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Gerhard Blasche

ERHOLUNG 4.0

Warum sie wichtiger ist denn je

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Lektorat: Mag. Katharina Schindl, Wien

Typografie und Satz: Hannes Strobl, Neunkirchen

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Druck: Finidr, Tschechien

ISBN 978-3-99002-115-6

Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-99111-003-3 (epub)

Für Barbara,
Emma und Noemi
sowie für Anna und Judith

Inhalt

Vorwort

1Einleitung:
Der Mensch 4.0

1.1Veränderungen der Arbeitswelt und Freizeit

1.2Die Planung unserer Erholung als Antwort

2Grundlagen verstehen:
Der Sinn von Erholung

2.1Die vielfältigen Gründe für Erholung

2.2Was ist Erholung?

2.3Arbeit und Ermüdung

2.4Was Arbeit anstrengend macht

2.5Das Rätsel Müdigkeit

2.6Ermüdung und Leistungsfähigkeit

2.7Müdigkeit und Gesundheit

3Gleichgewicht finden:
Voraussetzungen für Erholung

3.1Arbeit beenden und Verantwortung abgeben

3.2Abschalten – Mentale Distanzierung von der Arbeit

3.3Stressabbau und Entspannung

3.4Bedürfnissen nachgehen

3.5Zeit nehmen

3.6Etwas anderes machen

4Mach’ mal Pause:
Episoden der Erholung

4.1Freizeit

4.2Pausen

4.3Tagesrand und Tagesfreizeit

4.4Schlaf

4.5Wochenende

4.6Urlaub

5Für ein besseres Wohlbefinden:
Aktivitäten zur Erholungsförderung

5.1Anstrengungsarme Aktivitäten und Entspannung

5.2Naturerleben

5.3Körperliche Aktivität

5.4Pflege von Sozialkontakten

5.5Hobbys und Freude

5.6Achtsamkeit

6Lärm, Smartphone & Co:
die Erholungskiller

6.1Arbeit

6.2Lange und unklare Arbeitszeiten

6.3Arbeitsstress

6.4Übertriebenes Arbeitsengagement

6.5Betreuungspflichten

6.6Freizeit: Konsum und Verdichtung

6.7Informations- und Telekommunikationstechnologien

6.8Statuspflege

6.9Schuldgefühle

6.10Lärm

6.11Verstädterung und fehlende Grünräume

6.12Zeitdruck

7Schritt für Schritt zur Entspannung:
Erholungsgestaltung

7.1Erholungsselbstmanagement: die Planung der Erholung

7.2Erholungsförderliche Bedingungen

Nachwort

Danksagung

Ausgewählte Literatur

Glossar

Stichwortverzeichnis

Über den Autor

Vorwort

Das vorliegende Buch habe ich in der Zeit des „Corona-Shutdowns“ fertiggestellt, welcher für mich am 13. März 2020 begann, als die Medizinische Universität Wien ihre Beschäftigten anwies, bis auf Weiteres von zu Hause aus zu arbeiten. Die Präsenzlehre wurde beendet und der Unterricht fand nur noch online statt. Dieser Shutdown kam mir in gewisser Weise entgegen, da sich durch die Einschränkung der Lehre und die Absage von Terminen unerwartet Zeit für das Buch auftat, welche ich gerne in Anspruch nahm.

Eine der augenscheinlichsten Konsequenzen des Pausierens des öffentlichen Lebens war die Stille. Es waren keine Flugzeuge am Himmel, kaum Fahrzeuge auf der Straße, es gab keinen Baulärm, der öffentliche Verkehr war stark eingeschränkt und auch Menschen waren kaum zu sehen. An einem meiner Lieblingsplätze im Wienerwald hörte ich das Gurgeln eines nahegelegenen Bachs so eindringlich wie nie zuvor. Die Natur meldete sich in gewisser Weise zurück, wurde wieder hörbar, beanspruchte den Raum für sich. Es war die Stille eines verschneiten Weihnachtstages, an dem die Welt ruht – aber nicht zu Weihnachten, sondern im aufblühenden Frühjahr, und nicht nur einen Tag lang, sondern für viele Wochen.

Diese Zeit zeichnete sich durch eine Reduktion des Lebens auf die allernötigsten Tätigkeiten aus. In meinem Fall waren das neben dem Schreiben dieses Buches und der Hausarbeit das Zeit-Verbringen mit der Familie, das Verfolgen der Nachrichten sowie Essen und Schlafen. Alles andere – Restaurant- und Kaffeehausbesuche, Shoppingtouren, Kinoabende, Ausflüge, Reisen – ruhte, ohne mir wirklich zu fehlen. Der Gedanke, der sich aufdrängte, war: Es kann auch weniger sein. Es schien mir, dass uns dieses Weniger sogar neue Reichtümer bescherte, wie die durchdringende Stille und die damit einhergehende Beschaulichkeit. Trotz aller Angst, Trauer und Unsicherheit, die die Covid-19-Pandemie in Europa und der restlichen Welt auslöste, war die Zeit der Quarantäne für viele Menschen eine Chance, ein anderes Leben zu leben: ein Leben entbunden von der Möglichkeit und Notwendigkeit des Konsumierens. Da alle davon betroffen waren, war es weder ein heroischer individueller Akt des Verzichts noch eine persönliche Zwangslage, sondern ein verbindendes Gemeinschaftserleben, für das man sich nicht rechtfertigen musste. In diesem Sinne war der Konsumverzicht ungetrübt von Scham und daher unbeschwert.

Ohne es zu beabsichtigen, war dieses Zurückfahren des Lebens eine Vorwegnahme dessen, wovon das vorliegende Buch handelt: davon, zur Ruhe zu kommen und sich zu erholen, sowohl von den Anforderungen der oftmals fordernden Arbeit als auch von der in zunehmendem Maße anspornenden Freizeit, die uns weniger Möglichkeiten zur Entspannung lässt. Genau das jedoch scheinen wir zu brauchen, wie auch die neuerdings intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenkreis nahelegt: eine gute, geruhsame Auszeit in einer von Arbeit, Freizeitangeboten und Digitalisierung überfüllten Welt – Erholung 4.0 eben.

