Über das Buch

Wie sehr bestimmt die Geschichte unsere Gegenwart? Verena Keßlers Debüt über die Haltlosigkeit des Erwachsenwerdens »brummt nur so vor Lebendigkeit. Traurig, witzig, abgründig — Bombe!« Stefanie de Velasco

Larry lebt in einer Stadt mit besonderer Geschichte — Ende des Zweiten Weltkriegs fand in Demmin der größte Massensuizid der deutschen Geschichte statt. Für Larry ist ihre Heimatstadt aber vor allem eins: langweilig. Sie will so schnell wie möglich raus in die Welt und Kriegsreporterin werden. Während Larry mit den Unzumutbarkeiten des Erwachsenwerdens kämpft, steht einer alten Frau der Umzug ins Seniorenheim bevor. Beim Aussortieren ihres Hausstands erinnert sie sich an das Kriegsende in Demmin und trifft eine folgenschwere Entscheidung.
Mit Leichtigkeit und Witz erzählt Verena Keßler von Trauer und Einsamkeit, von Freundschaft und der ersten Liebe. Ein Roman über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und die Möglichkeit, sie zu überwinden.

Verena Keßler

Die Gespenster von Demmin

Roman

Hanser Berlin

Für alle meine Eltern

»I tell you loneliness is the thing to master.«

Martha Gellhorn

Die Peene ist ein Fluss von hier. Träge schiebt sie sich durch schlammige, unbegradigte Ufer, vorbei an Stillgewässern, Mooren und Bruchwäldern, durch beinah unberührte Natur. Über Ostsee-Knabenkraut, Mehl-Primel und Sumpf-Herzblatt kreisen Trauerseeschwalben, Milane und Silberreiher. Sie hat noch keinen weiten Weg hinter sich, wenn sie sich durch Demmin, an Demmin vorbei, um Demmin herum schlängelt. Niemand weiß, was sie erinnert. Ob sie die Tage im Mai noch in sich trägt, die Tage, in denen hier Hunderte ins Wasser gingen, Steine in den Taschen, Kinder an den Leib gebunden. Ob sie sich selbst reinwaschen kann oder manches für immer auf ihrem Grund bewahrt. Wie alle Flüsse will auch die Peene Richtung Meer. Aber ihr Gefälle ist so gering, dass sich, wenn der Wind stark genug in das Haff hineinweht, ihre Stromrichtung ändert. Dann fließt die Peene rückwärts.

37 Minuten sind mein Rekord. So lange halte ich es aus, kopfüber vom Apfelbaum zu hängen. Das ist leider noch ziemlich weit entfernt von meinem Ziel. David Blaine hing mal sechzig Stunden kopfüber im Central Park. Drei Tage und zwei Nächte an einem Drahtseil. Die Augen sind ihm aus dem Kopf gequollen, der hätte blind werden können. Das Problem ist aber nicht nur, dass einem das ganze Blut in den Kopf läuft, sondern auch, dass die Organe auf die Lunge drücken und man nicht so gut Luft bekommt. Außerdem fangen nach einer Weile die Beine an zu kribbeln, weil zu wenig Blut drin ist. Insgesamt ist die Sache nicht besonders angenehm. Klar, ist ja auch eine Foltermethode. Und genau deshalb muss ich das üben. Ist nämlich gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass ich in meinem Leben irgendwann gefoltert werde.

Es ist grau heute und kalt, bestimmt sind es keine 0 Grad. Mein T-Shirt ist mir bis zur Brust gerutscht, die nackte Haut am Bauch und an den Armen spannt, der Wind in den Ohren fühlt sich an, als hätte ich mir ein Wattestäbchen zu tief reingesteckt. Aber es ist auszuhalten und darum geht es, ums Aushalten. Wer aushalten kann, muss vor gar nichts Angst haben.

Wenn ich merke, dass ich langsam das Gefühl in den Beinen verliere, hole ich ein paar Mal Schwung und stoße mich ab. Man muss im Fallen eine halbe Drehung machen, damit man sich nicht das Genick bricht oder wie ein Vollidiot auf allen vieren landet. Manchmal zieh ich mich auch vor dem Absprung auf den Ast hoch, stell mich hin und mach dann einen Rückwärtssalto runter. Einfache Sache. Sieht aber nicht jeder so. Als ich das mal im Sportunterricht machen wollte, von der obersten Stufe der Sprossenwand runter, hat sich mein Sportlehrer total aufgeregt. Hat einen knallroten Kopf bekommen, ungefähr in der Farbe seiner lächerlichen Turnhose, und gebrüllt, dass ich da sofort — ABER SOFORT FROLLEIN — wieder runterkommen soll. Ob ich uns alle unglücklich machen will. Völlig übertrieben. Ich hab das hier bei uns im Garten bestimmt schon tausendmal gemacht, und keiner war unglücklich. Gut, glücklich war auch keiner, aber wer ist in dieser Stadt schon glücklich.

