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[1]utb 2418

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[3]Ulrike Froschauer / Manfred Lueger

Das qualitative Interview

Zur Praxis interpretativer Analyse sozialer Systeme

facultas

[4]Ulrike Froschauer ist ao. Professorin am Institut für Soziologie der Universität Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://d-nb.de abrufbar.

2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2020

© 2006 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Atelier Reichert, Stuttgart

Umschlagabbildungen: commons.wikimedia.org

Innengestaltung und Satz: grafzyx.com, Wien

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

eISBN 978-3-8463-5280-9

[5]

Inhalt

Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage

1Einführung

2Grundlagen qualitativer Forschungsgespräche

2.1Das Forschungsdesign als Gesprächsrahmen

2.2Allgemeine Formen der Gesprächsführung

2.3Das in Forschungsgesprächen generierte Wissen

2.4Beispiel einer Systemanalyse mittels qualitativer Interviews

3Praktische Hinweise zur Gesprächsdurchführung

3.1Varianten der Gesprächsführung

3.1.1Entscheidungskriterien zur Gesprächsführung

3.1.2Verfahren der Gesprächsführung

3.1.3Zusammenfassende Hinweise

3.2Teilnehmer*innen an Forschungsgesprächen

3.3Der allgemeine Rahmen zur Durchführung offener Gespräche

3.4Die Bedeutung und Organisierung der Gesprächsphasen

3.5Unterschiedliche Formen von Fragen

4Grundlagen der Gesprächsinterpretation

4.1Allgemeine Analysemöglichkeiten

4.2Der Interpretationsprozess

4.3Basisannahmen der Gesprächsanalyse

4.4Formale Anforderungen an die Interpretation

5Praktische Hinweise zur Textinterpretation

5.1Feinstrukturanalyse

5.1.1Voraussetzungen und allgemeine Vorgangsweise

5.1.2Interpretation der Sinneinheiten

5.1.3Zusammenfassende Interpretation

5.1.4Beispiel für eine Feinstrukturanalyse

5.2Systemanalyse

5.2.1Analyse des Gesprächsflusses

5.2.2Allgemeine Vorgangsweise bei der Systemanalyse

5.2.3Interpretation der thematischen Einheiten

5.2.4Schrittweise zusammenfassende Analyse

5.2.5Beispiel für eine Systemanalyse

[6]5.3Codestrukturanalyse

5.3.1Allgemeine Vorgangsweise

5.3.2Beispiel für eine Codestrukturanalyse

5.4Themenanalyse

5.4.1Voraussetzungen und allgemeine Vorgangsweise

5.4.2Beispiel für eine Themenanalyse

5.5Zusammenfassende Analyse des manifesten Inhalts

6Qualitätssicherung und Ergebnisaufbereitung

6.1Strategien zur Qualitätssicherung

6.2Aufbereitung der Ergebnisse

7Der methodologische Kontext der Analyse sozialer Systeme

7.1Analyse sozialer Systeme im Rahmen qualitativer Sozialforschung

7.1.1Erkenntnistheoretische Rahmenbedingungen

7.1.2Maximen qualitativer Sozialforschung

7.2Komponenten einer qualitativen Analyse sozialer Systeme

7.2.1Kommunikation

7.2.2Sinn

7.2.3Strukturierung

7.3Anforderungen an qualitative Forschungsgespräche

8Anhang

8.1Anforderungen an den Forschungsprozess

8.2Die Untersuchungsplanung

8.3Entscheidungskriterien zur Gesprächsführung

8.4Die Gesprächsführung allgemein

8.5Zusatzprotokoll

8.6Richtlinien für die Gesprächstranskription

8.7Kurzfassung Feinstrukturanalyse

8.8Kurzfassung Systemanalyse

8.9Kurzfassung Codestrukturanalyse

8.10Kurzfassung Themenanalyse

8.11Qualitätssicherungsstrategien

9Literatur

10Sachregister

[7]

Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage

Qualitative Sozialforschung hatte schon vor 30 Jahren einen enormen Aufschwung zu verzeichnen. Seither hat sich viel getan und es ist eine überbordende Fülle an Literatur zu verschiedensten Forschungsansätzen und Methoden inklusive einer großen Menge an Einführungs- und Handbüchern erschienen (vgl. z. B. Flick/Kardorff/Steinke 2000; Gubrium et al. 2012; Reichertz 2016; Akremi et al. 2018; Bohnsack/Geimer/Meuser 2018; Denzin/Lincoln 2018). Trotz dieser enormen Verbreitung bestehen immer noch viele Missverständnisse darüber, was qualitative und insbesondere interpretative Sozialforschung ausmacht, und auch bei der Durchführung der Interviews zeigen sich vielfach Schwierigkeiten bei der Auswahl eines in Hinblick auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse angemessenes Vorgehen sowie bei der Interpretation des Materials:

Manche sehen qualitative Interviews noch immer als exploratives Vorgehen für nachfolgende quantitative Überprüfungen an, was die spezifischen Stärken solcher Gespräche, nämlich die Erkundung von Handlungs- und Systemlogiken in sozialen Systemen, die Gründe für die Entwicklung spezifischer Handlungsweisen in einem sozialen Feld und die spezifischen Dynamiken der Strukturierung komplexer Sozialsysteme, aus dem Blickfeld verschwinden lässt. Aus diesem Grund ist es nach wie vor wichtig, die Eigenständigkeit und Charakteristik einer qualitativ orientierten Durchführung und Analyse von Gesprächen im Rahmen angemessener Forschungsstrategien aufzuzeigen.

Vielfach wird qualitative Forschung mit der Erkundung subjektiver Meinungen von Menschen gleichgesetzt. Qualitative Analyseverfahren beruhen zwar auf der Kreativität der Interpret*innen und stellen die Subjektivität der Akteur*innen in Rechnung, jedoch ist Subjektivität ein Forschungsgegenstand qualitativer Analyse (unter anderen), aber kein Merkmal der Analyse. Insbesondere interpretative Forschung befasst sich mit den Bedingungen der Möglichkeit von Beobachtungen und Handlungen in sozialen Situationen sowie mit der Struktur und Entwicklungsdynamik sozialer Felder. Das hat wenig mit Subjektivität zu tun, aber viel mit den Kontextbedingungen, komplexen Interaktionen zur Formung kollektiven Wissens sowie objektiv-latenten Sinnstrukturen, welche die Ereignisse und Prozesse besser verstehbar machen. Es ist daher wichtig, Verfahrensprinzipien der Gesprächsführung und qualitätssichernde Maßnahmen zu thematisieren.

