Für Elisabeth und unsere Eltern

 

Geleitwort

In ihrem Vorwort fragt Christine Kempkes zaghaft, ob es ein weiteres Buch über Trauer geben dürfe. Das ist mehr als eine Bescheidenheitsgeste. Dass sie das Buch Mit der Trauer leben lernen – Impulse für eine neue innere Balance geschrieben hat, ist meines Erachtens folgerichtig. Ihr Weg führte die ehemalige Bankkauffrau über ihre ehrenamtliche Tätigkeit der Sterbebegleiterin gradewegs in ihre jetzige hauptberufliche Tätigkeit der Bestatterin und Trauerbegleiterin. Die Arbeitsaufnahme als Bestatterin war daher zweifelsohne konsequent: Hier kann sie, gestützt durch ihre Qualifikationen und Erfahrungen – die des systemischen Coaches und der Trauerbegleiterin –, Menschen, die einen Verlust erlebt haben, sicher den Weg durch die Anforderungen einer Bestattung weisen und stabilen Halt in ihrer Trauer geben.

In ihrem Buch lädt Christine Kempkes dazu ein, das Gefühl der Trauer ganzheitlich wahrzunehmen, zu leben und sich dadurch auch mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Sie lässt dabei kein Themenfeld aus – weder die Themen, die gesellschaftlich akzeptiert sind, noch die, die die Gesellschaft nicht versteht. So beschreibt sie in ihrem Buch auch die unterschiedlichen Konfliktpotenziale, die von Trauer Betroffene erleben können. Manchmal ist es eben „nicht egal“, wie ein naher Angehöriger verstorben oder wie die Beziehung zu ihm gewesen ist.

Wie wichtig und unterschiedlich in den Familien der Bezug zu einem verstorbenen Familienmitglied gelebt wird, zeigt sich besonders in Kapitel 2, dem Punkt Geschwistertrauer. Der behutsame Blickwinkel, den die Autorin dort beschreibt, wird sofort bedeutsam.

Auch liebevoll, einfühlsam thematisiert sie die Trauer um alle Kinder: sowohl die Trauer der Eltern, deren Kinder mit einem Gewicht unter 500 Gramm verstorben sind und die aufgrund schwieriger Gesetze kein Recht auf eine angemessene Zeit des Begreifens bekommen, als auch die Trauer um Kinder, die still geboren wurden, und nicht zuletzt die Trauer der Eltern, deren Kinder als Erwachsene verstorben sind.

Selbst mit gefühlt schwierigen Themen wie Trauer um den Verlust eines Tieres und Suizid setzt sie sich sensibel auseinander.

Als ehemalige Küchenmeisterin hat mich ganz besonders der Passus über Ernährung in der Trauerkrise berührt. Bisher ist das Thema Ernährung und Trauer weder in der Fachwelt noch in der Gesellschaft angekommen. Christine Kempkes zeigt, welch große Chance sich hier für Familie und Freunde bietet, einen neuen Umgang mit der Traurigkeit und dem Verlust zu finden.

Das einzigartige Buch bietet auf verschiedenste Weise Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist gefüllt mit praktischen Weisheiten und Inspirationen. Es ist eine Einladung an alle Menschen, das große Tabu Trauer zu brechen und Menschen in Trauer liebevoll zu begegnen. Es ist erfüllt von tiefem Verstehen, von gelebten Beispielen, praktischen Tipps – und es ist vielleicht das erste Buch mit einem nachvollziehbaren Überblick über die Vielfalt der Trauer. Es ist ein Buch, das sich an Menschen in Trauer richtet – aber auch an die Fachwelt. Es ist das eine Buch, das Sie Ihrer Familie, Freunden, Arbeitgebern und Kollegen geben sollten, wenn diese gerade einen Verlust erlebt haben und in Trauer sind.

Lassen Sie sich inspirieren. Ich wünsche Ihnen trotz des traurigen Themas viel Freude beim Lesen und Entdecken.

Eva Kersting-Rader

Vorstandsmitglied im Bundesverband Trauerbegleitung e. V.

geprüfte Bestatterin

Trauerbegleiterin für Erwachsene und Familien

zertifizierte Kunsttherapeutin

Lehrbeauftragte der Universität Bonn

Vorwort und Dank

Noch ein Buch über Trauer! Als ob das Thema nicht schon meterweise die Regale in Buchhandlungen füllen würde. Kann also dieses Buch überhaupt noch neue Erkenntnisse liefern?

Als ich 2014 als Personalentwicklerin eines großen Bankkonzerns meine Weiterbildung zum Systemischen Coach abschloss, ahnte ich noch nicht, dass zu mir beinahe ausschließlich Klient:innen mit einer Verlusterfahrung kommen würden. Manche hatten ihren Arbeitsplatz verloren, andere befanden sich in einem schmerzhaften Trennungsprozess oder hatten einen geliebten Menschen durch Tod verloren. Das motivierte mich, 2017 die Fortbildung zur Trauerbegleiterin anzuschließen. Seitdem unterstütze ich Menschen, die einen Verlust erlitten haben und dadurch in die meist schwerste Krise ihres Lebens geraten sind. Ich liebe es zu erleben, wie sie Schritt für Schritt aus sich selbst heraus den Weg zurück ins Leben finden. Wie sie sich einlassen auf meine Impulse und kreativen Methoden, um neue Perspektiven auf ihr Leben und auch auf ihre Trauer zu entdecken, und somit eine neue innere Balance herstellen können.

