Aus dem Amerikanischen von Susanne Picard

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Ladies’ Night

erschien 1997 im Verlag Crossroad Press.

Copyright © 1997 by Dallas Mayr

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Lektorat: Katrin Hoppe

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-823-0

www.Festa-Verlag.de

Für Paula White –

die normalerweise eine Lady ist.

Aber nicht immer.

Und für Richard Christenson,

der verdammt hart und gut gearbeitet hat.

»Ich verdiene dieses Schicksal.

Es ist der Lohn für ein wildes

und rücksichtsloses Leben.

Bis dann, Jungs!«

Bill Longley

Durch den Galgen hingerichtet

in Giddings, Texas, 1877

»If I’d the courage I would make my way home.

Too many antics in the forbidden zone.«

Adam and the Ants

»Im Krieg zwischen Männern und Frauen

gibt es keine Überlebenden.«

Norman Mailer

Vorwort

Wirklich aufmerksamen Lesern meiner Werke, und damit meine ich Personen, die auch auf das kleinste Detail achten, wird vielleicht aufgefallen sein, dass zwischen 1981, als ich mein erstes Buch Off Season veröffentlichte, und 1984, als mein zweites Buch, ein kleines, nur 194 Seiten starkes Büchlein namens Hide and Seek herauskam, nichts von Jack Ketchum zu sehen und zu hören war. Keine Artikel für Magazine. Keine Kurzgeschichten. Nichts. Und daher hat sich der eine oder andere vielleicht gefragt: Was zum Geier hat dieser Typ in diesen drei Jahren denn getrieben? Saß er einfach irgendwo herum und hat seine Moneten gezählt?

Schön wär’s gewesen.

Einen Großteil dieser Zeit habe ich nämlich an dem Roman geschrieben, den Sie gerade in der Hand halten. Und das war sehr intensive Arbeit.

Außerdem hatte ich dabei eine Scheißangst. Sowohl während des Schreibens als auch danach.

Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen.

Als der Verlag Ballantine das Manuskript zu Off Season kaufte, verursachte er mit der Veröffentlichung eine Menge Aufregung, da der Roman so brutal war. 1980 hatte einfach noch keiner ein Buch mit derartig viel … ja, Biss gelesen. Dass genau dies dem Buch auch zum Verhängnis werden könnte, war niemandem in den Sinn gekommen. Obwohl beinahe der gesamte verdammte Scheißverlag das Buch gelesen hatte! Als ich damals mit meinem Lektor durch die Großraumbüros des Verlags ging, folgten uns verstohlene Blicke, Lächeln und Kopfschütteln. Das war also der Kerl, der diese abgedrehte, verrückte Geschichte über Kannibalen geschrieben hatte! Mein Manuskript zu kaufen, war die erste Amtshandlung von Marc Jaffe als neuer Cheflektor von Ballantine gewesen. Er war es, der mich eines Tages beiseitenahm und meinte: »Dieses Buch wird dich reich machen, Sohn!«

Ja, klar.

Ich habe das alles schon einmal erzählt, also fasse ich mich hier kurz. Was dann passierte, war im Grunde Folgendes: Man beschloss, eine Riesenkampagne zu starten, Poster in der Außenwerbung, gesonderte Stände in Buchläden, an denen man das Buch direkt kaufen konnte, plus eine zusätzliche Auflage von 40.000 Exemplaren, die nur für den Vertrieb gedruckt wurden, damit dieser es in einer Art Vorab-Hype anpreisen konnte. Und wie reagierten die Händler? Durch die Bank weg mit: Bitte was? Dieser Scheiß ist nichts als ein Gewaltporno, und damit wollen wir nichts zu tun haben. Seid ihr verrückt geworden?

Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich mich bereits für ein zweites Buch verpflichtet.

Im Januar ’81 unterschrieb ich den Vertrag zu einem Buch namens The Mantis Syndrome. Der Titel erklärt sich, sobald man es liest. Ich habe ihn später nur geändert, weil ich die Doppeldeutigkeit von Ladies’ Night mochte und mir The Mantis Syndrome ein wenig zu sehr nach Michael Crichton klang. Ich gab mir beim Exposé für die Handlung und bei den Probekapiteln besonders viel Mühe, und zwar so viel, dass ich mir geschworen habe, das in dieser Form nie wieder zu tun. Die Zusammenfassung dessen, was im Roman geschehen sollte, umfasste schließlich 40 Seiten. Dazu kam die Inhaltsangabe der einzelnen Kapitel von weiteren 40 Seiten. Und beim Schreiben des Romans folgte ich diesem Exposé dann akribisch.