»Larissa!«

Meine Mutter ruft mich. Sie ist die Einzige, die mich so nennt. Allen anderen habe ich beigebracht, Larry zu sagen. Das Problem mit Larissa ist nämlich, dass es sich auf Pisser reimt. Hat meine Mutter mal wieder nicht nachgedacht. Denken ist insgesamt nicht so ihr Ding. Ich hab sie das natürlich gefragt, also warum sie sich gerade für diesen Namen entschieden haben, wie sie überhaupt darauf gekommen sind, ob sie jemanden kannten, der so hieß, und welche Namen noch im Rennen waren. Schließlich muss man die Hintergründe kennen. Aber sie hat gesagt, dass sie sich daran nicht mehr erinnern kann. Das sagt sie immer, wenn sie eine Frage nicht beantworten will: »Weiß ich nicht mehr.« Oder: »Das ist schon so lange her.«

»Laaariiissaaa!«

Wenn sie will, dass ich reinkomme, ruft sie. Niemals würde sie sich die Mühe machen, die Tür zum Garten zu öffnen, herauszukommen und mich höflich zu bitten. Lieber macht sie sich die Stimmbänder kaputt. Ich hole Schwung, pendle mich ein bisschen ein. Sind bestimmt noch keine 25 Minuten. Eins. Ganz schöne Verschwendung von Lebenszeit, das jetzt abzubrechen. Zwei. Hab aber gerade auch keine Lust, mich mit meiner Mutter anzulegen. Man muss wissen, wofür es sich zu streiten lohnt. Drei: Absprung. Ich lande auf den Füßen, das Gras unter meinen Schuhen ist mit Frost überzogen und knirscht. Kurz wird mir ein bisschen schwarz vor Augen, es flimmert, und meine Knie fühlen sich weich an. Aber ich fange mich schnell wieder, Übungssache.

»L-A-R-I-S-S-A!!!«

Ich halte die Stoppuhr an: 24:56.

*

Das Mädchen hängt wieder im Baum, denkt sie, und schüttelt darüber den Kopf, nur ganz leicht, nur für sich. Sie ist niemand, der sich in die Angelegenheiten anderer einmischt, auch wenn sie von ihrem Schlafzimmerfenster aus rüber in den Garten der Nachbarn sehen kann, auch wenn das Mädchen da mit nacktem Bauch hängt, bei dieser Kälte, und die Haare beinahe den schmutzigen Boden berühren. Warum die Mutter nichts dazu sagt, fragt sie sich, sie scheint doch zu Hause zu sein, das Auto steht in der Einfahrt, wie immer. Seit der Mann weg ist, hat sie nicht mehr in der Garage geparkt. Ewig ist das schon her, dass der weg ist, da war das Mädchen noch ganz klein. Sie spürt einen Stich im Kreuz und fragt sich, wie lange sie schon hier am Fenster steht. Eigentlich war sie nach oben gekommen, um sich einen Moment hinzulegen, um sich auszuruhen. Sie wollte das Fenster schließen und die Vorhänge zuziehen, den Tag aussperren. Doch dann hat sie gesehen, dass das Mädchen da wieder hängt. Hat erst einen Schreck bekommen, hat wieder an die alte Kastner denken müssen, obwohl die ja gar nicht in dem Baum gehangen hat, sondern im Vorgarten, und außerdem ist das inzwischen ein ganzes Leben lang her. Sie schüttelt den Kopf, diesmal über sich selbst, weil ihr auffällt, dass sie die alte Kastner in Gedanken immer noch die alte Kastner nennt. Dabei ist sie längst älter als die Kastner bei ihrem Tod, neunzig Jahre schon. Manchmal kann sie es selbst nicht glauben, dann wieder ist es nicht zu leugnen. Neulich erst, vor zwei Wochen, ist sie die letzten drei Stufen der Treppe in ihrem Haus hinuntergefallen. Sie hatte für einen kurzen Moment den Halt verloren, die Knie haben einfach nachgegeben, und schon lag sie da, unglücklich verdreht, mit einer geprellten Hüfte und konnte sich nicht bewegen. Sie weiß nicht, was passiert wäre, hätte Steffan sie nicht gefunden. Wäre er nicht ausgerechnet an diesem Tag vorbeigekommen, um nach ihrem Abfluss in der Küche zu sehen. Geschimpft hat er, was sie für Sachen mache, dabei muss der gerade reden, der macht ja selber Sachen, und im Gegensatz zu ihr macht er sie mit Absicht. Wieder schüttelt sie den Kopf. Daran will sie gar nicht denken, das hat sie so für sich entschieden, dass sie sich da nicht einmischt.

