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Der Herausgeber

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Settimio Monteverde, Prof. (FH), Dr. sc. med., MME, MAE, RN, lic. theol., ist Dozent an der Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit und Co-Leiter Klinische Ethik am Universitätsspital Zürich/Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte. Zu seinen Tätigkeits- und Forschungsfeldern zählen Grundlagen der Pflege- und Medizinethik, Methoden und Inhalte des Ethikunterrichts, Klinische Ethik, Ethik der interprofessionellen Zusammenarbeit, ethische Fragen der Palliative Care und der Definition des Todes. Er ist Mitglied des Stiftungsrats der Stiftung HOSPIZ IM PARK/Klinik für Palliative Care (Arlesheim CH), war Mitglied der Ethikkommission des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften und der Kantonalen Ethikkommission beider Basel (heute Ethikkommission Nordwest- und Zentralschweiz). Von 2007 bis 2011 leitete er die Fachstelle Ethik des Seminars am Bethesda in Basel, zuvor arbeitete er von 1996 bis 2007 im Pflegeberuf, die letzten 7 Jahre davon als Pflegefachmann Anästhesie. Er ist Associated Editor der Zeitschrift Nursing Ethics.

Settimio Monteverde

Handbuch Pflegeethik

Ethisch denken und handeln in den Praxisfeldern der Pflege

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035924-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-035925-3

epub:    ISBN 978-3-17-035926-0

mobi:    ISBN 978-3-17-035927-7

 

 

Geleitwort

Christel Bienstein

 

 

 

Ethische Dilemmata und ethisch schwierige Situationen ereignen sich tagtäglich im beruflichen Leben von Pflegefachpersonen. Es sind nicht immer die großen Fragestellungen der Sterbebegleitung, der Organtransplantation, des Abstellens von Geräten oder der verdeckten Teilnahme von Patient*innen an Forschungsvorhaben. Viel häufiger sind es die kleinen, nicht spektakulären Entscheidungen, die während eines Dienstes getroffen werden. Vielfach sind diese selbst für die Beteiligten nicht als solche auf den ersten Blick erkennbar, sie sind es aber, die zu dem Gefühl der Pflegenden beitragen, nicht alles »geschafft«, beziehungsweise »richtig gemacht« zu haben. Schon die erste Version des ICN – Ethikkodex von 1953 führte die zentralen ethischen Dimensionen des Handelns von Pflegenden auf1:

1.  Gesundheit zu fördern,

2.  Krankheit zu verhüten,

3.  Gesundheit wiederherzustellen,

4.  Leiden zu lindern.

Diese haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren. Dabei wird in dem Ethikkodex ein besonderes Augenmerk auf die Pflegenden in ihrer Berufsausübung und auf die Zusammenarbeit und Förderung der Kolleg*innen gerichtet. Die jetzige Situation ist jedoch von einem umfänglichen personellen Notstand gekennzeichnet. Bis zu 13 Patient*innen müssen von einer Pflegefachperson in Deutschland pro Schicht im Krankenhaus versorgt werden. In der Nacht müssen von einer Pflegenden im Durchschnitt 28 Patient*innen im Krankenhaus und 52 Bewohner*innen im Altenheim versorgt werden. Der personelle Mangel führt zu einem deutlichen Zeitmangel für die Versorgung pflegebedürftiger Menschen, Rückrufe aus dem Frei und ungeregelte Arbeitszeiten verschärfen die aktuelle Pflegesituation. Die unzureichenden Arbeitssituationen verstellen den Blick auf die alltäglichen ethischen Herausforderungen, wie die aufmerksame Wahrnehmung von Schmerzen, die notwendige Beratung und Aufklärung, die ausreichende Mobilisation pflegebedürftiger Menschen sowie die einfühlsame Begleitung von sterbenden Menschen oder von Menschen mit dementiellen Prozessen. Auch kommt der angemessene Umgang mit Personen aus Migrationskontexten zu kurz oder das Nutzen von Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen.

Diese Entwicklung ist nicht nur dem personellen Mangel, sondern der deutlichen Zunahme ökonomischer Interessen geschuldet. Ein grundlegendes Problem ist aber auch ein in vielen Fällen zu beobachtendes apolitisches Verhalten der beruflich Pflegenden. Sie haben den Eindruck, keine Veränderungen bewirken zu können und tragen dadurch dazu bei, Pflegesituationen aufrecht zu erhalten, die ethisch nicht mehr zu vertreten sind. Dem ständig steigenden Druck versuchen viele Pflegende durch eine Reduktion der Arbeitszeit oder gar einen Ausstieg aus dem Beruf zu entgehen. Pflegerische Zusammenschlüsse oder Streik war und ist für viele Pflegende bis heute undenkbar. Seit Jahrzehnten versuchen Berufsverbände auf die sich zuspitzende Situation hinzuweisen. Nun, wo viele ambulante Pflegedienste keine neuen Patient*innen mehr aufnehmen können, Altenheime über Wartelisten verfügen und Kurzzeitpflegeangebote nur über Buchungen von Monaten im Voraus angeboten werden können, hat selbst der Gesetzgeber erkannt, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.

In Deutschland wurden durch die Aktivitäten der Verbände die ersten Pflegeberufekammern auf den Weg gebracht, die als erste Aufgabe haben, die pflegerische Versorgung der Bevölkerung transparent zu machen und ausreichende Versorgungsangebote einzufordern. Parallel zur Tätigkeit von Verbänden und Kammern entwickelt sich auch das Wissen über sichere und wirksame Pflege rasant weiter. Sowohl in den Neugestaltungen der Ausbildungsgänge wie auch im Studium finden sich durchgehend ethische Themen, die u. a. in Fallbesprechungen bearbeitet werden – dies zumeist in den theoretischen Ausbildungsanteilen und noch zu wenig in der gelebten Praxis. Die Wahrnehmung und Bearbeitung ethischer Alltagsproblematiken ist dringend erforderlich, um diese zu erkennen und darauf reagieren zu können. Das kann mittels des Aufbaus von Advanced Practice Nurses in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern deutlich unterstützt werden. Weiterhin wird es eine Aufgabe der Pflegenden sein, akut erkrankte Bewohner*innen im vertrauten Umfeld des Altenheims zu pflegen und ihnen unbegründete Krankenhauseinweisungen möglichst zu ersparen. In den Zentralen Notaufnahmen muss die Kommunikation ebenso eine deutliche Hilfestellung bieten wie die Begleitung von Angehörigen auf Intensivstationen. Dabei kann die Weiterentwicklung der Digitalisierung eine Hilfestellung bieten, um mehr Zeit für die pflegerische Versorgung und vor allem für die Kommunikation mit den anvertrauten Menschen zur Verfügung zu haben. Besonders die Unterstützung der Dokumentationsprozesse und der schnelle Zugriff auf die Aufzeichnungen anderer beteiligter Gesundheitsberufe wird eine deutliche Entlastung bieten. Es wird eine wichtige Aufgabe der Pflegenden sein, die Industrie bei der Entwicklung dieser Angebote zu unterstützen, um passgenaue und für die Menschen hilfreiche Lösungen zu entwickeln.