So verbindet dieses Buch meinen reichhaltigen Methodenschatz aus dem Coaching mit den Erfahrungen aus der Trauerbegleitung sowie meiner Arbeit als Bestatterin. Es ist thematisch breit angelegt, weil es die unterschiedlichsten Problemstellungen aufgreift, die Ihnen in Ihrer Trauer begegnen können. Zu jedem Thema finden Sie Einladungen zu Übungen sowie Impulse, mit deren Hilfe Sie Ihre eigene Situation reflektieren, einen neuen Blickwinkel entdecken oder wieder handlungsfähig werden können. Vielleicht wird Ihnen nicht jede Idee gleich sympathisch sein – ich lade Sie ein herauszufinden, welche neuen Wege durch Ihre Trauer für Sie passgenau sind. Begeben Sie sich ruhig auf eine Art Entdeckungsreise zu den bisher nicht gehobenen Schätzen Ihrer Persönlichkeit! Daher lautet der Titel dieses Buches bewusst „Mit der Trauer leben lernen“ – denn wir lernen nie aus. Ein Leben lang können wir neue Seiten an uns entdecken und dazulernen.

Ergänzend finden Sie Verweise (Podcast) zu thematisch passenden Episoden meines Podcasts „Liebevoll trauern“, den Sie auf allen gängigen Podcast-Plattformen, unter https://liebevoll-trauern.podigee.io oder über meine Website (https://www.christinekempkes.de) erreichen. Videos () zu einzelnen Themen, die Sie in der Mediathek zu diesem Buch unter https://www.junfermann.de/titel/mit-der-trauer-leben-lernen/1337 finden, runden das multimediale Angebot ab.

Mit diesem Buch möchte ich all diejenigen unterstützen, die einen nahestehenden Menschen verloren haben und auf der Suche nach neuen Perspektiven für ihr Leben sind. Es ist außerdem eine hilfreiche Lektüre für alle Menschen im unmittelbaren Umfeld Trauernder: für deren Freund:innen, Kolleg:innen oder Nachbar:innen. Und da der Tod zum Leben gehört und jeden von uns früher oder später selbst oder im Verwandtenkreis treffen wird, ist es auch für alle lesenswert, die sich frühzeitig mit der Thematik auseinandersetzen möchten.

Bei der Vielfalt der Themen in diesem Buch bleibt es nicht aus, dass ich manches nur anreißen und nicht vertiefen kann. Sie finden daher im Anhang Literaturhinweise für eine weiter gehende Lektüre. Mein Herzensanliegen ist es, die Themen Sterben, Tod und Trauer, die in unserer Gesellschaft als die sogenannten schweren Themen gelten, in die Mitte des Lebens zu holen und sie mit einer gewissen Leichtigkeit zu versehen.

Die einzelnen (Unter-)Kapitel sind so aufgebaut, dass Sie sie unabhängig voneinander lesen können. Das war mir wichtig, weil ich weiß, wie schwer es Trauernden fällt, sich auf 200 Seiten am Stück zu konzentrieren. Sie können also im Stichwortverzeichnis nach den Themen suchen, die für Sie in Ihrer heutigen Situation relevant sind, und finden dazu in kurzen, leicht lesbaren Kapiteln das Wichtigste dargestellt.

Kapitel 1 befasst sich mit der Frage, was Trauer überhaupt ist und ob Sie „richtig“ oder „falsch“ trauern können. In Kapitel 2 geht es um besondere Todesumstände, wie z. B. den plötzlichen Tod, Suizid oder den Tod eines Kindes. Kapitel 3 beschreibt ausführlich die unterschiedlichen Gefühle, die sich hinter der Trauer verstecken, wie z. B. Angst, Ohnmacht oder Schuld. Und es geht auch um die Lebensfreude, die Sie sich in Trauerzeiten ebenso zugestehen dürfen. Wie sich Trauer auf Ihr Leben auswirkt und wie ein Weiterleben möglich wird, erfahren Sie in vielen verschiedenen Facetten in Kapitel 4 und 5. Da Einsamkeit ein großes Thema für Trauernde ist, nicht nur, wenn sie ihren Partner oder ihre Partnerin verloren haben, sondern auch, weil sich Menschen im Umfeld mehr und mehr zurückziehen, habe ich ihr ein eigenes Kapitel 6 gewidmet. Kapitel 7 sollten Sie lesen, wenn Sie nach hilfreichen Ritualen für verschiedene Gedenktage, wie z. B. Weihnachten und den Jahreswechsel, oder für das erste Trauerjahr suchen. Ein Unterkapitel über den Urlaub – für viele Trauernde ein heikles Thema – finden Sie hier ebenfalls. Wer sich den großen Fragen des Lebens und dem, was danach kommen könnte, stellen möchte, ist in Kapitel 8 über Glaube und Spiritualität gut aufgehoben. Schließlich finden Sie in Kapitel 9 Informationen zur Sterbephase, in der das Trauern bereits beginnt. Dieses Kapitel ist auch interessant, wenn Sie sich mit Ihrer eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen möchten.

Um Ihren Lesefluss möglichst wenig zu stören, habe ich mich gemeinsam mit meiner Lektorin für eine moderne Form des sogenannten Genderns entschieden, mit der ich alle Geschlechter berücksichtigen möchte. Weder finde ich es zeitgemäß, nur die männliche Form zu benennen mit einer Fußnote, dass sich die Frauen bitte auch angesprochen fühlen. Noch gefällt mir die Sternchenvariante (Leser*innen) oder das umständliche Ausschreiben (Leserinnen und Leser). Die gewählte Form mit Doppelpunkt (Leser:innen) unterstützt den Lesefluss am ehesten und ist zudem die Variante, die von Sprachcomputern am besten gelesen wird. Dies ist beispielsweise für Leser:innen mit einer Sehbehinderungen von Bedeutung.

