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Über dieses Buch:

Vanilleduft, Zimtaroma und ein Hauch von Liebe liegen in der Luft … Alexandra ist Steuerberaterin, schreibt gerne Listen und ist mit ihrem geregelten Leben eigentlich sehr zufrieden. Bis an einem einzigen Tag alles vor ihren Augen zerfällt: Erst verliert Alexandra ihren Job - und dann erwischt sie auch noch ihren Freund Lars beim Fremdgehen! Bevor sie vollends verzweifeln kann, trifft sie eine gewagte Entscheidung: Obwohl sie überhaupt nichts vom Backen versteht, nimmt sie das Erbe ihrer verstorbenen Tante Effie an, ein kleines Café im Harz. Und schon bald bekommt Alexandra nicht nur tatkräftige Hilfe - auch die Liebe findet wieder einen Weg in ihr Herz …

»Romantische Lektüre!« LAURA

Über die Autorin:

Jana Seidel, geboren 1977, war schon immer von zu vielen unterschiedlichen Dingen fasziniert, um sich für einen ›ordentlichen‹ Beruf zu entscheiden. Im Schreiben fand sie daher den idealen Ausweg aus diesem Dilemma. Nach ihrem Magisterabschluss in Spanischer Literaturwissenschaft und Öffentlichem Recht arbeitete sie einige Jahre als Redakteurin. Heute lebt sie als freie Journalistin und Autorin glücklich zwischen Fiktion und Wirklichkeit - und als echte Lokalpatriotin mit Mann und Sohn im schönen Hamburg.

Jana Seidel veröffentlichte bei dotbooks auch ihre Romane »Ein Cottage zum Verlieben« und »Das Restaurant der süßen Träume«.

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eBook-Neuausgabe April 2020

Dieses Buch erschien bereits 2014 unter dem Titel »Mein zauberhaftes Café« im Goldmann Verlag

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut - Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Premier Photo / Roman Sigaev / Margo Harrison / Elif Guven / Zerbor / therealtakeone / KaMay / Songkran Wannatat / jakkapan / Patryk Kosminder

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96148-877-3

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Jana Seidel

Das Café der süßen Wunder

Roman

dotbooks.

1. Kapitel

Dienstag, 27. August

7.30 Uhr 20 Minuten Pilates-DVD durchturnen.

8.10 Uhr Rühreier mit Schinken (reines Eiweiß) + Fruchtsaft pressen (kalorienarme Kohlenhydrate).

8.30 Auf dem Weg ins Büro immer mal wieder den Beckenboden anspannen fürs Core-Gefühl und eine flache Mitte. Dabei Argumente für Gehaltserhöhung noch einmal durchgehen.

9 Uhr Kempowski auf Gehaltserhöhung ansprechen.

12.30 Uhr Würstchenbude links liegen lassen, frischen Salat ohne Brötchen und Croutons im Gemüseladen kaufen, dazu einen Becher Buttermilch.

18.30 Uhr Geschenk für Lars besorgen.

19 Uhr Step-Aerobic.

Das mit dem Step-Aerobic-Kurs ist glatt gelogen. Ich war nur ein einziges Mal in meinem Leben in einer Aerobic-Stunde - dabei habe ich die ganze Zeit verzweifelt auf die Uhr gesehen, weil ich die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Ich würde eigentlich nie jemanden direkt anlügen. Die Notiz ist nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Mein Freund Lars ist Buchprüfer beim Finanzamt und ein echter Spürhund, deswegen schreibe ich lieber nur nieder, was er getrost lesen darf. Und er soll nicht wissen, dass ich immer noch jeden Montagabend mit meiner besten Freundin Betty kitschige Vampir-Serien auf DVD gucke. Zum einen kann er sie nicht ausstehen. Was mir egal wäre. Aber neuerdings mäkelt er dauernd an meiner Figur rum und will mich ständig dazu ermutigen, schweißtreibenden Sport zu machen. Fair ist das nicht: Er ist selbst erst vor Kurzem, direkt nach seinem dreißigsten Geburtstag, auf den Sport-Dampfer aufgesprungen. Bloß weil sein blöder Freund Karl ihn an seinem Geburtstag leicht in den Bauch gepikst hat, der daraufhin etwas mehr nachgegeben hat, als es das durchtrainierte Sixpack eines Mittzwanziger täte. Dabei bevorzuge ich eigentlich Formen, die nicht vom Sport verdorben wurden. Und ich habe Glück, auch wenn ich mich nicht sehr anstrenge, bleibe ich schlank - das habe ich von meiner Mutter geerbt. Mit 30 habe ich immer noch Kleidergröße 38, wer will da mosern - abgesehen von Lars, meine ich? Um meine Ruhe zu haben, habe ich ihm erzählt, dass ich die Treffen mit den Mädels zugunsten des besagten Aerobic-Kurses sausen lasse. Weil ich Lars nicht gerne anlüge, schiebe ich zwischendurch, wenn mich das schlechte Gewissen packt, zumindest eine Pilates-DVD ein. Das bringt natürlich nicht viel, wenn man dabei auf dem Sofa sitzend heimlich Schokolade nascht, aber an Lars konnte ich auch noch keine körperlichen Veränderungen feststellen. Andererseits: Mehr nackten Körper, als sein Pyjama preisgibt, habe ich von ihm schon lange nicht mehr gesehen. Aber langjährige Beziehungen beruhen nun einmal eher auf Kameradschaft als auf glühender Leidenschaft.