Für die Gesprächsführung ist es noch immer nicht Forschungsstandard, die Vorgangsweise auf den Gegenstandsbereich und das Erkenntnisinteresse abzustimmen, sondern meist wird ein Verfahren und eine Interpretationsstrategie herausgegriffen, das bzw. die man sich irgendwann angeeignet hat, und für alle Zwecke verwendet. Aber Gesprächsstrategien haben unterschiedliche Stärken und Schwächen, welche die wissenschaftliche Arbeit befördern oder beeinträch-[8]tigen können. Insofern ist die Entscheidung und die Ausarbeitung einer Gesprächsstrategie noch immer ein vernachlässigter Teil der methodischen Vorgangsweise, die daher eine genauere Betrachtung verdient.

Meist wird auch der Aufwand, den die Arbeit mit qualitativen Interviews mit sich bringt, massiv unterschätzt. Dahinter steckt nicht selten die irrige Annahme, es genüge für qualitative Analysen, mit Menschen zu sprechen und deren Aussagen zusammenzufassen. Dies trägt vielleicht zum Alltagsverständnis bei, lässt jedoch das analytische Potenzial qualitativer Analyseverfahren brachliegen. Meist sind es nicht die vordergründigen Aussagen, die ein Verständnis von sozialen Systemen ermöglichen, sondern die sorgfältige Analyse von Struktur und Entstehungsbedingungen von Gesprächsaussagen. Und dafür benötigt es ausgefeilte Strategien der Erhebung und der Analyse.

Die neueren Entwicklungen sowie die Erfahrungen bei der Anwendung von Interviews in der Forschung machen daher eine Neubearbeitung dieses Buches erforderlich. Dabei soll jedoch die ursprüngliche Zielsetzung nicht aus den Augen verloren werden, nämlich in einer knappen Form eine methodische Einführung zu bieten, die sich an den zentralen Leitlinien einer qualitativen Sozialforschung orientiert und die praktische Umsetzung nicht vernachlässigt.

Die vorliegende Bearbeitung weist daher eine Reihe von Erweiterungen auf, die insbesondere die praktische Umsetzung erleichtern sollen. Das sind vor allem:

Zwei neue Abschnitte, die sich mit der Entscheidungsfindung über die geeignete Gesprächsstrategie für ein Forschungsvorhaben sowie mit den Grundprinzipien verschiedener Arten der Interviewführung befassen. Dies sollte es erleichtern, selbst im Forschungsprozess eine angemessene Strategie zu entwickeln, wofür auch die weiteren Ausführungen zu den Gesprächsphasen Hilfe anbieten. Daher ist in diesem Abschnitt verstärkt ergänzende Literatur zu den verschiedenen Interviewverfahren angeführt.

Da die Interpretation von Texten eine Art Kunstlehre darstellt, ist es schwierig, die konkrete Durchführung aus einer Beschreibung abzuleiten. Während die 1. Auflage des Buches nur ein Beispiel für die Feinstrukturanalyse enthielt, werden nunmehr drei weitere Verfahren (Systemanalyse, Codestrukturanalyse, Themenanalyse) anhand von praktischen Beispielen erläutert, um die Interpretationsschritte leichter nachvollziehbar zu machen.

Darüber hinaus wurde die Codestrukturanalyse in Anlehnung an die Grounded Theory weiterentwickelt, sie ergänzt den Spielraum der vorgestellten Interpretationsverfahren um eines, das sich stärker auf die im Text nachvollziehbaren Strukturen konzentriert.

Die zusammenfassende Analyse wird als Ergänzung nur kurz angeführt, weil sie in genuin qualitativen Forschungsstrategien eine randständige Rolle einnimmt und zudem die Interpretation bestenfalls eine marginale Rolle spielt. Dennoch ist eine solche Vorgangsweise für manche Zwecke sinnvoll und bereitet auch den Übergang zur quantitativen Analyse vor.

[9]Die Basis unserer Überlegungen zu dieser Arbeit bilden sowohl methodische und methodologische Arbeiten zu diesem Bereich als auch empirische Erfahrungen speziell mit Organisationsanalysen. Kritische Diskussionen im Rahmen von empirischen Studien sowie Seminarerfahrungen inner- und außerhalb der Universität waren für uns überaus hilfreich bei der Entwicklung der praktischen Richtlinien zur Erhebungs- und Interpretationstechnik. Zu erleben, wie Forscher*innen aus verschiedensten Disziplinen und Berufen mit heterogenen Interessenlagen (Vertreter*innen der Sozial- und Naturwissenschaften, der Betriebswirtschaft, Management, Beratung etc.) mit den hier vorgestellten Techniken umgehen, bestärkte uns im Bestreben, diese Analyseverfahren für unterschiedlichste Interessent*innen fruchtbar zu machen. Die dabei aufgetretenen Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung sensibilisierten uns auch für die Schwachstellen eines solchen Buches. Daher hoffen wir, mit der Überarbeitung den Zugang noch besser nachvollziehbar zu machen. Eines bleibt aber nach wie vor wichtig: Die Durchführung und Interpretation von Gesprächen ist kein Standardverfahren, sondern bedarf der Anpassung an die konkreten Forschungsgegenstände und Erkenntnisinteressen – und es braucht Erfahrung, die man sich nur im Zuge der eigenen Umsetzung der Verfahren aneignen kann.

Dass nun diese völlig überarbeitete Auflage vorliegt, verdanken wir Mag.a Sabine Kruse, die uns sehr ermutigt hat, das doch sehr zeitintensive ,Überarbeitungsprojekt‘ durchzuführen. Ebenfalls bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei Mag.a Verena Hauser und bei Mag.a Sandra Illibauer-Aichinger für ihre überaus hilfreichen Anregungen zur Überarbeitung und für das sorgfältige Lektorat.

Ulrike Froschauer, Manfred Lueger

Wien, im September 2019

[11]

1Einführung

„Berücksichtigen Sie die Beschaffenheit
der empirischen Welt und bilden Sie
eine methodologische Position aus,
um diese Berücksichtigung zu reflektieren.“

(Blumer 1981: 143f.)