Auch das werde ich nie wieder tun.

Warum habe ich mir das überhaupt angetan?

Weil ich, um ehrlich zu sein, ein wenig eingeschüchtert war.

Patti Smith hat einmal gesagt, dass man für die Fertigstellung des ersten Albums 21 Jahre Zeit bekommt. Für das zweite dann sechs Monate. Und sie weiß, wovon sie spricht. The Mantis Syndrome, vom Standpunkt der Herausgeber aus gesehen, sollte aus dem selben Stoff wie Off Season sein, nur ausführlicher. Wie Brennen muss Salem im Vergleich zu Carrie. Nur eben nicht im Stil Stephen Kings, sondern in dem von Jack Ketchum, mit offener Gewalt. Wohlgemerkt, das war Monate, bevor die Sache mit den Händlern eskalierte.

Der Vorschuss betrug 20.000 Dollar. Zweimal so viel, wie ich für Off Season bekommen hatte, und damals für einen zweiten Roman ganz ansehnlich. Was es heute im Grunde auch noch ist, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Mir war bewusst, dass man überall noch von meinem ersten Buch sprach, dass es einen ganz schönen Skandal verursacht hatte und dass man sich im Verlag für mein zweites Buch sogar noch mehr erhoffte. Das war ein ziemlich guter Start, liebe Leute. Also gab’s eine Menge Druck, mich selbst zu übertreffen.

Und ich hatte buchstäblich nur Pattis sechs Monate, um das hinzukriegen. Buchstäblich.

Ich schaffte es allerdings schon vor der vereinbarten Deadline. Ich arbeitete bis in die Nacht hinein und folgte akribisch meinem Exposé, denn das war es ja schließlich auch, was Ballantine gekauft hatte. Ich befürchtete jede Sekunde, vom Weg abzukommen, und dass ich nur einige wenige Sternstunden für meinen Ruhm als Autor zur Verfügung und diese schon mit Off Season aufgebraucht hatte.

Ich lernte erst später, dass dieses Gefühl immer da ist. Dieser Ich-habe-nur-ein-Buch-in-mir-Minderwertigkeitskomplex. Ich wünschte, mir wäre das damals schon bewusst gewesen.

Aber ich schaffte es. Und zwar so richtig. Es wurden über 400 Seiten.

Genau, der Roman litt unter akuter und auffallender Elefantitis: Ich hatte erklärende Unterhandlungen über Militäreinheiten und wissenschaftliche Zirkel eingearbeitet, eine weitere um einen schwulen Freund meiner Hauptfigur und seinen Liebhaber, ich hatte erfundene Zeitungsartikel und Fernsehberichte geschrieben und all so was. Bis heute ist es das längste Manuskript, das ich je geschrieben habe. Ich hätte aus Off Season wohl lernen sollen, dass weniger eindeutig mehr ist, und musste das noch am eigenen Leib erfahren.

Meine einzige Entschuldigung, und zwar eine armselige, ist die, dass ich schon wieder Angst hatte. Ballantine wollte ein großes Buch. Und das musste ich auch abliefern.

Betonung auf »musste«. Besonders wegen meines ersten Buchs.

Aber das war es gar nicht, worauf es Ballantine ankam. Sie schienen sich für den Umfang des Buches nicht zu interessieren. Überrascht Sie das etwa? Die produzieren für einen Massenmarkt, um Himmels willen.

Ihnen ging es natürlich um die Gewalt.

An dieser Stelle kamen dann wieder die Stimmen der Vertriebler ins Spiel. Ich konnte jetzt durch die Verlagsräume in der 50th Street gehen und die kollektiven Jubelschreie förmlich hören. Ich bekam sogar einen zweiseitigen Brief meiner Lektorin Susan Allison mit einer Reihe von Vorschlägen, wie man das Buch noch erweitern könnte, und der einzige Zusammenhang, in dem das Wort »Kürzungen« aufkam, war: »Wir kamen überein, dass viele der Schilderungen von Gewalt herausgenommen oder gekürzt werden müssen. Die Geschichte funktioniert hervorragend ohne all diese expliziten Schilderungen.« So ein Quatsch. Lesen Sie das Buch zu Ende und schauen wir mal, was Sie dazu sagen.

