Christine Polacek-Eisner

Bruno und sein Bär

Neubearbeitung

Bruno und sein Bär

Für Bruno Luis

Bruno und sein Bär

1. Der Drache mit den grünen Haaren

2. Der Riese mit dem Sprachfehler

3. Das Zwergenland A & das Zwergenland E

4. Bodo, das Monster mit dem freundlichen Gesicht

5. Die Häuser der bösen Baronessen

6. Die schönen Königinnen

7. Die Nebeltrolle

8. Das Rotkehlchen Gottfried

9. Der silberne Fisch

10. Im Tal der roten Rosen

11. Die Kräuterhexen

12. Riese Wilfried und Zwerg Motzi

13. Wichtel Wulli weint

14. Das Eichhörnchen Felix

15. Der Zwerg mit der lila Jacke

16. Die Tasche Rosa und der Bergschuh Benni

17. Das reiche Wichtelmännchen Willibald

18. Das Land der lieben Riesen

19. Die weise Eule Euphelia

20. Die tanzenden Flammen

21. Die Autofahrergnome

22. Im Land der Mumubuss

23. Der Geist des Regenbogens

1. Der Drache mit den grünen Haaren

Ich bin Bruno und liege schläfrig in meinem Bett.

„Willst du jetzt wach sein oder nicht? Entscheide dich!“, vernehme ich eine Stimme, die nicht ganz so ruhig klingt wie die Klaviermusik, die ich gerade höre.

Ich weiß, wem die Stimme gehört.

Darf ich vorstellen: „Das ist mein Mitbewohner, der Bär!“

Dieser ist kein gewöhnlicher Bär, etwa einer mit einem braunen oder gar schon grauen Fell. In prächtigen Farben gekleidet, gleicht sein Gewand dem eines Königs.

Er hat ein liebes Wesen, der Königsbär, nur manchmal ist er etwas ungeduldig, wie gerade jetzt.

„Schlaf ein, damit wir zwei auf eine Traumreise gehen können!“, flüstert er mir zu.

Das ist ein verlockendes Angebot, denn mit dem Bären auf Traumreise zu gehen, ist spannend.

Bruno und der Bär durchschreiten den Regenbogen und gelangen ins Land der tausend Sonnenblumen.

Im Sonnenblumenland besteht der Himmel aus drei Farben. Je nachdem, ob du gerade hinaufschaust oder deinen Kopf einmal auf die rechte Seite, dann auf die linke legst, scheint er abwechselnd blau, türkis oder grün zu sein.

Die Sonnenblumen, so groß wie Bruno, können zwar ihren Platz verlassen, doch sie tun es kaum. Viel lieber stehen sie den ganzen Tag an ein- und derselben Stelle, drehen sich zur Sonne und genießen ihre Strahlen.

Plötzlich flüstert der Bär: „Hier stimmt etwas nicht. Heute ist alles anders als sonst. Schauen wir einmal, was los ist.“

Bruno und der Bär werden nicht wie sonst freudestrahlend begrüßt, mit den Blättern gestreichelt und mit dem Stängel durch Zuwinken willkommen geheißen.

Bedrückt haben die Blumen die Köpfchen gesenkt und tuscheln untereinander.

Sie sprechen zwar sehr leise, doch Bruno und der Bär können mit ein wenig Mühe ihre Stimmen hören.

„Der Drache ist wieder da, und das bedeutet nichts Gutes!“, raunen sie einander zu.

„Was ist mit dem Drachen los?“, fragt Bruno seinen Freund, den Bären. Dieser weiß sogleich Bescheid. „Der Drache wandert von Höhle zu Höhle. Er durchschreitet das Tal der roten Rosen, besucht die tanzenden Schneeflocken und ist wieder einmal im Sonnenblumenland. Und überall richtet er Unheil an.“

Bruno ist jetzt richtig neugierig geworden.

„Welches Unheil meinst du?“, will er wissen.

Seufzend gibt der Bär Antwort: „Im Tal der roten Rosen übergoss der Drache die Blumen mit einem grünen Farbstoff. Durch das Grün konnten sie nicht mehr so gut duften. Erst im nächsten Frühjahr erstrahlten sie wieder in voller Pracht.“

„Und was war bei den tanzenden Schneeflocken?“, will Bruno jetzt unbedingt wissen.

„Mit einem riesigen Föhn hat der Drache sie nicht nur durch den Luftstrom vertrieben, sondern auch durch die Wärme zerstört!“, ist der Bär verärgert.