Wien, im Mai 2020

Gerhard Blasche

1Einleitung

DER MENSCH 4.0

 

1.1Veränderungen der Arbeitswelt und Freizeit

Wissenschaft ist ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie untersucht jene Fragen, die aktuell eine Bedeutung haben und einer Lösung bedürfen. Daher scheint die um die Jahrtausendwende aufkommende Beschäftigung mit dem Thema Erholung einem gesellschaftlichen Bedürfnis zu entsprechen. Nämlich der Frage, wie sich Arbeitende am besten von der Arbeit erholen, Stress abbauen und ihre Gesundheit erhalten können. Zwar hat man sich auch schon Anfang des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich mit dem Thema Erholung beschäftigt, allerdings ging es damals vorwiegend um den Erhalt der Leistungsfähigkeit von Arbeiterinnen und Arbeitern in der Produktion durch den Einsatz von Arbeitspausen. Die damalige Arbeit war meist körperlich anstrengend und monoton. Ein Zeugnis aus dieser frühen Zeit ist das berührende, 1906 erschienene Buch „The Jungle“ von Upton Sinclair. Es handelt von einem jungen litauischen Einwanderer, Jurgis Rudkus, der in den Schlachthöfen von Chicago eine Arbeit findet. Trotz seiner kräftigen Statur und seiner Tatkraft erschöpfen ihn die mehr als 12-stündigen Schichten an sechs Tagen der Woche zusehends. Die Arbeit ist extrem schwer, schmutzig, im Winter sehr kalt und im Sommer sehr heiß. Das Buch endet tragisch. Jurgis Rudkus’ Gesundheit verschlechtert sich von Jahr zu Jahr, er verliert seine Arbeit, sein Haus und seine Familie und endet schließlich als Krimineller im Gefängnis.

Unsere heutigen Arbeitsbedingungen sind mit den damaligen nicht vergleichbar. Schmutz, Staub und körperliche Schwerarbeit gehören glücklicherweise weitgehend der Vergangenheit an, jedenfalls in den westlichen Industrienationen. Auch die Arbeitszeit hat sich seit damals deutlich verkürzt. Allerdings stehen wir vor neuen Herausforderungen. Die Arbeit ist heutzutage selten körperlich, aber umso häufiger geistig fordernd. Zeit- und Termindruck haben in den letzten 30 Jahren zugenommen. Auch sind viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Arbeitsmenge überfordert, nachdem in den letzten Jahrzehnten Arbeitsplätze eingespart wurden. Die Arbeitsplatzsicherheit ist geringer. Zudem hat sich die Einstellung zur Arbeit grundlegend geändert. Hat man früher von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Gehorsam und Pflichterfüllung erwartet, so sind es heute Selbstverantwortung und Eigeninitiative. Und letztlich hat es tiefgreifende technologische Veränderungen gegeben, die uns nach wie vor in ihrem Bann halten: die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die es uns ermöglichen, immer und überall zu arbeiten und erreichbar zu sein. Durch die Automatisierung werden überdies Routinearbeiten vor allem in administrativen Berufen zunehmend verdrängt. Diese Veränderungen sind nicht ohne Folgen für unsere Gesundheit. War vor der Jahrtausendwende die führende Ursache für eine Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension eine Erkrankung des Stütz- und Bewegungsapparates, also meist Rücken- oder Gelenkschmerzen, sind es seit Beginn des Jahrtausends psychische Erkrankungen, vorwiegend Depressionen und Ängste. Diese Veränderung zeigt sich auch in unseren Krankenständen: Diese sind ebenfalls häufiger durch psychische Erkrankungen verursacht, was eine Verlängerung der Dauer einzelner Krankenstände zur Folge hat. Es ist dieser Wandel in der Arbeitswelt, der sich in der Erholungsforschung widerspiegelt, in dem Bestreben, den neuen gesundheitlichen Problemen entgegenzuwirken.

Viele der angeführten Veränderungen erhöhen nicht nur den Stresspegel, sie erschweren auch die Möglichkeiten der Erholung. Zeitdruck etwa treibt nicht nur Herzfrequenz, Blutdruck und Muskelspannung in die Höhe, sondern macht es uns auch schwerer, Arbeitspausen einzulegen und nach der Arbeit zur Ruhe zu kommen. Die Arbeit schwirrt dann noch länger in unserem Kopf herum. Ähnliches gilt für geistige Arbeit. Nur weil wir im Bürostuhl sitzen, heißt das noch lange nicht, dass unser Körper entspannt ist. Geistig fordernde Arbeit führt ebenso zu einer vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen und zu einer erhöhten muskulären Anspannung, insbesondere im Nacken- und Schulterbereich, sowie zu einer Verminderung spontaner muskulärer Mikropausen. Darüber hinaus beansprucht sie unsere Aufmerksamkeit zu hundert Prozent, für anderes haben wir dann kein Augenmerk mehr. Wir übersehen dadurch leichter trockene Augen, Verspannungen, Durst oder Müdigkeit und verlieren die Möglichkeit, entsprechend darauf zu reagieren. Geistige Arbeit macht es uns auch schwerer, nach der Arbeit abzuschalten, da unser Geist noch mit den Arbeitsaufgaben befasst ist wie ein mit Wasser getränkter Schwamm.