Ich wollte diese Überarbeitungen nicht vornehmen. Was im Nachhinein ziemlich sicher nichts mit Arroganz zu tun hatte. Ich machte mir damals wahrscheinlich viel zu viele Sorgen darüber, ich sei arrogant. Es ging auch bei Weitem nicht nur darum, die Gewalt herauszunehmen. Unter anderem wollte man, dass ich die ganze Story in die Zukunft versetze, doch trotz des Hauchs von Science-Fiction in der Handlung ging es eben gerade nicht um Science-Fiction, sondern um Horror, und die Vorstellung, das alles spiele in einem New York zehn oder gar 100 Jahre in der Zukunft, sprach mich überhaupt nicht an. Abgesehen von wenigen Ausnahmen hatte ich noch nie auch nur ein Science-Fiction-Buch gelesen. Während ich also noch mit Ballantine herumdiskutierte, bot mein damaliger Agent Jack Scovil das Buch in aller Stille allen Taschenbuchverlagen in der Stadt an.

Viel Heimlichtuerei und Gespräche hinter vorgehaltener Hand. So machen Agenten das offenbar immer.

Aber keiner wollte es. Jeder war von der Gewalt abgestoßen, besonders die Lektorinnen, die meist dachten, ich sei ein absoluter Frauenfeind. Eine Lektorin, die ungenannt bleiben soll, war so nett, eine Vorabbeurteilung ihres Testlesers in den Absagebrief zu legen. Darin hieß es: »Ich habe aufgehört, die drastischsten Formulierungen tatsächlich zu lesen, nachdem die Mädels, die im Burger King arbeiten, den Möchtegernräuber auf den Grill werfen.« In Wirklichkeit handelt es sich um einen McDonald’s. Und das Ganze ereignet sich im ersten Drittel des Romans, also hat der Testleser oder die Testleserin ganz offensichtlich nicht viel vom ganzen Buch mitbekommen. Was aber auch einiges für sich hat, wenn man bedenkt, dass diese Szene im Vergleich zu dem, was später geschildert wird, noch relativ harmlos ist. Trotzdem schlussfolgerte der Testleser: »Ich hoffe, dass der Schreiber seine Aggressionen auf das Papier beschränkt, das ja bekanntlich geduldig ist. Das ist alles ziemlich grausam.«

Das Wort zum Sonntag.

Kurz und gut: Wir haben das Buch nicht verkauft. Jack argumentierte, dass ich durchaus ein anständiges Manuskript abgeliefert hätte, das dem Exposé in jeder nur erdenklichen Weise entsprochen habe. Eine Untertreibung. Und da es nicht um meine Art zu schreiben oder meinen Stil überhaupt ging, wie ich ja eigentlich befürchtet hatte, war es wohl in diesem Fall die Idee an sich, die nicht ankam. Deshalb durfte ich den Vorschuss behalten. Ballantine versüßte die Absage damit, dass ich einen Vertrag für ein drittes Buch bekam; mit der einzigen Einschränkung, dass ich diesmal das Ausmaß des Blutvergießens etwas einschränken sollte.

Jack ist ein ziemlich guter Agent.

Das Problem war nur, dass ich das neue Buch lange nicht schreiben konnte. Ich war eben eine Eintagsfliege, der Flop um Ladies’ Night bewies das, davon war ich nun überzeugt. Ich hatte meine ganze Kraft im ersten Buch aufgebraucht, genau wie ich vermutet hatte. Weder mein Agent noch meine damalige Lebenspartnerin oder irgendeiner meiner Freunde, die das Buch gelesen und es auch gemocht hatten, konnten mir das ausreden. Ich sah mich schon wieder als Gelegenheitsjournalist für Magazine arbeiten oder gar einen festen Job annehmen – ein Schicksal, das zu schrecklich ist für jemanden, der schon einmal das Gras auf der anderen Seite des Flusses gekostet hat. Es war eine Krise meines Selbstvertrauens, die lange dauerte und sehr tief reichte.

Ich verbrachte viel Zeit damit, lange aufzubleiben und morgens mit einem Kater aufzustehen. Ich wurde zu Tom, dem Protagonisten in Ladies’ Night.

Dann, eines Tages, kam mir plötzlich die Idee für eine kurze Geschichte, die in der ersten Person geschrieben sein sollte. Ich hatte zu der Zeit gerade wieder James M. Cain gelesen und stellte mir vor, wie Cain Charaktere zu entwerfen, die außerhalb ihrer selbst stehen, ohne es zu wissen. Nur eben mit einem Haufen Kids, Teenager. In der Perspektive der ersten Person konnte ich meine Starre durchbrechen und neue Energie finden.