Dringend muss Raum geschaffen werden, um die grossen manifesten, aber auch die kleinen und teilweise verdeckten ethischen Problemstellungen zu erkennen. Pflegende brauchen Mut, diesen auf eine sicht- und hörbare Weise zu begegnen, denn sie treffen tagtäglich Entscheidungen, die für die ihnen anvertrauten Menschen von großer Bedeutung sein können. Das vorliegende Handbuch vereinigt Stimmen aus dem deutschsprachigen und internationalen Umfeld. Sie zeigen eine Vielfalt an Perspektiven auf diese Problemstellungen und Möglichkeiten einer ethisch reflektierten Pflegepraxis. Dadurch bieten sie eine deutliche Unterstützung und helfen Pflegenden, ethischen Fragestellungen und Problemlagen aktiv zu begegnen.

Recklinghausen,
im Oktober 2019

Christel Bienstein

1     https://www.dbfk.de/de/shop/artikel/ICN-Ethikkodex-fuer-Pflegende.php (Zugriff am: 03.01.2020)

 

 

Geleitwort2

Ann Gallagher

 

 

 

Geleitworte wollen Neugierde wecken für die Inhalte, welche die Leser*innen erwarten. Dieses Handbuch bietet eine Fülle an Möglichkeiten, die heutige Pflegeethik zu erkunden und Erkenntnisse für die Pflegepraxis, die Pflegepädagogik, die Pflegeforschung und das Pflegemanagement zu gewinnen. Das Buch wendet sich an eine deutschsprachige Leserschaft, doch die Themen haben internationale Relevanz. Mit einem Handbuch verbunden ist die Vorstellung eines Lehrbuchs, eines Reiseführers oder eines wissenschaftlichen Nachschlagewerks über ein bestimmtes Gebiet. Genau dies erfüllt das vorliegende Handbuch in den drei Abschnitten Fundamente, Klinische und gesellschaftliche Handlungsfelder und Dimensionen des Ethiktransfers. In ihnen werden Wissen, Haltungen und Kompetenzen dargestellt, die für eine sowohl wissenschaftlich fundierte als auch praxisnahe Auseinandersetzung mit der Pflegeethik grundlegend sind.

Der Abschnitt Fundamente beschreibt den Kontext heutiger Pflegeethik. Dazu gehören philosophische Bezüge, das Recht, die Organisationsethik, die Professionalisierung der Pflege, aber auch zentrale Konzepte wie das Advanced Practice Nursing, die Selbstbestimmung von Patient*innen und die ethische Nachhaltigkeit. Der Abschnitt Handlungsfelder führt die Leser*innen in Kernfragen ethischen Handelns ein, die sich exemplarisch im Ethikunterricht, in der Forschung, im Management, in der Public Health und Pflegepolitik, in der Pflege am Lebensende, im Kontext von Migration und im Umgang mit neuen Technologien zeigen. Pflegefachpersonen benötigen hier fundierte Kenntnisse, um sowohl die Chancen als auch die Herausforderungen jedes Handlungsfelds zu verstehen. Der Abschnitt Ethiktransfer fokussiert übergreifende Kompetenzbereiche, die für eine ethisch fundierte und reflektierte Pflegepraxis erforderlich sind. Dazu gehören grundlegende Aspekte der interprofessionellen ethischen Entscheidungsfindung, der Arbeit Pflegender in klinischen Ethikkomitees und des Verhältnisses von Ethik und Ökonomie im Umgang mit Güterknappheit. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Pflege schließt diesen Abschnitt.

Nie war eine ethisch reflektierte Pflege- und Sorgekultur dringlicher als heute. Der demografische und ökologische Wandel sowie soziale und technologische Veränderungen sind unübersehbar. Parallel dazu blicken Menschen in vielen Ländern einer unsicheren Zukunft entgegen, welche durch Fachkräftemangel und begrenzte Ressourcen geprägt ist. Angesichts solcher Szenarien und Herausforderungen gilt es, auf die herausragende Bedeutung, Wertschöpfung und Wirksamkeit einer Pflege- und Sorgekultur hinzuweisen. Pflegende leisten gemeinsam mit Ärzt*innen, Hebammen und Entbindungspfleger, Physiotherapeut*innen, Ernährungsberater*innen und weiteren Fachpersonen einen entscheidenden Beitrag zur Lebensqualität, zum Wachstum und Gedeihen von Menschen, Familien und ganzen Gemeinschaften. Das vorliegende Handbuch bietet wertvolle Grundlagen, die Pflegende auf ihrem gemeinsamen Weg mit Patient*innen, Familien und dem interprofessionellen Team in unterschiedlichen Versorgungskontexten unterstützen. Die Breite und Tiefe pflegeethischer Themen sollen Pflegefachpersonen befähigen, ethische Aspekte ihrer Arbeit kompetent anzugehen. Den Leser*innen des Handbuchs wünsche ich zum einen, dass sie die Erkenntnisse daraus in die Praxis einbringen sowie Raum und Zeit für die ethische Reflexion schaffen können. Zum andern hoffe ich, dass sie Gelegenheiten nutzen, über die grundlegende Rolle der Pflegeethik zu diskutieren, die zur Etablierung einer Sorgekultur führen sollte, welche ethisch nachhaltig ist und allen Menschen zugutekommt.

Guilford (UK),
im Oktober 2019

Ann Gallagher

2     Übersetzt aus dem Englischen.

 

 

Vorwort des Herausgebers

 

 

 

»Die Sorge ist das Verhältnis zum Leben.«

Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode

Pflege als Ausdruck menschlichen Sorgens und Pflegeethik als Reflexion desselben sind auf enge Weise miteinander verwoben. Das Übersetzen dessen, was dies in den verschiedenen Praxisfeldern der Pflege bedeutet, bedarf spezifischer Expertisen. Ein Handbuch Pflegeethik, das diesem Anspruch genügen soll, ist deshalb nur als Gemeinschaftswerk denkbar. Mein größter Dank gilt deshalb den Kolleg*innen, die die Zweitauflage des Handbuchs, parallel zu den Verpflichtungen in Praxis, Forschung und Lehre, mit ihren Beiträgen ermöglicht haben.