Weitreichende Folgen hat die veränderte Einstellung zur Arbeit. In den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts gab es noch die sogenannte Ordinarienuniversität. Der Lehrstuhlinhaber, der Ordinarius, hatte das Sagen, die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Instituts arbeiteten ihm zu. Augenscheinlich war das bei den Vorlesungen. Der vortragende Ordinarius wurde von seinen Assistentinnen und Assistenten begleitet, die Experimente vorbereiteten, Patientinnen und Patienten zur Untersuchung brachten oder auch die Tafel löschten. Allerdings waren diese Mitarbeitenden oftmals selber habilitierte Dozentinnen und Dozenten. Dies änderte sich in Österreich mit dem sogenannten Universitätsorganisationsgesetz 1993. Ziel dieses Gesetzes war, den Universitäten als Ganzes, aber auch den einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mehr Autonomie zu gewähren. Die davor ausgeprägte Hierarchie wurde abgeflacht, jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler war danach weitgehend befugt, ihrer bzw. seiner eigenen Forschung nachzugehen. Diese Änderung in der Universität spiegelt den Wandel in der Arbeitswelt wider. War es früher der oder die Vorgesetzte, der oder die den Mitarbeitenden Arbeitsaufträge erteilte, so wuchs die Autonomie der Mehrheit der Arbeitenden in den letzten Jahrzehnten stetig. Heute wird nicht mehr Gehorsam von den Beschäftigten erwartet, sondern das eigenverantwortliche Verfolgen von Arbeitszielen. Diese geänderte Einstellung verschafft den Beschäftigten mehr Selbstständigkeit, gleichzeitig wird ihnen aber auch ein Großteil der Verantwortung übertragen, den davor die Vorgesetzten hatten. Alle wurden dadurch in gewisser Weise zu ihren eigenen Chefinnen und Chefs, mit allen Rechten, aber auch mit den dazugehörenden Verpflichtungen. Das steigert die Arbeitszufriedenheit, die Leistungsbereitschaft und damit die Produktivität, führt aber gleichzeitig oftmals zu realer und stundenmäßiger Mehrarbeit und einer Vernachlässigung von Arbeitspausen und Erholung. Schließlich ist man selber für das Ergebnis verantwortlich. Tatsächlich führt jedenfalls in unseren Breiten eine Freigabe der Arbeitszeit etwa im Sinn von All-inklusive-Verträgen nicht zu einer Reduktion der Arbeitszeit, sondern, im Gegenteil zu deren Ausweitung. Man könnte sagen: Wenn wir mehr arbeiten dürfen, dann tun wir das auch, um unsere Arbeit zu erledigen. Was sagt uns das?

Eine weitere Veränderung betrifft die sogenannte Erwerbsquote, das heißt den Anteil der Bevölkerung, der einer Erwerbsarbeit nachgeht. Waren in Österreich 1994 79 % der 25–54-Jährigen erwerbstätig, so stieg dieser Wert auf 85 % im Jahr 2018, hauptsächlich aufgrund einer Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen. Trotz einer parallel verlaufenden Zunahme von Teilzeitbeschäftigungen bedeutet eine Zunahme der Erwerbsquote, dass weniger Zeit für Haushalt und Kinderbetreuung zur Verfügung steht bzw. dass diese Verpflichtungen in der verbleibenden Zeit untergebracht werden müssen. Eine Folge hiervon ist die Verringerung der Freizeit.

Nicht zuletzt sind es aber auch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die die Arbeit intensivieren und Erholung erschweren. Um diese Veränderung noch einmal am Beispiel universitären Arbeitens zu illustrieren: Früher war die Literatursuche, also die Suche nach wissenschaftlichen Publikationen, ein schwieriges Unterfangen. Man stieß oft eher zufällig bei der Durchsicht von Büchern oder Zeitschriften auf geeignete Literatur. Wollte man dann eine bestimmte Publikation lesen, hieß es ab in die Bibliothek, zu den langen Regalen mit den vielen Zeitschriften, geordnet nach Jahrgang. Fand man den gewünschten Artikel, war der Gang zum Kopierer der nächste Schritt. Oftmals brauchten wir einen Halbtag für diese Suche, jedoch ohne Garantie, die wirklich bedeutsamen Quellen gefunden zu haben. Dies änderte sich im Juni 1997, als die ersten wissenschaftlichen Datenbanken über das Internet zugänglich gemacht wurden. Ab diesem Zeitpunkt hatten wir vom Schreibtisch aus Zugang zur gesamten verfügbaren Literatur, zu den Zitaten, Schlüsselwörtern und Kurzzusammenfassungen, die mittels Stichwörtern gesucht werden konnten. In den Folgejahren wurde es auch möglich, die Volltexte am Computer herunterzuladen, ohne die Bibliothek aufzusuchen. Dadurch verkürzte sich eine oftmals mehrtägige Literatursuche auf wenige Stunden und wurde darüber hinaus treffsicherer. Ähnliche Entwicklungen gab es überall in der Arbeitswelt. Prozesse wurden schneller und präziser, wodurch sich auch die Erwartung verändert hat: Wir erwarten jetzt diese gesteigerte Effizienz. Arbeitsprozesse sind optimiert und laufen „just in time“ ab. Dadurch kommen Wartezeiten fast nicht mehr vor, jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer ist immer bestmöglich ausgelastet. Gleichzeitig gestatten uns diese Technologien, zeit- und ortsungebunden zu arbeiten. Seinem Beruf im Kaffeehaus nachzugehen klingt verlockend, ebenso das Arbeiten im Grünen. Tatsächlich aber wird die schützende Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit verwischt. Wir arbeiten mittlerweile vielfach nicht nur am Abend, sondern auch am Wochenende und im Urlaub, was uns Zeit für Erholung nimmt. Aber auch allein der Gedanke, dass wir arbeiten könnten, nimmt uns Ruhe und erschwert den Müßiggang.

