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Paul Lendvai

DIE
UNGARN

Eine tausendjährige Geschichte

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1. Auflage

© 2020 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Minion Pro, Bodoni Std

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Übersetzung Kapitel 35 und 36 aus dem Englischen: Tina Breckwoldt

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Karten: Adolf Böhm

ISBN 978-3-7110-0266-2

eISBN 978-3-7110-5291-9

Dem Andenken meines Vaters, Dr. Andor Lendvai (geb. in Kassa, damals Ungarn, heute Slowakei), und meiner Mutter, Edith Lendvai (geb. in Alsósófalva, damals Siebenbürgen, Ungarn; heute Rumänien)

INHALT

Vorwort zur erweiterten Neuauflage

Einleitung

Kapitel I
»Heidnische Barbaren« überrennen Europa:
Die Zeugnisse von Sankt Gallen

Kapitel II
Landnahme oder Eroberung? Zur Frage der ungarischen Identität

Kapitel III
Vom Magyarensturm zum christlichen Königtum der Arpaden

Kapitel IV
Das Ringen um Kontinuität und Freiheit

Kapitel V
Der Mongoleneinfall von 1241 und seine Folgen

Kapitel VI
Ungarns Aufstieg zur Großmacht unter fremden Königen

Kapitel VII
Das Heldenzeitalter der Hunyadi vor dem Hintergrund der Türkengefahr

Kapitel VIII
Der lange Weg in die Katastrophe von Mohács

Kapitel IX
Verheerende Bilanz der Türkenherrschaft

Kapitel X
Siebenbürgen als Hort ungarischer Staatlichkeit

Kapitel XI
Gábor Bethlen – Vasall, Patriot und Europäer

Kapitel XII
Zrinyi oder Zrinski? Held zweier Nationen

Kapitel XIII
Der Kuruzzenführer Thököly: Abenteurer oder Verräter?

Kapitel XIV
Ferenc II. Rákóczis Freiheitskampf gegen das Haus Habsburg

Kapitel XV
Mythos und Historiografie: Ein Idol im Wandel der Zeit

Kapitel XVI
Ungarn im Schatten der Habsburgermonarchie

Kapitel XVII
Der Kampf gegen den »König mit dem Hut«

Kapitel XVIII
Abt Martinovics und die Jakobinerverschwörung:
Ein Geheimagent als revolutionärer Märtyrer

Kapitel XIX
Graf István Széchenyi und die »Reformära«:
Aufstieg und Scheitern des »größten Ungarn«

Kapitel XX
Lajos Kossuth und Sándor Petőfi: Symbole der Revolution von 1848

Kapitel XXI
Siege, Niederlage und Zusammenbruch:
Der verlorene Freiheitskampf 1849

Kapitel XXII
Held Kossuth gegen »Judas« Görgey:
Das »Gute« und das »Böse« in der Opfermythologie

Kapitel XXIII
Wer war Kapitän Gusew?
Russische »Freiheitskämpfer« zwischen Minsk und Budapest

Kapitel XXIV
Elisabeth, Andrássy und Bismarck:
Der Weg zur Versöhnung von Österreich und Ungarn

Kapitel XXV
Sieg in der Niederlage: Der Ausgleich und die Folgen für die Doppelmonarchie

Kapitel XXVI
Grenzenlose Verblendung: Das ungarische
Sendungsbewusstsein und die Nationalitäten

Kapitel XXVII
Die »Goldene Zeit« des Millenniums:
Modernisierung mit Schattenseiten

Kapitel XXVIII
»Ungarischer Jude oder jüdischer Ungar?«
Die einmalige Symbiose zwischen Adel und Judentum

Kapitel XXIX
»Wird Ungarn deutsch oder magyarisch?«
Die besondere Rolle der Deutschen

Kapitel XXX
Vom Weltkrieg zur »Diktatur der Verzweiflung«:
Der rote Graf und Lenins Agent

Kapitel XXXI
Der Admiral auf dem Schimmel:
Trianon – die Todesurkunde des Stephansreiches

Kapitel XXXII
Abenteurer, Geldfälscher, Thronanwärter:
Ungarn als Störenfried im Donaubecken

Kapitel XXXIII
Im Gleichschritt mit Hitler: Triumph und Untergang.
Von der Judenvernichtung zur Herrschaft des Pöbels

Kapitel XXXIV
Sieg in der Niederlage: 1945–1990

KAPITEL XXXV
Das Scheitern des demokratischen Experimentes

KAPITEL XXXVI
Viktor Orbáns »Führerdemokratie«

Anmerkungen

Auswahlbibliografie

Personenregister

Sachregister

Abbildungsnachweis

VORWORT ZUR ERWEITERTEN NEUAUFLAGE

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In den letzten dreißig Jahren seit der ersten Ausgabe dieses Buches, die mit der Wende 1989 abgeschlossen wurde, erlebten der Autor, das ungarische Volk und die internationale Öffentlichkeit eine damals unvorstellbare Wandlung in Ungarn. Der am Ende des 34. Kapitels kurz erwähnte Viktor Orbán, als junger Redner bei der denkwürdigen Trauerfeier für den 1958 hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy und seine vier Schicksalsgefährten am 16. Juni 1989 auf dem Budapester Heldenplatz und neun Jahre später als 35-jähriger Ministerpräsident, führt zur Zeit der Drucklegung die zehn Millionen Magyaren weg von der liberalen Demokratie in eine autoritäre Zukunft. Er schreibt im wahrsten Sinne des Wortes seit April 2010 Geschichte. Deshalb ist es zeitgerecht und nützlich, das leicht gekürzte wieder aufgelegte Buch mit zwei Kapiteln über den Weg vom Scheitern des demokratischen Experimentes zu Orbáns »Führerdemokratie« zu ergänzen. Wenn man die Periode zwischen 1956 und 1989 als Kádár-Regime beschreibt, dann ist es mehr als gerechtfertigt, das Jahrzehnt von 2010 bis 2020 als Orbán-Regime zu bezeichnen, zumal Ungarn kein Satellit einer Großmacht, sondern ein souveränes und unabhängiges Land ist und sein Ministerpräsident trotz EU- und NATO-Mitgliedschaft völlig frei agieren kann. Was in Ungarn geschieht, beeinflusst nicht zum ersten Mal auch die Entwicklung in einem sich wandelnden Europa.

Es freut mich sehr, dass der Ecowin Verlag sich entschlossen hat, die erweiterte und aktualisierte Version meines Buches herauszugeben.