Die bewährte Struktur der Erstauflage wurde beibehalten, die Leser*innen werden aber nebst den aktualisierten bestehenden Beiträgen auch neue finden, die das Feld der Pflegeethik sowohl erweitern als auch schärfen, wie z. B. Ethik und Professionalisierung, ethische Kompetenzentwicklung von Advanced Practice Nurses, ethische Nachhaltigkeit, Moral Apprenticeship, Pflegekammern, Migration, Robotik, Digitalisierung, Advance Care Planning, ethische Entscheidungsfindung im interprofessionellen Team, Ethik und Gesundheitsökonomie, u. a. m. Auch in ihnen zeigt sich Pflege als moralische Praxis, welche in Zeiten technologischen, sozialen, demografischen und ökologischen Wandels die Etablierung menschenfreundlicher Sorgekulturen im Umgang mit Gesundheit, Krankheit und Behinderung fördert, gemeinsam mit den Adressat*innen von Pflege, den Partnerprofessionen und unter Einbezug relevanter Bezugsdisziplinen. Mein Dank gilt auch den Personen, die mich zu dieser Zweitauflage ermutigt, diese begleitet und unterstützt haben. Dabei zu erwähnen sind insbesondere Prof. Theresa Scherer, Prof. Yvonne Walker Schläfli, Prof. Kaspar Küng und Dr. Francesco Spöring (Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit), Rahel Rohrer-Christ, Andrea Kuhn, M. A. (Promovendin; Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen, Forschungsnetzwerk Gesundheit) sowie Prof. Dr. Tanja Krones (Universitätsspital Zürich/Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte). Bestens bewährt hat sich erneut die Zusammenarbeit mit dem Kohlhammer-Verlag. Ich danke Frau Alexandra Schierock für die kompetente und zuverlässige Begleitung und Unterstützung in allen Phasen des Projekts.

Arlesheim und München,
im Januar 2020

Settimio Monteverde

Inhalt

  1. Geleitwort
  2. Christel Bienstein
  3. Geleitwort
  4. Ann Gallagher
  5. Vorwort des Herausgebers
  6. Einführung und Überblick
  7. Settimio Monteverde
  8. Teil I Fundamente
  9. 1    Grundlagen der Pflegeethik
  10. Settimio Monteverde
  11. 2    Pflegeethik und die Professionalisierung von Pflege
  12. Megan-Jane Johnstone
  13. 3    Vulnerabilität in der professionellen Pflegebeziehung
  14. Berta M. Schrems
  15. 4    Die Bedeutung der Care-Ethik für die Pflegepraxis
  16. Helen Kohlen
  17. 5    Entscheidungen Pflegender zwischen Expertise, Förderung der Selbstbestimmung und Fürsorge
  18. Monika Bobbert
  19. 6    Advanced Nursing Practice: Pflegeethische Implikationen anhand eines Fallbeispiels
  20. Ruth Schwerdt
  21. 7    Ethische Kompetenzen von Advanced Practice Nurses
  22. Ann Baile Hamric (†)
  23. 8    Pflegeethik als kritische Organisationsethik
  24. Marion Großklaus-Seidel
  25. 9    Interprofessionelle Kooperation zwischen Ethik und Recht
  26. Pierre-André Wagner
  27. 10  Konturen einer ethisch nachhaltigen Pflegepraxis
  28. Linda Nyholm, Susanne Salmela, Lisbet Nyström, Camilla Koskinen
  29. Teil II. Klinische und gesellschaftliche Handlungsfelder
  30. 11  Die Vermittlung von Ethik in der Pflege
  31. Marianne Rabe
  32. 12  Moral Apprenticeship in der pflegerischen Berufsbildung
  33. Michaela Key, Settimio Monteverde
  34. 13  Forschung, Pflege und Ethik
  35. Settimio Monteverde, Iren Bischofberger
  36. 14  Pflegemanagement in ethischer Perspektive
  37. Constanze Giese
  38. 15  Public Health Nursing und Ethik
  39. Éva Rásky
  40. 16  Advance Care Planning als Handlungsfeld von Pflegefachpersonen
  41. Isabelle Karzig-Roduner
  42. 17  Pflegeethik in der Endphase des Lebens
  43. Chris Gastmans, Settimio Monteverde
  44. 18  Pflegekammern als Orte ethischer Reflexion
  45. Andrea Kuhn
  46. 19  Migrationssensitive Pflegeethik
  47. Miriam Kasztura
  48. 20  Pflegeethik und Robotik in der Pflege
  49. Dominic Seefeldt, Manfred Hülsken-Giesler
  50. 21  Ethische Aspekte der Digitalisierung und Technisierung des Pflegealltags
  51. Arne Manzeschke, Julia Petersen
  52. Teil III Dimensionen des Ethiktransfers
  53. 22  Methoden ethischer Fallbesprechung im Pflegealltag
  54. Norbert Steinkamp
  55. 23  Interprofessionelle klinisch-ethische Entscheidungsfindung am Beispiel der Intensivmedizin
  56. Tanja Krones, Settimio Monteverde
  57. 24  Partizipation von Pflegenden in Klinischen Ethikkomitees
  58. Helen Kohlen
  59. 25  Von der Zweiklassenmedizin zur Zweiklassenpflege? Rationierung als pflegeethisches Problem
  60. Markus Zimmermann
  61. 26  Gesundheitsökonomie, Ethik und Pflege
  62. Urs Brügger
  63. 27  Pflegeethik in einer globalisierten Welt
  64. Miriam Hirschfeld
  65. Verzeichnis der Autor*innen
  66. Stichwortverzeichnis

 

 

Einführung und Überblick

Settimio Monteverde

 

 

 

Das Handbuch Pflegeethik verfolgt das Ziel einer Einführung in den Gegenstandsbereich der Pflegeethik anhand spezifischer Themenfelder, die für das Verständnis ihrer Voraussetzungen und Aufgaben grundlegend sind. Auch in der Zweitauflage kommen schwerpunktmäßig deutschsprachige Autor*innen zu Wort, verstärkt sind aber auch Stimmen aus der internationalen Diskussion aufgenommen, die erstmalig einem deutschsprachigen Publikum zugänglich werden. Zur Zielleserschaft des Handbuchs zählen einerseits Fachpersonen aus der Pflegepraxis, die ihre ethischen Kompetenzen im Umgang mit Fragestellungen des Berufsalltags vertiefen möchten, aber auch pädagogisch Tätige, die das Handbuch für die Vorbereitung und Durchführung des Unterrichts in der Fort- und Weiterbildung einsetzen möchten, sowie Studierende der Pflege, Forschende und Personen aus dem interprofessionellen Umfeld, die an einer Einführung in Fragestellungen und Inhalte heutiger Pflegeethik interessiert sind.3