Am nächsten Tag hat er den Umzug vorgeschlagen. Ist extra nochmal vorbeigekommen und hatte drei Broschüren mitgebracht, als ob sie die Seniorenheime hier nicht kennen würde. »Kommt gar nicht in Frage«, hat sie gesagt und dass sie dieses Haus nur mit den Füßen voraus verlassen wird, dann hat sie die Broschüren ins Altpapier geworfen und nicht mehr daran gedacht, bis es ein paar Tage später noch mal passiert ist. Diesmal ist sie in einen Beistelltisch aus Glas gefallen. 

Das Mädchen hat jetzt angefangen zu schaukeln, schwingt vor und zurück, immer schneller, seine Knie geben nicht nach, halten das Mädchen, bis es sich schließlich mit einem kräftigen Stoß vom Ast löst und nach einer halben Drehung sicher auf den Füßen landet. Schnell zieht sie den Vorhang zu. Sie geht rüber zum Bett, muss sich ausruhen, nur einen Moment die Beine hochlegen. Als sie die Augen schließt, sind sie wieder da, die Bilder. Jahrelang waren sie weg, jetzt kommen sie wieder, immer häufiger, rauschen vorbei, die Leichen im Fluss.

Meine Mutter sitzt mitten im Wohnzimmer auf ihrem Pouf. Der Pouf ist ein buntes, kreisförmiges Kissen, das sie im Internet bestellt hat, als sie ihre Meditationsphase hatte. Da saß sie dann jeden Morgen im Schneidersitz, mit geschlossenen Augen, und hat angestrengt ein- und ausgeatmet. Mittlerweile sitzt sie nur noch darauf, wenn sie sich die Fußnägel lackiert.

»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragt sie, ohne aufzusehen.

»Draußen.«

»Im T-Shirt?«

Ich antworte nicht mehr auf dumme Fragen. Hab ich neulich mal beschlossen. Leider hat meine Mutter das noch nicht bemerkt.

»Wenn du krank wirst, gehst du trotzdem zur Schule.«

Sie beugt sich über ihren großen Zeh und macht ein konzentriertes Gesicht, während sie mit dem kleinen Pinsel über den Nagel fährt.

»Was ist denn?«

Manchmal vergisst sie einfach, warum sie mich gerufen hat. Ich hasse das. Hab schließlich andere Dinge zu tun.

»Kannst du heute bitte einkaufen gehen? Ich schaff’s nicht.«

Nee, klar. Sieht man ja. Viel los hier.

»Was denn?«

»Na, was du halt essen willst!«

»Isst du denn mit?«

»Weiß ich noch nicht. Ich muss noch was erledigen, kann später werden. Kauf einfach ein bisschen mehr.«

Sie nimmt ihren rechten Fuß in die Hand, zieht ihn sich fast bis unters Kinn und fängt an, den Lack trocken zu pusten.

»Geld?«

»Handtasche liegt auf meinem Bett.«

Unser Haus ist eigentlich gar kein richtiges Haus, eher eine Wohnung, die zufällig allein auf dem Grundstück rumsteht. Wir haben nur ein Stockwerk, drei Zimmer, keinen Dachboden, keinen Keller, dafür eine unverhältnismäßig große Garage, in der alles Mögliche steht, nur nicht unser Auto. Das Schlafzimmer meiner Mutter ist das kleinste Zimmer, aber ich finde, es ist auch das schönste. Ihr Schrank, ihre Kommode und ihr Bett sind weiß, außerdem hat sie immer weiße Bettwäsche drauf. Nur ihre Vorhänge sind dunkelblau, weil sie nachts kein bisschen Licht ertragen kann. Wenn die Vorhänge offen sind, hat man von ihrem Fenster aus einen richtig guten Blick in den Garten. Also, zumindest kann man den Apfelbaum sehen, und der ist immerhin das Highlight. Von meinem Fenster aus schaut man auf die Straße. Und weil wir keinen richtigen Vorgarten haben, nur einen schmalen Streifen Wiese zwischen Zaun und Haus, glotzen die Leute immer bei mir rein, wenn sie vorbeigehen. Manchmal wink ich ihnen zu, dann schauen sie schnell weg.

Ich ziehe das schwere Portemonnaie aus der Handtasche. Es sind zwei Zwanziger drin, ein Zehner, zwei Fünfer und tausend Kassenbons. Meine Mutter hebt die immer ewig auf. »Falls man mal was umtauschen will.« Für die Dinge, die ich gern umtauschen würde, gibt es leider keine Kassenbons. Ich nehme 35 raus. Mehr als 30 brauch ich wahrscheinlich nicht. Der Rest ist Trinkgeld.