Dieser Satz, mit dem Blumer einen Artikel über den methodologischen Standort des Symbolischen Interaktionismus zusammenfasst, kann als zentrale Richtlinie für die vorliegende Arbeit gelten. Vorgefertigte Theorien und Methoden sind demzufolge unzureichende Mittel, um die soziale Welt angemessen verstehen zu lernen. Hingegen lautet die zentrale Forderung, dass sich empirische Untersuchungen an die Eigenschaften ihres Untersuchungsgegenstandes anpassen müssen. Dies erfordert Dreierlei: erstens ein Grundverständnis über den möglichen Aufbau des fokussierten sozialen Systems, um überhaupt in die empirische Analyse einsteigen zu können (forschungspragmatische methodologische Ausgangsposition). Zweitens ein methodisches Instrumentarium, das diesem Grundverständnis gemäß in hohem Maße offen gegenüber den Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes ist (flexibles Verfahrensrepertoire). Drittens müssen anhand der Reflexion der Berücksichtigung der Beschaffenheit der empirischen Welt sowohl das Grundverständnis als auch die angewandten Verfahren modifizierbar sein (reflexive Forschungsstrategie). In diesem Sinn dienen die im Untersuchungsprozess sukzessive gewonnenen Ergebnisse der laufenden Neubestimmung und Modifikation der Anforderungen an die Erhebungs- und Interpretationsverfahren. Umgekehrt wiederum eröffnet diese laufende Justierung der gewählten Forschungsverfahren die Chance, neue Erkenntnisse zu gewinnen.

In den folgenden Ausführungen versuchen wir, die theoretischen Anforderungen und Grundprinzipien in handhabbare Hilfen für konkrete Vorgangsweisen umzuwandeln und so etwas wie Richtlinien zur Durchführung und Interpretation von qualitativen Interviews zu erstellen. Dennoch bleiben sie nur Hinweise, die ständig zu reflektieren sind und im jeweiligen Fall adaptiert oder auch verworfen werden müssen.

Unserer Erfahrung nach besteht bei Forscher*innen, die sich erstmals in die qualitativ orientierte Empirie vorwagen, häufig Unsicherheit über die Wissenschaftlichkeit des eigenen Vorgehens und Unsicherheit darüber, was überhaupt bei der Durchführung qualitativ orientierter empirischer Studien alles zu beachten ist. Die unterschiedlichen methodologischen Positionen, die Vielfalt an Techniken der Interviewdurchführung und der Variantenreichtum an Interpretationsverfahren verwirren noch zusätzlich. Erschwerend kommt dazu, dass viele dieser Angebote in spezifischen Forschungskontexten erarbeitet wurden und daher nur bedingt auf andere Thematiken übertragbar sind. Dieses Buch versucht hier eine Orientierung [12]anzubieten, indem es jeweils auf die Basisüberlegungen hinweist, die eine spezifische Forschungsstrategie oder ein Forschungsverfahren begründen, und diese dann in ihrer praktischen Umsetzbarkeit beschreibt. Forscher*innen obliegt in diesem Sinn nicht die mechanische Umsetzung methodischer Vorgaben, sondern sie entwickeln auf der Grundlage fundierter Überlegungen eine Forschungsstrategie, die sie im Analyseprozess adaptieren, immer mehr verfeinern und in der sie die verschiedenen angewandten Verfahren mit Blick auf ein möglichst umfassendes Verständnis des Untersuchungsgegenstandes optimieren. Die Zielsetzungen der folgenden Ausführungen konzentrieren sich daher auf sechs Punkte:

a)Im Zentrum der vorgestellten Überlegungen steht die praktische Umsetzung, ohne ein Standardschema für qualitative Studien anzubieten. Anstelle von Rezepten stehen empfohlene Vorgangsweisen, die weitgehend in Frageform dargestellt sind, um vor Augen zu halten, dass in konkreten Forschungssituationen immer Handlungsspielräume in Form von Entscheidungsalternativen existieren. Leser*innen sollten dadurch in die Lage versetzt werden, sich die Vor- und Nachteile der jeweils gewählten Vorgangsweise bewusst zu machen, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen und kreative Ideen zu entwickeln. Qualitativ-empirische Forschung ist in diesem Sinne ein kreativer, aber zu begründender und zu reflektierender Entscheidungsprozess.

b)Um die Anwendbarkeit zu erleichtern, wird auf eine möglichst komprimierte und nachvollziehbare Darstellung mit kurzen Verweisen auf Schlüsseltexte Wert gelegt. Dieser Zielsetzung ist auch der Anhang gewidmet, in dem sich Kurzfassungen zu wichtigen Fragestellungen oder Richtlinien zu zentralen Thematiken finden. Sie bieten eine Gedächtnisstütze für die konkrete Forschungsarbeit. Aufgrund des Verzichts auf eine ausführliche Diskussion der umfangreichen Literatur sind in das Literaturverzeichnis Werke zur qualitativen Sozialforschung aufgenommen, die im Text nicht explizit zitiert wurden, um den Einstieg in eine etwas breitere Literaturbasis zu erleichtern.

c)Seriös durchgeführte Studien bedürfen einer Begründung der gewählten Vorgangsweise. Daher ziehen sich zentrale methodologische Überlegungen als roter Faden durch die gesamte Arbeit und werden im Kapitel 7 gesondert hervorgehoben. Auch hinsichtlich der Gesprächsführung und der Interpretation finden sich immer wieder Hinweise zur Erleichterung der Entscheidung über die Vorgangsweise.

d)Interpretationsverfahren lassen sich nur bedingt über eine rein formale Darstellung der Vorgangsweise aneignen. Deshalb werden für alle vorgestellten Varianten der Interpretation exemplarische Analysen angeführt. Sie fungieren nicht als zu kopierendes Vorbild für die Interpretation, machen aber die Idee und den Prozess der Auslegung leichter nachvollziehbar.

e)Die Verlässlichkeit von Forschungsergebnissen ist nicht bloß eine Frage der Begründung einer Vorgangsweise, sondern bedarf spezifischer Strategien zur Qualitätssicherung (etwa die Integration von Gesprächsführung und Interpretation). [13]Der Bedeutung dieser Forschungskomponente gemäß ziehen sich entsprechende Hinweise durch das gesamte Buch, wobei Kapitel 6 geeignete Maßnahmen systematisiert und zusammenfasst.

f)Sowohl die theoretischen Ausführungen als auch die Darstellungen zur Durchführung und Interpretation qualitativer Interviews konzentrieren sich auf die Analyse des Kontextes von Gesprächsaussagen. Fokussiert wird dabei die Ausdrucksgestalt von Wirklichkeit und die Erzeugung und Darstellung von Sinn im Rahmen der Strukturierung sozialer Prozesse und Strukturen sozialer Systeme.