Seit der Erstauflage hat sich der Gegenstandsbereich der Pflegeethik diversifiziert, sowohl international als auch im deutschsprachigen Raum. Nach wie vor ist Pflegeethik aber keine partikulare Ethik für die Pflege, die über einen »eigenen« theoretischen Zugang oder gesondertes Wissen zu ethischen Fragen verfügt. Noch ist sie eine Ethik, die von der Abgrenzung zu anderen Bereichsethiken therapeutischen Handelns lebt und in der Differenz zum »Anderen« einen Legitimationsgrund sucht. Aber sie ist – wie alle Bereichsethiken der Gesundheitsberufe – eine Bereichsethik, die das berufliche Handeln von Pflegefachpersonen mit seinen theoretischen und praktischen Grundannahmen in ethischer Hinsicht, d. h. in Bezug auf die Werte, die dieses Handeln verwirklicht, klärt. Die Notwendigkeit einer solchen Klärung ist heutzutage unbestritten, und (nur) in diesem Sinne lässt sich auch behaupten, dass die Pflege eine »eigene« Ethik habe. Als Beispiel für die Notwendigkeit einer solchen Klärung können unterschiedliche Debatten über den Pflegeschlüssel, die Finanzierung der Pflege oder die Sicherung des pflegerischen Nachwuchses (und mit diesem verbunden auch der Patient*innenversorgung) aufgeführt werden. Diese sind spätestens seit den Koalitionsverhandlungen nach der vergangenen Bundestagswahl in der Bundesrepublik Deutschland auch im öffentlichen Raum unübersehbar. In ihnen kann eine regelrechte »Politisierung« des Pflegebegriffs beobachtet werden, und damit verbunden auch der Pflegeethik als »Sorge um die Pflege«, wie es Diskussionen über den sog. Pflegenotstand zeigen. Ähnliches lässt sich für die Schweiz auch bezüglich öffentlicher Diskussionen rund um die Sicherung des pflegerischen Nachwuchses und die gesetzliche Konstituierung eines pflegerisch eigenverantwortlichen Raums beobachten (vgl. die sog. »Pflege-Initiative«), zu der Regierung, Parlament und Interessensorganisationen wiederholt Stellung genommen haben. Die Erfahrung zeigt, dass die verstärkte Präsenz von Pflegethemen im öffentlichen Raum nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der Rahmenbedingungen führt, in denen Pflege geleistet wird. Trotzdem liefert die öffentliche Wahrnehmung wichtige Impulse, die es erlauben, das Reflexionsfeld der Pflegeethik deutlicher abzustecken und den Binnenraum der Beziehung zwischen Pflegenden und Patient*innen als Kernbereich ethischer Reflexion um weitere Dimensionen zu ergänzen, die für das Verständnis der Tragweite pflegeethischer Reflexion unverzichtbar sind. Zu diesen Dimensionen zählen z. B. die Organisationsethik, das moralische Klima in Einrichtungen der Gesundheitssorge, die »moralische Gesundheit« von Fachpersonen angesichts von Interessenskonflikten, Leistungs- und Kostendruck, ethische Leadership im Kontext institutioneller Veränderungsprozesse, die gesundheitliche Chancengleichheit für vulnerable Populationen im Zugang zu wirksamer Pflege oder die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit als ethisch vorrangiges Ziel der Gesellschaft.

Systematik des Bandes und Kapitelübersicht

Das Handbuch vollzieht einen Dreischritt von Fundamenten, Konkretisierungen in klinischen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern zu Aspekten des Ethiktransfers mit Querschnittsfragen, die für alle Handlungsfelder relevant sind. Die Kapitel verfügen über einen einheitlichen Aufbau, Transferaufgaben dienen dazu, Ergebnisse der Lektüre zu sichern und weiterführende Fragen zu formulieren.

Der erste Abschnitt Fundamente widmet sich theoretisch-konzeptuellen Aspekten der Pflegeethik. Settimio Monteverde (Bern/Zürich) nimmt zunächst eine Verortung von Pflegeethik als Reflexion von Pflege als moralischer Praxis vor (image Kap. 1). Eine Entfaltung von Konzepten, die für die Pflegeethik wichtig sind, nimmt Megan-Jane Johnstone (Melbourne/AU) für den Begriff der Profession (image Kap. 2) sowie Berta M. Schrems (Wien) für den Begriff der Vulnerabilität (image Kap. 3) vor. Helen Kohlen (Vallendar) diskutiert die für das ethische Selbstverständnis von Pflege zentrale normative Tradition der Care-Ethik (image Kap. 4). Monika Bobbert (Münster) entfaltet pflegeethische Aspekte des Autonomiebegriffs (image Kap. 5). Eine Reflexion ethischer Aspekte des Advanced Practice Nursing nimmt Ruth Schwerdt (Frankfurt) vor (image Kap. 6), Ann Baile Hamric4 (Richmond-VA/USA) erörtert das ethische Kompetenzprofil von Advanced Practice Nurses (image Kap. 7). Marion Grossklaus-Seidel (Darmstadt) beleuchtet Pflegeethik aus der Perspektive der Organisationsethik (image Kap. 8). Pierre-André Wagner (Bern) zeichnet die Schnittstellen zwischen Recht und Ethik im Kontext pflegerischen Handelns nach (image Kap. 9). Linda Nyholm (Vaasa/FI), Susanne Salmela (Vaasa/FI), Lisbet Nyström (Vaasa/FI) und Camilla Koskinen (Stavanger/NO) schliessen den ersten Abschnitt mit Überlegungen zu einer ethisch nachhaltigen Pflegepraxis (image Kap. 10).

Der zweite Abschnitt klinische und gesellschaftliche Handlungsfelder vertieft ausgewählte Bereiche pflegerischen Handelns, in denen sich die Rollenexpansion Pflegender (image Kap. 1.2.3), resp. die Notwendigkeit einer vertieften pflegerischen und pflegeethischen Expertise zeigen. Marianne Rabe (Berlin) widmet sich Fragen der curricularen Vermittlung von Ethik in der Pflege (image Kap. 11), Michaela Key (Zürich) und Settimio Monteverde solchen des Moral Apprenticeship in der praktischen Pflegeausbildung (image Kap. 12). Eine Reflexion über Ethik und Forschung in der Pflege nehmen Settimio Monteverde und Iren Bischofberger (Zürich) vor (image Kap. 13). Ethische Fragen des Pflegemanagements vertieft Constanze Giese (München) (image Kap. 14), solche des Public Health Nursing Éva Rásky (Graz) (image Kap. 15). Das Handlungsfeld Pflegender im Rahmen des Advance Care Planning beleuchtet Isabelle Karzig-Roduner (Zürich) (image Kap. 16), dasjenige der Pflege in der Endphase des Lebens Chris Gastmans (Leuven/BE) und Settimio Monteverde (image Kap. 17). Aufgaben von Pflegekammern als Orte ethischer Reflexion diskutiert Andrea Kuhn (Ludwigshafen) (image Kap. 18). Miriam Kasztura (Lausanne) formuliert ethische Anforderungen an eine migrationssensitive Pflegeethik (image Kap. 19). Ethische Orientierungen im Umgang mit Robotik in der Pflege erörtern Dominic Seefeldt (Bremen) und Manfred Hülsken-Giesler (Osnabrück) (image Kap. 20), Arne Manzeschke und Julia Petersen (Nürnberg) schliesslich diskutieren pflegeethische Implikationen der Digitalisierung und Technisierung des Pflegealltags (image Kap. 21).

