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Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783750486102

Autor

...studierte Geophysik, Literatur und Philosophie / freiberuflich seit 1984 als Kolumnist, Fotograf, Kabarettist und Schriftsteller

Inhaltsverzeichnis:

Ronneburg

"In vierzehn Tagen verkaufe ich Berlin "- teilte mir Helmut, der Bauleiter mit. - "Und wo wird die nächste Baustelle sein?" "Wahrscheinlich in Ronneburg " - antwortete ich - "Bringt zirka hunderttausend Mark."

Kein Superauftrag, aber für unseren kleinen Baubetrieb eine doch mittlere Aufgabe. "Und wie sieht‘s mit der Vorbereitung aus?" - fragte Helmut.

„Wie immer " - beruhigte ich ihn - "Das Projekt ist noch nicht fertig; kein Preis, kein Vertrag; Material bestellt, aber ...; Genehmigungen und Zustimmungen noch auf den finsteren Wegen über die Schreibtische der Rechtsträger."

„Ich hatte schon befürchtet, es könnte alles klar sein, bevor wir anfangen zu bauen."

Mit dieser gemeinen Bemerkung traf mich Helmut irgendwo tief drinnen. In einem Anfall blinder technologischer Vorbereitungswut telefonierte ich den Auftraggeber in Ronneburg an und vereinbarte gleich für den nächsten Tag eine Ortsbesichtigung mit anschließender Problemberatung. Auch Helmut notierte sich Zeit und Treffpunkt. Doch am nächsten Morgen teilte er mir mit, er habe einen dringenden Rapport...ich könnte doch auch alleine... ich wüsste doch, worauf es ankommt.

Ich war noch nie in Ronneburg gewesen. Alleine - da kann ich mir den Tag schön einrichten. Die Umgebung beschnuppern... Einkaufsbummel... kulturhistorische Sehenswürdigkeiten ...

Trotz dieser Überlegungen konnte ich natürlich nicht so ohne weiteres ' ja und amen ' sagen. So einfach darf man es einem Bauleiter nicht machen.

"Gesetzt den Fall, ich fahre allein... - und hinterher heißt es dann wieder, ich hätte die unmöglichsten Zugeständnisse gemacht...". "Mach einfach keine Zugeständnisse" - sagte Helmut - "Sei hart, und denke dran, dass an meiner Planerfüllung auch deine Jahresendprämie hängt.“

Fünfzehn Minuten später war ich bereits auf der Autobahn. Und ein Wetterchen war das! Zum Heldenzeugen, hätte Helmut gesagt. Richtig so ganz blauer Himmel, mit wenigen so ganz kleinen Wölkchen, und die Sonne, und die Temperatur nicht ganz so sehr hitzig...

Ignaz schnurrte mit 85 Sachen durch den bunten Herbstmorgen. Mit Familienname heißt Ignaz ‘Trabant de luxe'. Er war mir in den drei Jahren, die er nun schon zu mir gehörte, regelrecht ans Herz gewachsen. Auch mein Bäuchlein war mitgewachsen. Ignaz war ein so treuer Kamerad. Noch nicht einmal hatte er mich in Stich gelassen. Und dabei war er schon über 12 Jahre von verschiedenen Vorbesitzern bei Wind und Wetter über unsere Straßen gehetzt worden. Ich klopfte ihm in einer Aufwallung freundschaftlicher Gefühle aufs Armaturenbrett und versprach ihm:

"Ich pass schon auf, dass dich kein Schlagloch zerbricht!"

Doch das ist leichter versprochen, als auf der Autobahn in die Tat umgesetzt. Soweit es irgendwie ging, fuhr ich daher links. Links ist es nicht so ausgefahren. Rechts ging schon manche Achse in die Binsen.

Ob mir gegenüber einer 'weißen Maus' meine Rechtfertigung - die man aus den Erfahrungen der Arbeiterklasse gewonnen bezeichnen könnte - eine Ordnungsstrafe ersparen würde ... vielleicht bei einer marxistisch gebildeten?

Ich griente gegen den spröde gewordenen Beton der einstigen Aufmarschpisten deutschen Volkstums. Mein Tagesziel lag westlich.

Karl-Marx-Stadt an der Chemnitz und Ronneburg kurz vor Gera im Thüringischen trennen etwa 60 Kilometer. Wenn man nach etwa 30 Kilometern die geruchsintensive Gegend bei Glauchau (nicht Jauchau!) ohne Übelkeiten hinter sich gelassen hat; nach 38 Kilometern bei Meerane einen metallenen Wasserhochbehälter beinahe mit dem Berliner Teleturm verwechselt hätte, kommt man nach weiteren 12 Kilometern an einen gruseligen Ort. Das unwissende Auge allerdings wird jenes weißgetünchte Bauerngehöft entzückend finden, das da linkerhand der Autobahn einsam auf der Kuppe eines sanften, aber zur höchsten Erhebung der engeren Umgebung aufsteigenden, Hügels thront.