Meiner Frau Zsóka Lendvai bin ich unendlich dankbar, dass sie trotz ihrer Beschäftigung mit unserem auf ungarische Literatur spezialisierten Nischen Verlag mit bewundernswerter Geduld die optimalen Rahmenbedingungen für meine Arbeit ermöglicht hat.

Wien, April 2020.

Paul Lendvai

EINLEITUNG

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Die Existenz, ja das Überleben des ungarischen Volkes und seines Nationalstaats im Karpatenbecken ist ein Wunder der europäischen Geschichte. Es gibt kaum eine Nation, deren Bild im Laufe der Jahrhunderte und Epochen von so vielen und einander dermaßen widersprechenden Klischees umwoben ist wie das der Magyaren. Wie wurden aus »kinderfressenden Kannibalen« und »blutrünstigen Hunnen« die Verteidiger des christlichen Abendlandes und heldenhafte Freiheitskämpfer gegen Mongolen, Türken und Russen? Wer waren die »asiatischen Barbaren«, die auf ihren Raubzügen von der Schweiz bis Frankreich, von Deutschland bis Italien Angst und Schrecken verbreitet hatten und doch als die Letzten der Völkerwellen aus Asien nicht in der Versenkung verschwunden sind?

Ihre Urheimat, ihr Ursprung und die Wurzeln ihrer Sprache, die Gründe ihrer Migration und Ansiedlung sind bis heute umstritten. Dass die Magyaren aber – abgesehen von den Albanern – das einsamste Volk in Europa bilden, mit einer einzigartigen Sprache und Geschichte, kann kaum bezweifelt werden. Arthur Koestler, der ungarisch träumte, aber seine Bücher auf Deutsch, später auf Englisch schrieb, sagte einmal: »Vielleicht erklärt sich aus dieser exzeptionellen Einsamkeit die seltsame Intensität seiner Existenz. Ungar zu sein ist eine kollektive Neurose.«

Seit der Landnahme um 896 ist diese Einsamkeit mit ihren vielen Facetten der bestimmende Faktor in der ungarischen Geschichte geblieben. Die Angst um den langsamen Tod einer kleinen Nation, um das Aussterben des Ungartums und um die Folgen der durch verlorene Kriege erzwungenen Amputation ganzer Volksgruppen (jeder dritte Ungarnstämmige lebt im Ausland) bildet den Hintergrund zur Dominanz der Todesbilder in Dichtung und Prosa.

Sagen, Legenden und Volksüberlieferungen verdeckten oder verzerrten die Realitäten. Zugleich schufen diese Mythen aber die Geschichte in diesem Raum und prägten das Konzept der Nation. Unter der Stephanskrone als Symbol der sogenannten »politischen Nation« bahnte sich ein wechselvolles, zuweilen von glanzvollen Erfolgen gekröntes, manchmal von tragischen Konflikten geprägtes Verhältnis zwischen Ansässigen und Eroberern, Zugereisten und Ausgegrenzten an. Die Wechselwirkung zwischen Öffnung und Abkapselung, zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus, zwischen Einsamkeitsgefühl und Sendungsbewusstsein, zwischen Todesangst und Aufbegehren gegen die Stärkeren fand eine eindrucksvolle Widerspiegelung in den sich wandelnden Zeiten der Kultur und Geschichte Ungarns. Eine lange Kette von schicksalhaften Niederlagen verstärkte das Gefühl des Ausgeliefertseins (»Wir sind das verlassenste von allen Völkern der Erde«, so der Nationaldichter Petőfi) und erfüllte fast alle Generationen des Magyarentums mit einem tief verwurzelten Lebenspessimismus. Die Verwüstungen des vom Westen wiederholt im Stich gelassenen Landes während des Mongolensturmes 1241, die Katastrophe von Mohács 1526 mit der daraus folgenden, anderthalb Jahrhunderte andauernden Türkenbesetzung, die Niederwerfung des Freiheitskampfes 1848/49 durch die vereinten Streitkräfte der Habsburger und des russischen Zaren, die Zerstörung des historischen Ungarns durch das Diktat von Trianon 1920, die vier Jahrzehnte der Sowjetherrschaft und des Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg samt der blutigen Niederschlagung des Oktoberaufstandes von 1956 waren Katastrophen, die das Bewusstsein der Verlassenheit immer wieder verschärften. Wer könnte aber je die unglaubliche Widerstandskraft und die schöpferische Überlebenskunst dieses Volkes bestreiten?

Trotz der Dreiteilung des Landes und der Jahrhunderte der Fremdherrschaft vermochten die Ungarn ihre nationale Identität zu bewahren. Es war die leidenschaftliche Heimatliebe, die ihnen die Kraft gab, zwischen Deutschen und Slawen, ohne Verwandte und durch die »Chinesische Mauer« ihrer Sprache getrennt, zu überleben und die Katastrophen zu überstehen. Einen der Schlüssel zum Verständnis des Aufstiegs und des Zusammenbruches Ungarns, von der Landnahme bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, aber auch der sich in schneller Reihenfolge ablösenden Umwälzungen zwischen 1920 und 1990 liefern die um 1030 (wahrscheinlich von einem deutschen Geistlichen) verfassten Mahnungen des ersten christlichen Königs aus dem Hause Árpád, Stephans des Heiligen, an seinen Sohn:

Das Römische Reich hat besonders deshalb so an Bedeutung gewonnen und seine Fürsten sind dadurch so ruhmreich und so mächtig geworden, weil zahlreiche Edle und Weise aus verschiedenen Ländern sich dort zusammenfanden … So wie die Ansiedler aus verschiedenen Ländern und Provinzen kommen, bringen sie auch verschiedene Sprachen und Sitten, verschiedene lehrreiche Dinge und Waffen mit, welche den königlichen Hof zieren und verherrlichen, die auswärtigen Mächte aber erschrecken. Ein Land, das nur einerlei Sprache und einerlei Sitten hat, ist schwach und gebrechlich. Darum, mein Sohn, trage ich Dir auf, begegne ihnen und behandle sie anständig, damit sie mit und bei Dir lieber verweilen als anderswo, denn wenn Du das, was ich erbaute, zerstören, was ich ansammelte, auseinanderstreuen wolltest, dann würde Dein Reich ohne Zweifel erheblichen Schaden leiden.