„Welchen Schaden richtet der Drache im Sonnenblumenland an?“, erkundigt sich Bruno und erhält sofort die Antwort: „Er knickt die Blumenstängel. Dadurch ist es den Pflanzen unmöglich, das Gesicht der Sonne zuzuwenden. Das bedeutet aber, dass es den Blumen nicht mehr gut geht und sie krank werden können.“

Bruno will nun wissen, warum der Drache so böse ist, und der Bär erklärt es ihm:

„Der Drache mag seine grünen Haare nicht. Er findet sie furchtbar hässlich. So oft hat er sich schon die Haare gefärbt. Egal, ob er es mit Blond, Schwarz, Braun oder Rot versuchte, nach kurzer Zeit waren die Haare wieder grün. Das ist auch der Grund, warum der Drache die Rosen mit grüner Farbe überschüttete. Sie sollten genau so leiden wie er.

Unzählige Perücken hat der Drache schon probiert, doch alle waren unangenehm und kratzten ihn. Genau so unangenehm wie das Sonnenlicht, das das Grün seiner Haare zum Leuchten bringt. Nur in der Finsternis fühlt er sich wohl.

Bruno hat genug gehört und wendet sich wieder den Sonnenblumen zu. Und da sieht er schon das Unglück.

Der Drache ist am Werk. Er knickt einen Blumenstängel nach dem anderen. Die Sonnenblumen weinen.

„Halt!“, schreit Bruno. Und Bruno kann sehr laut schreien! Er nähert sich dem Drachen. Der Bär läuft hinter ihm her. Schließlich will er seinem Freund helfen, der sich wagemutig dem Drachen in den Weg stellt.

„Du darfst die Blumenstängel nicht knicken!“, ruft Bruno empört.

„Ich kümmere mich nicht darum, was ich darf und was ich nicht darf“, meint der Drache und knickt wieder einen Stängel.

„Das tut ja weh!“, jammert die erste Sonnenblume.

„Ich will nicht geknickt werden!“, ruft die zweite.

„Das ist überhaupt nicht lustig, was der böse Drache mit uns macht!“, schreit die dritte.

„Für euch ist es nicht lustig, für mich aber schon“, grinst der Drache höhnisch, dreht sich um die eigene Achse und brüllt:

„Ich bin der böse Drache Stanislaus,
die Blumen reiß ich einzeln aus.

Die Stängel knick ich ein,
sie erleiden große Pein. Hi! Hi!“

„Der Drache ist nicht nur böse, er ist auch sehr schlecht im Reimen“, flüstert Bruno.

Dann fragt er den Bären: „Hast du eine Lupe bei dir?“

„Selbstverständlich, ich kann dir bei unseren Traumreisen alles besorgen, was du brauchst“, antwortet dieser.

„Verlass dich auf den Bären, glaube mir!
Was immer du auch willst, das bringt er dir!“

Und schon gibt er Bruno die Lupe.

Mutig und klug wie Bruno nun einmal ist, bündelt er mit der Lupe das Sonnenlicht auf den Drachen. Dieser sackt zusammen und verliert das Bewusstsein.

Als der Drache so am Boden liegt, umringen ihn die Sonnenblumen. Es wäre nun leicht für Bruno, den Bären und die Blumen, den wehrlosen Drachen zu verletzen, doch statt dessen bestaunen sie das Grün seiner Haare, weil es doch so schön in der Sonne glänzt.

„Schaut euch nur die schönen Haare an! Wie sie leuchten! Sie sind etwas Besonderes!“, raunen die Sonnenblumen einander zu.

Der Drache, noch immer etwas benommen, hört die Worte und kann nicht glauben, dass seine Haare schön sein sollen. Jetzt, wo er am Boden liegt und niemand Angst vor ihm zu haben braucht, sind diese Worte sicher ehrlich gemeint. Er setzt sich auf, schaut Bruno, der ihm aufmunternd zunickt, an und fragt: „Gefallen dir meine Haare wirklich?“

Bruno antwortet: „Nicht nur mir gefallen sie, auch dem Bären und den Sonnenblumen.“

Da ist der Drache aber froh. Vor lauter Erleichterung beginnt er zu lachen. Sein Lachen ist zwar sehr laut und gleicht beinahe dem Geräusch eines Presslufthammers, aber es kommt von einem erlösten Drachenherzen.

Dann richtet er die geknickten Stängel der Sonnenblumen wieder auf und beginnt auf der Wiese zu tanzen. Das schaut so witzig aus, dass Bruno und der Bär sich gar nicht satt sehen können und noch eine kleine Weile im Sonnenblumenland bleiben.