Das wissende Auge, z. B. meines, lässt sich von der anheimelnden Fachwerkfassade nicht täuschen; wendet sich schaudernd ab und blickt ... - nein! Nicht nach rechts! - sondern stur nach vorn auf den Beton, denn rechterhand umschließt eine karminrote Ziegelmauer einen mit Büschen und Bäumen überwucherten Friedhof von der Größe eines mittleren Schrebergartens. Das ist des Henkers Friedhof!

In jenem Bauerngehöft oben auf dem Hügel auf der linken Seite hatte der Henker gehaust. Drei Kreuze, wenn man an dieser Stelle der Autobahn ohne Panne vorbeigekommen ist! Ein Radwechsel zwischen Henker und seinen Opfern...

Sicher, es gibt noch furchtbarere Orte in deutschen Landen. Von anderen Henkern wurden viel größere Friedhöfe gefüllt, je überfüllt, und nicht mit Mördern und Diebsgesindel. Waren Sie schon mal in Buchenwald?

So ein Idiot! Wechselt urplötzlich die Spur! Hat nicht mal geblinkt! Da wird man ja völlig aus seinen friedlichen Träumereien gerissen! Es gibt aber auch vergessliche Banausen unter den Automobillisten!

Endlich bin ich an dem grausigen Hügel vorbei. Erleichtert breite ich meinen Blick über die weite Landschaft, die sich nun dem Herzen eröffnet. Befreit trete ich den Gashebel durch - lauf, Ignaz lauf! - am Horizont locken die Pyramiden Ägyptens ... Ignaz ist ein Kamel ... wir schaukeln durch Wüsten ... Oasen oder eine Fata Morgana winken in der Ferne ... die Sonne überschwemmt mein Gesicht ... ich träume von Krokodiljagd am Nil, Löwenjagd im Kongo, Kommunistenjagd in Kairo, während Nasser Ulbricht umarmt ... naja, lang ist es her! Mittlerweile lebt auch Sadat nicht mehr. Trotzdem gut, dass das da vorn die Halden der Uranbergwerke bei Ronneburg und nicht die Cheopspyramiden sind.

Die letzten Kilometer fahre ich sehr konzentriert. Ignaz hatte kurz mit irgendeiner Innerei gescheppert. So ganz eigenartig gescheppert! Ganz leise nur. Ich lausche in ihn hinein. Da hustet er zweimal. Ich kriege Fieber und bete:

Lieber Ignaz bleib gesund.

Lieber Motor lauf schön rund - es
soll die letzte Dienstfahrt sein,

ich richte mich auf Reichsbahn ein!

Das Scheppern kam nicht wieder. Aber mir war, als hätte Ignaz leicht gekichert, leicht überheblich gemeckert, als wüsste er genau, dass er für die Erfüllung des Plangeschehens als privates Dienstfahrzeug nicht ersetzbar ist. Dieser Schlingel!

Natürlich könnte ich mich wirklich auf ein gemütliches Leben mit Reichsbahn und Kraftverkehr einrichten. Ein Baustellenbesuch in Knodelpoppfingen an der Knodel gleich drei Tage unterwegs. Hauptsache es wird Benzin gespart. Aber irgendwie ist man eben doch noch kein echter Sozialist. Man will eben, dass die Arbeit einigermaßen klappt, dass man seine Aufgaben einigermaßen erfüllt - egal, ob die Chefs bloß mit Senkung des spezifischen Benzinverbrauchs glänzen wollen.

Reichsbahn und Kraftverkehr! Man kommt doch so schon kaum rund! Sie müssten mal früh halb sieben bei uns in der Dispatcherzentrale vorbeischauen. Ich sage Ihnen - da begreifen sie das eigentlich Wunderbare der Leistungen unseres Bauwesens! Ein Kranauto für zehn Baustellen! Ein Mistlader als Hebezeug! Haben Sie schon mal versucht, in einem Sieb Kaffee zu kochen? Wir Baumenschen müssen das können!

Ignaz kicherte nicht nochmal. Sicher erreichten wir Ronneburg. Bis zum Termin mit dem Auftraggeber hatte ich noch eine gute Stunde Zeit. Ich parkte Ignaz in der Nähe des Ronnemarktes. Meine Schritte lenkte ich zuerst, wie es sich für einen kulturvollen Menschen gehört, zur Ronnekirche, um erst Kontakte mit Ronneburgs Geschichte zu knüpfen. Doch ich fand nichts zum Anbandeln. Ich umrundete die Kirche zweimal. Nichts, woran ich mich hätte hochziehen können. Tiefer in die Ronnekirche zu dringen, verwehrten mir verschlossene Türen und der plötzlich auftauchende Gedanke - Junge, du brauchst doch hartmetallbesetzte Bohrer! Wo ist ein Heimwerkergeschäft?

Ich musste nicht lange suchen. Am Ronnemarkt gleich halbrechtsschräg hinter dem dunkelroten Gebäude des Rates des Ronnekreises. Ein schönes Geschäft! Eine schöne Verkäuferin! Ein schönes und breites Angebot. Eine unschöne und klare Antwort: "Nee, Widscha-Bohrer, nee!"

