Sie können bald wieder zusammen damit spielen.« Er zeigt auf die Kugeln in meiner Hand. »Wenn wir etwas herausfinden, werden Sie es erfahren. Wenn Ihnen etwas auffällt, melden Sie sich oder erzählen Sie es einfach meinem geschätzten Kollegen Kriminalrat Friedrich. Sie sehen ihn ja ab und zu, wie ich weiß«, sagt er und lächelt mich etwas verschwörerisch an.

»Ja, das ist richtig, wir kennen uns seit der Schule.«

»Prima, wenn Freundschaften so lange halten. Noch mal alles Gute.«

Er gibt mir die Hand. Dann geht er. Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe.

*

Als der Frühling kommt, ist weder Svens Tod noch der Mord an Luigi Ferraro aufgeklärt.

Bernd verrät mir eines Abends, warum sie vor einem halben Jahr unsere Kugeln eingesammelt hatten. Ich muss ihm versprechen, es für mich zu behalten, bis der Fall geschlossen ist, sonst käme er in Teufels Küche.

Der Gerichtsmediziner hatte seinerzeit winzige Metallsplitter in Ferraros eingeschlagenem Schädel gefunden. Im Landeskriminalamt wurden sie mit allerlei Spezialanalytik untersucht, sogar mittels Elektronenmikroskopie und dergleichen. Es bestand der Verdacht, dass es Absplitterungen einer Boulekugel waren. Aber die Legierungen unserer Kugeln passten nicht dazu. Auch hafteten keine Blutspuren, Hautpartikel oder Haare des Opfers an ihnen. Überhaupt haben sie bis heute keine Kugel gefunden, die dieser Zusammensetzung entsprach.

Das beruhigt mich.

»Hm. Ich muss dich jetzt etwas fragen, Bernd, und ich hoffe, dass du ja sagst.«

»Frag nur, was möchtest du?«

»Wir waren jetzt seit dem Mord an Sven nicht mehr Boulespielen. Einerseits konnten wir doch nicht einfach weiterspielen, nachdem Sven nicht mehr da war. Und es gibt auch den einen oder anderen unter uns, der Angst hat. Verstehst du?«

»Ja, das kann ich gut verstehen. Und wie kann ich euch da helfen?«

»Könntest du nicht mitgehen, wenn wir wieder anfangen zu spielen? Ich meine, dann wären wir wieder zu sechst, und wenn ein Polizist dabei wäre, würden wir uns sicher besser fühlen.«

»Hm. Okay, ich gehe mit. Ich kenne deine Freunde ja ganz gut von deinen Geburtstagen und so weiter.«

»Würdest du deine Waffe mitnehmen, wenn du das darfst?«

»Wenn ich meinen Dienstausweis dabeihabe, dann darf ich auch die Waffe mitnehmen, das geht. Gut, von mir aus. Wann spielt ihr denn wieder?«

»Na ja, vielleicht am übernächsten Wochenende. Ich frage erst mal die anderen, die werden sich freuen, glaube ich. Danke, Bernd!«

»Keine Ursache.«

*

Alfred hat gestern angerufen. »Wenn wir uns schon nicht mehr trauen, Boule zu spielen, wie wäre es dann mit einer Radtour?«, hat er vorgeschlagen.

Jetzt ist es Sonntagmorgen und Alfred klingelt. Nach Rheinhessen möchte er fahren, von Griesheim aus durch die Felder, dann mit der Fähre über den Rhein nach Oppenheim, wo wir Mittagessen gehen und ein paar Gläser Wein genießen könnten. Ein guter Plan, wie ich finde.

Eben geht es dahin, gemütlich und nicht sonderlich anstrengend. Wir sind nur zu zweit, alle anderen waren schon verplant, es war offenkundig zu kurzfristig.

So radeln wir etwas später durch die Wiesen, es ist Mai, überall sprießt es, und an den Rändern der Felder recken sich Blumen bunt der Sonne entgegen.

»Du weißt ja, dass ich zweimal bei Luigi zum Essen war«, meint Alfred.