Neben den erwähnten Veränderungen der Arbeitswelt ist es auch zu einer weitreichenden gesellschaftlichen Veränderung gekommen: der Individualisierung. Individualismus bedeutet, dass das Wohlergehen, die Interessen und die Selbstverwirklichung der bzw. des Einzelnen im Vordergrund stehen. Tatsächlich erhielt der oder die Einzelne in den letzten Jahrzehnten immer mehr persönliche Rechte, gleichzeitig kam es zu einer immer stärkeren Betonung der Einzigartigkeit einer Person. Dadurch bleibt weniger Zeit für Familie, Freundinnen und Freunde, auch weniger Interesse an der aktiven Teilhabe an Vereinen und Verbänden, wie die stete Abnahme der Mitgliedschaften in Parteien und Gewerkschaften dokumentiert. Diese Zunahme an individueller Freiheit geht mit einem größeren Auf-sich-allein-gestellt-Sein einher. Da nur ich weiß, was für mich gut ist, muss ich meine Lebensentscheidungen auch allein treffen, niemand kann mir letztlich dabei helfen. Die über Jahrhunderte erkämpfte persönliche Freiheit hat somit auch ihre Schattenseiten. Der oder die Einzelne ist nicht nur mit einer unübersehbaren Anzahl von Möglichkeiten konfrontiert, aus denen gewählt werden muss, er oder sie steht auch in Konkurrenz mit allen anderen, die womöglich bessere Entscheidungen getroffen haben. Mit ihnen gilt es mitzuhalten. Das fordert uns einiges ab. Nicht nur müssen wir uns überlegen, was für uns im Moment das Lohnendste ist, welche Aktivität die intensivste Erfahrung mit sich bringt, wir müssen uns gleichzeitig auch damit auseinandersetzen, was die Einzigartigkeit unserer Person in den Augen der anderen unterstreicht. Das hat Auswirkungen auf unser Freizeitverhalten. Die Freizeit muss außergewöhnliche Erlebnisse liefern, die uns nicht nur erfüllen, sondern auch eine erfolgreiche Außendarstellung ermöglichen. Das erfordert mitunter einiges an Planung und Einsatz. Der Spaziergang im Wald macht dem Mikroabenteuer Platz, die Sommerfrische im Grünen dem Tauchurlaub auf den Malediven, das Wandern in Österreich der Besteigung einer Gebirgskette in Usbekistan. Der sonntägliche Fernsehkrimi weicht der jederzeit verfügbaren Serie mit unzähligen Folgen, die am besten alle auf einmal geschaut werden. Das erklärt die stete Verkürzung des Schlafes über die letzten Jahrzehnte. Überdies begnügen wir uns immer öfter nicht mehr mit nur einem Medium, sondern konsumieren mehrere gleichzeitig, etwa indem wir ein Video ansehen und dabei Botschaften in sozialen Netzwerken lesen und verfassen („Medien-Multitasking“). Dies kann dazu führen, dass unsere Freizeit ob der vielen Dinge, die wir tun, an Beschaulichkeit und Müßiggang verliert.

Die Intensivierung der Arbeit macht uns nicht nur erholungsbedürftiger, sondern sie beeinträchtigt auch unsere Erholungsfähigkeit und beschränkt überdies unsere Möglichkeiten zur Erholung. Die Arbeit beinhaltet immer weniger natürliche Pausen, da es kaum mehr Zeiten mit weniger Arbeit gibt, wir fordern uns überdies selbst mehr, sind immer erreichbar und können aufgrund der geistigen Arbeit schlechter abschalten. Gleichzeitig bietet die Freizeit ein geringeres Maß an Möglichkeiten zur Regeneration. Doch weder Körper noch Geist sind für andauernde Spitzenleistung geschaffen. Im Vergleich zu früher fällt uns Erholung einfach nicht mehr in den Schoß. Das ist vermutlich der Grund, weshalb sich die Wissenschaft seit der Jahrtausendwende mit Erholung befasst.

1.2Die Planung unserer Erholung als Antwort

Alfred Meier-Koll und Barbara Schardl, ein Psychologe und eine Psychologin der Universität Konstanz, reisten im März 1986 nach Zentralkolumbien, Südamerika, in ein kleines Dorf in der Nähe von Puerto Gaitan am Fluss Rio Meta. Ziel der Reise war die Untersuchung von Aktivität und Erholung bei den dort lebenden Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern. Diese hatten weder Uhren noch Elektrizität, noch waren sie sonst wesentlich mit der westlich geprägten Zivilisation verbunden. Daher, so die Annahme, könnte man die Gestaltung von Ruhe und Erholung quasi in einem vorindustriellen Urzustand studieren. Alfred Meier-Koll beobachtete die Tagesaktivitäten der Männer, Barbara Schardl jene der Frauen und Kinder von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang, also circa von 6 bis 18 Uhr. Die Männer wurden etwa beim Pflanzen von Yuccapalmen beobachtet. Die Arbeit erforderte die Beseitigung des bestehenden Bewuchses mit Macheten, das Aufreißen des Bodens mit einem Stock und das Eingraben der Samen. Zusätzlich verbrachten die Männer Zeit mit sozialer Kommunikation, Rauchen, Essen und Rasten. Es zeigte sich, dass sie ihre Arbeit periodisch mit Phasen der Erholung abwechselten, nämlich jeweils in einem Zeitraum von circa 100 Minuten. Ähnliche Rhythmen zeigten auch die Frauen bei ihren Verrichtungen. Menschen in einer vorindustriellen Zeit wechselten somit regelmäßig, circa alle 1,5–2 Stunden, Arbeit mit Tätigkeiten, die der Erholung zuzuordnen sind, ab, unabhängig von den konkreten Verrichtungen. Dieser Wechsel von Arbeit und Erholung manifestiert sich somit spontan in Kulturen, die keine Zeiterfassung kennen, aber vor allem auch keinen Zeitdruck haben, und ist somit offensichtlich ein natürliches Bestreben des Menschen.