Ich bitte passionierte Heimwerker um Vergebung - die Verkäuferin sagte wirklich Widscha-Bohrer. Und weil sie Widscha in jenem Tonfall sagte, wie ich ihn anschlage, wenn ich Hammer sage, oder Zange, oder ein anderes Wort für einen Gegenstand, den nur ein Idiot nicht kennen kann, wagte ich nicht zu frage, wie man diesen Widscha schreibt, und ob er gar mit Widja Iwanow verschwägert ist. Man hätte mich ja unweigerlich als Heimwerker-Hochstapler identifiziert und mich des Heimwerkerparadieses mit Schimpf und Schanden verwiesen.

Ich reagierte also auf - nee, Widscha-Bohrer, nee - mit einem verständnisvollem wissenden Lächeln. Und um dem Verdacht vorzubeugen, ich sei ein solcher Phantast, der da glaubt, einfach in ein Geschäft gehen zu können und sofort das zu erhalten, was es eigentlich nicht gibt, ohne die Verkäuferin schon mindestens vier Wochen zu kennen und umschmeichelt zu haben, kaufte ich zwei Flachbatterien und tat, als sei dies der eigentliche Urgrund meines Besuches gewesen. Ein cleverer Abgang - bestätigte ich mir

Nun war es Zeit, für die einfache Reproduktion meiner Arbeitskraft Sorge zu tragen. Mein Magen knurrte bereits leicht. Und siehe da, in derselben Straße hinterm Kreisratsgebäude, nur wenige Schritte vom Heimwerkergeschäft entfernt, winkte mir auch schon ein Schild - Hotel 'Glück auf'. Nichts wie hin! Ja, und auch wenn Sie das ganz und gar überraschen sollte - an der Tür hing ein Schild 'Wegen Renovierung geschlossen'. Glück auf - Pech zu!

Wohin jetzt? Ich entschied mich für Berg ab. Rationellster Energieeinsatz ist bei Gaststättensuche, egal in welcher Ecke unseres Landes, ein Gebot der Vernunft und des Selbsterhaltungstriebes. Meistens werden ja die Gaststätten gleich rudelweise renoviert, wenn sie überhaupt schon mittags geöffnet und nicht gerade Ruhetag haben. Das mag unlogisch erscheinen, aber was, bitte schön, ist bezüglich Gaststättenwesen überhaupt logisch?

Na gut, dass die Kellner, wenn man eine geöffnete gefunden hat, ein fettes Trinkgeld erwarten, das ist logisch. Aber sonst? Meine Großeltern hatten vor dem Krieg im alten Chemnitz nahe des Marktplatzes eine Speisegaststätte - 'Dänzers Restaurant'. Es gab einen Ruhetag im Jahr, das war der Weihnachtsabend. Und irgendein Großonkel von mir hat in Westberlin eine kleine Bierkneipe. Der hat bis früh um vier geöffnet, weil die Konkurrenz um die Ecke seit kurzem die Öffnungszeit auf diese Zeit verlängert hat. Dass es bis vier Uhr auch warme Buletten und Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat gibt, versteht sich von selbst. Und die Wirtsleute unserer Kleingartenanlage 'Jungborn - Einkehr für Jedermann' in Karl-Marx-Stadt machen immer im Juli oder im August Urlaub.

Was das mit Ronneburg zu tun hat? Stimmt, man ist oft zu stark voreingenommen.

Also weiter hangabwärts!

Und was treffe ich nach gut fünf Minuten Fußmarsch? Nein, nein - keine Gaststätte, sondern die Ronneburg. Wer hätte das gedacht! Vor Überraschung vergaß ich mein leibliches Problem. Burgen suche ich nämlich grundsätzlich an exponierten Punkten des Terrains und nicht unterhalb des städtischen Marktplatzes in halber Hanglage nur etwa 20 Meter über einem mickrigen Flüsschen. Offenbar eine sehr bescheidene Burg.

Durch ein Plakat 'Kommt zum Schloss- und Heimatfest!' erfuhr ich allerdings, dass die Ronneburg ein Ronneschloss ist. Und für ein Ronneschloss ist halbe Hanglage vielleicht ganz angemessen, sinnierte ich durchaus unwissenschaftlich. Dann ging ich durchs Tor und kam doch wieder auf meine Theorie von der Bescheidenheit zurück. Ein im Wesentlichen staubig-steiniger kasernenhofähnlicher Platz lag da bucklig vor mir in der Sonne. Das Gebäude rechts wirkt auf den ersten Blick wie eine Schule und ist in Wirklichkeit die 'Friedrich-Schiller-Oberschule'. Die Gebäude links - erst ein stallähnliches, dann ein irgendwasähnliches, dann ein kastellähnliches mit viereckigem Turm... - Schlossgebäude?! Wo? Man hat eben so seine Vorstellungen von Schlössern. Und vom Gaststättenwesen. Was kann die Realität dafür!