Hide and Seek entstand. Meine Krise war vorbei.

Dennoch ließ mich Ladies’ Night nie ganz los. Wenn ich zurückblickte, dann mochte ich das verdammte Ding immer noch und hielt die Idee an sich für wirklich kühn. Aber ich ließ das Manuskript in einer Schublade liegen und widmete mich anderen Dingen. Bis 1988. In jenem Jahr saß ich mit Richard Christenson, ein guter Freund und Bühnenautor, eines Abends in einer Bar. Er beklagte sich zu Recht darüber, wie schwierig es sei, mit dem Schreiben von Theaterstücken etwas zu verdienen. Beinahe so schwierig wie damit, Gedichte zu schreiben. Genauso gut könnte man versuchen, in der Stadt Kakerlaken als Haustiere zu verkaufen, verdammt noch mal. Schließlich erwischte ich mich dabei, dass ich ihn drängte, er solle es doch mal mit Prosa versuchen. Ich wurde auch nicht gerade reich damit, aber immerhin war ich noch flüssig und konnte tun, was ich wirklich wollte. Vielleicht schaffte er das ja auch. Während wir so quatschten, wurde mir nach und nach klar, dass ihm die Idee tatsächlich zusagte. Ich fügte hinzu, ich hätte bereits einen Einfall und ob er nicht versuchen wolle, aus Ladies’ Night etwas anderes zu machen, es in Form zu bringen und zu etwas umzugestalten, das sich verkaufen ließ. Wir würden den Gewinn und den Ruhm gerecht aufteilen, fifty-fifty.

Er verbrachte Monate mit dem Buch, fügte hier etwas hinzu, strich dort weg. Hauptsächlich strich er weg – wieder brachte es nichts. Er schrieb das erste Viertel des Manuskripts größtenteils um und als er fertig war, dachte ich, es lohnt sich, es wieder zu versuchen. Wir fügten ein wesentlich weniger umfangreiches Exposé hinzu und Alice Martell, meine Agentin damals, verschickte es erneut an die Verlage.

Es waren neue Lektoren, die Antworten allerdings waren dieselben.

Zu gewalttätig. Zu frauenfeindlich.

Ich persönlich glaube ja, dass es mindestens ebenso männerfeindlich ist. Aber vielleicht geht das nur mir so.

Wie auch immer, ich ließ den Roman wieder einmal lange liegen. 1990 entschied ich mich dann, daraus ein Drehbuch zu machen. Ich dachte dabei an einen Horrorfilm mit niedrigem Budget und wechselte daher den Ort der Handlung. Aus New York City wurde eine der Vorstädte, damit der Dreh billiger würde, aber der angerichtete Schaden würde im Großen und Ganzen der gleiche bleiben. Ich glaube, das Drehbuch kursiert immer noch und wird hin und wieder aus Schubladen geholt, und wahrscheinlich wird nie etwas daraus werden. Besonders in diesem Fall. Die Idee hat eine lange Odyssee hinter sich.

Schließlich, vor ein paar Jahren, ich befand mich gerade zwischen zwei Büchern, lag faul herum, machte mir hin und wieder zu einem Einfall Notizen und wartete geduldig darauf, dass sich daraus irgendein Muster, sprich eine Idee ergab, tauchte ein Gedanke wieder auf. Wie wäre es, schnell mal eine Kurzfassung von Ladies’ Night in die Tasten zu hauen?

Warum nicht? Könnte Spaß machen.

Und so war es wirklich. Gekürzt um mehr als die Hälfte erinnerte es an sein Schwesterbuch, Off Season. Die Handlung spielte in der gleichen simulierten »Echtzeit« und funktionierte wie ein gut konstruiertes Theaterstück: Alles fand in einer einzigen grausigen Nacht statt. Es ging um die gleiche Gruppe von alltäglichen Leuten wie du und ich, die zu außergewöhnlichen Gewaltakten gezwungen werden. Wie in Off Season sind die Protagonisten nicht gerade die sympathischsten Leute, Tom ist ein Frauenheld und moralisch gesehen eher ein Feigling, während Elizabeth allen Ernstes darüber nachdenkt, mit ihm zu vögeln, auch wenn seine Frau ihre Freundin ist und sie auf seinen Sohn aufpasst. Damit will ich sagen, dass niemand es verdient hat, in solche Extreme gedrängt zu werden. Niemals.