So kamen bereits im 11. Jahrhundert auf Einladung der Dynastie Deutsche nach Oberungarn und Siebenbürgen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden nicht nur die besiegten Nomadenvölker, wie etwa die Petschenegen und Kumanen, sondern auch Deutsche und Slowaken, Rumänen und Kroaten, Serben und Juden vom Ungartum sozusagen aufgesogen. Es gehört zu den verblüffendsten und von nationalistischen Chronisten später verdrängten oder glatt verschwiegenen Zügen der ungarischen Geschichte, dass die Schöpfer des nationalen Mythos, die viel besungenen Helden der Türkenkriege, die politischen und militärischen Führer des Freiheitskampfes gegen die Habsburger, herausragende Figuren der Literatur und Wissenschaft, gänzlich oder zum Teil deutscher oder kroatischer, slowakischer, rumänischer oder serbischer Herkunft waren. Wenn man bedenkt, dass zur Zeit Kaiser Josephs II. die Magyaren nur knapp ein Drittel der damaligen Bevölkerung Ungarns ausmachten, sie ihren Anteil bis 1910 aber auf 54,5 Prozent steigerten, können wir zweifellos von einer geradezu sensationellen Dynamik der sprachlichen und politischen Assimilation im alten Ungarn sprechen. Laut statistischen Schätzungen ging die Zahl der sich neu zum Ungartum bekennenden Deutschen über 600 000 hinaus, während die der assimilierten Slowaken über eine halbe Million und die der zu Magyaren gewordenen Juden rund 700 000 betragen haben dürfte. Insgesamt schätzte man, dass bereits vor dem Ersten Weltkrieg der Anteil der assimilierten Deutschen, Slawen und Juden mehr als ein Viertel des statistisch festgestellten Magyarentums ausmachte.

Die ungarische Staatsidee, einschließlich der Unterdrückung der Nationalitäten im Zeichen einer völlig unrealistischen Zukunftsvision von der Rolle eines großen Reiches der Stephanskrone im Donauraum, war nicht rassistisch, sondern ausschließlich kulturell bedingt. Ein jeder, der sich zum Ungartum bekannte, hatte die gleichen Aufstiegschancen. Darin lag freilich auch die Chance für jene Juden, die sich als jüdische Ungarn bereits zur Zeit der Revolution von 1848 mit der ungarischen Nationalbewegung und in den darauffolgenden Jahrzehnten mit der ungarischen Sprache und Kultur identifizierten. Andererseits brauchte Ungarn loyale Menschen, die das ungarische Gewicht innerhalb der Länder der Stephanskrone stärkten und zugleich (zusammen mit den Deutschen und Griechen) bereit waren, die vom ungarischen Mittel- und Kleinadel stets abgelehnte Arbeit in den Bereichen Wirtschaft und Finanz sowie in den intellektuellen Berufen zu übernehmen. Das einzigartige Verhältnis zwischen Juden und Magyaren prägte den wirtschaftlichen und kulturellen Umbruch in den Jahrzehnten nach dem Ausgleich mit Österreich.

Das Schicksal des assimilationswilligen Judentums gehört zu den glänzendsten und dann in der Zwischenkriegszeit, vor allem nach dem deutschen Einmarsch 1944/45, zu den düstersten Kapiteln der ungarischen Geschichte. Es war eine der absurden und doch logischen Folgen der staatlich geförderten antijüdischen Gesetzgebung, dass viele der großen Begabungen, darunter acht Nobelpreisträger, ihre bahnbrechenden Erfolge in Wissenschaft und Kunst, Finanzen und Industrie nicht in ihrer Heimat, sondern vor allem in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten erreicht haben.

Auch das Verhältnis zwischen Ungarn und Deutschen war in mancher Hinsicht seit der Vermählung Stephans des Heiligen mit der bayerischen Fürstin Gisela, der Schwester des späteren Kaisers Heinrich II., im Jahr 996 einmalig. Am Hof des ersten Ungarnkönigs spielten die im Gefolge von Gisela eingewanderten deutschen Priester, Ritter und Adligen eine führende Rolle, und dem König schwebten germanische Institutionen als Vorbilder vor. Auch seine Nachfolger aus dem Haus der Arpaden förderten planmäßig die Bildung größerer deutscher Kolonien – in den Worten eines ungarischen Historikers des 19. Jahrhunderts: »Die Ungarn schufen den Staat; die Deutschen die Städte.« Das Gemüt der herrschenden Schicht der Magyaren schwankte zwischen vorbehaltloser Bewunderung und tief verwurzeltem Misstrauen.

Was die Deutschen betrifft, so blieben die von dem deutschen Bürgertum dominierten königlichen Freistädte von den Türkenkriegen verschont. Während die ersten großen Gruppen von den ungarischen Königen in den nördlichen Landesteilen und die Sachsen in Siebenbürgen angesiedelt wurden, ließen die Habsburger im 18. Jahrhundert vor allem in Südungarn die Regionen Batschka und Banat besiedeln. Es waren die den deutschen Bürgern zugestandenen Privilegien, die zum Teil Argwohn bei den benachteiligten Ungarn erweckten. Politisch wichtiger war aber die zu Anfang des 19. Jahrhunderts von national gesinnten Adligen und Literaten geführte Bewegung zur Erhaltung und zur Erneuerung der von der Germanisierung gefährdeten ungarischen Sprache. In vielen ungarischen Familien hielt man es damals für nicht mit dem guten Ton vereinbar, sich miteinander in der Muttersprache zu unterhalten oder ungarische Gedichte und Romane zu erwähnen. Der Dichter Károly Kisfaludy, der anfänglich selbst mit seinem Bruder deutsch korrespondierte und die Muttersprache sozusagen wieder erlernen musste, warnte: »Das Volk, das keine Muttersprache besitzt, hat auch keine Heimat.« Am Vorabend der Revolution im Jahr 1848 hielt der Schriftsteller József (Joseph) Bajza eine flammende Rede an der Akademie der Wissenschaften in Budapest:

Die deutsche Sprache und Kultur ist eine Gefahr für unsere Nation. Wir sollten endlich zur Besinnung kommen und einsehen, dass uns diese Mode ins Verderben führt und dass uns besonders die eingedrungene deutsche Sprache das Ende bereitet … Nicht hassen sollen wir den Deutschen, sondern uns vor ihm hüten … Ich bin kein Barbar und will nicht gegen die Bildung eifern … Ich halte es aber doch für eine Sünde, wenn ein Volk die Bildung mit seinem eigenen Dasein bezahlt.