An der Peripherie des Schlosshofes, genau gegenüber dem Tor ganz hinten, entdeckte ich schließlich die Vorburg, die am nicht sehr hohen, aber steil abfallenden Hang über erwähntem mickrigen Flüsschen hockt, dessen Name der langjährige Heizer der Schiller-Oberschule nicht kannte:

"Irgendwie sind da irgendwelche Teichabflüsse, die irgendwann andauernd entschlammt werden müssen, weil irgendwelche Sorte Leute immer irgendwelches Gerümpel reinschmeißt ... aber wie die Brühe heißt ...? - der Heizer zuckte bedauernd mit den Schultern.

"Und weshalb die Vorburg Vorburg und nicht Vorschloss heißt ...? Na, die Reichsbahn heißt ja auch noch Reichsbahn!"

Also Vorburg - sie beherbergt die Heimatstube: 'Nur sonnabends geöffnet! Für Gruppen und Einzelpersonen nach Vereinbarung - bitte bei Herrn X, Straße Y, Nummer Z melden.'

Nein, die Heimatstube ist keine Gaststätte, was zugegeben aus dem Wortlaut des zitierten Anschlages zu schlussfolgern war - die Heimatstube ist eine Art Heimatmuseum. Aber weil eine Vereinbarung mit Herrn X sich nicht mit dem nun schon grimmigen Knurren meines Magens vereinbaren ließ, kann ich Ihnen leider nicht beschreiben, wie schön das Stück Heimat um Ronneburg einstens war, bevor der Bergbau begann.

Und bestimmt ist in der Heimatstube auch Ronneburgs hohe Zeit Ende des 18. Jahrhunderts dokumentiert, da es den Ruf eines Bades von europäischem Rang genoss. Die radioaktiven Heilquellen sollen sogar Herrn Goethe interessiert haben.

Und die Sache mit dem 'Schnallensturm'! Hat übrigens mit Witterungserscheinung sowenig zu tun, wie moderne westliche Arbeitslosenheere mit schicksalhaften Naturkatastrophen. Der 'Schnallensturm ' ist ein Kapitel zum Thema: Industrielle Revolution im Kapitalismus. Nämlich - die sogenannte 'Schnalle', die Fabrik eines gewissen Herrn Hennig, war durch den Einsatz modernster Maschinenwebstühle der handwerkelnden Konkurrenz einheimischer Weber weit überlegen geworden und bedrohte deren Existenz. Und weil auf dem Rechtswege nichts gegen Rationalisierung zu machen ist, schlugen die Handweber den anderen untauglichen Weg ein - sie stürmten die 'Schnalle' und zerdepperten am 26. März 1841 die Maschinenwebstühle. Im Ergebnis gab es Massenverhaftungen und neue, vielleicht noch effektivere Maschinenwebstühle.

Die heutigen 'Arbeitnehmer' haben daraus und aus weiteren 140 Jahren Kapitalismus leider nur eine Erkenntnis gezogen: Es nützt nichts, die Computer, Roboter und Bildschirmbüros zu zerdeppern. Ansonsten wählen sie christlich - oder sozialdemokratisch.

Was die Heimatstube noch bewahren könnte? Tut mir leid - ich sah die Vorburg nur von außen und möchte keine weiteren Spekulationen anstellen. Wer zu viel erhofft, ist allzu schnell enttäuscht. Und vielleicht, beim nächsten Ronneburgbesuch, - man kann ja mit Herrn X vereinbaren...

Jedenfalls, was die Vorburg (geschütztes Bodendenkmal, mittelalterliche Befestigungsanlage) rein äußerlich betrifft - sie wirkt, wie etwas zu wirken hat, das heroische Zeiten erlebt und überdauert hat: Von Wind und Regen angenagte Säulen und Mauern, müde und ausgemergelt, schwerfällig, aber charaktervoll, und auf die alten Tage weise geworden.

Das letzte, was von meiner Seite zum Ronneschlosshof zu konstatieren ist, wäre meine Hoffnung, dass die kleine Freilichtbühne, die halblinks vor der Vorburg in sicher ungezählten Einsätzen irgendeiner Volksmasseninitiative errichtet wurde, demnächst von der Show einer berühmten Beatgruppe über-rock-n-rollt wird und die Fans die Bestandteile der Bühne als Reliquien hinwegschleppen. Ehrlich, diese architektonische Kosmetik könnte dem Schlosshof nur zum Vorteil gereichen. Aber ich wollte niemandem zu nahe treten und folgte nun endlich den rebellischen Mahnungen meines Magens. Sie führten mich zur 'Zur Skat-Klause'.

Ein abgetakeltes, graues, schmuckloses Haus in einer ebenso grauen, räudigen Gasse. Neben der Eingangstür ein verglaster Aushangkasten mit der Speisekarte. Ich las und war schockiert - acht verschiedene Hauptgerichte, keines über vier Mark und an fünfter Stelle stand geschrieben: Krautroulade mit neuen Kartoffeln und Gemüsebeilage 2,05 Mark.

Zwei Mark und einen Fünfer! Wo leben wir denn? Nichts wie hinein!