Da uns die Darstellung einer allgemeinen Interview- oder Interpretationstechnik wenig sinnvoll erscheint, beschränkt sich der Anwendungsbereich auf die Analyse sozialer Systeme in ihrem jeweiligen Umfeld (wie Organisationen, Familien, Vereine, Gruppen oder kleine Gemeinden). Diese Einschränkung bietet bei der Interpretation eine wesentliche Erleichterung, weil die zu interpretierenden Daten immer auf ein abgrenzbares Gebilde bezogen werden können, welches eine klare Referenzebene der Interpretation bildet. Darüber hinaus repräsentiert die Analyse sozialer Systeme eines der wichtigsten Felder qualitativer Sozialforschung.

Einige Redundanzen im Text wurden in Kauf genommen, um die Verständlichkeit auch dann zu gewährleisten, wenn man sich für die praktische Umsetzung nur einzelnen Kapiteln genauer widmet. Dies betrifft speziell zentrale Aspekte des Forschungsdesigns, der Qualitätssicherung und der Methodologie, die alle Bereiche der Erhebung und Interpretation qualitativer Interviews durchdringen.

Noch etwas bedarf gleich am Beginn der Klärung: Wenngleich in der Literatur meist von Interviews (als eher formalisierten Gesprächssituationen mit klarer Rollenteilung) die Rede ist, besteht in der qualitativen Sozialforschung kein Anlass, ,quasi-natürliche‘ Alltagsgespräche methodisch zu vernachlässigen, zumal diese im Rahmen einer interpretativen Methodologie einen zentralen Stellenwert einnehmen. Wenn wir daher in den folgenden Ausführungen mit Vorliebe den Begriff des ,Forschungsgesprächs‘ wählen, so signalisiert dies die Präferenz für wenig formalisierte Gesprächsformen, in denen die Umsetzung technischer Anforderungen in den Hintergrund tritt und vielmehr die Herstellung eines positiven Gesprächsklimas gefragt ist.

Ähnlich verhält es sich mit dem eher seltsam anmutenden Begriff der (Re-) Konstruktion. Wir möchten damit nicht vergessen lassen, dass man in der qualitativ orientierten Sozialforschung nicht die Realität als Abbild rekonstruiert (siehe dazu Abschnitt 7.1.1), sondern dass Interpretationen immer Konstruktionsleistungen sind, die für sich in Anspruch nehmen, an Phänomene der Realität anzuschließen (‚Pseudorekonstruktion‘ aus wissenschaftlicher Perspektive).

[14]

2Grundlagen qualitativer Forschungsgespräche

Stellen Sie sich vor, Sie sollen einem größeren Auditorium eine Vortragende vorstellen, die Sie selbst nicht kennen, von der Sie auch nichts wissen und mit der zu sprechen Sie erst fünf Minuten vor dieser Kurzpräsentation eine Gelegenheit haben. Wie gehen Sie dabei vor?

Natürlich gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, diese Situation zu meistern. Eine davon ist folgende: Da Sie zwar das Auditorium kennen, nicht aber die Vortragende, überlegen Sie sich, was das Auditorium über die vorzustellende Person wissen sollte. Entsprechend stellen Sie Fragen wie beispielsweise nach dem Werdegang, den wichtigsten Stationen ihres Wirkens und vielleicht (damit Sie zur Auflockerung auch etwas sagen können) stellen Sie eine Frage zur Anreise.

Eine solche Vorgangsweise wäre durchaus verständlich und ist in derartigen Kontexten auch üblich. Aber was erfahren Sie auf diese Weise? Zuerst einmal füllen Sie mit solchen Fragen Lücken in Ihrem eigenen Denkschema (z. B.: Was will das Publikum hören, wie kann man die Vorstellung auflockern, was sind zentrale Informationen, um die vorgestellte Person einordnen zu können? etc.). Eine solche Fragetechnik setzt voraus, dass Sie schon im Vorfeld wissen, was relevant ist. Im Zuge dessen erfahren Sie, was Sie für wichtig erachten – aber eben nur dieses (sofern die von Ihnen befragte Person nicht extemporiert). Indem Sie mit Ihren Fragen die Struktur vorgeben, erfahren Sie nichts darüber, was möglicherweise der Vortragenden selbst wichtig sein könnte.

Wenn Sie hingegen wissen möchten, was der befragten Person wichtig ist, müssen Sie ganz anders vorgehen: Sie können schlicht danach fragen, was die Vortragende möchte, dass Sie dem Auditorium über sie erzählen. Die Intention dieser Strategie ist daher eine völlig andere: Nicht Sie geben eine Struktur vor, sondern die befragte Person muss auf der Grundlage einer Frage eine eigene Struktur entwickeln. Diese enthält zwangsläufig eine Präferenz über die Selbstdarstellung. Und selbst wenn Sie nichts anderes zur Antwort bekommen, als die erstgenannte Fragestrategie ihnen offenbart hätte, so besteht dennoch ein fundamentaler Unterschied: Im ersten Fall wissen Sie nichts über die Bedeutung dieser Inhalte; im zweiten Fall können Sie jedoch davon ausgehen, dass diese Inhalte etwas mit der Person oder ihrer Einschätzung der Situation zu tun haben.