Wie das erste Buch klaut dieses auch aus Filmen, die ich sehr mag. Besonders – wie sein Vorgänger – aus Die Nacht der lebenden Toten von George Romero. Aber dieses Mal ging der größte Einfluss von David Cronenbergs erstem abendfüllenden Spielfilm aus: Shivers.

Mein Ausgangspunkt war dabei nicht Richards Version des Manuskripts, sondern das Original, auch wenn viele der Kürzungen, die ich vornahm, von der Art waren, die er und ich für absolut notwendig gehalten hatten. Ich muss ihm an dieser Stelle für sein feines Ohr und sein feines Auge danken. Allerdings, so dachte ich, konzentrierte Richards Fassung sich zu sehr auf die wissenschaftlichen Aspekte, der Ton war maßvoller, ernsthafter und einer spannenden, einfachen Horrorgeschichte nicht unbedingt angemessen. Ich wollte mich davon nicht ablenken lassen. Ich wollte einfache Knalleffekte, fertig.

Hey, das ist eine simple Geschichte über irgendeinen Typen, der versucht, nach einer üblen Nacht in seiner Stammkneipe nach Hause zu gelangen.

So was kennen wir doch alle.

Die Tatsache, dass das Ganze auch auf eine zerbrochene, dysfunktionale Familie und allgemein auf Beziehungen zwischen Männern und Frauen abzielt, ist dabei nur ein Pluspunkt. Es ist da, wenn man will, und kann übergangen werden, wenn man nicht an so etwas interessiert ist.

Also habe ich meinen Groschenromanstil beibehalten, die Kursivsetzungen, die Ausrufezeichen, sogar ein paar meiner weniger guten Satzkonstruktionen, um dem Gefühl, das das Original vermitteln sollte, treu zu bleiben und die ganzen Ausweide-Exzesse glaubwürdig beibehalten zu können.

In den letzten Jahren habe ich versucht, mir etwas mehr Subtilität anzugewöhnen, nuanciertere Charaktere zu entwickeln und eine feinere Sprache zu verwenden, ein paar Besonderheiten hier und da einzusetzen. Dieses Buch jedoch hat die Subtilität einer Nutte, die am Eingang zum Lincoln-Tunnel billige Blowjobs anbietet, und ich finde, das ist auch richtig so.

Seit ich also das Buch schrieb, haben sich die Zeiten geändert. Genug, dass ich zu meinem Glück jetzt Möglichkeiten habe, hier und da eine Geschichte unterzubringen, die so extrem ist wie die, die Sie jetzt in der Hand halten.

John, ich danke dir.

Aber auch New York hat sich verändert und wird sich wahrscheinlich weiterentwickelt haben, wenn Sie dieses Buch lesen. »Die Menschen kommen und verschwinden so schnell hier.« Das stimmt für New York wie für das geheime Land Oz. Nur verschwinden die Geschäfte hier über Nacht, während am Morgen bereits neue in den Startlöchern stehen. Bars, Floristen, Banken … Alles ist austauschbar. Wenn Sie in New York geboren sind, und besonders wenn Sie die West Side kennen, werden Sie Abweichungen feststellen können, die sich zwischen Roman und tatsächlichen Örtlichkeiten auftun. Ich habe das Lokalkolorit aufgefrischt, wo es nur ging, habe zum Beispiel Banken durch HMV-Läden ersetzt, wenn da heute einer steht. Aber in manchen Fällen war das einfach nicht möglich. Der Metzger auf dem Broadway beispielsweise hat schon lange geschlossen und wird seither schmerzlich vermisst. Aber ich brauchte einen Metzger genau an der Stelle und so blieb er eben im Buch. Schriftstellerprivileg. Um es anders zu machen, hätte ich einen anderen Roman schreiben müssen, statt einen alten aufzupolieren.

Hollywood ist übrigens ein komischer Ort. Man schreibt ein Drehbuch, geht dorthin und verbringt wesentlich mehr Zeit damit, es anzubieten, als damit, es zu schreiben, oder als jemals jemand damit verbringen wird, es zu lesen. Alle wollen, dass man die Essenz des Drehbuchs in einer einzigen Zeile, der Pitchline, zusammenfasst, um diese dann wie einen Haken zu benutzen, an dem man die Gedanken darüber aufhängen kann, was man nun mit dem »Projekt« anfängt oder auch nicht. Ob man die Rechte kaufen soll oder nicht. Ob man es ändern oder nicht ändern soll, oder besser, was genau man ändern soll. Die Besetzung, Geld, der Drehplan, alles. Alles scheint nur an diesem einen Haken zu hängen, hängt von dieser einen Zeile ab. Also habe ich einen solchen Haken für Ladies’ Night gefunden.