Während ich mir die Schuhe anziehe, höre ich ein Klackern aus dem Bad, dann ein Zischen. Wenn ich später nach Hause komme, wird der Geruch von Haarspray noch in der Luft hängen, aber meine Mutter wird schon weg sein. Ob sie zum Abendessen wieder zurück sein wird, kommt darauf an, wie es läuft. Das kann ich nicht abschätzen, dafür habe ich zu wenige Informationen. Ich finde, sie könnte es mir auch einfach direkt sagen, wenn sie ein Date hat.

Zum Netto sind es nur sieben Minuten. Aber da gehe ich erst später hin. Vorher mach ich noch meine Bückrunde. So nenn ich meine Schicht auf dem Friedhof. Ein- bis zweimal die Woche sammle ich Müll und Laub von den Gräbern, schmeiße vergammelte Blumensträuße auf den Kompost oder gieße die Pflanzen, wenn es ausnahmsweise mal nicht regnet. Dafür kann ich mir dann einen Zehner bei Frau Ratzlow abholen, das ist die Friedhofsverwalterin. Sie ist schon fast siebzig und könnte längst in Rente sein, aber ich denk mal, sie hat Angst, die Seiten zu wechseln.

Samstag ist der beste Tag für meine Runde. Da sind nämlich auch die Witwen da. Also die, die noch können. Die bringen neue Blumen oder zünden eine Kerze an und sehen mich, wie ich mich kümmer, und schon haben sie einen Schein in der Hand. Oder zumindest was zum Klimpern. Dann bedanken sie sich, weil ich das Beet geharkt habe, als sie neulich im Krankenhaus waren, die Hüfte wieder oder das Knie, man wird schließlich nicht jünger, und ich lächle mein schönstes Mach-ich-doch-gern-Lächeln. Ich kann gut mit alten Leuten, die mögen mich. Liegt vielleicht daran, dass sie nichts über mich wissen, sondern sich einfach selber was zurechtfantasieren. Das nette blonde Mädel mit der Gießkanne.

Heute ist wieder eine Bestattung. Hinten bei den Urnengräbern steht eine winzige Gruppe Schwarzgekleideter. Kein Drama also: Je kleiner die Zahl der Trauergäste, desto älter der Tote. Es sei denn, es war ein richtiger Unsympath, kann natürlich auch sein.

Ich fang immer an der gleichen Stelle an:

Heinrich Ehrlinger

19272001

Begrenzt ist das Leben, doch unerschöpflich ist die Liebe

Auf den Gräbern direkt an der Mauer liegt oft Müll. Die Leute schmeißen ihren Kram hier einfach rüber. Denke ich zumindest mal, erwischt hab ich dabei noch keinen. Ich weiß auch nicht, ob ich dann was sagen würde, bin ja nicht die Müllpolizei. Außerdem verdien ich damit mein Geld, also, was soll ich mich aufregen. Ich pflücke ein Snickers-Papier aus der kleinen Hecke, die Ehrlingers Grab eingrenzt, und stopfe es in den Müllbeutel, den ich mitgebracht hab. Weiter zu Erika Lindmann. Ich könnte hier alle Namen auswendig in der richtigen Reihenfolge aufzählen. Mit Geburts- und Todesdaten. Manchmal frage ich mich, ob ich mir damit nicht das Gehirn verstopfe.

Drüben setzt sich der kleine Trauertrupp in Bewegung. Einige von denen sehen echt so aus, als würde es sich gar nicht lohnen, den Friedhof nochmal zu verlassen.

»Einer aus dem Stift. Paarundneunzig. Wurde auch Zeit!«

Ich drehe mich um. Drei Gräber weiter steht Frau Nienhoff bei ihrem Mann. Also an seinem Grab natürlich.

»Frau Nienhoff!«, sage ich so, dass es gleichzeitig nach »Schön, Sie zu sehen« und »Seien Sie mal nicht so pietätlos« klingt. Das gefällt ihr, sie lacht.

»Irgendwann müssen wir alle.«

»Da haben Sie recht.«

»Na, du hast ja wohl noch ein bisschen Zeit.«

»Sie doch auch, Frau Nienhoff.«

Sie lacht wieder und fängt an, in den ausgebeulten Taschen ihres Anoraks zu kramen. Ich bücke mich währenddessen nach einem nassen Taschentuch, das die ersten beiden Buchstaben auf Otto Bodes Grabstein verdeckt.