Als nach dem Ausgleich mit Österreich (1867) die österreichisch-ungarische Monarchie entstand und Ungarn im Rahmen des damals Möglichen weitgehende Eigenständigkeit errang, ging man schnell und verblendet den Weg einer immer zügelloser werdenden Magyarisierung. Darauf schleuderte Franz von Löher in einer äußerst aggressiven Streitschrift den Ungarn entgegen, sie seien »ein Volk ohne Kultur«, denn »welche gähnende Öde bedeckt die ganze tausendjährige Geschichte der Magyaren. Helfen kann nur das Deutschtum in Ungarn mit seinem Fleiß und seiner Kultur.«

Dieser Zwiespalt zwischen Kooperation und Konflikt, zwischen Bündnis und Zusammenbruch, zwischen Interessengemeinschaft und dem Streben nach einem eigenen Weg prägte fortan das gegenseitige Verhältnis. Die über eine halbe Million starke deutsche Minderheit Rumpf-Ungarns wurde im Dritten Reich zuerst ein scheinbar privilegiertes Werkzeug des NS-Regimes und dann auf dem Weg in die Katastrophe der Mutternation und des Staatsvolkes zu einem Opfer durch Vertreibung der Hälfte des Ungardeutschtums und durch jahrzehntelange ungerechte Diskriminierung der in Ungarn verbliebenen Minderheit.

Kein Wunder also, dass in der tausendjährigen Geschichte der Magyaren die ewigen Fragen »Wer ist ein Ungar?« oder »Was ist ein Ungar?« immer wieder auftauchen. Die Antworten waren nie eindeutig, und es geschah auch, dass ein und derselbe, vor allem im deutschen Sprachraum oft zitierte Literaturhistoriker je nach der politischen Großwetterlage große ungarische Schriftsteller und Wissenschaftler einmal in den höchsten Tönen lobte, um sie nur einige Jahre später wegen ihrer »fremdartigen Rasse« und ihres »schädlichen Einflusses« auf die Nation aus dem Ungartum auszugrenzen. Dass dabei die ausgegrenzten oder als »antiungarisch« verdammten Literaten oft ein besseres Ungarisch geschrieben haben als ihre tendenziösen Kritiker, gehört ebenso zu den skurrilen Zügen der ungarischen Geschichte wie die Tatsache, dass in Ungarn der Rassismus in der Literatur und Politik fast immer durch gänzlich oder zum Teil »fremdrassige Figuren« vertreten wurde.

Darauf wies bereits Antal Szerb hin, der Verfasser der bis heute unübertroffenen Geschichte der ungarischen Literatur. Er nahm den berühmten General und Dichter Nikolaus (Miklós) Graf Zrinski als Beispiel. Von Geburt aus Kroate, bekannte sich Zrinski (im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Péter, der seine großen Gedichte ins Kroatische übersetzte) zum Ungartum. So bewies einer der größten Helden der ungarischen Geschichte, dass die Nationalität Folge einer Haltung, eines Willens sei, betonte Szerb. Er selber fiel dem Holocaust zum Opfer …

Wer weiß heute, dass es ohne die ungarischen Bahnbrecher der Moderne möglicherweise keine Atombombe, keinen Computer, kein Hollywood gäbe, dass der ungarische Genius, welch ethnischer oder religiöser Herkunft auch immer, Wissenschaft und Kunst, die Ökonomie und Industrie weltweit, oft maßgeblich, mitgeprägt hat? Der Widerspruch zwischen genialen individuellen Leistungen und dem wiederholten kollektiven Scheitern der Nation bleibt in der Tat einer der faszinierendsten Züge der turbulenten Geschichte des einstigen Nomadenvolkes. Sind also die Ungarn als ewige Verlierer heute ohne Hoffnung auf eine friedliche Vereinigung der Mutternation mit dem versprengten Drittel des Volkes unter fremder Herrschaft? Oder entpuppen sie sich doch immer wieder als Sieger in der Niederlage, als Opfer und Lebenskünstler, Romantiker und Realisten? Der Schriftsteller Tibor Déry sagte nach der niedergeschlagenen Revolution von 1956 einmal: »Was ist das Ungarische? Ein Witz, der über Katastrophen tanzt.«

In einer Mischung von geschichtlichem Überblick, biografischen Skizzen und Milieugeschichten versuche ich, die Ungarn und ihr wechselvolles Schicksal ausländischen, der ungarischen Sprache nicht mächtigen Lesern näherzubringen. Als ein nach 60 Jahren in Wien zum Österreicher gewandelter gebürtiger Ungar jüdischer Herkunft hoffe ich, keine Tabus beachten zu müssen und die Magyaren aus freundlicher, aber auch kritischer Distanz beschreiben zu können.

Kapitel I

»HEIDNISCHE BARBAREN« ÜBERRENNEN EUROPA: DIE ZEUGNISSE VON SANKT GALLEN

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Während eines halben Jahrhunderts, zwischen 898 und 955, galten die Magyaren als Geißel Europas. Auf etwa 50 Raub- und Beutezügen überrannten sie alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Plündernd, brennend und mordend überfielen die Reiterscharen die deutschen Länder, aber auch Oberitalien und große Gebiete Frankreichs. Sie plünderten und brandschatzten unter anderem Bremen und Basel, Orléans und Otranto. Die überwiegend als Söldner im Dienste irgendwelcher miteinander streitenden europäischen Fürsten unternommenen Streifzüge führten sie bis zum Nordmeer und an die atlantische Küste. Sie ritten einmal gegen und dann für den italienischen König Berengar, gegen und dann für Arnulf von Bayern, gegen und für die Interessen von Byzanz.

Als »Teufelsgeschlecht« bezeichnet sie das altfranzösische Rolandslied. Es erwähnt die Magyaren zusammen mit Hunnen und Sarazenen, die eine Blutspur hinterließen, wo immer sie auftauchten. Von unerhörten Grausamkeiten wissen die Chronisten zu berichten, wobei sie freilich häufig Magyaren – oder Ungarn, wie man sie dann nannte – und Hunnen verwechselten. Die meisten dieser Schriftkundigen hatten schließlich nie einen Ungarn gesehen, sondern gaben mündliche Erzählungen wieder, die mit der räumlichen und zeitlichen Distanz an Grauen eher noch zunahmen und sich mit pauschalen Schuldzuweisungen begnügten. So entstand das Gesamtbild eines »schaudererregenden, grausamen Stammes« und von »blutsaufenden, menschenfressenden Ungeheuern aus Skythien«, die überall nur Angst und Schrecken verbreiteten.