Das musste ich.

Ladies’ Night war dieses eine Buch, das einfach nicht in der Versenkung und aus meinem Gedächtnis verschwinden wollte.

Ich glaube, ich werde Ihnen jetzt diesen Haken geben und Sie das Buch lesen lassen. Wie das Buch selbst mag ich das Gefühl, das dieser Satz in mir auslöst.

»Im Krieg zwischen Mann und Frau ist der erste Schuss bereits gefallen.«

Peng.

1

Etwas Süßes

Wenn man jemanden für schlechte Laune verhaften könnte, dachte Lederer, dann würde die ganze Stadt auf Rikers Island sitzen.

Er trat vom Bürgersteig auf die Fahrbahn. Polizeisirenen erklangen hinter ihm. Die Kollegen von der Streife hatten die Riverside von der 72nd bis zur 75th Street gesperrt, und in der Umleitung über den Broadway stauten sich nun wütende Autofahrer. Lederer hatte den Wagen auf der Columbus abgestellt und ging das letzte Stück zu Fuß. Das war einfacher.

Der warme Wind, der böig vom Fluss herüberwehte, zerrte an seiner Mütze.

Der Gestank war überwältigend. Süß … und irgendwie klebrig. Er konnte nicht sagen, woran ihn der Geruch erinnerte. Irgendeine Saite in seinem Inneren schlug an.

Der Tankwagen lag auf dem Asphalt wie ein aufgeschlagenes Ei in einer Pfanne und hatte seinen Inhalt, eine dunkle, zähe Flüssigkeit, in einer großen, schmierigen Pfütze ausgegossen, die sich von der Mitte der Straße bis hin zum Rinnstein auf der westlichen Seite ausbreitete.

Lederer umrundete sie vorsichtig.

Ein weißer Buick lag an der Ecke zur 73. auf der Seite. Von der hinteren Hälfte war nicht mehr viel übrig. Die Windschutzscheibe auf der Fahrerseite war zersplittert, die Scherben mit Blut besprenkelt.

Er konnte sich lebhaft vorstellen, was genau vorgefallen war. Der Buick war falsch abgebogen und hatte dabei nicht auf die Ampel geachtet. Der Lastwagenfahrer war zu schnell gefahren und dann in die Eisen gestiegen, um den Zusammenstoß zu vermeiden, hatte das aber zu spät getan und auch viel zu heftig.

Diese Tankwagen waren eben nicht einfach zu lenken. Besonders wenn sie voll mit ungesicherter Ladung waren, ohne diese dicken Schotten aus Stahl, die die Tanks in einzelne Abschnitte einteilten, sodass die Flüssigkeit darin im Bremsfall keine zu hohen Wellen schlagen konnte. Ohne diese Schotten im Tank konnte man zwar durchaus immer noch in die Eisen steigen. Aber besser man schlug das Lenkrad dann nicht herum. Denn tut man das mit ungefähr 35.000 Litern und ihrem ganzen Gewicht auf dem Buckel, dann stößt einen diese riesige Welle Flüssigkeit nach vorn und rammt die Kabine mit der Kraft einer Dampfwalze.

Um das zu kontrollieren, musste man schon ein verdammt versierter Fahrer sein. Lederer nahm an, der Typ da drüben war das nicht gewesen.

Viel war von ihm nicht übrig.

Wieder war es leicht, sich das Geschehene vorzustellen. Der Tank hatte das Führerhaus des Lasters herumgeschleudert, bis dieses in einem ungefähr zehn Grad steilen Winkel zum Auflieger des Lkws stand. Damit begann die ganze Wucht der Wellenbewegungen. Die erste Welle raste nach vorn, die zweite nach hinten, die dritte dann von einer Seite zur anderen, und das alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Die dritte, die von einer Seite zur anderen, musste dann wohl den Fahrer getötet haben, hatte sie doch den Tank aus der Halterung gebrochen und den Auflieger direkt auf das Führerhaus geschleudert. Es war zerquetscht worden, als wäre es aus Pappkarton. Der Mann darin war nicht mehr als ein breiter Fleck von Rot und Grau zwischen dem zerdrückten Dach und dem Sitz aus Kunstleder.

Wenigstens war es schnell gegangen, so viel Glück hatte der Kerl immerhin gehabt.

McCann stand an der Ampel. Er kam herüber.