Schließlich verabschieden sich die beiden von den Sonnenblumen und dem Drachen.

„Ich bin nie wieder böse!“, verspricht Stanislaus.

„Ich bin der liebe Drache Stanislaus,
die Blumen reiß ich nie mehr aus.

Die Stängel knick ich auch nicht ein,
mit mir ist es ab nun an fein. Hi! Hi!“

„Schade, dass es im Sonnenblumenland keine Schule gibt, wo man Reimen lernen kann“, denkt Bruno. Er sagt jedoch nichts, sondern winkt dem Drachen ein letztes Mal zu und begibt sich mit dem Bären auf die Heimreise.

Ich erwache, zwinkere dem Bären zu und denke: „Hoffentlich gehen der Bär und ich bald wieder auf eine Traumreise. “

2. Der Riese mit dem Sprachfehler

„Fliege mit mir in das Dorf der fleißigen Menschen!“, höre ich eine Stimme.

Und wem wird diese Stimme wohl gehören?

Meinem Mitbewohner, dem prächtig gekleideten Bären!

Bruno und der Bär durchschreiten den Regenbogen.

„Sieh nur“, sagt Bruno zu seinem Freund, „sind die Regenbogenfarben nicht prächtig?“

„Du hast Recht“, pflichtet ihm der Bär bei, „ich habe noch nie so ein schönes Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett gesehen.“

Das Dorf der fleißigen Menschen ist von vielen Wiesen und Feldern umgeben. Unermüdlich wird Getreide angebaut, geerntet und weiter verarbeitet. Auf den Wiesen stehen wunderbare Obstbäume, deren Früchte für Säfte, Marmeladen, Kompotte und Kuchen verwendet werden. Am Wegesrand gedeihen die besten Kräuter, die man getrocknet auf dem Markt verkauft.

Die Menschen sind so mit ihrer Arbeit beschäftigt, dass sie gar nicht wissen, ob es ihnen dabei gut oder schlecht geht. Sie nehmen sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Das haben schon ihre Eltern und Großeltern so gemacht, das werden wahrscheinlich auch ihre Kinder und Enkelkinder so tun. Außer das Schicksal bestimmt es anders.

Bruno und der Bär nähern sich dem Dorf und wundern sich.

„Hier stimmt etwas nicht. Heute ist alles anders als sonst. Wir müssen vorsichtig sein!“, flüstert der Bär. „Schauen wir einmal, was los ist!“

Die Felder sind verwüstet und müssen neu bestellt werden. Das zum Teil noch unreife Obst liegt am Boden und fault vor sich hin. Die Kräuter sind aus der Erde gerissen und die Dorfbewohner haben keine Zeit, neue anzubauen. Denn sie zersägen die im nahe gelegenen Wald entwurzelten Baumstämme und machen aus ihnen Brennholz. Die herabgefallenen Äste werden zerkleinert, gehäckselt und ins Tal der roten Rosen gebracht. Die Holzschnitzel dienen den Pflanzen als Kälteschutz im bevorstehenden Winter. Die Menschen mühen und plagen sich sehr. Die schwere körperliche Anstrengung macht ihnen zu schaffen. Sogar Kinder müssen mithelfen.

„Was wir da sehen, gleicht einer Naturkatastrophe“, findet Bruno und wendet sich seinem Freund, dem Bären zu.

„Das ist keine Naturkatastrophe, sondern der Riese mit dem Sprachfehler“, seufzt der Königsbär.

„Ein Riese mit einem Sprachfehler? So etwas habe ich überhaupt noch nicht gehört!“, ist Bruno sehr erstaunt. Fast hätte es ihm die Rede verschlagen.

„Erzähle mir von dem Riesen, bevor wir im Dorf landen!“, bittet Bruno seinen Freund.

Dieser berichtet: „Der Riese hat all die Schäden, die du jetzt siehst, lieber Bruno, verursacht. Er hat die Nadelbäume entwurzelt, die Wiesen zerstört, die Kräuter kaputt gemacht und das Obst auf die Erde geworfen.“

Doch Bruno gibt sich mit dieser Schilderung nicht zufrieden. Er forscht weiter. „Warum ist der Riese so böse?“, fragt er nach. Der Bär antwortet: „Der Riese ist so böse, seit er im Fernsehen aufgetreten ist.“

„Ich höre wohl nicht recht. Du willst mich auf den Arm nehmen!“, empört sich Bruno.