Die Klause war nicht größer als ein mittleres Wohnzimmer. An den fünf runden Tischen mit jeweils sechs Stühlen saßen - gut verteilt, wie es in jedem Nobelrestaurant üblich ist - zehn Gäste. Die dicke Frau hinterm Tresen war Nummer elf. Die blonde Kellnerin zwölf. Ich war Nummer 13.

Natürlich bin ich so wenig abergläubisch wie einer nur sein kann, der Aberglauben als mittelalterliches Relikt in der heutigen Zeit geradezu lächerlich findet. Aber was weiß man schon als Marxist von den letzten Dingen dieser Welt?!

Immerhin war schon mal kein freier Tisch für mich vorhanden. Ich blickte in die Runde, um zu prüfen, wem ich meine Tischgesellschaft zumuten könnte. Am Tisch gleich rechts neben der Tür saßen zwei alte Herren bei Bier und Korn. Da bestand akute Gefahr in ein Gespräch verwickelt zu werden - mit dem Alter werden Männer geschwätzig.

Am Tisch gleich links - drei kräftige Männer in Arbeitskleidung. Wahrscheinlich vom Bau. Sie wetterten auf die 'Hornviechter' von 'Meester' und 'Brigadschö', die nicht die Spur einer Ahnung hätten. Keine Ahnung davon, vermutete ich, dass ihre Leute schon seit dem Frühstück in der Klause aufs Mittagessen warten mussten. Ihr Zustand war schon stark vergeistigt. Ich fürchtete, nicht mithalten zu können.

Am dritten Tisch löffelte ein zerknittertes Omchen geduldig an einer Suppe. Vor dem Gaumengenuss hatte bei ihr der Herr das Zipperlein gestellt. Bevor sie den Löffel am Mund hatte, war die Suppe wieder im Teller oder auf der Tischdecke. Es hätte ihr wenig geholfen, wenn ich mich der nervlichen und seelischen Tortur, ihr zuzuschauen, ausgesetzt hätte. Und nur, um der Welt mein Mitleid zu demonstrieren...? Am Tisch Nummer vier - zwei attraktive Frauen so um Mitte Dreißig. Elegante Frisuren, gepflegtes "make up', Kleider aus dem Exquisit und Blicke... die eine schaute mich an, als wöllte sie mir an die Wäsche. Wer spricht hier von Feigheit vor dem Feind? Ich hätte doch nur falsche Hoffnungen erwecken können. Mein begrenzter Zeitfonds... und deshalb, wie es ein echter Gentleman tut, wenn ihm die Hände gebunden sind, verzichtete ich und versuchte, mich mit dem fünften Tisch anzufreunden.

Da saß ein blutjunges Pärchen. Der herrschenden, von Westen angespülten Antimode entsprechend gekleidet und frisiert. Stichwort 'Punk'. Er - bis weit über die Ohren kahlgeschorener Kopf mit einem Mittelstreifen schwarzgefärbten wirren Haares, Jeansweste, Jeanshose, kein Hemd und auf der unbehaarten Brust einen Schnürsenkel mit dem "Eisernen Kreuz'. Sie - eine stoppelfeldartige verwirbelte Igelfrisur, deren eine Hälfte blond, die andere lila eingefärbt war, Jeanshose, schwarzer Pulli, Kettchen mit Jesuskreuz, grüne Lidschatten, dunkelrote Fingernägel. Die Farbe ihrer Lippen konnte ich nicht ausmachen, die beiden knutschten intensiv.

Die Gefahr, in ein Gespräch verwickelt zu werden, konnte ich mit Sicherheit ausschließen. Die Symptome schwerster Tele- und Diskoschäden des allgemeinen Kommunikationsapparates waren eindeutig. Vom Zipperlein dürften sie trotz 'Caro', Wodka und mutmaßlich extensiver sexueller Betätigung noch gut zwei Jährchen entfernt sein. Angst, verführt zu werden, brauchte ich selbstverständlich nicht zu haben. Für die beiden war ich längst ein verkalkter Knacker. Aber diese Knutscherei! Zuschauen wirkt aufdringlich und appetithemmend. Wegschauen prüde. Mitmachen ... igitt!

Ich war eben der Dreizehnte. Es war kein mir angemessener Tisch zu finden. Weil aber die Krautroulade zu sehr lockte, biss ich in den sauren Apfel und wendete mich dem Tisch der beiden alten Herrn zu. "Sie gestatten, ist der Platz noch frei?"

Ich blickte antwortheischend von einem zum anderen. Ein zages Kopfnicken der beiden deutete ich positiv. Während ich platz nahm und die beiden innerlich 'maulfaules Gesindel' betitulierte, fiel mir auf, dass ich bei ihnen Geschwätzigkeit erwartet hatte. Ausnahmen bestätigen nur die Regel, beruhigte ich mich, und blieb vor allem bezüglich der beiden schwerstbeschädigten Jugendlichen voll und ganz bei meinen Vorurteilen.