»Was war die Ladung?«, fragte Lederer.

»Hab keinen Schimmer. Riecht süßlich. Flüssiger Süßstoff oder so was. Schau dir mal das Logo auf dem Laster an.«

In roter Schrift standen die Worte LADIES, INC auf dem Tank.

»Was zum Teufel soll das denn heißen?«, fragte Lederer.

McCann zuckte mit den Schultern. »Ich denke, es heißt zumindest, dass unsere Füße nachher im Dunkeln nicht leuchten.«

Lederer zündete sich eine Zigarette an und beobachtete den Reinigungstrupp, der sich damit abmühte, das süße Zeug zu entsorgen, während die Rettungskräfte versuchten, den 18 Meter langen Tankauflieger von dem Kerl im Führerhaus zu schälen.

Uniformierte Polizisten hatten den Unfallbereich abgesperrt, dahinter gaffte eine ansehnliche Menschenmenge. Einige standen auf Parkbänken, andere, die meisten von ihnen Kinder, waren auf Bäume geklettert, um mehr erkennen zu können. Es würde noch eine Weile dauern, doch dann würden die hier etwas zu sehen kriegen, sobald die Jungs es schafften, den Tankauflieger anzuheben.

»Was ist mit dem Buick?«

»Eine Frau im Fahrersitz, keine Beifahrer. Mitte zwanzig, würde ich sagen. Nicht angeschnallt. Meine Frau macht das auch nicht. Ich sag ihr ständig, sie soll sich verdammt noch mal anschnallen, aber nein, sie weiß es besser. Und ich steh hier draußen und schau mir diesen Scheiß dutzendfach im Monat an. Sie haben sie vor einer halben Stunde ins Roosevelt gebracht. Wenn du mich fragst, schafft sie es nicht.«

Der Wind frischte auf, kam nun aus westlicher Richtung vom Fluss her und wehte nach Südosten. Lederer überlegte, wie man wohl die Kinder dazu bringen konnte, von den Bäumen zu kommen. Wenn der Wind zunahm und an Stärke gewann, würden sie da oben Probleme kriegen. Der Boden im Riverside Park bestand aus schwerer, dunkler Erde, die Wege waren gepflastert, man fiel hart, wenn man fiel.

»Ich kapier’s nicht«, sagte er dann. »Was zum Geier hat ein Tanklaster eigentlich in dieser Gegend zu suchen?« Er wies auf das Schild, das an der Straßenlaterne hinter ihnen hing. »Schau dir das an. Die hängen hier überall. Nicht nur hier, auch hinten an der Ecke Broadway und 72nd Street und dann wieder direkt am Anfang zur Riverside. DURCHFAHRTSVERBOT FÜR LKWs ÜBER 7,5 TONNEN. Alle paar Häuser. Außerdem muss er ordentlich Geschwindigkeit draufgehabt haben, um den Buick so zuzurichten. Also, wieso ist er hier in einem Affenzahn durch Manhattan gerast?«

»Vielleicht haben wir es mit einem Fahrer zu tun, der nicht lesen kann«, schlug McCann vor.

»Auf keinen Fall. Wer nicht lesen kann, darf auch kein Gefahrgut befördern. Er wusste, wo er hinwollte, er wusste, dass es illegal war. Und er tat es trotzdem.«

»Es gibt doch sicher ein Fahrtenbuch im Führerhaus«, überlegte McCann. »Vielleicht kriegen wir es damit raus.«

»Möglich.«

Aber Lederer hatte so das Gefühl, das Einzige, was im Führerhaus zu finden war, würde eine übel zugerichtete Leiche sein. Ohne Papiere natürlich. Unter dem Übelkeit erregenden, süßlichen Geruch machte er nun einen anderen aus … den Gestank von Gier und Korruption.

Das Übliche eben.

Abkürzungen, Heimlichtuereien. Der schnelle Schuss fürs schnelle Geld. Die Stadt lebte davon. Mehr und mehr waren das die Themen, um die es heutzutage ging; die Wirtschaft, die Regierung und überhaupt die ganze Gesellschaft und die ganze Tretmühle gingen langsam den Bach runter und näherten sich einer Katastrophe.

Natürlich gab es immer wieder Opfer auf diesem Pfad. Die junge Frau in diesem weißen Buick zum Beispiel.