Dieses Selbstverständnis von Muße, dieses Gleichgewicht von Aktivität und Ruhe ist uns verloren gegangen. Die beschriebene Intensivierung der Arbeit und Freizeit ist vergleichbar mit einem anderen Phänomen, das aktuell eine nicht unerhebliche Gefahr für unsere Gesundheit darstellt: dem Überangebot von Nahrungsmitteln und dessen Folgen. Vor ein bis zwei Generationen gab es kaum Übergewicht, da es einfach nicht so viel und schon gar nicht so viel Gutes zu essen gab. Von Brot allein wird man nicht fett. Dies hat sich geändert. Hatte die Menschheit sonst stets mit Mangel zu kämpfen, sind wir heute mit einem Überfluss an Nahrungsmitteln konfrontiert. Es gibt alles Erdenkliche zu essen, von einer noch nie dagewesenen geschmacklichen und sinnlichen Raffinesse. Es ist schwer, sich diesen Verführungen zu entziehen. Eine Folge ist die fast schon weltweite Zunahme von Übergewicht. Als Reaktion sind wir genötigt, auf unsere Nahrungsaufnahme zu achten, uns bewusst zu ernähren und manchmal auch zu verzichten. Diese Sorge hatten frühere Generationen nicht. Die Nahrungszufuhr regelte sich quasi von selbst. Mal gab es mehr und Feineres zu essen, dann wieder nicht. Ein andauernder Überfluss mit den besagten Folgen war den früheren Generationen fremd.

So wie es heute einen Überfluss an Nahrungsmitteln gibt, gibt es auch einen Überfluss an herausfordernden beruflichen Tätigkeiten und spannenden Freizeiterlebnissen. Gleichzeitig macht es uns der steigende materielle Wohlstand schwerer auf Konsum zu verzichten, weshalb wir auch unsere Arbeitstätigkeit nicht so leicht einschränken können. Das Ergebnis dieser Intensivierung von Arbeit und Freizeit ist jedoch nicht Übergewicht, sondern Erschöpfung. Während Übergewicht die Folge eines Übermaßes an Nahrungsaufnahme darstellt, ist Erschöpfung die Folge eines Übermaßes an Aktivität. Es gibt einfach zu viel zu essen und zu viel zu tun. Somit hat auch das Übermaß an Aktivität seine Schattenseiten, nicht nur der Überfluss an Nahrung. Allerdings lässt sich Erschöpfung leichter verbergen als Übergewicht, sowohl vor sich selbst als auch vor anderen. Erschöpfung hat jedoch ebenfalls nicht unwesentliche Folgen für unsere Gesundheit, wie wir noch sehen werden.

So wie unsere Nahrungsaufnahme im Idealfall durch ein Gefühl der Sättigung beendet wird, sollten wir unsere Arbeit spätestens beim Auftreten des Gefühls von Müdigkeit unterbrechen. Doch die ausgeklügelten Rezepte der Nahrungsmittelindustrie machen es uns schwer, auf unsere Sattheit zu reagieren. Genauso hindern uns Zeitdruck, Engagement und unsere gesteigerten Ansprüche daran, unsere Müdigkeit wahrzunehmen und entsprechend zu handeln. Statt die Nahrungsaufnahme oder die Arbeit zu beenden, machen wir weiter. Die Stimmen von Müdigkeit und Sättigung sind eben leise. Hier spielen die beschriebenen Veränderungen der Arbeitswelt eine Rolle. Wir sind beruflich stärker eingebunden, fühlen uns den Arbeitszielen in einem größeren Ausmaß verpflichtet, die Arbeit ist überdies mitunter spannender und jedenfalls durch die neuen Technologien verfügbarer. Auch sehnen wir uns nach beruflichem Erfolg. Das macht es schwer, sich der Arbeit zu entziehen. Gleiches gilt auch für die Freizeit. Filme, Serien und PC-Spiele ziehen uns dank der Medienpsychologie immer mehr in ihren Bann und machen – im wahrsten Sinn des Wortes – das Abschalten schwer.

Der Ausweg ist der bewusste Verzicht auf Aktivität, das bewusste Einplanen von Erholung. Da die natürlichen Rhythmen, die bei den kolumbianischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern Aktivität und Ruhe regeln, bei uns nicht mehr ausreichen, bedarf es bewusster Erholungsaktivitäten, um Müdigkeit abzubauen und unsere Leistungsfähigkeit und Gesundheit aufrechtzuerhalten. Dazu gehören nicht nur regelmäßige Arbeitspausen, sondern auch die Freizeit am Tagesrand, ausreichender und guter Schlaf, der Aufenthalt in der Natur, erfüllende Hobbys, körperliche Aktivität, Entspannung, Achtsamkeit und Urlaub. Erholung beinhaltet schließlich die körperliche und geistige Beendigung der Tätigkeit, sodass wir eine Zeitlang von den Anforderungen entbunden sind. Dies beendet die Ausschüttung von Stresshormonen und führt zur Erholung. Gleichzeitig beinhaltet Erholung die Befriedigung körperlicher und psychischer Bedürfnisse. Dazu gehören Nahrungsaufnahme und Schlaf genauso wie Sozialkontakte und Erfolgserleben. Es gilt, eine einseitige körperliche, aber vor allem auch psychische Belastung auszugleichen.