DANKE

Durch dieses Buch zieht sich das Thema Dankbarkeit wie ein roter Faden, denn aus wissenschaftlichen Studien im Bereich der Positiven Psychologie wissen wir, dass sie ein zentraler Schlüssel für unsere emotionale Gesundheit ist. Auch im Trauerprozess geht es darum, in der vielleicht größten Krise unseres Lebens jeden noch so kleinen Moment zu entdecken, für den wir dankbar sein können. Jeden Tag aufs Neue haben wir die Wahl, kleine wie größere Begebenheiten und Augenblicke in unser Bewusstsein zu rücken, die uns guttun, anstatt uns auf die Dinge zu fokussieren, die uns traurig oder ärgerlich stimmen. Dankbarkeit können wir wie einen Muskel trainieren.

Aus diesem Grund möchte ich, anders als oft üblich, meinen Dank nicht hintenan, sondern vorneweg stellen. So ein Buch schreibt sich weder mal so eben noch ganz allein. Viele Menschen waren daran beteiligt, die ich gar nicht alle namentlich benennen kann. Immer wieder durchströmte mich in meinem Schreibprozess eine Welle voller Dankbarkeit angesichts der Unterstützung, die mir von verschiedenen Seiten und auf allen möglichen Kanälen zuteilwurde. Dies gab mir in den Momenten des Zweifelns und Haderns den nötigen Rückenwind, um weiterzuschreiben.

Beginnen möchte ich mit meiner Familie, meinen Kindern und meinem Mann, die mich viele Stunden, Tage und Wochen entbehren mussten – gerade auch während unserer Föhr-Aufenthalte – und mir geduldig den Rücken freigehalten haben. Zutiefst danken möchte ich meiner Mama, von der ich in intensiven Gesprächen über ihre Trauer unendlich viel lernen konnte. Ihre Zuversicht und ihr Humor waren und sind mir in den Krisen meines Lebens immer leuchtendes Vorbild. Und auch meinem 2015 verstorbenen Papa danke ich von ganzem Herzen. Er hat mir in so vielen Situationen meines Lebens, in denen ich mächtig Gegenwind bekommen habe, vermittelt, wie ich damit meine Segel füllen und weitersegeln kann.

Von ganzem Herzen danke ich meiner Freundin Petra Sutor für den fachlichen Austausch und vor allem für ihren seelischen Beistand. Sie war mir mit ihrem Buch Trauer am Arbeitsplatz (2020) ein halbes Jahr voraus, sodass ich von ihren Erfahrungen sehr viel lernen konnte. Danken möchte ich auch Juli Scheld für ihre Expertise und ihren wesentlichen Input zum Thema Gefühle in Kapitel 3 sowie für ihre Zeit und Hingabe, mit der sie die Entstehung des Kapitels begleitet hat, Patricia Schatzlmayr für ihren fachlichen Rat zum Thema Ernährung in Abschnitt 4.6, Walburga Schnock-Störmer für die Fülle an hilfreichen Anlaufstellen, die im Anhang aufgelistet sind, Angelika Bungert-Stüttgen, der „Freiraumfrau“, mit der ich in unserem inspirierenden „WhatsApp-Sprachnachrichten-Ping-Pong“ so manche Idee hin und her bewegen und dadurch Freiraum in meinem Kopf schaffen konnte. Mechthild Batzke verdanke ich, dass ich heute familienbiografische Themen in meiner Arbeit viel stärker berücksichtige und diese in Abschnitt 4.3 eingeflossen sind. Meiner Kollegin Eva Kersting-Rader bin ich von Herzen dankbar für ihre spontane Bereitschaft, ein Geleitwort zu schreiben – und dann noch eins mit so viel Herzenswärme und Bestärkung für mein Buch.

Ich danke meinen wundervollen Probeleserinnen Katrin Pieper, Birgit Pommerenke und Sonja Rode, denen ich einzelne Kapitel aufgrund ihrer eigenen Geschichte anvertrauen durfte, um sie einem „Praxistest“ zu unterziehen. Anne Schnetzer, die das gesamte Manuskript vor der ersten Abgabe einmal gegengelesen und mit ihrem wertvollen und liebevollen Feedback bereichert hat, gebührt mein ganz besonderer Dank.

Schließlich danke ich dem Team des Junfermann Verlags. Was für ein Geschenk, dass wir uns beim CoachCamp in Köln 2017 erstmals begegnet sind und seitdem die Idee für dieses Buch wachsen und reifen durfte. Ein dickes Dankeschön geht an meine Lektorin Katharina Arnold, die jederzeit ein offenes Ohr für meine Fragen und Zweifel als „Ersttäterin“ hatte und mit ihrer klaren Sicht von außen dem Buch den nötigen Feinschliff verpasst hat.

Natürlich wäre dieses Buch nicht möglich gewesen ohne meine Klient:innen, die Teilnehmerinnen meiner Trauergruppe „Trauernd weiterl(i)eben“ sowie die Mitglieder meiner Online-Trauergruppe „Was, wenn Trauer Heilung wäre?“. Vor ihnen ziehe ich den Hut, weil sie sich mutig, zweifelnd, liebend schrittweise ins Leben zurückkämpfen. Ich bin so dankbar für das Vertrauen, das sie mir schenken.

Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, danke ich, dass Sie mein Buch gekauft haben und ich Sie auf diese Art ein Stück Ihres Weges begleiten darf. Ich wünsche Ihnen viele wertvolle Anregungen sowie Mut, Zuversicht, Neugier und Experimentierfreude, um neue Pfade auf Ihrem ganz persönlichen Weg der Trauerbewältigung zu entdecken.

Ihre

 

1  Eine Vorbemerkung zur Sterbe- und Trauerkultur in unserer Gesellschaft finden Sie in dem Video „Trauer gehört mitten ins Leben“.