Im Zentrum qualitativer Interviews steht die Frage, was die befragten Personen für relevant erachten, wie sie ihre Welt beobachten und was ihre Lebenswelt charakterisiert. Dafür bietet sich eine Vorgangsweise an, die der zweiten Variante entspricht, weil nur diese die Möglichkeit eröffnet, aus der Perspektive der befragten Person heraus den für sie bedeutsamen Kontext zu untersuchen. Das gilt generell für die Analyse sozialer Systeme. Wenn Sie sich etwa für Führungsstrukturen in einem Unternehmen interessieren, können Sie nach diesem Muster danach fragen, was ,Führen‘ im Unternehmen heißt oder welche ,Führungsrichtlinien‘ gelten. Die be-[15]fragten Personen müssen dann für sich klären, was überhaupt Führung bedeutet, sie müssen also ihre Antwort in ein Relevanzsystem integrieren, das sie in der Antwort implizit transportieren. Eine solche Frage kann aber auch eine Gegenfrage auslösen, etwa in der Art, was man denn in dieser Frage unter ‚Führung‘ verstehe, damit man die Frage richtig beantworten kann. Aber selbst diese Gegenfrage ist bereits eine erste Antwort auf die Frage, denn damit fordert die rückfragende Person eine (autoritative) Vorgabe, an der sie sich orientieren oder der sie widersprechen kann. Und damit wird bei genauer Hinsicht das Führungsthema bereits in der Interaktionssituation vorgeführt. Der Nachteil einer solchen Strategie ist, dass die angesprochenen Personen von ihren eigenen Führungserfahrungen abstrahieren und erzählen, was man eben über Führung so erzählt, womit sie die Antwort auf eine öffentliche Situation (wie das Interview eine ist) anpassen. Dadurch erfahren Sie zwar etwas über führungsrelevante Vorstellungen, aber wenig über Führung im alltagspraktischen Kontext.

Darüber hinaus können Sie noch offener vorgehen, indem Sie Ihr primäres Interesse, nämlich Führung, überhaupt nicht thematisieren, sondern das Gespräch generell über den Arbeitsalltag führen. Eine solche Verfahrensweise erscheint zwar etwas paradox, weil vielfach angenommen wird, Interviewer*innen müssten das ansprechen, was sie unmittelbar interessiert. Aber indem man die Themenführung den befragten Personen überträgt, entscheiden diese, ob führungsrelevante Aspekte überhaupt zur Sprache kommen. Wenn dies der Fall ist, dann ist von Interesse, wie diese Thematik zum Ausdruck kommt. Auf diesem Weg erfahren Sie nicht nur etwas über ‚Führung‘, sondern darüber hinaus etwas über die Bedeutung, den Kontext oder damit verbundene Handlungsstrategien. Falls die Gesprächsteilnehmer*innen ‚Führung‘ explizit ansprechen, können Sie diese Thematik vertiefend behandeln.

Damit ist der Gegenstand der folgenden Ausführungen bereits angesprochen: Qualitative Forschung widmet sich der Untersuchung der sinnhaften Strukturierung von Ausdrucksformen sozialer Prozesse. Es geht also darum zu verstehen, was Menschen in einem sozialen Kontext dazu bringt, in einer bestimmten Weise zu handeln, welche Dynamik dieses Handeln im sozialen Umfeld auslöst und wie diese auf die Handlungsweisen zurückwirkt. Im Zuge dessen fokussieren qualitative Analysen die gesellschaftliche Verankerung der Praxis menschlichen Handelns, sozialer Ereignisse und deren Entwicklungsdynamik (allgemein: die Strukturiertheit sozialer Prozesse) und versuchen diese einem theoretisierenden Verständnis zuzuführen. Die Erhebungsmethode übernimmt dabei die Funktion, jene Materialien zu beschaffen, die diesem Anspruch gerecht werden können.

Hinter einer solchen Fragestrategie, die den befragten Personen eine möglichst umfassende Strukturierungsleistung abfordert, stehen – und das wird im Kapitel 7 noch ausführlicher besprochen – eine Reihe von Annahmen. Diese beziehen sich auf die Durchführung der Erhebung und deren Integration in einen Forschungskontext, um ein bestmögliches Verständnis eines untersuchten sozialen Systems zu ermöglichen. Einen allgemeinen Hintergrund bilden die im Folgenden kurz umris-[16]senen Annahmen über den Gegenstandsbereich, die eine interpretativ orientierte Forschungsstrategie leiten:

Phänomene kommen nur in einem kommunikativen Prozess der Vergesellschaftung zur Geltung. Wie Menschen handeln, ist nicht bloß Resultat subjektiver Überlegungen oder Planungen, die Außenstehenden nicht zugänglich sind (gemeinter Sinn), sondern ist in einen kollektiv geformten lebensweltlichen Horizont aus Relevanzstrukturen und Typisierungen integriert. Dies rückt die Prinzipien der Strukturierung sozialer Beziehungen und der Bedingungen der Verständigung in das Zentrum qualitativer Studien. Die Perspektive einzelner Personen, wie sie in Interviews zum Ausdruck kommt, ist folglich nur der Ausgangspunkt für die Analyse, die in die (Re-)Konstruktion der subjektunabhängigen Regeln der Organisierung von sozialen Systemen mündet.

Die Praxis menschlichen Handelns weist darüber hinaus eine eigenständige Dynamik auf. Die im sozialen Kontext produzierte Sinnhaftigkeit und die Orientierung des Handelns an anderen Personen bilden einen gemeinsamen Rahmen, der individuelle Handlungsstrategien in einen Kontext integriert. Durch das miteinander verbundene Handeln vieler Akteur*innen entsteht ein gesellschaftliches Milieu, welches diesen als äußerliche Rahmenbedingung entgegentritt und dem sie potenziell ausgeliefert sind. Die Analyse sozialer Systeme mittels Interviews ist ein typischer Fall einer solchen Kontextanalyse: Das Gespräch wird als Manifestation eines Kontextes, nämlich des sozialen Systems interpretiert, in dem die Menschen ihre situativen und allgemeinen Vorstellungen, Erwartungen und Handlungsweisen entwickeln. Dabei sind die Inhalte nur eine Komponente für die Analyse; genauso wichtig sind die Darstellungsformen, weil sich hier die Reproduktionsmechanismen eines sozialen Systems sowie die Spezifika der Außendarstellung am deutlichsten offenbaren.

Soziale Phänomene unterliegen einer permanenten Fluktuation, in der sich die Reproduktionsstrategien von Kollektiven und die Lebensbedingungen aller Mitglieder einer Gesellschaft (langsam oder krisenhaft) verändern. Aus diesem Grund ist die Entwicklungsdynamik, d. h. die (Re-)Konstruktion der Logik und die Entfaltung von Entwicklungskräften, Bestandteil jeder Analyse. Der Begriff der sozialen ‚Logik‘ meint dabei jene Regeln, die konkretes Handeln mit einer sinnhaft erlebbaren Ordnung versehen. Zum einen bezieht sich diese Ordnung auf die Beziehungen zwischen den Elementen eines Phänomens (Relationalität), andererseits auf die zeitliche Abfolge (Sequentialität) von Interaktionen.