Erholung verdient ein ebenso großes Augenmerk wie gesunde Ernährung oder körperliche Aktivität, um unser Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit und letztlich auch unsere Gesundheit zu erhalten. Die gesteigerten Anforderungen erfordern bewusst gesetzte Erholungsaktivitäten. In diesem Sinn ist Erholung nicht Luxus, sondern bedeutsamer Teil unseres Gesundheitsverhaltens. Die Gründe, weshalb bewusste Aktivitäten zur Gesunderhaltung nötig sind, liegen letztlich in den Veränderungen unserer Lebensbedingungen im Vergleich zu jenen unserer Vorfahren. Der beschriebene Überfluss an ungesunden Nahrungsmitteln nötigt uns zu gesunder Ernährung, der weitgehende Wegfall von körperlicher Aktivität im normalen Lebensvollzug dazu, diese in der Freizeit nachzuholen. Allerdings kämen nur wenige von uns auf die Idee, ein Gesundheitsverhalten aus freien Stücken an den Tag zu legen. Nur wenige haben einen derart ausgeprägten Bewegungsdrang oder eine Abneigung gegen Süßes und Fettiges. Vielmehr braucht es hier Forschungsergebnisse, die uns aufzeigen, was gesund ist und was nicht. Zum Beispiel, dass der tägliche Verzehr von Obst und Gemüse das Risiko für einen Herzinfarkt halbiert, oder dass fehlende körperliche Aktivität das Herzinfarktrisiko verdoppelt. Erst auf Basis dieser Kenntnisse wissen wir, was gesund ist und was nicht, und können unser Verhalten entsprechend anpassen. Warum macht Arbeit müde? Weshalb ist Natur erholsam? Wie viel Zeit braucht es für Erholung? Wie kann Erholung im Alltag umgesetzt werden? Allerdings sind diese Erkenntnisse allein zu schwach, um uns zu einem gesunden Verhalten zu motivieren. Es braucht darüber hinaus auch eine entsprechende Kultur der Erholung, sowohl in der Arbeit als auch im Alltag. Dazu dient das vorliegende Buch: erholungsrelevante Kenntnisse zu vermitteln, um letztlich zu einer neuen Kultur der Erholung beizutragen.

Das Buch befasst sich einerseits mit dem Themenkreis Arbeit und Ermüdung, andererseits mit Erholung und Erholungsförderung. Dabei wird auf den Prozess der Erholung, die Wirkung von Arbeitspausen, Feierabend, Schlaf, Freizeit und Urlaub sowie auf die Möglichkeiten von Personen und Gemeinschaften eingegangen, Erholung zu fördern. Das beinhaltet sowohl bestimmte Aktivitäten wie den Aufenthalt in der Natur, Bewegung oder Hobbys als auch die Planung von Erholungsmaßnahmen im Alltag. Daneben werden auch Themen wie Erholungskiller, betriebliche Erholungsmaßnahmen und die Grenzen unsere Selbstmanagementfähigkeiten behandelt. Das Buch wendet sich sowohl an Personen, die ihre Erholungsfähigkeit verbessern möchten, als auch an Menschen, die aus persönlichen oder beruflichen Gründen an der Thematik Arbeit, Ermüdung und Erholung interessiert sind. Alle Empfehlungen und Informationen beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

2Grundlagen verstehen

DER SINN VON ERHOLUNG

 

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, weshalb wir uns erholen sollten.

2.1Die vielfältigen Gründe für Erholung

Die meisten Leserinnen und Leser haben wohl schon längere Strecken in ihrem Auto zurückgelegt. Die ersten ein bis zwei Stunden macht das Lenken des Kraftfahrzeuges meist Spaß, es ist schön, sich fortzubewegen, die Landschaft vorbeiziehen zu lassen, selbstbestimmt und anstrengungslos. Irgendwann, bei manchen früher, bei anderen später, kommt jedoch Müdigkeit auf, das Fahren wird anstrengender, die Konzentration nimmt ab. Spätestens dann ist es anzuraten, eine Pause zu machen, um sich zu erholen. Hätten wir ein autonom fahrendes Auto, bräuchte es diese Pause nicht. Das Kraftfahrzeug könnte noch weiterfahren, nur wir als Lenkerin oder Lenker nicht.

Der Mensch ist kein Dieselmotor. Der Dieselmotor läuft, solange Treibstoff (und Öl) zugeführt wird, der Mensch hingegen braucht immer wieder Pausen, um seine Leistungsfähigkeit und sein Wohlbefinden aufrechtzuerhalten. Weshalb ist das so? Es gibt hierfür mehrere Gründe. Ein offensichtlicher Grund sind unsere biologischen Rhythmen, allen voran der Schlaf-Wach-Rhythmus. Unser biologischer Bauplan sieht vor, dass wir in regelmäßigen Abständen (einmal innerhalb von 24 Stunden) schlafen müssen. Schlafen wir nicht, kommt es zu erheblichen Funktionseinschränkungen. Ein Dieselmotor braucht keinen Schlaf, eine Maschine kennt solche Aktivitäts- und Ruherhythmen nicht. Neben dem Schlaf-Wach-Rhythmus gibt es auch kürzere Aktivitätsrhythmen von etwa 100 Minuten Dauer (die „basic rest-activity cycles“), die im Verlauf eines Tages Aktivitäts- und Ruhezeiten nahelegen. Ein Dieselmotor brummt auch ungeachtet solcher Leistungsschwankungen. Der Mensch ist eben kein Dieselmotor.