Um mir die Wartezeit bis zum Eintreffen der Bedienung zu verkürzen, steckte ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Und wie ich sie gerade anzünden will, da kommt bereits die Bedienung, fragt mich so freundlich nach meinen Wünschen, dass ich vor Schreck das brennende Streichholz vergaß und mir Daumen und Zeigefinger verbrannte.

Der Dreizehnte!

Die schmerzenden Finger am rechten Ohrläppchen kühlend stotterte ich meine Bestellung hervor.

"Äh ja ... ich wollte ... hier für zwei Mark fünf ... äh, ich meine ... Roulade im Kraut sozusagen ... und eine Limo." Ich vermied, mir auszudenken, für welche Sorte von Trottel mich meine Tischgenossen halten mussten.

Der Krautroulade blickte ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Das nicht etwa nur im Bewusstsein, der Dreizehnte zu sein, sondern des gesamten mystischen Klimas wegen. Es muss ein böses Erwachen geben!

Doch ich fand kaum richtig Zeit gemischt zu blicken. Innerhalb weniger Minuten stand die hellbraun angebruzelte Krautroulade vor mir und lächelte mich an. Und die Soße konnte erst lächeln! Aus hunderten süßer kleiner Fettäuglein!

Mein Gaumen hatte zwei bis drei Brautnächte. In meinem Trancezustand hätte ich zum Schluss um ein Haar den Teller abgeleckt. Zum Glück kam mir noch rechtzeitig das Schild über dem Tresen ins Blickfeld: "Wir kämpfen um das Diplom - Thüringer Gastlichkeit '.

Nein, den erfolgreichen Titelkampf wollte ich nicht gefährden. Ich ließ den Teller unbeleckt. Als er dann abgeräumt wurde, blutete mir die Seele. Es waren noch so viele leckere Soßenreste drauf! Eine zweite Kohlroulade konnte ich mir nicht leisten. Ich war bereits zum Platzen voll. Als Nummer zwölf oder vierzehn hätte ich bestimmt noch ein Eckchen für ein zweites Roulädchen unter meinem Herzen gefunden, aber ich war eben Nummer dreizehn gewesen. Ich hatte ja von Anfang an so eine komische Ahnung gehabt. Soll mir nur einer kommen und behaupten, das wäre alles auf marxistisch erklärbaren Wegen zugegangen! Ha!

Der Bedienung ließ ich reichlich Trinkgeld zufließen. Die Roulade kostete nämlich wirklich nur zweimarkfünf, was ich irgendwie als Beleidigung für die kulinarische Köstlichkeit empfand.

Zufrieden mit meiner, der gastronomischen Gerechtigkeit zum Sieg verhelfenden Großzügigkeit, stürzte ich mir genüsslich den letzten Schluck Limo in den Hals. Dabei fiel mein Blick auf eine interessante Urkunde, die mir vis-a-vis an der Wand zwischen den in Skatkneipen typischen gerahmten 'Grand ouverts' prunkte. Wortlaut:

Mit der Urkunde für restlose und schnelle Vernichtung

von Alkohol und anderen Getränken

wurde die Alkohol-Brigade ausgezeichnet.

Es folgten die Namen der Brigademitglieder - Herbert, Stoni, Walter, Hänschen, Pfeffi, Schluck und so weiter. Insgesamt zwölf. Zwölf, und eben nicht dreizehn!

Der Dreizehnte würde zweifelsohne binnen kurzem das Delirium haben. Oder zur Auflösung der Brigade führen und die Frauen und Bräute von Herbert, Stoni, Walter, Hänschen, Pfeffi, Schluck und Co. könnten nicht mehr stolz auf ihre Helden der Alkoholvernichtung sein. Und was dem Staat an Akzise verloren ginge! (Womit ich nebenbei auf den Zusammenhang zwischen sozialistischer Volkswirtschaft und Mysterium aufmerksam gemacht haben möchte. Und man muss auch nicht immer alles verstehen wollen! Die Presse hat das längst ein-gesehen und nimmt von den Ungereimtheiten unserer Realität gar nicht erst Notiz.)

Die Zeit war heran; meine dienstliche Mission bei der Bergbau Aktiengesellschaft Wismut drängte zum Aufbruch. Meinen beiden Tischgenossen - sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, geschweige an mich gerichtet - wünschte ich: "Schönen Tag noch!"

Sie schwangen sich zu einem erdig-dumpfen Knurren auf. Sicher ehemalige Bergleute.

Der Treffpunkt mit den Leuten von der Wismut war für 13 Uhr ausgemacht. Er lag am Stadtrand. Und nur noch fünf Minuten!

Die wenigen Meter von der Klause bis zum Parkplatz eilte ich so eilig, wie man es mit einer Skatklausenkrautroulade im Magen nur tun kann. Dem Ignaz gab ich dann die Sporen. Trotzdem - mit zehn Minuten Verspätung traf ich am Treffpunkt ein. Zehn Minuten sind aber für jemanden, von dessen guter Laune der Wartende abhängig ist, keine Verspätung. Die Begrüßungsworte der Wismut-Kumpel lauteten dementsprechend: "Das ist aber schön, dass sie gekommen sind. Herzlich willkommen!"