Der dritte Abschnitt Dimensionen des Ethiktransfers entfaltet bereichsübergreifend Voraussetzungen für gelingende Ethikdiskurse in den Praxisfeldern der Pflege. Norbert Steinkamp (Berlin) beschreibt Grundlagen ethischer Entscheidungsfindung in systematischer Hinsicht (image Kap. 22), Tanja Krones (Zürich) und Settimio Monteverde vertiefen diese im interprofessionellen Kontext der Intensivstation (image Kap. 23). Die Partizipation Pflegender in Klinischen Ethikkomitees beleuchtet Helen Kohlen (image Kap. 24). Während Markus Zimmermann (Freiburg i. Üe.) das Phänomen der Rationierung und seine pflegeethischen Implikationen beleuchtet (image Kap. 25), nimmt Urs Brügger (Bern) eine Verhältnisbestimmung von Gesundheitsökonomie und Ethik mit Blick auf die Pflegepraxis vor (image Kap. 26). Mirjam Hirschfeld (Yezreel Valley, IL) schliesst den Band mit Überlegungen zu den Auswirkungen der Globalisierung auf die Pflege und mit ethischen Postulaten, die sich für eine global denkende Pflegeethik und Pflegepraxis ergeben (image Kap. 27).

Hinweise, die für das jeweilige Thema von besonderer Bedeutung sind, erscheinen im Fließtext grau hinterlegt.

Die Übersetzungen der englischsprachigen Beiträge wurden durch den Herausgeber vorgenommen.

Das Handbuch ist um eine geschlechtsgerechte Sprache bemüht, die mit dem Genderstern (*) zum Ausdruck kommt und – wo nicht anders vermerkt – explizit weibliche, männliche und nicht-binäre Geschlechtsidentitäten einschließt.

3     In diesem Band wird mit dem Begriff der Pflegefachperson eine Person bezeichnet, welche über einen akademischen oder nichtakademischen Abschluss in Krankenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege Altenpflege oder Kinderkrankenpflege verfügt. Zu den gesetzlichen Regelungen im D-A-CH-Raum für die Schweiz siehe das 2020 in Kraft getretene Gesundheitsberufegesetz; für Deutschland das 2020 in Kraft getretene Pflegeberufereformgesetz, dort § 1, Absatz 1; für Österreich, wo sich die Bezeichnung der Krankenpfleger*in durchgesetzt hat, das 2016 novellierte Gesundheits- und Krankenpflegegesetz. Der Begriff Pflegende*r bezeichnet sowohl Pflegefachpersonen als auch ganz allgemein pflegerisch Tätige (unabhängig vom Qualifikationsgrad). Der Herausgeber dankt Andrea Kuhn, MA und PD Dr. Berta Schrems für wertvolle Hinweise.

4     Mitten in der finalen Bearbeitung des vorliegenden Buches ereilt uns die traurige Nachricht des Todes von Ann Baile Hamric. Ihr international bekanntes wissenschaftliches Wirken ist für die konzeptuelle und empirische Fundierung von Pflegeethik und Advanced Nursing Practice von unschätzbarem Wert. Ihre freundliche, offene und gewinnende Persönlichkeit wird in der globalen Pflegegemeinschaft schmerzlich vermisst.

Teil I
Fundamente

 

 

1             Grundlagen der Pflegeethik

Settimio Monteverde

 

 

 

Professionelle Pflege ist eine Form moralischer Praxis. Sie verwirklicht in ihrem Handeln Vorstellungen des Guten und Richtigen. Diese sind wandelbar und zeigen sich in Ethikkodizes, Leitlinien, Pflegeleitbildern oder in moralischen Intuitionen, die den pflegerischen Umgang mit Menschen, die gesundheitliche Bedürfnisse haben, prägen. Die Gesamtheit dieser Vorstellungen konstituiert die »Moral von Pflege« resp. das Pflegeethos. Als Bereichsethik pflegerischen Handelns untersucht Pflegeethik diese Vorstellungen. Ihre Entwicklung ist eng an die Professionalisierung von Pflege gebunden. Das Kapitel beleuchtet den Mehrwert ethischen Denkens in Grenzsituationen der Moral, die den Pflegealltag prägen. Es erörtert grundlegende Begriffe und ausgewählte Traditions- und Denklinien der philosophischen Ethik, die für das Verständnis von Pflegeethik wichtig sind. Gedanken zum Verhältnis von Pflegeethik, der Ethik der ärztlichen Profession und der Medizinethik schließen das Kapitel ab.

Ziele: Nach dem Lesen des Kapitels sind Sie in der Lage, grundlegende Begriffe wie Moral, Ethik, moralisches Problem, ethisches Dilemma, Pflegeethik, Ethik der ärztlichen Profession, Medizinethik sowie Bereichsethik zu erklären und zueinander in Beziehung zu setzen. Sie beschreiben die wichtigsten Konturierungen der Pflegeethik und ihren Beitrag zum professionsübergreifenden ethischen Diskurs.

1.1       Pflege als moralische Praxis und Pflegeethik als kritische Reflexion derselben

Formen familiärer oder nachbarschaftlicher Pflege sind für jede menschliche Gemeinschaft von existentieller Bedeutung und sinnstiftend, sowohl im Umgang mit »natürlicher« Pflegebedürftigkeit (z. B. im Säuglingsalter) als auch mit den Folgen von Behinderung oder Krankheit. Spätestes im Mittelalter wurden sie in Europa ergänzt durch Strukturen klösterlicher oder kommunaler Pflege. Diese hatten den Zweck, Menschen vor den sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Auswirkungen von Krankheit, Krieg oder weiterem Schicksal zu schützen (Seidler & Leven 2003). Die Ausdifferenzierung der Pflege zur Profession aber erfolgte – verglichen mit der Ärzt*innenschaft oder den Hebammen – erst relativ spät, nämlich im Gefolge der Etablierung der Krankenhausmedizin in der Mitte des 19. Jhdt. (Schweikardt 2008). Professionen verfügen aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Dienstleistung über ein soziales Mandat und damit verbundene Privilegien (Geissler 2013, Krampe 2013): Sie definieren Adressat*innen, Gegenstand und Umfang ihrer Dienstleistung autonom, aber auch die Zulassung, Ausbildung und Regulierung der Tätigkeit ihrer Mitglieder. Ferner legen sie grundlegende Werte ihres Handelns verbindlich in einem Ethikkodex fest, der als sichtbares Zeichen der Vertrauenswürdigkeit der Professionsangehörigen fungiert (image Kap. 2).