1. Was ist Trauer eigentlich?

1.1 Was, wenn Trauer Heilung wäre?

Ja, Sie haben richtig gelesen! Ich starte mit einer auf den ersten Blick etwas provozierenden Frage in dieses Buch. Eine Frage, die Sie aufrütteln soll, gleich zu Beginn aus gewohnten Denkmustern auszubrechen. Die Sie einlädt, eine neue Perspektive auf Ihre Trauer einzunehmen. Die Sie neugierig macht auf ein Gedankenspiel.

Als Kind habe ich diese „Was-wäre-wenn-Spiele“ geliebt. Was wäre, wenn ich fliegen könnte, was wäre, wenn ich mich mit meinem Hund auf eine einsame Insel beamen könnte, was wäre, wenn ich eine Zeitmaschine hätte? Ganz unbefangen und in meinen Denkstrukturen noch nicht begrenzt, fantasierte ich vor mich hin. Die Gedanken waren frei, in meinem Kopf entstand meine eigene kleine Parallelwelt. Was wäre, wenn? So im Konjunktiv gefragt, ist es gleich viel leichter, auch Verrücktes, scheinbar Unvorstellbares zu denken.

Und genau das möchte ich Ihnen hier ermöglichen. Was, wenn Trauer Heilung wäre? Wagen Sie sich gemeinsam mit mir auf ungewohntes Terrain und entdecken Sie eine neue Perspektive, aus der Sie auf Ihre Trauer schauen können.

Trauer – ein ungeliebtes Gefühl

In unserer Gesellschaft gehört die Trauer zu den Gefühlen, die wir am liebsten aus unserem Leben ausklammern. Positive Gefühle wie Freude, Glück oder Zuneigung sind immer herzlich willkommen, sie bringen Glanz in unser Leben und scheinen die wesentliche Zutat für ein gutes Leben zu sein. Meterweise Ratgeberliteratur in den Buchhandlungen suggeriert uns, dass es jederzeit möglich ist, sorgenfrei und wie „aus dem Ei gepellt“ zu leben. In dieser strahlenden Welt haben (vermeintlich) negative Gefühle wie Angst, Wut oder eben Trauer keinen Platz. Sie gilt es, nach allen Regeln der Kunst aus dem Alltag zu verbannen. Bestenfalls bekommt der Leser ein paar Übungen an die Hand, wie das funktionieren kann.

Dabei ist Ihre Trauer gar nicht das Problem, sondern die Lösung! Trauer ist eine natürliche, (über-)lebensnotwendige und gesunde Reaktion auf einen Verlust. Das kann der Tod eines geliebten Menschen genauso sein wie der Verlust einer Partnerschaft, von Heimat (wie es z. B. Flüchtlinge erleben), von Fähigkeiten nach einer Erkrankung oder das Ende einer Lebensphase (beispielsweise wenn Kinder erwachsen werden und aus dem Haus gehen) oder auch der Eintritt ins Rentenalter und damit die Beendigung des Berufslebens. Diese Verluste gehören für jede:n von uns zum Leben dazu, und zwar von klein auf. Da stirbt das geliebte Haustier, wir verlieben und trennen uns, wir verlassen die Schule, beenden eine Ausbildung oder das Studium und so zieht es sich durch das ganze Leben. Und irgendwann, früher oder später, sterben Menschen aus unserem nächsten Umfeld. In allen diesen Verlustsituationen wirkt Trauer wie eine Salbe für die entstandenen Wunden. Indem Sie sich aktiv auf den Schmerz einlassen, ihn zulassen, statt vor ihm wegzulaufen, gehen Sie Schritt für Schritt einen Weg, der Sie schließlich in die Heilung führt.

Dieser Weg führt mitten durch den Schmerz hindurch, nicht an ihm vorbei. Das ist meist der Satz, den meine Klient:innen nicht gerne hören! Natürlich würde ich auch Ihnen als Leser:in gern Schmerz und Leid ersparen, aber zunächst braucht es eben ein Abtauchen und Eintauchen in den Schmerz. Dieses intensive Spüren der Trauer in ihrer ganzen Wucht ist ein zwingend notwendiger Teil des Verarbeitungsprozesses und hat sogar seine positiven Seiten, wie Sie in Abschnitt 4.1 ausführlicher nachlesen können. Ich bin überzeugt davon, dass Sie auch die positiven Gefühle in ihrer vollen Intensität nur spüren können, wenn Sie am anderen Ende der Gefühlsbandbreite die schmerzhaften Gefühle ebenso tief durchleben. Kapseln Sie sich von diesen ab, so beschneiden Sie gleichermaßen Ihre Lebensfreude. Gefühle wollen eben gefühlt werden – und zwar alle!

Wenn Trauer nicht gelebt wird

Was wäre denn die Alternative zur Trauer? Nicht trauern, weglaufen, sich in Aktivitäten stürzen, den Schmerz betäuben. Das mag für eine kurze Zeit gehen und durchaus eine attraktive Lösung sein. Die Trauer vorübergehend zur Seite zu schieben hilft auch, manche Situation im Alltag zu überstehen. Doch Trauer ist schlau! Wird sie dauerhaft nicht beachtet, kehrt sie in neuem Gewand zurück, meist durch die Hintertür, verkleidet z. B. als Migräne, Rückenschmerz, Angstzustand, Panikattacke oder Depression. Trauer selbst ist keine Krankheit, aber nicht gelebte Trauer kann krank machen. Ist es erst einmal so weit gekommen, fällt es Ärzten und Therapeuten oft schwer, den Verlust und die nicht gelebte Trauer als Ursache auszumachen. Nicht selten kommt es dann zu langwierigen Therapieverläufen, die sich wie ein „Stochern im Nebel“ anfühlen. Sollten Sie gerade an diesem Punkt stehen und sich fragen, ob Ihre körperlichen und / oder psychischen Symptome auf einen nicht verarbeiteten Verlust zurückzuführen sind, dann empfehle ich Ihnen, sich entweder eine gute Trauerbegleitung zu suchen oder einen Therapeuten mit Erfahrung im Bereich Trauer. Hinweise dazu finden Sie im Anhang.