Einmal falsch abgebogen, und schon brach alles über einem zusammen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Rettungscrew und das Tempo, in dem sie arbeiteten. Wenn sie so weitermachten, würde es noch Stunden dauern, bis sie den Tankauflieger entfernen konnten. In der Zwischenzeit war es vielleicht das Beste, wenn man mit den Leuten von der Spurensicherung sprach, herausfand, um was für ein Zeug es sich handelte, und die Kennzeichen des Tanklastzugs überprüfte. Vielleicht war eine Registrierung für LADIES, INC darunter, die man in den Computer eingeben konnte.

»Hör zu«, wandte er sich an McCann. »Wenn es irgendwas Neues gibt, sag Bescheid, okay?«

»Klar.«

»Vor allem wenn ihr das Fahrtenbuch findet.«

»Mach ich.«

Lederer überquerte die Straße und ging zu seinem Auto zurück. Es war jetzt halb drei nachmittags und heiß. Heiß und feucht, ein Zustand, der trotz der steifen Brise an die Nerven ging, und er hatte plötzlich das Gefühl, dass er noch eine Menge Arbeit vor sich hatte, bevor er diese Schicht beenden konnte.

Er war schon ein Stück auf der Columbus unterwegs, da fiel es ihm ein.

Der Geruch.

Hier war er schwächer, so schwach, dass er ihn endlich identifizieren konnte. Es war etwas ganz Besonderes und nicht einfach nur ein viel zu süßer Gestank. Es ergab keinen Sinn, aber das, woran ihn dieser Geruch erinnerte, erfüllte ihn mit einer seltsamen Freude.

Kirsche, dachte er.

Kirschlollis, um genau zu sein. Der Westwind wehte diesen durchdringenden, künstlichen und doch so fröhlichen Geruch heran, den er, wie er sich erinnerte, als Kind so geliebt hatte. Lollis mit Kirschgeschmack.

Seine Lieblingssorte.

2

Frische Brise im Big Apple

Der auffrischende Wind war ein Inselwind, der vom Hudson kam.

Im Riverside Park kletterte ein kleiner schwarzer Junge aus einem der Bäume und jagte seiner Baseballkappe hinterher, die eine Bö davongewirbelt hatte.

Am Lincoln Center, direkt vor der Avery Fisher Hall, fand sich ein Model, das gerade von einem der zahllosen Go-Sees kam, unversehens in einem Strudel von kleinen Müllteilchen, die vom Wind aufgewirbelt worden waren, wieder. Ein Körnchen geriet dabei unter ihre grün gefärbte Kontaktlinse.

In der Innenstadt zerrte eine Bö an dem Gewicht, das einen Stapel frisch gedruckter New York Times-Ausgaben beschwerte, und verschob den ganzen Stapel um einige Zentimeter.

Die Böen fegten durch die breiten Straßen der Stadt, fuhren senkrecht hinauf zu den Wolkenkratzern und größten Gebäuden Manhattans, um sich dann in der ruhigeren Luft weiter oben zu verlieren. Die meisten der kräftigen Windstöße kamen von Westen her und zogen nach Südosten, doch der ruhige, stetige Ostwind vom Ozean her hielt sie auf und zwang die durch Stahl und Beton aufgeheizte Luft hinauf in den wolkenlosen Himmel wie das von einem linken Haken getroffene Kinn eines Boxers. Ein paar der Böen verirrten sich im Block oberhalb der 80th Street und fuhren durch Greenwich Village und Soho, auch wenn sie da schon die meiste Kraft verloren hatten.

Der größte Teil des Windes jedoch kam durch den offenen Westen Manhattans herein, raste die Riverside Richtung Süden, die Columbus und die Amsterdam hinab, den Broadway hinunter, bis die anderen Luftströmungen die Böen zerstreuten und der Sturmwind die Kraft verlor, die er über dem Festland aufgebaut hatte.

Von der 86th Street im Norden bis hin zur 39th im Süden, vom Central Park im Osten und in Teilen sogar darüber hinaus konnte man spüren, dass die Bewohner Manhattans, die Touristen, die Pendler im Bus und die, die ihren eigenen Wagen genommen hatten und nun durch die Tunnel nach New Jersey, Westchester, Long Island und Connecticut fuhren, einen Augenblick innehielten, um die Nase schnuppernd in den Wind zu stecken, als etwas an ihnen vorbeisauste und weiterzog. Etwas Süßes, geschwängert mit Erinnerungen an eine noch nahe oder schon weit entfernte Vergangenheit, mit Erinnerungen an sonnige Tage, die diesem sehr glichen, als die Welt für jeden von ihnen noch einfacher war.

Bevor die Welt und sie selbst alt geworden waren.