»Da. Nimm.« Sie streckt mir ihre Hand entgegen, aber bevor ich bei ihr bin, öffnen sich ihre Finger plötzlich wie von allein, und der Fünfer segelt runter. Das hab ich schon ein paar Mal bei ihr erlebt. Keine Ahnung, was das soll, vielleicht hat sie sich einfach nicht mehr so ganz unter Kontrolle. Böse scheint sie es jedenfalls nicht zu meinen, sie guckt immer ganz zerknirscht, wenn das passiert.

Schnell hebe ich den Geldschein auf und nehme ihre knochigen Alte-Frauen-Hände in meine, drücke sie kurz. »Danke schön.«

»Na, ich weiß ja eh nicht mehr, wofür ich das noch ausgeben soll!«

Wieder lacht sie, und ich schüttele streng den Kopf, dann macht sie sich auf den Weg. Sie wohnt in einer der Platten hinter der Kirche, hat einen Balkon zur Straße, da hab ich sie schon oft sitzen sehen. Ist ziemlich stolz darauf, mit über achtzig noch allein zurechtzukommen. Kann ich verstehen. Ich glaube, Altenheim ist die Hölle. Stell ich mir vor wie ewig auf den Bus warten, ohne zu wissen, ob da überhaupt noch einer fährt.

Eine knappe Stunde brauche ich, um einmal alles abzulaufen. Die große Wiese mach ich zum Schluss. Manchmal lasse ich sie sogar ganz aus und sammle nur das Gröbste von den Rändern weg. Es ist nicht so, dass ich das Massengrab gruselig finde. Und Angst hab ich schon gar nicht. Sind schließlich alle tot. Aber ich stell mir immer vor, dass die da unten kreuz und quer liegen, die Füße des einen im Gesicht des anderen, und dann bekomme ich so ein enges Gefühl und würde am liebsten ein Stück rennen, einfach nur, weil ich’s kann. Mach ich natürlich nicht, ist schließlich ein Friedhof hier. In Hallenbädern und auf Friedhöfen wird nicht gerannt, sagt Frau Ratzlow immer. Ich hab sie mal gefragt, ob das nicht merkwürdig ist, hier jeden Tag zu arbeiten, wenn man weiß, dass um einen herum überall Leichen liegen. Da hat sie mich ganz erstaunt angesehen und heftig den Kopf geschüttelt. »Leichen sind nichts anderes als Kompost«, hat sie gemeint. Und dass die Toten sowieso hingehen würden, wohin sie wollen. Kann sein, dass man irgendwann ein bisschen komisch wird, wenn man zu lange auf dem Friedhof arbeitet. Ich mag Frau Ratzlow trotzdem. Wenn ich mir unter der Woche mein Geld bei ihr abhole, bleib ich meistens noch ein bisschen in ihrem Büro sitzen. Sie hat immer was zu erzählen: Wer zuletzt gestorben ist, ob es extravagante Wünsche für die Bestattung gab, ob auf der Trauerfeier mehr gefeiert oder getrauert wurde. Manchmal packt sie auch die alten Geschichten aus, die von ganz früher, die sie selbst nur gehört hat. Und sie hat viel gehört, in all den Jahren. Die Leute kommen auf den Friedhof, um sich zu erinnern, so hat sie mir das mal erklärt. Und wenn sie gerade schon dabei sind, dann wollen sie auch erzählen.

Ich bringe meinen vollen Müllsack zur Tonne. Der Deckel ist festgefroren, ich brauche richtig Kraft, um ihn zu öffnen. Neben der Tonne gibt es einen Wasserhahn für die Gießkannen, unter dem ich mir die Hände wasche. Das Wasser ist eiskalt. Ich sehe zu, wie meine Haut langsam rot wird, eigentlich eine gute Gelegenheit zum Kältetraining, aber ich drehe den Hahn wieder ab. Eine Sache muss ich nämlich noch erledigen.

Ein bisschen abseits, hinten bei den drei Kiefern, ist das Grab Nummer 46. Der flache, weiße Grabstein liegt leicht schräg in der Erde, drum herum eine kleine Rosenhecke. Sieht hübsch aus, wenn sie im Sommer blüht. Ich hocke mich hin, fege ein paar braune Kiefernnadeln vom Stein und lasse die Hand dann einen Moment auf der goldenen Schrift ruhen. Nur sein Name steht dort und die beiden Daten, die so nah beieinanderliegen, sonst nichts, kein Spruch, keine unerschöpfliche Liebe.