Die Professionalisierung von Pflege wurde in exemplarischer Weise durch das Wirken von Florence Nightingale (1820–1910) vollzogen. Pflege sollte – so Nightingale – auf ihre Wirksamkeit und bestmögliche Evidenz geprüft werden, aber auch mit der richtigen Haltung erbracht werden (Nightingale 2016). Die Professionalisierung von Pflege legte dadurch den Grundstein für die Pflegeforschung, die Pflegewissenschaft und die Akademisierung von Pflege (Lademann 2018, Büker 2018). Ferner führte sie zur Explikation (d. h. zur Artikulation und Sichtbarmachung) des Pflegeethos, d. h. jenes Kanons an Haltungen und Werten, welche professionelle Pflege als im ethischen Sinne »gute« Pflege qualifizieren (Fry 2004b). Spuren dieses Pflegeethos reichen bis in die »vorprofessionelle Zeit« der Pflege zurück und sind in allen Kulturen sichtbar. Sie zeigen sich z. B. im frühchristlichen Begriff der Caritas, der tätigen Nächstenliebe, im jüdischen und islamischen Begriff der Barmherzigkeit und im buddhistischen Begriff des Mitgefühls. Erst die wissenschaftliche Aufbereitung des Pflegeethos mit Methoden und Instrumenten der Moralphilosophie und der Sozialwissenschaften ist es, die den Begriff der Pflegeethik – verstanden als wissenschaftliche Reflexion des Pflegeethos – in Erscheinung treten lässt (Monteverde 2016). Auch Pflegeethik ist im deutschsprachigen Raum ein relativ junger Begriff, dessen Legitimität noch bis vor wenigen Jahren umstritten war: Pflege, so die Argumente, könne keine eigene Ethik haben, weil sie keine eigene Moraltheorie besitze, weil es im klinischen Alltag immer um »die Patient*in« gehe, die von unterschiedlichen Professionen betreut werde und Tendenzen der »Abschottung« durch Sonderethiken entgegenzuwirken sei (zur Debatte vgl. Rehbock 2000, Pfabigan 2007, Monteverde 2015).

Begriffe wie Ethik in der Pflege oder Ethik im Pflegealltag wurden deshalb favorisiert, um die Dimension resp. den »Ort« der Anwendung hervorzuheben. Die Anliegen der Kritik, »sezessionistischen« Tendenzen innerhalb der Ethik im Gesundheitswesen entgegenzuwirken, sind ernstzunehmen. Ebenso ist der Fokus auf die gemeinsamen philosophischen Grundlagen und die Patient*innenorientierung vielversprechend für die Ausarbeitung einer Ethik der interprofessionellen Zusammenarbeit. Doch zeigt die Ethikforschung der letzten 20 Jahre auf, dass sich Professionen und ihre Mitglieder aufgrund ihres Wissens-, Zuständigkeits- und Erfahrungsspektrums immer auch an spezifischen Werten orientieren. Die daraus entstehende Vielfalt an moralischen Wahrnehmungen und Intuitionen muss entdeckt, begriffen und gewürdigt werden, wenn dort, wo sich im klinischen Alltag Wertedifferenzen oder -divergenzen zeigen, eine ethische Verständigung gelingen soll. Wie das professionelle Handeln von Ärzt*innen, Physiotherapeut*innen oder Hebammen ist auch dasjenige einer Pflegefachperson hinreichend klar bestimmbar. Es beruht auf normativen Grundannahmen, die Pflege als Form moralischer Praxis ausweisen, was Bishop und Daly mit Bezug auf Florence Nightingale mit dem Begriff der self-defining moral practice wiedergeben (Bishop & Daly 2004, S. 1908). Weil sich Pflege als moralische Praxis versteht, macht es Sinn, von Pflegeethik als kritischer Reflexion dieser Praxis und der ihr zugrunde gelegten Werte zu sprechen, was sich am Fallbeispiel mit Herrn Schmitt (image Kap. 1.2) besonders gut aufzeigen lässt.

Aufgrund der reichen Theoriebildung pflegerischen Handelns durch die Pflegewissenschaft (vgl. Masters 2015) erscheint eine Konzeption der Pflegeethik (sowie anderer Ethiken der Gesundheitsprofessionen) als Bereichsethik angemessener als diejenige der (weitgehend synonym gebrauchten) »angewandten Ethik« (Düwell 2008). Der Begriff der Bereichsethik vermag die theoretische resp. wissenschaftliche Fundierung des jeweiligen Bereichs und seiner moralischen Grundannahmen besser aufzuzeigen als der Begriff der »angewandten Ethik« (vgl. Schweidler 2018 sowie Nida-Rümelin 2005). Denn die Dimension der Praxis ist mehr als eine unidirektionale »Anwendung« von Theorie. In der Praxis wird Theorie auch getestet und weiterentwickelt. Besonders erhellend für das Verständnis dieser Interaktion von Theorie und Praxis für die Bereichsethiken im Gesundheitswesen ist der klinische Pragmatismus (image Kap. 1.2.1, image Kap. 1.4.5).

1.2       Der Bezugsrahmen

Fallbeispiel

Herr Schmitt, ein 82-jähriger Bewohner, der an Demenz leidet, lebt schon seit fünf Jahren im Alters- und Pflegeheim »Landfrieden«. Die Pflegefachfrau Susanne Fröhlich arbeitet seit kurzem in der Einrichtung und ist heute Bezugspflegende von Herrn Schmitt. Als sie am Morgen zu ihm gehen möchte, kommt ihr Herr Schmitt, noch im Schlafanzug und mit einer Aktentasche in der Hand, im Flur entgegen. Er wirkt ganz aufgewühlt und äußert, er müsse »sofort ins Büro gehen, um die Bestellungen aufzugeben«. Das beruhigende Zureden von Frau Fröhlich zeigt keine Wirkung auf den Bewohner. Vor vier Jahren wurde im Garten des Heims, der sich im Innenhof befindet, eine »Phantom-Bushaltestelle« gebaut. Susanne Fröhlich fragt sich: »Was soll ich tun? Darf ich auf die Äußerungen von Herrn Schmitt eingehen, ihm beim Anziehen helfen, ihn an die Bushaltestelle begleiten und hoffen, dass er zur Ruhe kommt?«

1.2.1     Pflegeethik und philosophische Ethik

Was sollen wir tun?

Sie werden es gemerkt haben: Auf die Frage von Frau Fröhlich ist mehr als eine Antwort möglich. Diese hängt erstens davon ab, wie die in der Situation vorgefundenen Fakten gewichtet werden. Zweitens sind Werte (z. B. Aufrichtigkeit, Empathie) und Normen (z. B. »Du sollst nicht lügen.«) entscheidend, die aus der Sicht der Beteiligten in der Situation orientierend sind. Ihre Frage zielt auf das Gute und Richtige ab, das die Pflegefachperson dem Bewohner in dieser Situation gewähren will. Genau um die Klärung des Guten und Richtigen geht es in der philosophischen Ethik. Aus dem Grund ist die Frage auch eine ethische Frage. Als praktische Philosophie versucht die Ethik, menschliches Handeln mit vernünftigen, d. h. allgemein einsichtigen Argumenten zu begründen. Welche Möglichkeiten der Begründung hat nun Frau Fröhlich, wenn sie abwägt, ob sie den Bewohner zur »Bushaltestelle« begleiten soll? Im Folgenden werden – beispielhaft und stellvertretend für weitere – drei Ansätze philosophischer Ethik vorgestellt, die in der Pflegeethik, aber auch in der Ethik der ärztlichen Profession breit rezipiert worden sind, nämlich die Pflicht-, Folgen- und Tugendethik, gegen Ende des Kapitels auch die Care-Ethik und der sog. Principlism. Sie können durchaus unterschiedliche Antworten geben auf die Frage, ob es ethisch zulässig ist, Herrn Schmitt zur »Phantom-Bushaltestelle« zu begleiten.