Aktiv zu trauern bedeutet also, sich auf einen heilsamen Weg zu machen. Wie dieser Weg für Sie persönlich aussieht und in welchem Tempo Sie ihn gehen, das bestimmen Sie ganz allein. Sie werden auf steinige Passagen, Weggabelungen, Steigungen, Gefälle und Serpentinen treffen, aber es ist wie beim Bergsteigen: Die Mühen des Aufstiegs werden durch eine wunderschöne Aussicht, den weiten Blick und das Gefühl, etwas geschafft zu haben, belohnt. So werden Sie eines Tages auf Ihren Weg der Heilung zurückblicken und sagen können: Ja, es war ein verdammt harter Weg, den ich mir gern erspart hätte, aber ich weiß auch zu schätzen, was ich dadurch gewonnen habe.

Vielleicht erscheint Ihnen das aus heutiger Sicht noch unvorstellbar. Vielleicht regt sich in Ihnen gerade auch Widerstand, weil Sie doch eigentlich nur den alten Zustand wiederherstellen möchten, statt ohne den geliebten Menschen weiterleben zu müssen. Daher gehören eine Portion Vertrauen und Mut in Ihr Handgepäck. Vertrauen darauf, dass Sie alles in sich tragen, was Sie für Ihren Weg benötigen. Vertrauen auch darauf, dass Sie zur rechten Zeit wissen werden, was zu tun ist. Martin Walser beschreibt dieses Vertrauen mit dem Satz „Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße“. Mut können Sie gut gebrauchen, um ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Wege auszuprobieren.

Gedankenspiel

Ich lade Sie ein, Ihre Trauer zu personalisieren und sich ihr mit diesen Fragen auf andere Art zu nähern:

Diese Art der personalisierten Trauer kann Sie unterstützen, einen leichteren Zugang zu ihr zu entwickeln. Manche Trauernde geben bewusst einen Namen mit Augenzwinkern, z. B. „Miss Daisy“ oder „Agathe“ – das schafft bei allem Schmerz auch eine gewisse Leichtigkeit. Manche verabreden sich mit ihrer Trauer auf dem Sofa bei Kerzenschein und Wein, um Dinge auszusprechen, die ihr Herz beschweren, oder auch, um mal so richtig loszuschimpfen. Auch wenn es für Sie gerade etwas spooky klingt, es tut gut, auf die Antworten zu hören. Denn wie wir alle, möchte auch Ihre Trauer gesehen und gehört werden!

Podcast Wenn Sie weitere Impulse zu diesen Themen wünschen, hören Sie auch gerne die Podcastepisode 28 „Trauer und Mut“ unter https://liebevoll-trauern.podigee.io.

1.2 Die sechs Notwendigkeiten der Trauer nach Alan D. Wolfelt

Es gibt verschiedene Modelle, die helfen, das Phänomen Trauer besser zu verstehen. Die wohl bekanntesten sind sogenannte Trauerphasenmodelle, z. B. des amerikanischen Psychologieprofessors J. William Worden oder der Psychologin und Psychotherapeutin Prof. Dr. Verena Kast. Demnach verläuft Trauer in verschiedenen Phasen, die in individuell unterschiedlicher Intensität und Länge durchlaufen werden.

Ich persönlich arbeite nicht gern mit solchen Phasenmodellen, weil sie suggerieren, Trauer lasse sich in Abschnitte einteilen, die in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden. Zudem lässt der Begriff „Phase“ darauf schließen, dass es einen definierten Anfang und ein Ende jedes Abschnitts gibt, bevor die nächste Phase beginnt. Dies führt meiner Erfahrung nach dazu, dass Trauernde sich „falsch“ fühlen, wenn sie in einer Phase feststecken und damit der Weg in die nächste Phase verschlossen bleibt. Oder wenn sie zwischen zwei Phasen hin und her springen, weil manche Themen immer mal wieder neu angeschaut werden wollen.

Umso glücklicher war ich, in meiner Ausbildung zur Trauerbegleiterin das Modell der „sechs Notwendigkeiten der Trauer“ nach Alan D. Wolfelt kennenzulernen. Diese sechs Notwendigkeiten können Sie sich wie Aufgaben vorstellen, die das Leben Ihnen in Zeiten der Trauer stellt. Es gibt dabei keine vorgegebene Reihenfolge, die Sie einhalten sollten, und vor allem können Sie auch mehrere Aufgaben parallel „bearbeiten“. Das passiert oft ganz automatisch, weil beispielsweise manche Rituale sich auf mehr als eine Notwendigkeit beziehen. Zudem können Sie einzelne Notwendigkeiten ruhen lassen, wenn Sie vorerst das Gefühl haben, nicht weiterzukommen. Manchmal ist die Zeit einfach noch nicht reif für bestimmte Verarbeitungsprozesse. Dann macht es Sinn, die Aufgabe beiseitezulegen in dem Vertrauen, dass der passende Zeitpunkt kommen wird.

Auch ist es nach diesem Modell möglich, zwischen Aufgaben zu springen und dennoch das Gefühl zu haben, dass es vorwärtsgeht. In meiner Arbeit mit Trauernden erlebe ich immer wieder, dass sie sich gut in die verschiedenen Aufgaben hineinversetzen und mit ihnen ihren persönlichen Trauerprozess gestalten können.

Die im Folgenden genannte Reihenfolge ist daher keine Vorgabe für Ihre Trauer. Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie zu allen Notwendigkeiten bereits Teilaufgaben erledigt haben. Sie ganz allein sind die Expertin oder der Experte Ihrer Trauer und entscheiden, welche Themen Sie wann angehen möchten.