Den zentralen Analysefokus im Untersuchungsfeld bilden folglich Lebensäußerungen und deren zugrundeliegende Regeln (z. B. die Äußerungsstruktur, die spezifische Kontextbezogenheit, die kommunikative Dynamik). Interpretative Analysen sind hierbei mit dem Problem konfrontiert, sich mit einem Gegenstandsbereich zu befassen, der sich einer Beobachtung nicht unmittelbar präsentiert (z. B. Sinn, Struktur), sondern sich nur erschließen lässt. Erkenntnisse sind daher Konstruktionen aus einer spezifisch wissenschaftlichen Perspektive, die den Erkenntnisgegenstand theoretisierend dem Verständnis zugänglich machen. [17]Dieser konstruktive Charakter erfordert gewissenhafte Maßnahmen zur Qualitätssicherung, um zuverlässige Ergebnisse bereitzustellen.

Im Gegensatz zur quantitativ orientierten Forschung besteht die Zielsetzung folglich nicht in der Prüfung vorgefasster Annahmen, sondern im Aufbau eines (meist fallorientierten) theoretischen Verständnisses eines Untersuchungsbereiches, wie etwa das sozialer Systeme. Viele Studien widmen sich einer solchen theoriegenerierenden Vorgangsweise, indem sie etwa

die untersuchten Phänomene auf den kulturellen Kontext bezogen im Sinne einer dichten Beschreibung (vgl. Geertz 1991) durchleuchten (z. B.: Was bedeutet Durchsetzung im kulturellen Kontext eines Unternehmens?),

aus dem untersuchten Bereich eine gegenstandsorientierte Theorie (vgl. Glaser/Strauss 2010: 50ff.) herausdestillieren (z. B.: Was sind typische Durchsetzungsstrategien in einem spezifischen Unternehmen?),

aus einer umfassenden vergleichenden Studie vieler heterogener Fälle formale Theorien (vgl. Glaser/Strauss 2010: 93ff.) mit einem hohen Verallgemeinerungsgrad zu erstellen versuchen (z. B.: Wie lässt sich die Logik von organisationaler Durchsetzung unabhängig von einem spezifischen Fall verstehen?).

Soziale Systeme, deren Analyse in den folgenden Ausführungen im Zentrum steht, zeichnen sich durch ihre Grenzziehung aus. Dadurch bildet die Generierung gegenstandsorientierter Theorien mit der Möglichkeit einer Weiterentwicklung zu formalen Theorien den Analyseschwerpunkt. In erster Linie soll also ein im Rahmen einer Untersuchung fokussiertes soziales System durch die Analyse dem Verstehen zugänglich gemacht werden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit primär auf das theoretische Verständnis von Prozessen, Ereignissen, Differenzierungen oder Strukturierungen innerhalb des sozialen Systems, auf die Untersuchung der Gestaltung und Entwicklung der sozialen Beziehungen nach innen und nach außen zu relevanten Systemumwelten und auf die Erkundung von Zusammenhängen individuellen Handelns und kollektiver Dynamiken. Führt man solche Analysen im Sinne einer fallübergreifend vergleichenden Analyse weiter, so trägt dies zu immer tragfähigeren Verallgemeinerungen im Sinne der Entwicklung formaler Theorien bei. Dichte Beschreibungen spielen eine Rolle, wenn die spezifischen Bedeutungskontexte und subkulturellen Verankerungen von Sinnstrukturen innerhalb einer Fallstudie zum Tragen kommen. Insofern sind die drei Vorgangsweisen zwar miteinander verbunden, setzen aber spezifische Schwerpunkte in der Analyse und stellen infolgedessen unterschiedliche Anforderungen an die Sammlung bzw. Erhebung von Materialien und deren Interpretation.

Das kommunikative Fundament sozialer Systeme (siehe Abschnitt 7.2.1) macht die Durchführung von Interviews zu einem wichtigen Instrument organisationaler Reflexion. Es wäre jedoch völlig unzureichend, sich in der Textauslegung von den vordergründigen Gesprächsinhalten vereinnahmen zu lassen, weil diese nicht mit den Charakteristika des untersuchten Systems gleichzusetzen, sondern Ausdruck der kognitiven Verarbeitung von Systemprozessen sowie deren sprachlicher Ausdruck gegenüber einer (meist außenstehenden) anderen Person sind. Eine seriöse [18]qualitativ orientierte Vorgangsweise versteht daher Gesprächsaussagen als Manifestation sozialer Beziehungen und Verhältnisse, deren Regeln in der Selektivität der Mitteilungen zum Ausdruck kommen. Mitglieder eines sozialen Systems sind daher nicht bloß Expert*innen ihres Systems, sondern repräsentieren in ihren Aussagen das System und ihre Beziehungen zu diesem. Sie müssen dabei nicht alles verstehen und sie können je nach Gesprächssituation aus ihrer Sicht Dinge ansprechen, besonders herausheben, verändert darstellen oder verschweigen. Erst die Berücksichtigung dieser komplexen Dynamik erlaubt es, durch die Inhalte hindurch die Sinnstrukturierung des Systems erkennen zu können.

Diese Ausführungen lassen bereits erkennen, dass sich qualitative Forschungsstrategien nicht für alle Fragestellungen gleichermaßen eignen, sondern deren spezifische Stärken in der Analyse der Organisierung und Manifestation sozialer Prozesse, deren Entwicklungsdynamik und die ihnen zugrundeliegenden Sinnstrukturen liegen. Typische Themen könnten daher beispielsweise sein: Wie organisieren Familien die Beziehungen zu ihrer relevanten Umwelt? Woran orientieren sich Unternehmen bei ihrer Entscheidung über eine Unternehmensberatung? Wie und vor welchem Hintergrund wird ein bestimmtes Problem an einer Universität erzeugt, stabilisiert, verändert und bewältigt? Wie sind in einer Gemeinde die Beziehungen zwischen verschiedenen Bereichen geregelt? Nach welcher Logik entwickeln die Vereinsmitglieder ihre spezifischen Sichtweisen?