»Heute hab ich’s nicht so lang geschafft«, sage ich, ganz leise, damit wirklich nur er mich hört. »Wurde von Mama unterbrochen. Aber nächstes Mal mach ich gleich eine Dreiviertelstunde, das pack ich locker, meine Beine sind viel stärker geworden. Ich mach jetzt jeden Abend Wandhocke.« Ich höre Schritte auf dem Kiesweg und warte kurz, bis ich wieder allein bin. Schon klar, andere machen das auch, mit Toten sprechen, hab ich oft genug mitgekriegt hier, aber ich will nicht gestört werden, ist schließlich ein Privatgespräch. Die Schritte werden leiser, dann ist es wieder still. Ich lasse es trotzdem gut sein für heute, der Moment ist vorbei. »Mach keinen Blödsinn!«, sage ich zum Abschied, dann stehe ich auf und ziehe weiter zu Netto.

*

Ihr Kopf fühlt sich schwer an, als sie aufwacht, ihre Glieder steif, es ist kalt im Zimmer, das Fenster steht immer noch offen, sie hat vorhin vergessen, es zu schließen. Sie braucht einen Moment, um sich daran zu erinnern, wo sie heute Vormittag mit Steffan war, dann fallen sie ihr wieder ein, die blassgelben Flure des Seniorenheims, und Unruhe macht sich breit in ihr. Man darf fast gar nichts mitnehmen. Die Zimmer sind klein, und es ist alles da, Möbel, Bettwäsche, Handtücher, Vorhänge. »Alles was man braucht«, hat die junge Heimleiterin begeistert gesagt, und sie hätte sie am liebsten gefragt, ob sie denn selbst auch auf 18 qm wohnt und in fremder Bettwäsche schläft. Aber stattdessen hat sie nur freundlich genickt und am Ende unterschrieben. Der Gedanke daran, das Haus in den nächsten Wochen ausräumen zu müssen, das Haus, in dem sie ihr ganzes Leben lang gewohnt hat, alles zu verpacken und wegzugeben oder, schlimmer noch, wegzuschmeißen, kommt ihr absurd vor. Sie setzt sich auf, schlägt die Decke zurück. Ein eisiger Wind weht ins Zimmer. Im Heim ist es ihr vorhin furchtbar warm vorgekommen, als ob die Heizungen in allen Zimmern voll aufgedreht wären, die Luft war ganz trocken und roch süßlich. Sie hatte an damals denken müssen, an die Tage und Wochen, in denen die Toten noch nicht weggeschafft worden waren und über der Stadt eine Glocke aus süßlichem Leichengeruch und dem Geruch nach Verbranntem hing. Sie steht auf, extralangsam, sie traut ihren Beinen nicht mehr, muss immer erst ein paar Schritte gehen, bis sie sich einigermaßen sicher fühlt. Im Heim wird immer jemand da sein, der ihr aufhilft, hat die Heimleiterin gesagt, sie kann auch einen Gehwagen benutzen, die Flure sind breit, und es gibt einen Fahrstuhl. Sie schließt das Fenster, stützt sich einen Moment auf der Fensterbank ab. Heute Vormittag hat sie sich bei Steffan untergehakt, ist die ganze Zeit an seinem Arm gegangen, so geht es ja auch. Im Fahrstuhl haben sie eine Frau getroffen, die auf der Sitzfläche ihres Gehwagens saß. »Welcher Stock?«, hat Steffan sie gefragt und wollte für sie drücken, aber sie hat nur »Meyer« gesagt und abwesend zur Tür gesehen. Als sie nach der Besichtigung wieder mit dem Fahrstuhl hinunterfuhren, saß die Frau immer noch darin, ist die ganze Zeit über hoch- und runtergefahren. Sie wird keinen Gehwagen benutzen, denkt sie, wo sollte sie hingehen in diesem Heim, was sollte sie vorhaben.

Ich stecke meinen Einkaufs-Złoty in den Wagen. Hab ich mir von der Klassenreise nach Polen letztes Jahr mitgebracht. Passt genau rein, und ich kann ihn nicht aus Versehen ausgeben. Ziemlich praktisch. Ohne Wagen einkaufen gehen ist mir nämlich zu heikel. Entweder friert dir der Arm ab, weil du einen Beutel Tiefkühlpommes druntergeklemmt hast. Oder die Schokolade schmilzt, weil du sie die ganze Zeit gegen deinen Körper drücken musst. Oder dir fällt der ganze Kram runter inklusive Pesto im Glas, und dann bekommst du erst mal einen Wischmopp in die Hand gedrückt und darfst dich schön zum Lauch machen.

Der Laden ist natürlich bummsvoll. Alle machen ihre Wocheneinkäufe. Aber ich hab da kein Problem mit, im Gegenteil. Schließlich muss ich das irgendwann können, in chaotischen Situationen klarzukommen. Ich werd nämlich mal Kriegsreporterin. Okay, Netto ist nicht Krieg, aber irgendwo muss man ja anfangen. Kann schließlich später auch nicht einfach sagen: Ups, das ist mir jetzt zu wuselig hier, ich komm morgen noch mal wieder. Nee. Da heißt es dann Augen auf und durch.