1. Notwendigkeit: die Realität des Todes anerkennen

Es geht darum anzuerkennen, dass der geliebte Mensch wirklich tot ist. Er wird nicht, wie gewohnt, heute Abend zur Tür hereinkommen oder Ihnen ein fröhliches „Hallo“ entgegenrufen. Gerade bei sehr plötzlichen Todesfällen, z. B. durch Unfall oder Suizid, ist dies eine echte Herausforderung. Viele Trauernde haben auch Wochen oder Monate nach dem Tod noch das Gefühl, der Verstorbene sei nur vorübergehend verschwunden. Alles sei nur ein schlimmer Albtraum, aus dem sie bald erwachen würden.

Aus diesen Gründen ist es so wichtig, sich vom Toten zu verabschieden. Viele Angehörige, die im Rahmen der Bestattungsplanung bei mir sitzen, möchten sich nicht mehr am offenen Sarg verabschieden. „Wir möchten ihn oder sie so wie im Leben in Erinnerung behalten“ ist das Argument, das ich dann meistens höre. Doch mit Blick auf diese erste Notwendigkeit der Trauer ist genau das heilsam: zu sehen, dass der Mensch wirklich tot ist, dass er sich kalt anfühlt und dabei ganz friedlich aussieht. Wohltuend ist auch, persönliche Gegenstände wie Fotos, Schmuck oder andere Erinnerungsstücke in den Sarg zu legen und diesen mit dem Bestatter gemeinsam zu schließen. So wird die Realität des Todes im wahrsten Wortsinn be-„greif-“bar.

Natürlich wirkt auch die Beerdigung darauf hin, die Realität anzuerkennen. Je aktiver Sie diese selbst gestalten, indem Sie beispielsweise die Musik aussuchen oder persönliche Gestaltungselemente einbauen, desto besser.

Schließlich gibt es viele kleine und größere Zeichen, die Ihnen die Realität ohne Ihren geliebten Menschen vor Augen führen: das Bett, das Abend für Abend leer bleibt, der Besuch auf dem Friedhof oder die Pflege des Grabes.

2. Notwendigkeit: den Schmerz annehmen

Viele Trauernde möchten vor dem Schmerz am liebsten weglaufen. Der Tränensee staut sich, bis er überläuft – doch genau dann tritt endlich Erleichterung ein. Es gehört also zu den heilsamen Traueraufgaben, sich dem Schmerz zu stellen und ihn in seiner ganzen Intensität zu spüren und zu durchlaufen (siehe auch Abschnitt 1.2). Wundern Sie sich nicht, wenn Sie in den ersten Monaten das Gefühl haben, dass der Schmerz immer schlimmer statt besser wird. Das ist ein Schutz Ihrer Psyche, Bedrohliches nur Stück für Stück an Sie heranzulassen. Und zwar in dem Maße, wie Sie die Bedrohung vertragen können.

Augen auf und durch

Auch wenn Sie gern eine andere Botschaft hören würden: Es gibt nur diesen einen Weg durch den Schmerz hindurch, nicht an ihm vorbei. Ich empfehle Ihnen, eben nicht die Augen und Ihr Herz zu verschließen, sondern ganz bewusst mit offenen Augen und weit geöffnetem Herzen diesen schmerzvollen Weg zu gehen.

Manche meiner Klient:innen berichten mir nach der ersten Sitzung erleichtert, dass sie erstmals richtig weinen konnten. Allzu oft diktiert uns das Leben, für andere funktionieren zu müssen. Allzu oft meinen wir, stark sein zu müssen, und werten Tränen als Zeichen von Schwäche. Was halten Sie von folgendem Perspektivwechsel: Was, wenn Tränen ein Zeichen von Stärke wären? Weil sie Sie in Kontakt zu sich selbst bringen und Sie sich selbst damit wichtig nehmen? Tränen sind ein klares Statement: ein JA zu sich selbst! Mehr zum Thema Weinen finden Sie in Abschnitt 5.4.

Je mehr Sie versuchen, gegen den Schmerz, gegen die Tränen anzukämpfen, desto mehr Kräfte verschenken Sie, die Sie eigentlich zum Trauern benötigen. Vielleicht hilft Ihnen das Bild der Hängematte, in die Sie sich hineinfallen lassen. Genau so können Sie sich auch in Ihren Schmerz hineinbegeben. Je mehr Raum und Daseinsberechtigung Sie ihm geben, desto leichter wird es, mit ihm umzugehen. So, wie eben das Schaukeln in der Hängematte Leichtigkeit schenkt.

3. Notwendigkeit der Trauer: dankbare Erinnerung

Erinnerungen sind die Schätze, die Sie in Ihrer Schatzkiste des gemeinsamen Lebens sammeln. Natürlich ist es immer auch schmerzhaft, sich an Zeiten und Ereignisse zu erinnern, die unwiderruflich vorbei sind. Vielleicht ist es Ihnen deshalb anfangs nicht so gut möglich, die Schatzkiste zu öffnen. Aber seien Sie gewiss: Neben dem Schmerz fühlen Sie auch ganz viel Liebe durch diese Erinnerungen. Es wäre doch schade, wenn Sie sich dieses Gefühl verwehren würden, oder?

Wir wissen aus der Resilienzforschung – die Forschung zu der Frage, was uns widerstandsfähig macht, um Krisen zu bewältigen –, dass Dankbarkeit eine wichtige Rolle spielt, um aus eigener Kraft das Tal der Tränen wieder zu verlassen. Sie lässt uns auf das Positive fokussieren, auf das, was funktioniert, anstatt (wie so häufig) nur das Negative zu sehen. Gerade in Zeiten der Trauer, in der Ihnen Ihr Leben dunkel und grau vorkommt, öffnet Ihnen Dankbarkeit die Tür zu einem helleren und bunteren Raum. Sie weitet Ihren Blick dafür, dass es neben dem schmerzlichen Verlust auch noch etwas gibt, das Sie im Leben trägt und Ihnen Halt gibt.