Ein zweiter Grund für die Notwendigkeit, Aktivitäten immer wieder durch Pausen zu unterbrechen, ist, dass die körperlichen Prozesse zur Hervorrufung der Aktivität und jene zur Aufrechterhaltung der Aktivität oftmals nicht zeitgleich ablaufen können. Im Kleinen zeigt sich dies etwa bei muskulärer Kraftanstrengung. Wir können zwar kurzfristig große Kräfte mobilisieren, etwa beim Halten oder Tragen eines schweren Gegenstandes, die Muskelkraft schwindet jedoch rasch aufgrund der anspannungsbedingten muskulären Mangeldurchblutung. Es braucht dann eine Pause, um die Durchblutung des Muskels wieder anzukurbeln und das Gewebe mit Nährstoffen zu versorgen, um so die Muskelkraft wiederherzustellen. Muskuläre Daueranspannung und die Bereitstellung von Nährstoffen können nicht gleichzeitig erfolgen, da die Gefäße beim Anspannen komprimiert werden. Zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Muskelkraft muss sich der Muskel entspannen, die Aktivität muss unterbrochen werden. Im Großen kommen sich Nahrungsaufnahme und Verdauung mit anderen Aktivitäten in die Quere. Auch wenn man während des Radfahrens, Geschirrwaschens oder der PC-Arbeit essen könnte, ist es weder leicht noch angenehm und behindert die vorrangige Aktivität. Oder ist es Ihnen schon einmal gelungen, während des Autofahrens eine Suppe zu essen? Gleiches gilt für die Verdauung, die bei körperlicher und geistiger Anstrengung eingeschränkt wird und somit einer Ruhephase bedarf, um so richtig in Fahrt zu kommen. Umgekehrt ist man mit vollem Magen wenig erpicht darauf und fähig, sich körperlich oder geistig anzustrengen, da der Verdauungstrakt vorrangig durchblutet wird. Ein Dieselmotor hingegen „isst“ und „verdaut“ seinen Treibstoff zeitgleich während der Arbeit und muss hierfür nicht extra pausieren.

Ein dritter Grund für die Notwendigkeit, eine Aktivität immer wieder zu unterbrechen, ist die Weiterentwicklung bzw. der Aufbau von Fähigkeiten. Auf der körperlichen Ebene führt die Beanspruchung von Muskeln zu einer Muskelkräftigung. Allerdings wird der Muskel nicht unmittelbar während des Trainings kräftiger, sondern das Muskelwachstum erfolgt in Trainingspausen oder während des Schlafes. Durch das Training „merkt“ sich der Muskel lediglich, dass er gebraucht wurde und deshalb bei nächster Gelegenheit zulegen soll. Fehlen Trainingspausen, kann das Muskelwachstum nicht erfolgen und das Training wird ineffektiv, wenn nicht sogar erschöpfend. Auch auf der psychischen Ebene braucht es Pausen, um Fertigkeiten weiterzuentwickeln. Dies gilt etwa für den Erwerb von motorischen Fertigkeiten wie dem Spielen eines Musikinstrumentes. Wird das Üben von Pausen unterbrochen, lernen wir schneller als bei ununterbrochenem Üben. Ähnliches gilt für den Schlaf, der sogar zu einer Verbesserung der tags davor gelernten Fertigkeiten führt. Zwar lernen wir im Wachzustand, doch während des Schlafes wird das Gelernte überarbeitet, sodass wir es am nächsten Tag besser wiedergeben können als unmittelbar nach dem Lernen. Ohne den Vergleich überstrapazieren zu wollen, gibt es in diesem Fall überraschenderweise doch Parallelen zur maschinellen Welt. Etwa braucht es, um ein Computerprogramm leistungsfähiger zu machen oder weiterzuentwickeln, ein Update. Während eines Updates kann der Computer jedoch für nichts anderes verwendet werden, er „pausiert“, bis das Update abgeschlossen ist.

Ruhephasen fördern jedoch nicht nur den Muskelaufbau und das Lernen, sie fördern auch die persönliche Weiterentwicklung durch Alltagserlebnisse. Ein Mensch braucht Pausen, um Erlebnisse zu verarbeiten und daraus zu lernen. Tatsächlich verwenden wir viel Zeit für diese automatische „Abarbeitung“ von Alltagsgeschehnissen. „Herr Müller hat mich heute auf der Straße nicht gegrüßt. Was kann das bedeuten? Hat er sich über die laute Party am Vorabend geärgert?“ „Ich bin letztens in der Maroltingergasse im Stau gestanden. Hätte ich lieber den Umweg über die Hüttelbergerstraße nehmen sollen?“ Für solche Überlegungen braucht es Muße. Sind wir hingegen ständig mit neuen Inhalten konfrontiert, bleiben viele Fragen ungelöst und wir lernen nichts aus unseren Erfahrungen. Tatsächlich erfolgt diese Analyse von Alltagserfahrungen während der sogenannten „default mode network activity“, jener Hirnaktivität, die in Phasen des vermeintlichen geistigen „Nichtstuns“ vonstattengeht. Eine vergleichbare Funktion hat der Austausch über zwischenmenschliche Erlebnisse auf der sozialen Ebene. Er hilft, diese einzuordnen und zu verstehen. Ohne private Mußestunden und sozialen Austausch würden viele Erfahrungen rätselhaft, unklar und mitunter sogar beängstigend bleiben und dadurch unsere Handlungsfähigkeit und unser Wohlbefinden beeinträchtigen. Diese Verarbeitung von Alltagserlebnissen erfolgt jedoch nicht nur in anforderungsarmen Zeiten während des Tages, sondern auch der Schlaf spielt eine Rolle, insbesondere das Träumen. Würde man das Träumen systematisch unterbinden, würde es sogar zu schweren psychischen Störungen kommen. Vergleichbare Phänomene gibt es beim ruhenden Computer nicht, wenn man von der Aktivität des Virenprogrammes oder der Prozedur zur Festplattenoptimierung in Phasen der Nicht-Nutzung absieht.