Gut belegt und aufgrund von Detailschilderungen für die Nachfahren der Eindringlinge von höchstem Interesse ist allerdings ein Raubzug von 926. Gleich drei Chronisten berichteten in unterschiedlichen Fassungen, die zwischen 970 und 1075 niedergeschrieben wurden, von einem Überfall auf das Kloster Sankt Gallen und seine Umgebung. Blitzschnell waren »die heidnischen Barbaren« durch Bayern und Schwaben an den Bodensee vorgestoßen. Im Kloster richteten sie schwere Schäden an und erschlugen dabei eine alemannische Adlige, die sich zehn Jahre zuvor in eine Zelle hatte einschließen lassen: Die fromme Wiborada wurde mit mehreren Axthieben getötet und ging als Märtyrerin in die Kirchengeschichte ein. Papst Clemens II. sprach die mystisch begabte und wegen ihrer gottesfürchtigen Askese gerühmte »Inklusin« 1047 als erste Frau heilig.

Sie hatte dem Abt von Sankt Gallen bereits im Frühjahr den genauen Zeitpunkt des Einfalles der kriegerischen Scharen aus dem Osten vorausgesagt und ihn gedrängt, sich, die Mönche und den Kirchenschatz mitsamt der kostbaren Klosterbibliothek rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. »Das Gerücht über den Einbruch der Feinde verdichtete sich von Tag zu Tag. Trotzdem schenkte man ihm erst Aufmerksamkeit, als das Barbarenvolk auch die Gegend am Bodensee mit gezücktem Schwert an den Rand des Abgrundes brachte, zahllose Menschen erschlug und alle Dörfer und Häuser im Feuer zerstörte«, heißt es in der Vita Sanctae Wiboradae.1 Dann erst hörte man auf die Seherin. Immerhin konnten dadurch viele Menschen und unersetzliche Bücher gerettet werden. Wiborada selbst ließ sich aber nicht zur Flucht bewegen. Sie starb am 2. Mai 926.

Das Leben und Sterben der heiligen Wiborada, die auch als Schutzpatronin der Bibliotheken verehrt wird, sowie die Chroniken der Mönche Ekkehart I., Ekkehart IV. und Herimannus haben die Fantasie späterer Generationen immer wieder angeregt. Bis in die unmittelbare Gegenwart hat sie Dichter und Schriftsteller inspiriert: So hat eine Schweizer Schriftstellerin, Doris Schifferli, erst 1998 einen Wiborada-Roman veröffentlicht. Und 1992 gab ein nach der Revolution von 1956 in die Schweiz geflüchteter und in Sankt Gallen sesshaft gewordener ungarischer Arzt eine zweisprachige Publikation über die Geschichte des Ungarneinfalles im 10. Jahrhundert heraus, die auf die »uralte, anfänglich noch kriegerische, heute friedlich-freundschaftliche Beziehung zwischen Ungarn und Sankt Gallen« eingeht.

Bis heute wird an Wiboradas Todestag alljährlich in der Liturgie an sie erinnert. So war es zutiefst symbolträchtig, als der ungarische Kardinal József Mindszenty 1972 die Stiftsbibliothek ausgerechnet an diesem Gedenktag besuchte und sich als Primas Hungariae in das Goldene Gästebuch eintrug.

Das Interesse der Ungarn im Allgemeinen und der Historiker im Besonderen gilt freilich weniger dem Leben der Schutzheiligen des Klosters und heutigen Bistums Sankt Gallen als vielmehr der Tatsache, dass in der Bibliothek wichtige Quellen zur frühen Geschichte des ungarischen Volkes aufbewahrt werden. Die Aufzeichnungen in den Jahrbüchern und die »im neuen, unterhaltsamen Stil« verfassten Geschichten des Chronisten Ekkehart IV. bringen nämlich Licht ins Dunkel jener Zeit. In den alemannischen Annalen, im 9. und 10. Jahrhundert von mehreren Händen niedergeschrieben, werden die Ungarn neunmal und in den größeren Sankt Gallener Jahrbüchern des 10. Jahrhunderts sogar fünfzehnmal erwähnt.

In Ekkeharts Chronik finden sich zudem Details zu den Ereignissen vom 1. und 2. Mai 926, die bis heute zur Pflichtlektüre ungarischer Schulkinder gehören. Es ist die einzige Schilderung, in der die Magyaren nicht nur als Unmenschen erscheinen. Zum ersten Mal lieferte hier ein Augenzeuge eine ausführliche, lebensnahe Beschreibung der Sitten und Gewohnheiten der Ungarn. Urheber war ein eher »einfältiger und beschränkter Bruder namens Heribald, dessen Sprüche und Streiche oft belächelt wurden«. Die anderen Mönche hatten ihm gesagt, er solle mit ihnen fliehen. Doch Heribald weigerte sich: »Fürwahr, fliehe, wer will! Ich werde niemals fliehen, weil mir der Kämmerer für dieses Jahr mein Schuhleder noch nicht gegeben hat.«

Die köcherbewehrten Feinde, die in das nicht befestigte Kloster einbrachen, seien mit ihren drohenden Wurfspeeren und spitzen Pfeilen entsetzlich anzuschauen gewesen, gestand Heribald hinterher. Trotz des furchterregenden Gehabes wurde ihm kein Haar gekrümmt. Die Ungarn hatten nämlich einen Dolmetscher bei sich, einen verschleppten Geistlichen, der ihnen übersetzte, was Heribald von sich gab. Und als sie begriffen, dass sie es mit einem Narren zu tun hatten, ließen sie ihn laufen. Er durfte sogar an einer Schlemmerei im inneren Klosterhof teilnehmen. Wie er später erzählte, verzehrten die Magyaren die halb rohen Fleischstücke nicht mit Messern, sondern indem sie sie mit den Zähnen »rissen«. Auch dem Klosterwein wurde heftig zugesprochen. Und zum Zeitvertreib warfen die Magyaren sich abgenagte Knochen zu. Dann hätten sie den Gesängen der beiden gefangenen Mönche gelauscht.

Zu Heribalds nachdrücklichem Missfallen trieben sie ihre derben Späße aber nicht nur im Klosterhof und auf dem freien Feld, sondern ebenso in der Kirche und auf heiligem Boden. Zwei der ausgelassenen jungen Männer kletterten auf den Glockenturm, da sie meinten, der Hahn an der Spitze sei aus Gold. Der eine, der den Wetterhahn mit der Lanze loszureißen versuchte, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Tod. Der andere wollte bei der höchsten Ostzinne seine Notdurft verrichten. Dabei fiel er rücklings in die Tiefe und blieb zerschmettert liegen. Wie Heribald später erzählte, verbrannten die Krieger beide Leichen zwischen den Torpfosten. Zwei bis zu den Siegeln angefüllte Weinfässer wurden auf Heribalds Flehen verschont. Wahrscheinlich befanden sich auf den Beutekarren ohnehin schon genügend Vorräte.