Kaufen Sie sich ein hübsches Heft oder eine Kladde, das / die Sie auf Ihren Nachttisch legen. Jeden Abend notieren Sie drei Dinge, für die Sie an diesem Tag dankbar sind. Dabei gilt: Es sind nicht nur die großen Ereignisse, die dankenswert sind. Gerade in Zeiten der Trauer sind es oft ganz kleine Dinge, für die Sie dankbar sein können: für das Lächeln der Nachbarin, für die Teepause zwischen Büro und familiären Verpflichtungen oder für das Telefonat mit einem guten Freund.

Sie werden sehen, dass ein solches Dankbarkeitstagebuch Sie Stück für Stück bewusster all das Gute in Ihrem Leben entdecken lässt.

Ganz praktisch haben Sie unendlich viele Möglichkeiten, die Erinnerung an Ihren geliebten Verstorbenen wachzuhalten. Einige Beispiele finden Sie in Abschnitt 5.6.

4. Notwendigkeit: eine neue Identität entwickeln

Der Verlust eines geliebten Menschen führt zwangsläufig zu einem Rollenwechsel. Vielleicht waren Sie bisher Ehefrau und sind jetzt Witwe. Vielleicht waren Sie Eltern und sind nun „verwaist“. Vielleicht waren Sie Sohn oder Tochter und stehen nun an oberster Stelle in Ihrer Ahnenreihe.

Es ist ein längerer Prozess, in diese neue Identität hineinzuwachsen. Nehmen Sie sich dafür ganz bewusst Zeit. Wenn in Ihrem Leben ohnehin kein Stein auf dem anderen bleibt, ist dies auch die Chance, diese Identitätsfindung für eine Neusortierung zu nutzen. In der Krise wird sichtbar, was Ihnen wirklich wichtig ist und was nicht. Auch Fragen wie „Wer bin ich und wer möchte ich sein?“ stellen sich häufig in Zeiten der Trauer.

Gleichermaßen stehen Sie in dem Spannungsfeld, Gewohntes bewahren zu wollen, um ein Mindestmaß an Sicherheit aufrechtzuerhalten. Versuchen Sie also nicht, alles auf einmal umkrempeln zu wollen oder gar mit der Brechstange Veränderungen herbeizuführen. Nicht umsonst heißt es, dass man im ersten Trauerjahr keine gravierenden Entscheidungen treffen soll, beispielsweise an einen ganz anderen Ort zu ziehen oder den Job zu kündigen.

Sie finden in diesem Buch viele Impulse, wie Ihnen die Entwicklung einer neuen Identität gelingen kann. An dieser Stelle ist mir die Erkenntnis wichtig, dass Sie nicht „falsch“ sind, nur weil sich gerade alles „falsch“ anfühlt. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn Sie das Gefühl haben, sich selbst nicht mehr zu kennen. Gerade für diese Aufgabe muss die Zeit erst reif werden und es ist ein längerer Prozess, sich neu zu finden. Vielleicht gelingt es Ihnen, mit einer gewissen Neugier und Unvoreingenommenheit auf sich und Ihren Weg zurück ins Leben zu schauen.

5. Notwendigkeit: Suche nach dem Sinn

Hierbei geht es darum, einen Sinn im Tod und einen neuen Sinn im Leben zu finden. Ganz schön harter Tobak – was denken Sie? Ja, es ist eine der anspruchsvollsten Traueraufgaben, die sich oft erst in der Rückschau wirklich erschließt.

Eine Frage, die Ihnen dabei behilflich sein kann, lautet: Welche Spur des Verstorbenen können Sie aufnehmen? Welchen begonnenen Weg können Sie fortsetzen? Vielleicht hatte Ihr geliebter Mensch eine besondere Fähigkeit, auf die Sie sich bisher verlassen konnten und die Sie nun erlernen möchten?

Frau S. hat im ersten Sommer nach dem Tod ihres Mannes nach dessen Bauplänen ein Regal auf der Terrasse gebaut. Sie, die vorher nie handwerklich interessiert oder gar begabt war, schaute voller Stolz auf ihr Bauwerk und spürte gleichzeitig eine liebevolle Verbindung zu ihrem Ehemann.

*

Herr B. kümmert sich nach dem Tod seiner Frau hingebungsvoll um sein Enkelkind. Bis dato waren das Abholen am Kindergarten und die „Nachmittagsschicht“, bis die Eltern von der Arbeit kamen, die Domäne seiner Frau gewesen. Diese Aufgabe gibt seinem Leben nun einen neuen Sinn.

Überhaupt kenne ich viele Trauernde, die im Tun für andere, beispielsweise in einem Ehrenamt als Lesepate an einer Grundschule oder im Hospizdienst, eine tiefe Sinnerfüllung finden. Bevor Sie sich jedoch anderen Menschen in dieser Art und Weise zuwenden, möchte ich Sie ermutigen, sich zunächst gut und intensiv um sich selbst zu kümmern. Sie sollten in der Sorge um andere nicht vor sich selbst davonlaufen.

6. Notwendigkeit: Unterstützung annehmen

Diese Aufgabe hört sich zunächst banal an, stellt sich in der Praxis allerdings häufig als schwierig heraus. Wie gut gelingt es Ihnen, aktiv um Hilfe zu bitten? Oder gehören Sie auch zu den Menschen, die es lieber allein versuchen, bevor sie ihre „Schwäche“ eingestehen und den Nachbarn um die Reparatur ihres Fahrrads bitten? Oder kaufen Sie auch eher eines der vielen Steuerprogramme und wurschteln sich da durch, bevor Sie die Arbeitskollegin um Unterstützung bei der Steuererklärung bitten?