Eine theoriegenerierende Vorgangsweise macht es unmöglich, Forschungsfragen bereits am Beginn der Untersuchung endgültig zu präzisieren oder die Erhebung auf einen Teilbereich des Untersuchungsfeldes zu konzentrieren. Vielmehr erkundet die Forschung den allgemeinen Phänomenbereich (etwa die Organisation als Ganzheit, auch wenn nur ein Teilbereich interessieren sollte), wobei aus den erlangten Erkenntnissen sukzessive adäquate Fragestellungen, die Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes sowie dem jeweiligen Forschungsstand angemessene methodische Vorgangsweisen abgeleitet werden. Die gesamte Forschungsstrategie muss die Voraussetzungen für die Generierung neuen Wissens, dessen Prüfung, Erweiterung und Präzisierung schaffen. Auch das Ende eines solchen Forschungsverlaufes lässt sich nicht genau abschätzen, sondern hängt von der Stabilisierung des Wissens, d.h. von der Frage ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Erhebungen neue Erkenntnisse erschließen könnten. Die Dynamik der sozialen Welt findet insofern ihre Entsprechung in der Vorläufigkeit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis.

Die Durchführung qualitativ orientierter empirischer Studien erfordert eine Forschungskonzeption, die den Anforderungen qualitativer Sozialforschung gerecht wird. Um die spezifische Vorgangsweise der Gesprächsführung in der qualitativ-empirischen Sozialforschung nachvollziehbar zu machen und zu zeigen, wie Forschungsentscheidungen in diesem Sinne begründet werden, befasst sich dieses Kapitel mit mehreren Komponenten der Gesprächsvorbereitung und -führung: die Verankerung im Forschungskontext, Funktionen im Rahmen der Analyse, die Auswahl der Gesprächspartner*innen und angemessene Gesprächsstrategien. Den [19]Abschluss bildet ein kurzes Anwendungsbeispiel, welches die Grundidee des Ansatzes veranschaulicht.

2.1Das Forschungsdesign als Gesprächsrahmen

Qualitative Forschungsdesigns erfüllen drei Funktionen, die in den verschiedenen Phasen einer Studie verschiedene Anforderungen an eine adäquate Forschungsstrategie stellen:

im Vorfeld der Planung und des Forschungseinstiegs schaffen sie die Voraussetzungen für die Durchführung einer Analyse;

für die Forschungsabwicklung sehen sie Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität der Ergebnisse vor;

zum Abschluss einer Studie machen sie das gewonnene Wissen verfügbar.

Eine nähere Beschäftigung mit dem Verlauf qualitativer Studien macht nachvollziehbar, welche Entscheidungen in den verschiedenen Forschungsphasen anfallen und welche Bedeutungen diesen für die Durchführung qualitativer Forschungsgespräche zukommen. Sinnvollerweise lassen sich hierbei vier Phasen unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009b):

a)Die Planungsphase

Diese erste Forschungsphase dient der gedanklichen Vorbereitung einer Studie, indem man sich mit den möglichen Anforderungen eines Forschungsfeldes vertraut macht. In ihr werden Lernpotenziale hergestellt und Rahmenbedingungen ausgelotet, die eine möglichst sinnvolle Sammlung oder Erhebung von Materialien sowie deren intensive Nutzung erlauben. Im Zuge dessen schafft man die organisatorischen Voraussetzungen für die Realisierung des Vorhabens.

In Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand sind Überlegungen nötig, welche unterschiedlichen Varianten des Zugangs möglich sind, welche Datenmaterialien man höchstwahrscheinlich für das Verständnis des Feldes braucht und wie man diese erhalten könnte. All dies erfordert die sorgsame Prüfung der sozialen Voraussetzungen des Zuganges zu einem Forschungsfeld, insbesondere bei Forschungsfeldern, die sich nach außen hin abschließen (z. B. eine Haftanstalt, die Entwicklungsabteilung eines Automobilkonzerns).

Forschungsseitig setzt dies voraus, sich über das eigene Erkenntnisinteresse Klarheit zu verschaffen und damit auch die Eignung einer qualitativ orientierten Forschungsstrategie zu prüfen (siehe Kap. 7). Um eine möglichst offene Vorgangsweise zu gewährleisten, bedarf es einer sehr vagen Frageformulierung oder Themenstellung, in deren Zentrum das Interesse an der sozialen und kollektiven Form der Herstellung von Wirklichkeit und deren Folgen für die soziale Dynamik in einem sozialen System steht. Man stellt Fragen nach Bedeutungen, Kontexten, Konstellationen, Relevanzen, Prozessen, um herauszufinden, warum und wozu ein bestimmter Kontext die Akteur*innen motiviert, welche Entwicklungskräfte und Dynamiken in bestimmten physischen und sozialen Umgebun-[20]gen aufzuspüren sind und was dabei genau vor sich geht, was typische Muster sind und wie diese vor welchem Hintergrund entstehen oder auch, warum jemand etwas als Faktum betrachtet, also wie Bedeutungen entstehen und verändert werden und wie diese mit welchen Folgen von wem in die Argumentation eingebracht werden und wie sie dabei das soziale Feld verändern.

Die Zentrierung auf ein soziales Problem (wie dies mitunter im Fall von Auftragsforschung vorkommt) ist dafür wenig hilfreich, weil jede Problemdefinition bereits eine Betrachtungsperspektive einschließt und damit die Sicht auf die Funktionsweise eines sozialen Systems einschränkt. Tauchen in der Forschungskonzeption Problemstellungen auf, so ist in der Analyse jedenfalls zu erkunden, warum etwas aus welcher Perspektive überhaupt als Problem betrachtet wird (d. h. was ein ‚Problem‘ zu einem ‚Problem‘ macht). Eine solche Problemreflexion ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine differenzierte Analyse. Zu vermeiden ist auch eine einfache Suche nach Faktoren oder Motiven oder Kausalitäten. Die interpretative Sozialforschung erweitert solche Fragestellungen in der Regel, indem man nicht bloß nach Faktoren fahndet, sondern erkundet, was diese zu Faktoren macht, inwiefern sie relevant wofür sind und in welche Prozesse sie eingebunden sind; bezüglich der Motive erkundet man den Kontext ihrer Entstehung und ihre Bedeutung für individuelle oder soziale Vorgänge; Kausalitäten werden als dynamische Konstellationen analysiert, deren Geschichte, Bedingungen, Verläufe oder Folgen sowohl für die direkt oder indirekt betroffenen Akteur*innen als auch für die Umwelt genauer in den Blick genommen werden.