In der Gemüseabteilung ist alles dicht. Die Leute lassen ihre Wagen im Weg stehen, während sie in aller Ruhe die Avocados betatschen. Ich biege direkt in den Brotgang ein, Gemüse brauch ich eh nicht. Mittlerweile weiß ich, ohne hinzugucken, wo der Sandwichtoast liegt, kann es mir also im Vorbeigehen in den Wagen schmeißen und direkt zum Kühlregal durchziehen. »’tschuldigung, ’tschuldigung, ’tschuldigung, darf ich mal?«, nuschelnd greife ich an unentschlossenen Rumstehern vorbei und sammle Käse, Schinken, Milch und Pudding ein. Dann parke ich meinen Wagen bei den Tiefkühltruhen, während ich Nudeln, Pesto und Nutella besorge. Erst kurz vor Schluss lade ich Pizza und Eis ein, soll schließlich nicht auftauen. Letzter Stopp: Chipsregal. Ich nehme einen kleinen Umweg, weil ich aus den Augenwinkeln eine Kinderwagen-Blockade wahrnehme, biege in den Knabbergang ein und werde plötzlich ausgebremst. Vor dem Regal mit meinen Lieblingschips steht ein Hindernis, für das ich noch keine Strategie entwickelt habe: Timo. Mit einer fetten, in Plastikfolie eingeschweißten Palette.

Timo war in der Klasse über mir, bis er letztes Jahr geschmissen hat. Oder geflogen ist, da gibt es unterschiedliche Versionen. Man erzählt sich so einiges über ihn. Dass er im Unterricht geraucht hat. Dass er was mit Frau Wolter hatte. Dass er mit dem Hausmeister zusammen Drogengeschäfte organisiert hat. Dass er Fahrradschlösser in unter einer Minute knacken kann. Solche Sachen. Soweit ich weiß, wohnt er in Bangladesch. Das ist das Plattenbauviertel hinter der Schule, keine Ahnung, warum das so heißt, aber alle nennen es so. Ich denk mal, mindestens die Hälfte der Geschichten über Timo sind ausgedacht. Jetzt arbeitet er jedenfalls offensichtlich bei Netto und steht hier im Weg rum.

Ich überlege kurz, ob ich die Chips wirklich brauche. Sind ja auch ungesund und so. Aber dann entscheide ich mich doch dafür, zu kämpfen.

»Kann ich mal?«

Timo sieht mich kurz an. In seinem Gesicht liegt absolut kein Ausdruck. Unmöglich zu sagen, ob er mich gehört hat. Ohne zu antworten, wendet er sich wieder seiner Palette zu, holt einen Cutter aus der hinteren Hosentasche und fängt an, die Folie damit aufzuschlitzen.

»Ich muss nur kurz an die Chips ran.«

Timo geht langsam in die Hocke, der Cutter gleitet mit ihm nach unten, trennt das Plastik mit einem sauberen Schnitt. Sieht fast ein bisschen elegant aus. Er kommt wieder hoch und reißt die Folie mit den Händen ab. Stapelweise Kekspackungen kommen zum Vorschein. Leider keine Chips.

»Hallo?«

Er sieht mich wieder an. Und grinst. Warum grinst er bitte?

»Nicht so ungeduldig.«

Er kann also sprechen. Schön. Leider sagt er jetzt nichts mehr, sondern steckt seinen Cutter wieder ein und fängt in Zeitlupe an, die Kekse ins Regal zu räumen. Ich schätze, wenn er in dem Tempo weitermacht, braucht er locker eine Stunde für die Palette. Warten ist also keine Option. Einfach abziehen natürlich auch nicht. Bleibt nur eins: Angriff. Ich schnappe mir den Hebel des Hubwagens. Kann ja so schwierig nicht sein, das Ding zu bewegen. Mit meinem ganzen Gewicht stemme ich mich darauf und beuge mich gleichzeitig nach rechts. Der Wagen setzt sich in Bewegung, aber dummerweise in die falsche Richtung. Die Palette rammt links das Regal, ein paar Kekspackungen gehen zu Boden.

»Bist du bescheuert oder so?«

Timo fragt das gar nicht wütend, sondern eher belustigt. Ich entscheide mich trotzdem für einen schnellen Rückzug, schnappe mir eine Tüte Chips, werfe sie in den Wagen und drehe ab. An der Kasse halte ich die Stoppuhr an: 8:37. Nicht schlecht für einen Samstag.