Pflicht-, Folgen- und Tugendethik

Die Pflegefachperson kann erstens nach dem Richtigen fragen, das es in dieser Situation zu tun gilt. Die sog. Sollensethik leitet das Richtige aus übergeordneten moralischen Prinzipien ab, aus denen sich dann schlüssig ergibt, was zu tun moralisch richtig ist. Die Sollensethik lässt sich weiter aufteilen in die Pflicht- und Folgenethik:

1.  Die Pflichtethik oder die Deontologie (to deon = griech., die Pflicht) ermittelt das Richtige aus Pflichten und Rechten. Ihr prominenter Vertreter ist Immanuel Kant (1724–1804). Sein Anliegen war, mit dem Kategorischen Imperativ eine rationale Grundlage der Moral herzustellen (vgl. Pauer-Studer 2010, S. 35 ff). Der Kategorische Imperativ fordert, persönliche Grundsätze des Handelns (»Maximen«) einem Test der Verallgemeinerbarkeit zu unterziehen. Stark vereinfacht lautet in Bezug auf die »Phantom-Busstation« die Testfrage: »Kann ich wollen, dass Menschen immer dann, wenn sie unruhig und weglaufgefährdet sind, eine Wirklichkeit vorgetäuscht wird, die sie beruhigen und am Weglaufen hindern soll?« Für Kant ist nur der Wille, der der jeweiligen Handlung zugrunde liegt, für deren Bewertung ausschlaggebend, nicht aber mögliche Folgen der Handlung. Solch ein allgemeines Gesetz kann niemand wollen, da sich niemand mehr sicher sein könnte, selbst Opfer einer Täuschung zu werden. Was aber vernünftigerweise nicht gewollt werden kann, so Kant, ist moralisch verboten. Die Pflegende hätte also gemäß dieser Argumentation die Pflicht, nach anderen Möglichkeiten zu suchen. Nach Kant sind Menschen aufgrund ihrer Autonomiefähigkeit immer auch Träger unveräusserlicher Rechte. Sie haben eine Würde, die nicht Gegenstand einer Güterabwägung werden kann. Durch die Orientierung am »Kern« des Humanen, an der Autonomiefähigkeit und Würde des Menschen, hat die Pflichtethik eine grosse Bedeutung gewonnen in nahezu allen Feldern der Gesundheitsversorgung gewonnen, speziell aber im Bereich der Patient*innenrechte, im Kontext von Forschung und Einwilligung zu medizinischer und pflegerischer Behandlung.

2.  Die Folgenethik oder der Utilitarismus (utilis = lat., nützlich) hingegen, ermittelt das Richtige einzig aus den Folgen resp. dem Nutzen der Handlung für alle Beteiligten. Ihre prominentesten Vertreter sind der Jurist und Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) sowie der Philosoph und Ökonom John Stuart Mill (1806–1867), die den Nutzen einer Handlung resp. die Mehrung des Glücks und die Minderung des Leidens, zum moralischen Bewertungsmaßstab erheben (vgl. Pauer-Studer 2010, S. 59 ff). Anders als bei der Pflichtethik könnten gemäß der Folgenethik durchaus Begründungen vorgebracht werden, wieso eine »Phantom-Busstation« allen Beteiligten zum Nutzen gereicht (z. B. Ergebnisse aus Interventionsstudien zum Konzept der Validation® nach Naomi Feil, Wohlbefinden des Bewohners, Verhinderung freiheitseinschränkender Maßnahmen, Erhalt der Tagesstruktur, etc.). Stimmen die prognostizierten Folgen, wäre die Täuschung von Herrn Schmitt nicht nur moralisch erlaubt, sondern sogar geboten. Die Folgenethik lässt also Güterabwägungen durchaus zu. In aktuellen Ethikdiskussionen kommt sie oft dann zur Anwendung, wenn knappe Güter zu verteilen sind, wie etwa Organe, Beatmungsplätze oder Betreuungsressourcen in der Langzeitpflege. Da aber für die ethische Bewertung einer Handlung alleine die Orientierung am Nutzen resp. am »Glück der größten Zahl« und an der Minderung des Leidens maßgeblich sind, können bei gegebener »positiver Bilanz« für die Mehrheit der Betroffenen auch Nachteile für eine Minderheit in Kauf genommen werden.

Neben der Sollensethik, die das Handeln an übergeordneten Prinzipien orientiert, kann die Pflegende auch bei sich selbst ansetzen und nach der Haltung resp. der Tugend oder Charakterdisposition fragen, die für die ethische Klärung der Situation angemessen ist (vgl. Pauer-Studer 2010, S. 89 ff).

3.  Für die Tugendethik fallen das Gute und das Richtige in der handelnden Person selbst zusammen. Wenn Frau Fröhlich erwägt, ob sie Herrn Schmitt zur »Phantom-Busstation« begleiten möchte, wird sie aus tugendethischer Sicht keine Pflichten ermitteln oder Folgen abwägen, sondern sich zunächst fragen, welche persönliche Haltung der Situation angemessen ist: Ist es der Gehorsam gegenüber Vorgesetzten oder die Hilfsbereitschaft, die Gewissenhaftigkeit, die Aufrichtigkeit, die Wahrhaftigkeit resp. das Mitgefühl gegenüber Herrn Schmitt? Zurückgeführt wird die Tugendethik auf den griechischen Philosophen Aristoteles (384–347 v. Chr.). Er sieht im Streben des Menschen nach einem gelingenden Leben die Quelle der Bewertung des Guten und der persönlichen Entwicklung. Die Tugendethik wird deshalb auch der sog. Strebensethik zugeordnet. Pflegerische Berufsethik hat sich lange Zeit als Tugendethik artikuliert, die diejenigen Charakterdispositionen beschreibt, welche eine gute Pflegeperson auszeichnen. Diese sind gleichzeitig Ausdruck der Erwartungen, die sowohl das gesellschaftliche Umfeld als auch die Profession selbst an die Pflegenden stellen. Enge Bezüge zur Tugendethik weist auch das Konzept des Caring und die Care-Ethik auf, welche in der Pflegewissenschaft und Pflegeethik breit rezipiert wurden. Dabei reflektiert Care die Haltung der Fürsorge als Gestaltungsmerkmal pflegerischer Beziehung (image Kap. 1.4.2; image Kap. 4; image Kap. 8; Armstrong 2007, Müller 2018).