Doch der Bär hat Recht. Der Riese wollte im Fernsehstudio ein Gedicht aufsagen. Da er aber einen Sprachfehler hat – er sagt statt „sch“ nur ein „s“ – wurde er von der Jury und dem Saalpublikum ausgespottet. Es klingt ja auch wirklich komisch, wenn er statt „waschen“ „wasen“ oder statt Geschichte „Gesichte“ sagt.

Schade, denn mit seiner körperlichen Kraft hätte er beim Publikum zum Beispiel im Gewichtestemmen punkten können.

Tief gekränkt zerstörte ab diesem Zeitpunkt der Riese alles, was ihm in den Weg kam.

Bruno und der Bär fliegen so lange, bis sie die Holzhütte des Riesen sehen. Eine schöne und vor allem große Behausung hat sich der Riese gebaut.

Sie landen und nähern sich dem Eingangstor.

„Wir müssen vorsichtig sein!“, raunt der Bär Bruno zu.

Doch was ist das?

Plötzlich dringen wunderschöne Töne aus dem Haus.

Der Riese singt. Und wie er singt! Sein Lied berührt das Herz.

Bruno und der Bär sind von den herrlichen Klängen begeistert.

„Ich will den Gesang des Riesen aufnehmen. Hast du ein Aufnahmegerät bei dir?“, flüstert Bruno dem Bären zu. „Selbstverständlich, du weißt doch, dass ich dir bei unseren Traumreisen alles besorgen kann, was du brauchst“, antwortet dieser.

„Verlass dich auf den Bären, glaube mir!

Was immer du auch willst, das bringt er dir!“

Und er gibt Bruno ein Handy. Alsbald sind die Lieder gespeichert.

Dann eilt Bruno zum Dorfwirt, der mit seiner Tonanlage die Melodien des Riesen abspielt und mit den riesigen Verstärkerboxen weithin hörbar macht.

Durch die geöffneten Fenster des Gasthauses dringen die wunderschönen Klänge bis zu den Menschen, die auf den Wiesen, in den Gärten und im Wald arbeiten.

Da geschieht etwas Besonderes.

Das Zersägen der Baumstämme wird eingestellt, ebenso das Anbauen der Kräuter und das Aufheben des Obstes.

Stattdessen eilen die Menschen zur Hütte des Riesen, dessen Stimme sie in den Liedern erkennen.

Sie stellen sich vor das große Eingangstor in einem großen Halbkreis auf, applaudieren und schreien: „Bravo!“

Vom Lärm angelockt, tritt der Riese vor seine Behausung. Er versteht nicht, warum ihm so viele Menschen zujubeln.

„Du machst die Menschen mit deinen Liedern glücklich!“, erklärt Bruno dem Riesen.

„Aber die „Mensen“ wissen ja gar nicht, dass ich singe“, wundert sich der Riese, und niemanden stört es, dass er statt Menschen „Mensen“ sagt. Keiner lacht ihn aus. Im Gegenteil, alle bitten den Riesen, für sie zu singen.

Doch bevor dieser seine Stimme erhebt, erzählt ihm Bruno vom Aufnehmen und Abspielen der Lieder. Da freut sich der Riese und singt sich in der darauf folgenden Stunde allen Schmerz und alle Wehmut, die er jahrelang in sich getragen hat, von seiner Seele.

Ab diesem Tag bleibt der Riese im Dorf der fleißigen Menschen und hilft ihnen bei der Arbeit.

Er schneidet Bäume und Sträucher, sägt Holz, bestellt die Felder und erntet Obst.

Nur beim Herstellen von Marmelade hat er Schwierigkeiten. Mit seinen Riesenhänden fällt es ihm nicht leicht, das Fruchtfleisch in die Gläser zu füllen.

Dafür singt er jeden Abend auf dem Platz vor dem Dorfwirtshaus. Das macht ihn sehr glücklich.

Der Riese ist eine so tolle Arbeitskraft, dass die Menschen sich nun Ruhepausen gönnen.

Das Dorf der fleißigen Menschen ist zu einem Dorf der fleißigen und zufriedenen Menschen geworden. Sie spüren, dass es ihnen gut geht.

Ich öffne die Augen, und der Bär sieht mich erwartungsvoll an. Doch nichts geschieht. Ich liege einfach da und lächle.

„Was ist? Willst du mir nicht auch ein Lied vorsingen!“, fordert mich der Bär auf.

„Ich bin doch kein Riese. Traumreisen sind anstrengend. Jetzt entspanne ich mich erst einmal und tue einfach nichts“, denke ich und muss über den verdutzten Blick meines Freundes herzlich lachen.