»Gott schützte gerade die Geistesschwachen inmitten feindlicher Schwerter und Speere«, bemerkte der Chronist. Als dann die zurückkehrenden Ordensbrüder Heribald, den Augenzeugen, fragten, wie ihm die so zahlreichen Gäste des heiligen Gallus gefallen hätten, gab er die überraschende Antwort: »Ei, ganz ausgezeichnet! Ich erinnere mich nicht, jemals fröhlichere Leute in unserem Kloster gesehen zu haben, denn sie verschenkten Speise und Trank in Hülle und Fülle.«

Während infolge der zahllosen Verwirrungen und Verwechslungen im Zusammenhang mit den Erzählungen über das Martyrium der heiligen Wiborada der Volksmund in der Schweiz noch heute fast ausnahmslos von der Schreckenszeit der »Hunneneinfälle« spricht, welche dem Goldenen Zeitalter der Abtei Sankt Gallen ein jähes Ende setzten, gilt für ungarische Schriftsteller und Wissenschaftler die im 11. Jahrhundert niedergeschriebene Geschichte über Bruder Heribald als ein schlagender Beweis für die Kontinuität des »magyarischen Nationalcharakters«. In dem von Kronprinz Rudolf initiierten 24-bändigen Sammelwerk Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, dessen letzte Folge 1902 erschien, berief sich zum Beispiel der Historiker Karl Szabó ausdrücklich auf die damals in Sankt Gallen aufgezeichnete »lebensnahe Beschreibung eines ungarischen Reiters«: »Es ist unmöglich, in diesen interessanten Schilderungen … der urwüchsigen, zügellosen, rasch auflodernden, aber auch rasch wieder sich versöhnenden, heiteren, lebensfrohen, unverdorbenen Magyaren-Jünglinge die auch heute noch in die Augen fallenden Züge des magyarischen Nationalcharakters zu verkennen.«2 Jahrzehnte später hat auch der offiziöse Historiker und langjährige Kulturminister der Zwischenkriegszeit, Bálint Hóman, in der gemeinsam mit Gyula Szekfű verfassten fünfbändigen Geschichte Ungarns Bruder Heribald als Kronzeugen für die Tradition der heiteren, trinkenden, singenden, offenherzigen und jovialen Ungarn präsentiert. In diesen Geschichten erkenne man die Vorfahren des ungarischen Bauern …

Moderne ungarische Historiker verweisen allerdings auf die Bedeutung der bis dahin ausführlichsten Beschreibung der strikten Disziplin der Reiterkrieger. Die Erzählungen des Bruders Heribald lassen jedenfalls auf eine bestens trainierte Truppe schließen, die in Minuten Schlachtordnung einzunehmen vermochte, sich bei der Rast oder für die Nacht in eine sorgfältig bewachte Wagenburg zurückzog und sich beim Abmarsch durch eine Vor- und Nachhut schützte. Die Truppenteile verständigten sich durch Kuriere sowie durch Horn- und Feuersignale. Im Falle von Gefahr schwangen sich alle auf Kommando in den Sattel und gehorchten blitzschnell allen Befehlen. Nur dank dieser ausgezeichneten Disziplin waren die im Grunde fantastischen Leistungen der hervorragenden Reiter möglich, die, über 1000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, in alle Richtungen Streifzüge unternahmen.

Das technische Geheimnis der verheerenden militärischen Durchschlagskraft der berittenen ungarischen Bogenschützen war schlicht und einfach der Steigbügel. Mit seiner Hilfe konnten sich die Ungarn mühelos im Sattel abstützen, was die blitzschnelle Wendigkeit ihrer in Hundertschaften formierten Abteilungen und die vielfach überlegene Treffsicherheit ihrer Waffen erklärt. Ihre berüchtigte bewegliche Kampfweise und vor allem die Taktik der vorgetäuschten Flucht stürzten die schwerfälligen feindlichen Heere in Verwirrung. Das gellende, grausig klingende Schlachtgeheul der wilden, fast kahl geschorenen Reiter ließ das Blut der Überfallenen in den Adern erstarren. Es war dann ein Leichtes, die flüchtenden Ritter, die rasch die Orientierung verloren, mit Pfeil und Krummsäbel niederzumachen.

Wie im Falle der Episode von Sankt Gallen hielten sich die ungarischen Historiker und Schriftsteller – und erst recht die Schulbücher – nicht lange bei den Grausamkeiten auf, welche die verwegenen Reiternomaden auf ihren Beutezügen begangen hatten. Die ungarischen Chronisten nannten die Streifzüge elegant »Abenteuerfahrten«. Generationen von jungen Magyaren wurden im Geiste eines unbändigen Stolzes auf die ungarischen Kriegserfolge erzogen. Sie alle lernten, dass man in den deutschen und italienischen, französischen und spanischen Klöstern betete: »De sagittis Hungarorum libera nos, Domine!« (Vor den Pfeilen der Ungarn errette uns, o Herr!)

Die diametral entgegengesetzte Wertung der Sankt Gallener Episode und der furchtbaren Verheerungen durch magyarische Krieger in der westlichen und in der ungarischen Geschichtsschreibung liefert einen kleinen, aber äußerst interessanten Hinweis darauf, wie es zur Herausbildung von Stereotypen kommt, die sich im Laufe der Zeit zu einer Nationalcharakterologie verdichten. Es gibt mehrere Gründe dafür, dass das Feindbild im Westen und das Selbstbild der Ungarn, von immer neuen Generationen erlernt und vor allem kulturell übermittelt, als unbewusste Charakterisierungen, oft aber auch als bewusst gepflegte Vorurteile bis in unsere Tage bewahrt und weitergegeben werden. Unkritisch übernommene und hart aufeinanderprallende Herkunftsmythen sind wichtige Komponenten von emotional aufgeladener Fremdenfeindlichkeit und so schnell und oft so verhängnisvoll aufbrechenden ethnischen Konflikten. Gerade im Falle Ungarns prägten die auf die »anderen« Volksgruppen, aber auch auf die eigene bezogenen Stereotypen seit eh und je besonders stark das Verhältnis zu den Nachbarnationen wie zu den ethnischen Minderheiten im einstigen Großungarn.3