Ich lächelte herzlich und war gewarnt. Nicht die leiseste Anspielung auf meine Verspätung war gewagt worden. Auch kein noch so klammheimlicher Blick auf die Uhr. Ergo - das, was man von meinem Betrieb gebaut haben wollte; was man mit mir unter Dach und Fach bringen musste, war mindestens außergewöhnlich, wenn nicht gar bereits von anderen Betrieben mehrfach abgelehnt worden. Ich war gespannt, wie man versuchen würde, mir die Suppe schmackhaft zu machen. Glasklar war für mich nur, dass ich die Zähne deutlich heben würde, selbst wenn sich die Suppe für unseren Betrieb als gefundenes Fressen erweisen sollte.

Und es erwies sich recht schnell, dass das, was wir löffeln sollten, eine Götterspeise war.

"Unmöglich! Da sind wir völlig überfordert!" - sagte ich daher mit Nachdruck.

"Wir würden optimale Unterstützung bieten!" - versprach der Ranghöchste der kleinen Vorausabteilung. Auf den Mienen der beiden Unterstellten wich der freundliche Grundgestus einer trutzigen Verkniffenheit. Sicher würden sie die optimale Unterstützung abwickeln müssen.

Mit mürrisch hängenden Mundwinkeln registrierte ich die wahrlich günstigen örtlichen Bedingungen und gab ein Stöhnen des Wohlbehagens von mir. Prompt tat man ein Übriges, um mein Wohlbehagen in dienstliche Hochstimmung zu verwandeln.

"Hier wird selbstverständlich alles planiert und mit Betonplatten ausgelegt!"

In den nächsten drei Minuten gab ich eine Charakterstudien zur Faust-Problematik: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!

Mein Publikum ging dankbar und voller Hoffnung auf ein Happyend mit.

Und es war hingerissen von mir, als ich meine kleine Technologenetüde in den an Goethe oder Brecht gelehnten Spruch - "Na dann, auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht" - gipfeln ließ.

Oh, welch gutes Werk ich getan hatte!

Meine Widersacher strahlten vor Stolz auf ihre kampftaktischen Erfolge. Den haben wir eingewickelt! Hoho! Wir sind clever!

Um ihren Überschwang nicht ins Uferlose treiben zu lassen, ging ich zu den konkreten Details über: "Notieren sie bitte! Unsere Forderungen zur Baufreiheit sind: 1. Aushub der Baugrube, 2. Befestigung der Grubensohle mit Magerbeton, 3. Herstellung des Widerlagers, 4. Bereitstellung von zwei Autokränen, 5. Baustromanschluss oder 300 Liter Diesel..."

Bereits nach Elftens war der stolze Schimmer auf ihren Lippen einer scheuen Blässe gewichen. Ich konnte mich einer gewissen Hochachtung für die Beherrschungskünste meiner Gegner nicht enthalten, als erst nach Punkt fünfzehn die mutige Frage gestellt wurde, ob wir wenigstens Hacke und Schaufel selber mitbringen würden.

Mit sanftem, beruhigendem Tonfall gab ich dahingehend Auskunft, dass wir Hacke und Schaufel nicht benötigen, da wir für alle eventuell anfallenden manuellen Schachtarbeiten fest auf die zugesicherte optimale Unterstützung vertrauen.

Nach Punkt neunzehn - Bereitstellung der Stahlrohre - wagte mit dem Mut des verzweifelten Investbauleiters jener vorlaute Untergebene, der schon die vorangegangene Frage gestellt hatte, einen erneuten Vorstoß gegen meine Positionen:

"Was leistet eigentlich ihr Betrieb für die veranschlagten hunderttausend Mark, wenn wir alles selbst machen müssen?"

"Wir haben das Spezial-horizontal-Erdlochbohrgerät JQ 718 Schrägstrich 77 Bindestrich nullnullacht. Und was ich noch fragen wollte... haben sie überhaupt einen offiziellen Bilanzanteil erhalten?"

Natürlich hatten sie nicht, womit der Angriff eiskalt zurückgeschlagen war. Der Häuptling schob den Vorlauten nach hinten und erkundigte sich teilnahmsvoll, was man denn zur Verschönerung des Aufenthaltes meiner Kollegen Arbeiter während der Bauzeit tun könne. Als ich tief Luft schöpfte, zitterte ihm der Notizblock. Als ich - leider nur wenig - geantwortet hatte, erstarrte er. Mitleidlos setzte ich meine Rede fort: "Warme Mittagsmahlzeit für die Kollegen versteht sich. Allerdings zwei Portionen Diätkost!"

"Was noch?"

"Wenn sie unbedingt wollen, können sie ja zur Frühstückspause immer mal paar Vorzimmerdamen auf die Baustelle schicken."

Der Vorlaute war sich wohl nicht sofort völlig im Klaren, ob das wirklich nur ein Späßchen meinerseits war, und lachte nicht mit. "Und Wohnlagerplätze?" - fragte er stattdessen verbiestert.