Qualitative Studien sind erfahrungsgemäß immer wieder mit verschiedensten Interessen konfrontiert: beispielsweise im Rahmen von Forschungsaufträgen, aber auch bei der Begutachtung von Qualifizierungsarbeiten oder von Beiträgen, die in Fachzeitschriften zur Veröffentlichung eingereicht werden, und nicht zuletzt von jenen Gatekeepern, die über den Zugang zu manchen Forschungsfeldern entscheiden). Die empirische Forschungsarbeit muss sich von solchen Einflussnahmen freispielen, um sich nicht vereinnahmen, methodische Einschränkungen auferlegen oder sich in die soziale Dynamik des Feldes verstricken zu lassen. Eine gut überlegte Artikulierung der Forschungsfrage kann viel zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung beitragen.

Darüber hinaus ist es wichtig, in dieser Vorbereitungsphase die erforderlichen Kompetenzen (z. B. in Hinblick auf Erhebungs- und Interpretationsmethoden) zu bestimmen, um ein geeignetes Forschungsteam zu bilden bzw. um ein unterstützendes Forschungsumfeld zu schaffen (z. B. Kolleg*innen; eventuell kann eine Supervision hilfreich sein). Im Fall von Forschungsteams ist eine gemeinsame methodologische Perspektive notwendig (um sich nicht über Gebühr in Grundsatzdiskussionen zu verlieren), das Team sollte aber bezüglich der methodischen und inhaltlichen Kompetenzen sowie hinsichtlich der Anforderungen des Untersuchungsgegenstandes möglichst heterogen zusammengesetzt sein. Entschei-[21]dend ist hier die Steigerung des Forschungspotenzials, ohne zu viel Reibungsflächen zu schaffen.

In diesem fiktiven Probierstadium zur kognitiven Strukturierung des Forschungsfeldes verschafft man sich aus einer Außenperspektive einen ersten Überblick über den Forschungsgegenstand (eventuell auch unter Einbeziehung von Expert*innenmeinungen) und klärt die eigenen Erwartungen und Vorannahmen. Im Zuge dessen ist zu prüfen, welche Vor- und Nachteile mit unterschiedlichen Feldzugängen verbunden sind: Bildet die Geschäftsführung eines Unternehmens die entscheidende Kontaktstelle, so kann dies gravierende Probleme nach sich ziehen, wenn diese Geschäftsführung gerade ein Personalabbauprogramm vorbereitet. Auch wenn das Untersuchungsvorhaben mit diesem Programm nichts zu tun hat, könnte ein bereits vorhandenes Misstrauen gegenüber der Geschäftsführung auf das Projektteam übertragen werden. In einer solchen Situation kommt es daher darauf an, das Vertrauen der Mitarbeiter*innen zu gewinnen. Dies bedeutet, dass man – egal ob die Geschäftsführung, die Gewerkschaft, außenstehende Vermittlungsinstanzen etc. den Eintritt in das Forschungsfeld ermöglichen – mit Zuschreibungen konfrontiert ist, die man selbst nur bedingt steuern kann. Aber man kann darauf achten, welche möglichen Zuschreibungen auftauchen könnten und welche Strategien sich anbieten, ungünstige Zuschreibungen zu vermeiden oder aufzufangen.

Um ein System kennenzulernen, ist es wichtig, sich mit den Handlungsweisen des Feldes vertraut zu machen. Dafür bietet sich an, Strukturierungsleistungen des Feldes für die Forschung zu nutzen: Wie ein soziales Feld mit externen Forscher*innen umgeht, sagt beispielsweise viel über die Strukturierung der Außengrenze eines sozialen Systems aus (vgl. Lau/Wolff 1983). Man sollte daher bereits während der Planung darauf achten, dass der Forschungseinstieg das erste Analysematerial verfügbar macht. Um dieses Material auch forscherisch nutzen zu können, sollte man auf die Dokumentation dieses Einstiegs vorbereitet sein. Darüber hinaus könnte man bereits im Vorfeld überlegen, wie man die Akteur*innen in einem sozialen System in den Forschungsprozess einbindet, indem man etwa bestimmte Agenden (wie die Zusammensetzung von Gesprächsrunden) an Akteur*innen im sozialen System überträgt oder mit diesen die Vorgangsweise im Studienverlauf diskutiert. Hinsichtlich der Durchführung von Gesprächen ist zu prüfen, welche Vor- und Nachteile dieses Verfahren in Hinblick auf die Untersuchung einer Forschungsfrage aufweist. Dabei sind Fragen zu klären wie:

Inwiefern sind Gespräche anderen möglichen Verfahren (wie etwa Beobachtung oder Artefaktanalysen) überlegen?

Welche Differenzierungen des Untersuchungsgegenstandes vermittelt dieser nach außen und welche Schlüsse sind daraus für den Forschungszugang zu ziehen?

[22]Welche Gruppen von Akteur*innen in einem sozialen System bzw. dessen Umfeld kommen für Gespräche in Frage und welche Besonderheiten des Feldes könnten dabei aus dem Blick geraten?

Gibt es mögliche Zugangsrestriktionen und wie kann man diese überwinden?

Welche Erwartungen, die mögliche Ansprechpartner*innen an die Forscher*innen herantragen könnten, sind antizipierbar und welche Konsequenzen hat das für den Zugang zum Feld?

Welche Kompetenzen werden für die Forschungsdurchführung benötigt, um eine adäquate Durchführung und Analyse der Gespräche zu gewährleisten, und wie können eventuelle Kompetenzdefizite beseitigt werden?

Welche Möglichkeiten zur Anregung von Strukturierungsleistungen bestehen?

b)Die Orientierungsphase

Diese Phase setzt die in der Planung vorgesehenen Schritte erstmals um. In heiklen Forschungsfeldern (etwa im Fall von Zugangsrestriktionen in abgeschlossenen Bereichen wie Haftanstalten, Ministerien, Schulen oder Forschungsabteilungen in Unternehmen, aber auch in Familien) ist diese Eröffnung des Kontaktes zum untersuchten sozialen System besonders wichtig, weil in deren Verlauf Kommunikationsschnittstellen etabliert und Möglichkeiten der weiteren Forschungsorganisierung im Feld erschlossen werden.

Ersten Beziehungen kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie den Rahmen für Folgekontakteinternen Arbeitsbeziehungentragfähiger Beziehungen zum Untersuchungsfeldauf die Forschungsaktivitäten einzustellen