Die Umtriebigkeit des Geistes oder das „default mode network“

Unser Geist ist ein unruhiger Geselle. Jenen, die sich mit Meditation beschäftigen, ist das schon bekannt. Für die Wissenschaft war es jedoch eine Überraschung, als diese Umtriebigkeit quasi unbeabsichtigt beim Studium der Gehirnaktivität entdeckt wurde. Um zu erforschen, welche Regionen des Gehirns bei bestimmten Aufgaben oder Gefühlen aktiv sind, verglich man die Durchblutung einzelner Hirnregionen während einer Aufgabe mit der Durchblutung „in Ruhe“, also während die Versuchspersonen angewiesen wurden, „nichts Besonderes zu tun“. Dabei fand man heraus, dass während dieser „Ruhesituation“ das Gehirn nicht im Entferntesten inaktiv ist, sondern dass spezifische neuronale und damit gedankliche Prozesse ablaufen. Welche Prozesse sind das? Was machen wir im Geiste, wenn keine bestimmten Aufgaben zu erledigen sind und wir quasi „nichts zu tun haben“? In solchen Phasen beginnt unser Geist persönlich bedeutsame Erinnerungen abzurufen und durchzuspielen. Wir denken über unsere Handlungen nach, versuchen diese zu verstehen und bilden uns ein Urteil. War das, was ich gemacht habe, gut oder schlecht? Weshalb hat jemand anderer etwas Bestimmtes getan? Was kann ich daraus für die Zukunft ableiten? Wie soll ich mich bei nächster Gelegenheit verhalten? All diese Prozesse, diese Gedanken laufen automatisch ab, quasi als Leerlaufaktivität. Deshalb „default mode“: der voreingestellte Modus der Gehirnaktivität. Dieser beinhaltet die Aktivierung jener Areale der Großhirnrinde, in der persönliche Erlebnisse verarbeitet und Vorstellungen über die Zukunft gebildet werden und die es uns ermöglichen, uns gedanklich in andere hineinzuversetzen. Der Geist, das Gehirn nutzt Zeiten, in denen sonst nichts zu tun ist, um aus vergangenen Erlebnissen für die Zukunft zu lernen. Deshalb kommt es nach der Arbeit zu Gedanken an die Arbeit, insbesondere wenn es um soziale Situationen geht. Unser Gehirn will diese verstehen, um nächstens besser gewappnet zu sein und klüger zu reagieren.

Die bisher angeführten Gründe für Erholung ergeben sich gewissermaßen aus der Unvereinbarkeit von Gebrauch und Instandhaltung. Während wir einen Teller waschen, können wir diesen nicht gleichzeitig zum Essen benützen. Ebenso müssen wir manchmal unsere Messer schleifen, die Kaffeemaschine entkalken, die Heizung warten und unsere Hosen waschen. Die Bank sperrt manchmal das Online-Banking, da die Software gewartet oder erneuert werden muss. In dieser Zeit sind Überweisungen nicht möglich, selbst der Kontostand lässt sich nicht abrufen. In diesem Sinn muss auch der Dieselmotor-Vergleich relativiert werden. Auch wenn ein Dieselmotor sehr lange ohne Unterbrechung laufen kann und keinen Schlaf kennt, muss er irgendwann gewartet werden, dann läuft auch hier nichts mehr. Auch wenn wir die besprochenen Prozesse zur Aufrechterhaltung oder Weiterentwicklung einer Fähigkeit nicht ohne Weiteres beobachten können, anders als zum Beispiel die Arbeit eines Putztrupps, finden sie trotzdem statt. Das Einzige, was wir tun müssen, ist, ihnen nicht im Weg zu stehen, sondern unsere Tätigkeit, unsere Arbeit ruhen zu lassen.

Ein vierter Grund, weshalb Maschinen anders als Menschen eine Aktivität fast unbegrenzt lang ausführen können, ist Neugierde und die Vielfältigkeit unserer Bedürfnisse. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass Tier und Mensch Wesen sind, die ihre Umwelt immer wieder erkunden wollen und daher nicht die ganze Zeit mit nur einer Tätigkeit verbringen können. Diese Strategie hat sich im Laufe der Jahrmillionen bewährt. Wir erkunden unsere Umwelt, probieren neue Dinge aus und entwickeln uns dadurch fort. Gäbe es diese Neugierde nicht, würden Bienen immer wieder zum selben Strauch fliegen und der Mensch wäre noch immer in der afrikanischen Savanne zu Hause. Gleichzeitig sind wir Wesen, die vielfältige Bedürfnisse haben, die meist nicht mit dem Nachgehen nur einer Tätigkeit abgedeckt werden. Während ein Computer unbegrenzt lange und ohne zu ermüden Rechenaufgaben lösen kann, kommt es beim Menschen nach einer anfänglichen lernbedingten Leistungssteigerung zu einem langsamen Abfall des Outputs. Der Grund dafür ist, dass wir des Rechnens zunehmend überdrüssig werden. Nach anfänglicher Freude (ja, manche Menschen haben Spaß am Kopfrechnen) beginnt uns die Tätigkeit zu langweilen, es wird immer schwerer bei der Sache zu bleiben. Stattdessen gewinnen andere Aktivitäten an Attraktivität. Tatsächlich wäre es ungünstig, wenn wir uns den ganzen Tag nur mit Kopfrechnen beschäftigen würden, da wir dann Sozialkontakte und Nahrungsaufnahme vernachlässigen würden, ganz zu schweigen vom Bezahlen der Miete. Irgendwann würden wir in diesem Fall vermutlich einsam, hungrig und ohne Wohnung dastehen. Erholung hat in diesem Sinn nicht nur mit Ruhe oder Müßiggang zu tun, sondern auch mit Neugierde und der Notwendigkeit, unterschiedlichen körperlichen und seelischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Auch hierüber werden wir im Verlauf des Buches noch mehr erfahren.

Ein fünfter Grund für Erholung ist Stress. Bei allen Aktivitäten, die eine gewisse Anstrengung erfordern, werden Stresshormone ausgeschüttet, die uns zu mehr Energie und einer größeren Wachheit verhelfen und damit unsere Leistungsfähigkeit erhöhen. Die Ausschüttung von Stresshormonen ist jedoch eine Art „Turbo“-Modus, auf welchen nicht dauerhaft zurückgegriffen werden sollte, da dabei jene Prozesse gehemmt werden, die der schon beschriebenen Aufrechterhaltung der Aktivität und letztlich auch unserer Gesundheit dienen. Daher braucht es immer wieder anstrengungsarme Zeiten, um die Stresshormone quasi aus unserem Blut zu spülen. Erholung ist somit auch für unser Stressmanagement unverzichtbar.