"Nicht nötig! Unsere Spezialisten reisen morgens mit Taxi an und werden zum Feierabend mit Taxi wieder abgeholt."

"Karl-Marx-Stadt bis Ronneburg, das sind doch... hin und zurück... viermal am Tag also... das ist doch der blanke Kommunismus!" Der Vorlaute schüttelte sein jugendlich-einfältiges Haupt.

Ich lächelte: "Jeder nach seiner Leistung!" - und dachte heimlich bei mir: da müssten die eigentlich wandern!

Die Verabschiedung erfolgte schließlich in einer Atmosphäre der Herzlichkeit und ganz im Geiste brüderlichen Einvernehmens sowie mit der brückenschlagenden Feststellung: "Wir ziehen doch alle an einem Strang."

"Jeder an seinem" - stänkerte der Vorlaute. Doch wir anderen ließen uns von seinem Pessimismus nicht anstecken.

Der besonnene Häuptling begleitete mich noch ein Stück, damit ich sicher und wohlbehalten aus dem Wismut-Staat am Werkschutz vorüber in die DDR zurückkehren konnte. Während wir so nebeneinander Richtung Grenzstation spazierten, deutete ich von plötzlicher Neugier erfasst auf diese riesigen, dunkelgrauen Pyramiden, die vom geometrisch gebildeten als Kegel angesprochen werden würden, und fragte ganz unverblümt: "Strahlen die eigentlich?"

Der Häuptling war nicht nur besonnen, sondern ausgebufft:

"Das sind doch Halden und keine Lampen."

Veräppeln kann ich mich alleine!

"Aha, und ich dachte immer, hier wäre Uranbergbau."

"Ich gehöre zum Baubetrieb!" - sagte er und beschleunigte seine Schritte.

"Sogar im Pentagon weiß jeder Pförtner, dass hier Uran abgebaut wird!"

"Pentacon - sind das nicht diese Fotoapparate aus Dresden?"

Zu seinem Glück waren wir an der Staatengrenze angelangt, sonst hätte er sich noch einige solcher kindischen Ausflüchte einfallen lassen müssen. Ich hätte nicht lockergelassen. Es ist doch auch zu hochgeheimniskrämert!

"Auf Wiedersehen und gute Heimfahrt!"

Ich fühlte mich abgeschoben wie ein unter Verdacht der Spionage stehendes x-beliebiges Individuum. Dabei habe ich vier Semester Geologie gehört! Ach, macht doch mit eurem Uran, was ihr wollt!

Ich dämpfte meinen Unmut mit der Überlegung, dass es vielleicht doch zu viel verlangt wäre, genauere Informationen zu diesem heißen Problem zu verlangen. Erfährt man ja kaum, warum es manchmal keinen Senf in der Kaufhalle gibt!

Aber mir als Genossen hätte dieser Häuptling doch wirklich... da fiel mir auf, dass ich mein Parteiabzeichen nicht am Revers trug. Ach so - und ich konnte mich wenigstens der Illusion hingeben, er hätte mir, wenn ich erkennbar als Genosse gekennzeichnet gewesen wäre, jegliche Information zukommen lassen. (Sozialistischer Realismus schließt blühende Phantasie nicht aus.)

Das Abzeichen hatte ich am Vorabend, als ich mit Helmut, dem Bauleiter, im Interhotel in die Hallenbar eingeritten war, entfernt. Wo ein Genosse ist, da ist die Partei - und es sollte ja nicht heißen, die Partei säuft im Interhotel rum.

Da der dienstliche Teil meiner Mission in Ronneburg eh erledigt war, beschloss ich, für den Rest des Tages in der Illegalität zu bleiben, und beließ das Abzeichen im Kleingeldfach meiner Brieftasche.

Auf den ersten Kilometern der Rückfahrt hatte ich mit ein paar dienstlichen Nachwehen in Form mittlerer Gewissensbisse zu kämpfen. Hätte ich nicht doch den Abschluss eines Prämien-Zielwettbewerbes für unsere Spezialisten fordern sollen?!

"Ach, wär er mitgefahren, der Herr Bauleiter!" - dämpfte ich mein bissiges Gewissen - "Nun muss er eben mal sehen, wie er seine hochbezahlten Spezialisten ohne Zielprämien zu durchschnittlichen Leistungen stimulieren kann!"

Just, als ich ein abschließendes "Basta!" hinter alle Dienstprobleme setzte, nahm ich rechts der Straße ein Hinweisschild wahr: Schloss Posterstein soundso viel Kilometer!

Gas weg, Kupplung treten, Bremse - rechts ab!

Schloss Posterstein ("das Slos, genannt der Steyn") war wegen Renovierung geschlossen. Wahrscheinlich zum ersten Mal, seit es vor zirka 800 Jahren als Burg erbaut worden war. Aber wie gesagt, was ist ein Opa ohne Runzeln, Falten und Glatze? Man muss die Patina der Zeit erkennen. Hoffentlich sieht Posterstein nach der Renovierung nicht wie ein Reklameposter für Latex-Farben aus.