Wie wir noch sehen werden, lässt sich eine Grenze zwischen Geschichtsschreibung, historischen Stereotypen und nationalen Mythen in Mitteleuropa kaum mehr ziehen. Die bildhaften Vorstellungen reichen bisweilen tief ins frühe Mittelalter zurück. Der große französische Historiker Fernand Braudel warnte vor Pauschalurteilen: »Bis zur Renaissance behaupteten sich sämtliche Staaten als raubgierige Bestien … Niemals hat die Karte Europas so viele und so ausgedehnte weiße Flecken aufgewiesen wie vor dem Jahr 1000.«4 In einem späteren Werk kommt Georges Duby zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Er meint, dass im Europa des Mittelalters Spuren bestenfalls als »Grundlage vager Vermutungen« gewertet werden können. »So bleibt die Vorstellung vom Europa des Jahres 1000 mehr oder weniger unserer Fantasie überlassen.«5 Das galt erst recht für den Karpatenraum.

Kapitel II

LANDNAHME ODER EROBERUNG? ZUR FRAGE DER UNGARISCHEN IDENTITÄT

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Auf die natürliche Einheit des Donauraums, den die Karpaten wie ein Schutzwall umschließen, haben Historiker immer wieder hingewiesen. Während die westliche Hälfte – von den Ungarn Dunántúl, Land jenseits der Donau, genannt – unter den Römern vier Jahrhunderte lang zusammen mit dem östlichen Niederösterreich (Noricum und Pannonien) eine Verwaltungseinheit bildete, war die große Ebene, das Alföld, zwischen dem linken Donau-Ufer und den Vorgebirgen Siebenbürgens gelegen, die eigentliche Drehscheibe der Völkerwanderungszeit. Skythen, Sarmaten, Hunnen (unter Attila), Goten und Langobarden, Gepiden und schließlich für 200 Jahre die Awaren versuchten, sich auf Dauer hier niederzulassen. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts gehörte Pannonien als Grenzprovinz zum ostfränkischen Reich. Großmähren unter Fürst Svatopluk kontrollierte das Gebiet nördlich der Donau, während die große Ebene östlich der Donau und Siebenbürgen zum Einflussbereich bulgarischer Fürsten gehörte. Großmähren und Ostfranken haben einander im Zuge ihrer Reichsbildungsversuche erbittert bekämpft. Die Bewohner waren überwiegend slawische Bauern, einschließlich der teilweise slawisierten Awarensippe. Die Existenz einer verschiedene slawische Idiome sprechenden Bevölkerung gilt als gesichert.

Dagegen ist der Streit über die ethnische Zugehörigkeit der Bewohner Siebenbürgens bis heute ein Zankapfel zwischen ungarischen und rumänischen Historikern. Die ungarischen Vor- und Frühgeschichtler verneinen vehement die Stichhaltigkeit der nicht minder nachdrücklich vertretenen rumänischen Behauptung, dass in den Hochtälern und Wäldern eine romanisierte dakische Bevölkerung überlebt habe. Fest steht jedenfalls, dass alle Gebiete im Donaubecken dünn besiedelt und die Berge der Karpaten praktisch unbewohnt waren, als Ende des 9. Jahrhunderts Reiterhirten eines ungarischen Stammesverbandes, aus den Steppen des heutigen Südrusslands kommend, am Einfallstor der Karpaten erschienen. Was deutsche und österreichische Historiker als Ungarnsturm oder Magyareneinbruch beschreiben, gilt den Ungarn selbst als Landnahme (Honfoglalás). Was zunächst nur wie ein Wellenschlag der Völkerwanderung aussah, gewann bald eine neue geschichtliche Dimension mit entscheidenden Folgen auch für die Deutschen und Slawen im Donaubecken.

Die Eindringlinge stellten für ihre Opfer und Gegner »das mongolische Schreckgespenst eines asiatischen Nomadenvolkes« dar. Bereits 863 berichten die alemannischen Annalen, »ein Volk der Hunnen« habe die Christenheit angegriffen, wobei der Chronist – wie später auch die eigene nationale Überlieferung – die Ungarn mit den Hunnen gleichsetzte. Neben den Skythen wurde alles, was die Hunnen belastete, auch den Ungarn in die Schuhe geschoben. Byzantinische und arabische Reisende sprachen von ihnen als einem »Turkvolk«: eine These übrigens, die noch im 19. Jahrhundert in den berühmten Reiseberichten des Orientalisten Ármin Vámbéry ihren Niederschlag fand.

Heute sind sich alle ernst zu nehmenden ungarischen und ausländischen Historiker, Anthropologen und Ethnologen einig, dass diese Theorie falsch ist. Mangels schriftlicher und archäologischer Quellen bleibt die Sprache der einzige wissenschaftlich zuverlässige Beweis für die Herkunft der Ungarn. Ihre in Europa einzigartige Sprache ging aus der finnisch-ugrischen Sprachenfamilie hervor. Die Vorfahren der Ungarn gehörten zur ugrischen Gruppe, wobei die Wissenschaftler noch immer darüber streiten, ob die Ur-Ungarn am westlichen oder östlichen Abhang des Ural (Europa versus Asien!) gelebt haben. Die nächsten Sprachverwandten der Ungarn sind die heute kaum 30 000 Köpfe zählenden Ostjaken und Wogulen, die noch bis in die Neuzeit Jäger und Fischer geblieben sind.

Die Ungarn trennten sich im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung von der ugrischen Völkergruppe und zogen zusammen mit anderen Sippen südwestwärts. Später übernahmen sie unter dem Einfluss von türkischen und iranischen Volksstämmen die Lebensweise nomadisierender Hirten. Das ursprünglich von Fischerei und Jagd lebende Volk stellte sich im Rahmen von schnell entstandenen und ebenso schnell verschwundenen Nomadenreichen auf Ackerbau und Viehzucht um. Wann ihre späteren Wanderungen begannen, wie lange sie gedauert haben, welche Wege sie nahmen und mit welchen Völkerschaften sie engere Kontakte pflegten, ist unbekannt. Über die Frühgeschichte der Altungarn und sogar über die Landnahme selbst sind die einzigen Quellen Mythen und Sagen, die erst 200 bis 300 Jahre später entstanden sind.