Der klinische Pragmatismus

Der Vergleich von Pflicht-, Folgen- und Tugendethik ergibt, dass es durchaus unterschiedliche Antworten auf die Frage gibt, wie Frau Fröhlich in der schwierigen Situation ihr Handeln ethisch begründen kann. Doch so aufschlussreich der Vergleich ist – Ethiktheorien sind selten in der Lage, direkte Lösungen auf oftmals komplexe ethische Fragen des klinischen Alltags zu liefern. Aus der Sicht des klinischen Pragmatismus (Fins et al. 2003; image Kap. 22; image Kap. 23), der auf die pragmatische Philosophie des US-amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859–1952) zurückgeht, sind Ethiktheorien dennoch wichtig, denn sie tragen dazu bei, Hypothesen aufzustellen, wie eine ethisch schwierige Situation verstanden und angegangen werden kann. Zur »Lösung« des Problems reicht aber die ethische Theorie nicht, vielmehrt bedarf es »[…] eines kontinuierlichen Prozesses des ethischen Nachfragens, des kritischen Denkens, des empirischen Forschens und des Experiments, um das ethische Wissen zu gewinnen und wiederherzustellen, welches für die Lösung moralischer Probleme in der heutigen Zeit erforderlich ist« (Miller et al. 1996, S. 41; Übersetzung S. M.). Diese Hypothesen müssen also im klinischen Alltag erst geprüft werden. Die »richtige« Lösung ergibt sich dabei weniger aus der Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit einer einzelnen Theorie als vielmehr aus ihrer Kompatibilität mit den vorhandenen medizinischen und pflegerischen Fakten, der klinischen Erfahrung, professionellem Expert*innenwissen und Intuitionen guter ärztlicher, pflegerischer, etc. Praxis, die das Alltaghandeln leiten (Fins et al. 2003). Der bevorzugte Ort, an dem diese Hypothesen zu Tragen kommen, ist die ethische Fallbesprechung, und zwar dort, wo der Leitfaden die Erörterung und Prüfung der Argumente aus dem Blickwinkel ethischer Theorien vorsieht (image Kap. 22; image Kap. 23).

Aus pragmatistischer Sicht kann die Wahl des ethischen Begründungsansatzes (wie z. B. der Pflicht-, Folgen-, Tugendethik oder weiterer Ansätze) nicht unabhängig von der Situation erfolgen. Sie hängt vielmehr von der Natur des Problems selber ab: So ist es wahrscheinlich, dass sich bei Fragen der Verteilung knapper Güter folgenethische Hypothesen als hilfreicher erweisen, bei solchen der Beziehungsgestaltung und des Umgangs mit kognitiv vulnerablen Menschen eher tugend- oder care-ethische, bei Fragen der »Wahrheit am Krankenbett« oder der Selbstbestimmung eher pflichtethische. Diese Ansätze bringen also unterschiedliche Perspektiven zur Sprache, welche zu einem besseren Verständnis oder gar »Lösung« einer als ethisch schwierig empfundenen Situation führen können. Die Ansätze lassen sich in der Situation auch kombinieren, wie die Analyse des Beispiels mit Herrn Schmitt ergeben wird.

Ethiktheorien stellen »gedankliche Tools« (vgl. Porz 2016) dar, die uns keine Entscheidungen abnehmen (was ein häufiges Missverständnis darstellt), sondern zu gelingenden Entscheidungen anregen. Sie tragen dazu bei, das volle Potential kritischen Denkens (s. o.) für ethische Fragen fruchtbar zu machen, d. h. Situationen zu verstehen, Hypothesen zu formulieren und Entscheidungen in ethischer Hinsicht zu begründen. Von zentraler Bedeutung ist es, diese Entscheidungen auch zu evaluieren und zu ermitteln, welche Hypothese den »Test« der praktischen Erfahrung besteht, weil sie in der Lage ist, konsensfähige Vorstellungen des Guten (resp. guter Pflege, wie in der Situation mit Herrn Schmitt) zu verwirklichen.

Obwohl es verschiedene Möglichkeiten ethischer Begründung gibt, bedeutet dies keineswegs, dass Ethik eine relative Angelegenheit oder nur eine Frage des persönlichen Geschmacks ist: Im Umgang mit der Situation von Herrn Schmitt könnten wir zweifelsohne Optionen benennen, die sowohl intuitiv als auch objektiv falsch sind (z. B. die Verabreichung eines sedierenden Medikaments oder das Einsperren im Zimmer), aber auch solche, die intuitiv und objektiv richtig sind (Ernstnehmen des Bewohners, Eingehen auf seine Not). Aus der Beobachtung, dass es verschiedene Vorstellungen des Guten gibt, folgert also nicht – so eine spezielle Form des sog. ethischen Relativismus – dass es keine ethischen Verbindlichkeiten gibt. Vielmehr geht es darum, vernünftige, rational und gleichzeitig auch intersubjektiv gültige Argumente zu entwickeln, in denen diese Vorstellungen – in Form unterschiedlicher Hypothesen – diskutiert werden und diejenige ermittelt wird, welche am besten zur Verwirklichung guter Pflege beiträgt (zum ethischen Relativismus vgl. Irlenborn 2016).

Was bedeutet dies nun für die Situation mit Herrn Schmitt? Frau Fröhlich könnte seine Sorgen aufnehmen, ohne sie zu »korrigieren« versuchen. Sie könnte ihn an die »Phantom-Bushaltestelle« begleiten, ihm mitteilen, dass es sich um eine solche handelt und mit ihm im Gespräch bleiben, bis Herr Schmitt bereit ist, mit Frau Fröhlich in den Frühstücksraum zu gehen. Eine solche Vorgehensweise kombiniert sowohl Aspekte einer pflichtethischen (Recht auf Wissen über die »Art« der Bushaltestelle), tugendethischen (wahrhaftig sein), folgenethischen (Ernstnehmen der Sorgen von Herrn Schmitt und Absicht, diese zu lindern) sowie care-ethischen Begründung (In-Beziehung-Bleiben mit dem Bewohner; image Kap. 1.4.2; image Kap. 4). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Situation als Dilemma zwischen zwei gleichwertigen Prinzipien zu sehen (z. B. Gutes tun versus nicht schaden), die es abzuwägen. Dieser sog. Principlism wird in image Kap. 1.2.2 und image Kap. 1.4.5 erörtert).

1.2.2     Ethik als Reflexion von Grenzsituationen der Moral

Anhand des Beispiels von Herrn Schmitt haben wir gesehen, welche Klärung eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Ethik, insbesondere mit ethischen Theorien, bringen kann, wenn das ethisch richtige Handeln nicht unmittelbar auf der Hand liegt. Die Frage, was das allgemeine Merkmal solcher Situationen ist, führt uns zu einer zentralen begrifflichen Unterscheidung der philosophischen Ethik, nämlich derjenigen zwischen Moral und Ethik.