Es gibt nichts Besseres als Pizza im Bett, Laptop auf dem Bauch. Wenn meine Mutter nicht da ist, seh ich keinen Grund, am Tisch zu essen. Sie besteht leider auf so was, wahrscheinlich weil sie dann das Gefühl hat, ihren Job gemacht und mich erzogen zu haben. Auf dem Laptop läuft eine Doku. Das gehört zu meinem Training, ist sozusagen der Theorieteil. Ich schau mir alles an, was es über Kriegsreporterinnen gibt, und notier mir in meinem Handy, was ich mir für später merken will. Zum Beispiel: Wenn eine Handgranate explodiert: auf den Boden werfen, Ohren zu und Mund auf. Das mit dem offenen Mund ist wichtig für den Druckausgleich, sonst platzt einem das Trommelfell, und ich denk mal, wenn man grad im Kriegsgebiet unterwegs ist, ist das nicht so praktisch.

Mein großes Ziel ist es, einmal am Hostile Environment Awareness Training teilzunehmen. Das ist ein Training von der Bundeswehr, extra für Leute, die in Kriegsgebiete müssen, also nicht als Soldaten, sondern als Ärzte zum Beispiel oder als Journalisten. Da lernt man dann eine Woche lang, wie man sich im Krieg zu verhalten hat, was man macht, wenn man unter Beschuss gerät, woran man Landminen erkennt und wie man Schusswunden und andere Kriegsverletzungen versorgt. Am letzten Tag wird man von Rebellen entführt und in einen dunklen Raum gebracht, da muss man dann stundenlang auf dem Boden knien und die Hände hinter dem Kopf halten, und wenn den Entführern irgendwas nicht passt, muss man sofort Liegestütze machen. Sie schreien rum und drohen, einen zu erschießen, und irgendwann muss man sogar eine Abschiedsbotschaft an seine Familie aufnehmen. Leider kann man da erst ab achtzehn mitmachen. Bisschen ärgerlich natürlich, aber immerhin hab ich so noch etwas Zeit, für die Teilnahmegebühren zu sparen. 1500 Euro kostet der Spaß.

Es klingelt. Dreimal kurz, einmal lang. Am liebsten würde ich so tun, als wäre ich nicht da, aber ich weiß, dass ich damit nicht durchkommen würde. Es klingelt wieder. Dreimal lang, dann kurz — kurz — kurz — kurz. Sie wird nicht aufgeben, so viel ist sicher. Also strample ich die Decke weg, stehe auf und öffne die Tür.

»Hast du geschlafen?«

Sarinas Mütze passt zu ihrem Schal, beides passt zu ihren Augen, und ich will zurück in mein Bett.

»Nachmittags schlafen ist nicht gut für dich, dann liegst du nachts wach, und dein ganzer Bio-Rhythmus kommt durcheinander. Das kann dich mehrere Jahre deines Lebens kosten.«

»Ich hab nicht geschlafen«, sage ich, lasse die Tür einfach offen und gehe zurück in mein Zimmer. Während Sarina im Flur Schuhe und Jacke auszieht, räume ich meinen Laptop und den Teller mit den Pizzarändern auf den Fußboden und krieche wieder unter die Decke.

»Hier riecht es nach Salami.«

Sarina reißt das Fenster auf, dann lässt sie sich neben mich aufs Bett fallen. Ihre Haare sind elektrisch aufgeladen von der Mütze, stehen in alle Richtungen ab. Wären wir jetzt in der Schule, hätte sie schon längst ihre Bürste in der Hand, aber wenn wir unter uns sind, ist ihr ziemlich egal, wie sie aussieht. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Wand, kalte Luft strömt in den Raum. Sarina legt ihre Beine über meine. Das macht sie oft: irgendeinen Körperteil von sich auf mir ablegen.

»Was machst du da?«, frage ich. Sie hängt jetzt mit dem Oberkörper über der Bettkante.

»Musik an«, sagt sie und hebt meinen Laptop zu sich hoch.

»Gib her, ich mach schon.« Ich will ihr den Laptop wegnehmen, aber ihre Beine sind schwer, und ich komme nicht hoch. Sie berührt das Trackpad, der Bildschirm wird hell. Genau das wollte ich vermeiden.

»Hast du dir schon wieder diesen Kriegskram angeschaut?« Sarina ist nicht gerade ein Fan von meinen Zukunftsplänen. Genauer gesagt: Sie findet sie komplett bescheuert.

»Muss dich ja nicht interessieren«, sage ich und nehme ihre Beine endlich von mir runter. Sie setzt sich auf, ich angle mir den Laptop und suche nach Musik, die für bessere Stimmung sorgen könnte.

»Ich glaub dir eh nicht, dass du das ernst meinst«, sagt sie und zupft dabei Flusen vom Bettlaken. Ich scrolle durch meine Playlists, sehe aber gar nicht richtig hin. Sarina hat keine Ahnung, wie ernst es mir wirklich ist.