Die meisten Geschichtsforscher billigen dem reichen Sagenschatz der Ungarn einen historischen Wahrheitskern zu oder betrachten die mythischen Berichte zumindest als Hilfsquelle für die Erschließung des wirklichen Geschehens. Darüber hinaus dienten sie später zusammen mit Heldengesängen und Sagen als Grundlage für eine neue Legitimation, zur Bekräftigung des »historischen Rechtes«: nicht auf ein besetztes Pannonien, sondern auf die rechtmäßige Wiedereroberung der alten Heimat.

So berichtet eine nur mündlich überlieferte Sage, dass die Brüder Hunor und Magor, die Söhne der Skythenkönige Gog und Magog, auf der Jagd einem wunderbaren weißen Hirsch gefolgt seien und so das Gebiet nördlich des Asowschen Meeres erreicht hätten. Nachdem sie das Wundertier aus den Augen verloren hätten, erblickten sie bei dem nächsten Ausflug die wunderschönen Töchter des Alanenkönigs Dula. Die Geschwister hätten die Töchter entführt und geheiratet. Dieser Ehe seien die Ahnen der Hunnen und Ungarn entsprungen, namentlich »der berühmte allmächtige König Attila und später der Fürst Álmos, von dem die Könige und Fürsten Ungarns abstammten«.

Die moderne Sagenforschung und die Sprachwissenschaft gestehen der beliebten Sage jedenfalls einen geschichtlichen Kern zu: eine enge Verbindung mit einem bulgarotürkischen Volk und den Alanen. Während die Selbstbenennung der Ungarn, »Magyar«, in die ugrische Zeit zurückreicht, geht der Name »Ungar«, »Hungarus«, »hongrois« auf die türkische Stammesorganisation der Onoguren zurück, der die Magyaren lange angehört haben. Onogur bedeutet »zehn Pfeile«, das heißt Stämme. Es ist aber auch möglich, dass die im Westen seit dem frühen 9. Jahrhundert üblich gewordene Bezeichnung an den Zusammenschluss der sieben ursprünglichen, lose miteinander verbundenen altungarischen Stämme mit den drei abtrünnigen Chasarenstämmen, den Kawaren, erinnert. Fest steht jedenfalls, dass die Ungarn längere Zeit dem türkischen Chasarenreich zwischen der mittleren Wolga und dem Unterlauf der Donau angehört haben. Die Altungarn sind aber nie ein »mongolisches Volk« gewesen, wie häufig behauptet wurde. Die Magyaren lebten seit 830 im Etelköz, dem Zwischenstromland, in einem riesigen Gebiet zwischen Don, Donau und Schwarzem Meer mit verschiedenen nomadischen Turkvölkern, mit Alanen und mit Slawen zusammen. In byzantinischen und orientalischen Quellen wurden sie überwiegend als »Türken« bezeichnet. Rund 200 Wörter bulgarotürkischen Ursprunges lassen bis heute sehr bedeutende türkische Komponenten bei der Entstehung des altungarischen Stammesverbandes erkennen.

Erstaunlicherweise konnte trotz der Völkermischung im Siedlungsgebiet die ugrische, also ungarische Sprache obsiegen, und der Name »Magyar« gewann die Oberhand in der ganzen Gemeinschaft. Das ist umso verblüffender, als nach dem Bericht des byzantinischen Kaisers Konstantin VII., dieser ersten und fast einzigen vertrauenswürdigen Quelle, nur zwei der sieben altungarischen Stämme ugrische Namen (Megyer und Nyek) trugen, während die Namen der übrigen fünf meist türkisch waren. Allerdings berichtete der Kaiser auch, dass die später angeschlossenen Kawarenstämme noch um die Mitte des 10. Jahrhunderts zweisprachig waren.

Gerade im Hinblick auf die historisch und politisch bis in unsere Tage so brisanten Auswirkungen der national-romantisch geprägten Legendenbildung in der ungarischen Geschichtsschreibung und Literatur ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass vor und zu der Zeit der Landnahme der ungarische Stammesverband alles andere als homogen, ja eher ein wahres »Völkergemisch« war. In der von nationaler Engstirnigkeit völlig freien Untersuchung des deutsch-ungarischen Frühhistorikers Thomas von Bogyay heißt es zur Herkunft und Volkswerdung, das anthropologische und archäologische Material spreche dafür, dass das ungarische Volksindividuum im Schmelztiegel der südrussischen Steppe entstanden sei.

Auch der ungarische Geschichtswissenschaftler Jenő Szűcs hat in mehreren grundlegenden Werken betont, dass die finnougrischen Volksgruppen und verschiedene Stämme türkischen Ursprunges wahrscheinlich bereits im 8. Jahrhundert unter Führung eines chasarischen Würdenträgers aus dem Verband des Chasarenreiches ausschieden und dass das grundlegende Element der ungarischen Herrschaftsbildung vor dem 9. Jahrhundert die ethnisch heterogene und sozial gegliederte Gefolgschaft war. Er wies überdies auf die durch »massenhaftes neues Fundmaterial« bewiesene Tatsache hin, dass sich die Symbiose der heidnischen Ungarn und christlich-slawischer Bevölkerungsteile bereits im Laufe des 10. Jahrhunderts vollzog. Die landnehmende ungarische Gesellschaft sei also keineswegs eine homogene nomadische Kriegerschicht gewesen. Die spätere ungarische Überlieferung verschwieg jedoch sowohl die engen Beziehungen zu den Chasaren, deren Führungsschicht sich im 8. Jahrhundert zum Judentum bekannte, wie auch die wirklichen Gründe für die Wanderung, die die Stämme samt ihren Verbündeten chasarischen oder türkischen Ursprunges bis an die Hänge der Karpaten führte.6

Laut dem zitierten Bericht Kaiser Konstantins VII. hätten die Stammeshäuptlinge den Sohn des alten Álmos, Árpád, als den Anführer des stärksten Stammes »nach chasarischem Brauch und Gesetz« auf den Schild gehoben und nach Reiternomadenart ihre Abmachung mit einem »Blutsvertrag« besiegelt. Die spätere Überlieferung ließ jedenfalls Álmos und Árpád bereits als die vom Himmel erwählten ersten Führer des Volkes erscheinen. »Die Legende ist nicht etwa eine der Formen, sondern die einzige Form, in der wir Geschichte überhaupt denken, vorstellen, nacherleben können. Alle Geschichte ist Sage, Mythos und als solcher das Produkt unserer geistigen Potenzen: unseres Auffassungsvermögens, unserer Gestaltungskraft, unseres Weltgefühls«, schrieb Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit.7