Vielleicht ist Ihnen auch schon Hilfe angeboten worden, die Sie mit den Worten „Ich komme schon klar“ dankend abgelehnt haben, um dann festzustellen, dass es doch schön gewesen wäre, wenn die Freundin Ihre Kinder zum Ausflug mitgenommen oder der Nachbar Ihnen den schweren Wasserkasten vom Getränkemarkt mitgebracht hätte.

Wie auch immer – Ihre neue Lebenssituation fordert viel von Ihnen, vermutlich auch viele Dinge, die Sie noch nie gemacht haben. Erstellen Sie am besten eine Liste und notieren Sie sich, wer Ihnen bei den einzelnen Themen helfen könnte. Sie müssen wahrlich nicht alles allein schaffen! Erfahrungsgemäß gibt es auch Menschen im Umfeld, die gern helfen möchten, aber unsicher sind, wie sie dies ansprechen sollen. Diese Menschen freuen sich, wenn Sie sie aktiv einbinden.

Was halten Sie auch hier von folgendem Perspektivwechsel: Um Hilfe zu bitten ist nicht Schwäche, sondern eine ausgesprochene Stärke, weil Sie liebevoll auf sich selbst und auf andere schauen, denen Sie die jeweilige Fähigkeit zutrauen.

Nehmen Sie sich ein DIN-A4-Papier und teilen es in sechs Felder ein. Jedes Feld überschreiben Sie mit einer der sechs hier vorgestellten Notwendigkeiten. Notieren Sie nun, was Sie bereits getan haben, das für die eine oder andere (und manchmal auch mehrere) Notwendigkeiten gut war. Wenn Sie beispielsweise ein Fotobuch mit Bildern des letzten Lebensjahres gestaltet und dabei viele Tränen vergossen haben, dann haben Sie sich damit nicht nur dankbar erinnert (3. Notwendigkeit), sondern auch den Schmerz angenommen (2. Notwendigkeit).

Nun erkennen Sie, in welchem Bereich Sie bereits gut unterwegs sind und wo Sie noch Nachholbedarf haben. Vielleicht kommen Ihnen schon erste Ideen, was Sie für die eine oder andere Notwendigkeit noch tun könnten.

Aber: Bitte überstürzen Sie nichts – wie schon gesagt, für manche Traueraufgabe muss die Zeit erst reifen. Setzen Sie sich nicht selbst unter Druck.

Podcast Wenn Sie weitere Impulse zu diesem Thema wünschen, hören Sie auch gerne die Podcastepisoden 2 „Sechs Notwendigkeiten der Trauer, Teil 1“ und 3 „Sechs Notwendigkeiten der Trauer, Teil 2“ unter https://liebevoll-trauern.podigee.io.

1.3 Gibt es „richtige“ und „falsche“ Trauer?

Trauerprozesse sind so individuell wie wir Menschen. Es wäre doch zu schön, wenn ich Ihnen eine Art Schablone an die Hand geben könnte, ein Raster, in das Sie sich einsortieren könnten, und wie von Geisterhand wüssten Sie dann, was zu tun ist und wie Trauern funktioniert! So einfach ist es aber leider nicht. Oder glücklicherweise! Denn macht es nicht auch Druck, auf eine bestimmte Weise funktionieren zu müssen, um irgendwie „richtig“ zu trauern? Betrachten Sie es als Erleichterung, dass Sie Ihren eigenen Weg gehen dürfen, Ihr eigenes Tempo wählen und dabei vielleicht auch die eine oder andere Schleife drehen können.

Auf die Umstände kommt es an

Wie sich Ihr Trauerprozess gestaltet und anfühlt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab:

Schließlich geht es in der Trauerbewältigung auch um Ihre Selbstwirksamkeit: Die kognitive Psychologie versteht darunter die Überzeugung einer Person, auch schwierige oder herausfordernde Situationen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Der kanadische Psychologe Albert Bandura hat in den 1970er-Jahren den Begriff der sogenannten Selbstwirksamkeitserwartung entwickelt: Menschen, die daran glauben, selbst etwas bewirken und auch in schwierigen Situationen selbstständig handeln zu können, haben demnach eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung. Sie nehmen gezielt Einfluss auf Dinge oder Situationen ihres Lebens, statt äußere Umstände, andere Personen oder andere unkontrollierbare Faktoren dafür verantwortlich zu machen. Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit einem starken Glauben an die eigenen Kompetenzen mehr Ausdauer bei der Bewältigung von Aufgaben entwickeln und weniger anfällig für die Entwicklung von Angststörungen und Depressionen sind. Auf Ihre Trauer bezogen bedeutet dies, dass Ihr Vertrauen oder Misstrauen in Ihre Fähigkeit, den Verlust verarbeiten zu können, eine bedeutende Rolle spielt.

Verlängerte Trauerstörung

Auch wenn es keine richtige oder falsche Trauer gibt, stellt sich dennoch die Frage, ob Sie, unter Umständen mithilfe von professioneller Trauerbegleitung, Ihren Verlust autark bewältigen können oder ob es therapeutischen Bedarf gibt. Über die genaue Abgrenzung zwischen „normaler, gesunder Trauer“ und einer sogenannten verlängerten Trauerstörung diskutieren die Experten. Anzeichen für eine verlängerte Trauerstörung sind u. a. eine emotionale Taubheit, das Vermeiden von Erinnerungen, die mit dem Verlust im Zusammenhang stehen, Verbitterung und Wut im Zusammenhang mit dem Verlust oder auch eine gefühlte Sinnlosigkeit und Unsicherheit über die eigene Rolle im Leben – und zwar über die ersten sechs Monate nach dem Tod des geliebten Menschen hinaus.