»Ja, du bist da ja gesehen worden, wie der Hauptkommissar erzählt hat. Du hast gesagt, du wolltest wissen, wie der Typ aussieht. Und?«

»Richtig. Er war einer von der Art, die vordergründig höflich und herzlich tun, aber ich fand ihn widerlich. Sein Grinsen fiel herunter, wenn er sich vom Tisch der Kunden abgewandt hat, mit denen er direkt davor noch gescherzt hat. Ich habe es genau beobachtet. Widerlich, einfach widerlich. Ein berechnender Widerling. Ich habe nicht lange gebraucht, um ihn zu hassen.«

»Na ja, mit der Vorgeschichte hätten wir ihn wahrscheinlich alle gehasst.«

»Natürlich hätten wir das.«

»Wie auch immer, er hat seine Strafe bekommen, wenn auch wahrscheinlich aus einem anderen Grund. Was genau gelaufen ist, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Mafia halt.«

»Tja, wie humorlos die sind, haben wir ja erlebt.«

Wir rollen weiter und wechseln das Thema. Nachdem wir mit der Fähre übergesetzt haben, radeln wir den Rhein entlang und erreichen schließlich unser Ziel, den Marktplatz unterhalb der Katharinenkirche.

Die Wahl fällt auf ein alteingesessenes Weinlokal, es gibt auch Italiener dort, aber für Alfred kommt das nicht infrage, und auch ich hätte zurzeit ein komisches Gefühl dabei. Außerdem wollen wir ja heimischen Wein trinken. Also sitzen wir an einem Tisch vor der Schänke, trinken Riesling und warten auf das Essen. Der ernährungsbewusste Alfred hat sich wie immer etwas Vegetarisches bestellt, während ich mir einen deftigen Sauerbraten gönne. Wir sind früh dran, und so gibt es kaum andere Gäste.

»Gut, dass es Karl wieder besser geht«, meine ich. »Er konnte wirklich nicht wissen, dass dieser Luigi so ein Arschloch ist.«

»Nein, das konnte er nicht. Du hättest diesen Kerl mal erleben sollen, wirklich, ein total gerissener Hund. Der hat den Karl genauso benutzt, wie er Sven verarscht hat. Aber klar hat sich der Karl die Schuld gegeben, vielleicht hätten wir das an seiner Stelle auch getan.«

»Das kann schon sein, ja.«

»Aber ich finde, wir sollten wieder Boule spielen«, meint Alfred. »Vielleicht bekommen wir ja Polizeischutz«, sagt er bitter lachend.

»Da habe ich auch schon drüber nachgedacht. Lass dich mal überraschen. Ich glaube, so etwas in der Art lässt sich organisieren.«

»Wirklich? Dann mach das, es kann doch nicht sein, dass wir einfach aufgeben. Ich denke, Sven hätte das so gewollt.«

»Stimmt, das glaube ich auch.«

Wir essen, bezahlen und radeln mit etwas schweren Beinen zurück zur Fähre. Zum Glück geht es anfangs nur bergab.

»Weißt du, ich war noch mal dort.«

»Wo?«, frage ich.

»Na, bei diesem Luigi.«

»Aha, und warum?«

»Also die bessere Frage wäre, wann, aber ich denke, das wirst du gleich verstehen. Erst habe ich überlegt, ob ich diesem Luigi nicht eine Boulekugel in einem Päckchen schicken soll, wegen des Briefs mit der Patrone, verstehst du? Das wäre eine coole Reaktion gewesen. Aber natürlich auch ziemlich dämlich«, antwortet Alfred und tritt in die Pedale.

Ich lache, was für eine skurrile Idee, typisch Alfred.

Wir erreichen die Fähre, die gerade beladen wird und sich gleich darauf in Bewegung setzt.

»An dem Abend hatte ich meiner Familie einen Tee gekocht. Einen besonderen Tee. Weißt du, es war mir wichtig, dass alle gut schlafen. Verstehst du? Ich selbst habe Wasser getrunken.«

»Du meinst …?«, frage ich, spreche aber nicht zu Ende, denn Alfred bückt sich herab, greift in seine Fahrradtasche und holt eine Plastiktüte heraus. Es ist nicht viel drin, aber sie ist schwer. Er läuft an das Geländer hinter dem Aufbau der Fähre, ich gehe hinterher, er greift hinein und lässt eine Boulekugel in den Rhein fallen. Mir verschlägt es die Sprache.

»Als sie alle fest schliefen, bin ich los. Ich habe mich umgesehen, ob noch jemand den Laden observiert, aber da war kein Mensch, also habe ich gewartet, bis außer Luigi niemand mehr in der Kneipe war, und dann bin ich rein. Ich hatte ihn vorher schon beobachtet und gesehen, dass er meist als Letzter ging. Um ein Glas Rotwein auf die Schnelle habe ich ihn gebeten, er war gerade beim Abrechnen. ›Gut, einen Nero d’Avola‹, hat er gesagt. Er kannte mich ja schon. Ein neuer Stammgast. Bestens. Mit dem wollte er es sich nicht verscherzen. Als er den Wein brachte, hatte ich eine von Svens Boulekugeln vor mir auf den Tisch gelegt. So eine hier, vielleicht ist sie das sogar«, meint er, hält mir die Kugel entgegen und lässt sie dann ebenfalls ins Wasser fallen.

»Und weiter?«, frage ich.

»Da hatte er verstanden. ›Ah, du bist einer von diesen Boule-Freunden von Sven Arnold? Sieh an. Und du traust dich hierher!‹, hat er gebrüllt. Da war es vorbei mit dem schleimigen Gehabe. Von einem Moment auf den anderen. Du hättest mal seine Augen sehen sollen, total aggressiv, die haben mich durchbohrt.«

»Na ja, was hast du erwartet?«

»Nichts. Ich weiß, dass es gewagt war, da aufzutauchen. Aber er sollte doch wissen, dass wir uns nicht einfach unseren Freund umbringen lassen. Außerdem muss ihm ja klar gewesen sein, dass die Polizei ihn im Visier gehabt hat. Er konnte mich also nicht einfach vermöbeln oder mal eben umbringen. Und weißt du, was er dann gesagt hat?«

»Nein, was?«

»Du solltest dich jetzt ganz schnell verpissen, du Witzfigur, wenn du mit deinen Freunden in Zukunft noch mal ohne Angst Boule spielen willst! Raus mit dir, aber dalli!«, zitiert Alfred den Italiener. »Kannst du dir das vorstellen? Das hat er gesagt! Ohne mit der Wimper zu zucken! Der hat mich kein bisschen ernst genommen. Dabei hat er das halbvolle Weinglas abgeräumt, zur Tür gezeigt und sich umgedreht. Als hätte ich mich in Luft aufgelöst! Ich habe gezittert vor Wut. Ich lasse mir doch nicht das Boulespielen nach 20 Jahren von irgendeinem Fremden verbieten und dazu noch von diesem Schwein! Den ganzen Sommer haben wir uns nicht mehr getraut zu spielen!«

»Unglaublich! Und dann?« frage ich.

»Dann habe ich die Kugel genommen, bin die zwei, drei Schritte hinter ihm her und habe zugeschlagen«, sagt Alfred. »Das konnte ich doch nicht zulassen, oder? Ich meine, so was geht doch nicht?«

»Nein, Alfred. So was geht nicht.«

»Eben!«, murmelt er und lässt die letzte Kugel ins Wasser plumpsen.

*

Es ist ein traumhafter Freitag, keine Wolke weit und breit. Ganz klar steht der Hochzeitsturm vor dem blauen Himmel. Pünktlich um drei Uhr nachmittags erscheint Bernd mit Pistolenhalfter am Gürtel im Platanenhain, während Michael zur Feier des Ereignisses eine Flasche edlen Bordeaux öffnet. Karl hat Weißbrot und Käse mitgebracht.

Wir stoßen auf Sven an, Bernd mit Wasser, weil er, wenn er bewaffnet ist, keinen Alkohol trinken darf. Ich beobachte, dass fast alle feuchte Augen haben. Karl kämpft besonders mit den Tränen. Auch ich bin gerührt, wenn auch aus etwas anderen Gründen. Alfred schaut mich an, er wirkt ernst und sagt kein Wort.

Danach erkläre ich Bernd unser Spiel, und wir diskutieren, wer mit wem spielen soll.

»Nun, du hast mich eingeladen, aber ich glaube, mit mir kannst du nur verlieren«, sagt Bernd schulterzuckend.

»Ach, das glaube ich nicht. Wenn wir uns taktisch gut aufstellen, haben wir durchaus eine Chance. Lass uns Alfred mit in die Mannschaft nehmen«, schlage ich ihm vor.

»Warum?«

»Er ist der beste Spieler.«

»Aber ich bin dafür ziemlich sicher der schlechteste«, bekennt er ehrlich und lacht.

»Das ist kein Problem«, sage ich. »Deshalb wirfst du zuerst, danach ich und Alfred zuletzt.«

»Okay, wenn du meinst, dass das hilft?«

»Natürlich! So macht man das beim Boule! Den Besten zuletzt. So haben wir die größte Chance zu gewinnen«, erkläre ich ihm. »Denn, weißt du, die letzte Kugel … entscheidet oft das ganze Spiel.«