Natürlich ist Betty noch nicht vollständig bekleidet, als ich um Punkt 19 Uhr bei ihr eintrudele. »Entschuldigung, habe den ganzen Tag im Schlafanzug gearbeitet und nicht auf die Uhr gesehen.«

Ich verdrehe leicht die Augen und schaue auf ihre knitterige Kombi mit Spiderman-Motiven: »Macht doch nichts.«

Betty ist freiberufliche Kinderbuch-Illustratorin und kann deshalb von zu Hause aus arbeiten. Ich glaube nicht, dass ich ohne Strukturen und mein geregeltes Einkommen klarkommen würde, aber für Betty ist es genau das Richtige. Statt Heidenangst zu empfinden, macht ihr das chaotische Leben einen Heidenspaß.

Meine älteste Freundin ist die Einzige, bei der ich meine akribische Pünktlichkeit manchmal für eine Schwäche anstatt für eine Tugend halte. Auch wenn meine Mutter immer betont hat, Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige. Es wundert nicht, dass sie von Betty nie begeistert war, die trotz unaufgeräumter Zimmer spielen gehen durfte und mich später zu so schlimmen Dingen wie heimlichem Rotwein-Konsum auf Jugendherbergs-Etagenbetten verleitetet hat. So oft ich meiner Mutter auch nachgegeben habe, an Betty hielt ich standhaft fest.

»Warte, ich ziehe mich kurz an. Such du doch schon mal die Filme raus.« Während Sie auf pinken Socken mit Antirutschnoppen ins Badezimmer hüpft, wühle ich mich durch den chaotischen DVD-Stapel direkt neben ihrem knallgrünen Ledersofa. Bei der Filmauswahl sind wir ziemlich wahllos, nur Vampir-Filme müssen es sein. Das anhaltend große Interesse an den Blutsaugern kommt uns sehr entgegen, denn es sichert den Nachschub. Die alten Christopher-Lee-Schinken, mit denen wir uns früher begnügen mussten, taugen leider eher als Komödien. Auch wenn wir uns die Faszination für die eiskalten Wesen nicht genau erklären können und eigentlich zu alt dafür sind, lässt die Begeisterung nicht nach.

»Vampire sind einfach sexy!«, behauptet Betty immer, die derzeit am liebsten »True Blood« guckt.

»Sie leben ewig. Was man in der Zeit alles schaffen könnte«, seufze ich und nehme, was ich kriegen kann, von mir aus sogar »Twilight«.

»Hat Lars nicht heute Geburtstag?«, fragt Betty verwundert, als sie aus dem Badezimmer kommt. Immer noch im Schlafanzug.

»Wolltest du dich nicht umziehen?«

»Lohnt sich jetzt doch eh nicht mehr. Also, warum feiert ihr nicht zusammen?«

»Er ist auf keinen Fall vor 20 Uhr zu Hause. Aber vielleicht trinken wir dann noch ein Glas Sekt«, murmele ich. Ich weiß, dass sie nicht viel von meiner Beziehung hält. Sie behauptet immer, ich würde irgendwann an Langeweile sterben. Doch Lars ist wirklich ein guter Kerl und gibt mir ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit. Und diese Eigenschaften werden meiner Meinung nach von der Gesellschaft total unterschätzt. Sie sind sogar so selten anzutreffen, dass man sie guten Gewissens als exotische und aufregende Raritäten betrachten kann. Es hat ein paar Jahre und ein paar Streitgespräche mit Betty gedauert, bis ich diese Theorie entwickelt hatte, doch nun halte ich an ihr fest.

»Und was schenkst du ihm?«, fragt Betty, während sie eine Tüte Chips aufreißt. Sie nimmt sich eine Handvoll und antwortet mit vollem Mund für mich: »Bestimmt eine neue Krawatte - oder etwas ganz Abgefahrenes ... einen neuen Bademantel?«

»Nein, einen Reiseführer«, sage ich leicht gekränkt und lehne mit einem Kopfschütteln die Chips ab, die Betty mir hinhält. Lars ... also Lars und ich finden es unsinnig, Geld in Geschenke zu investieren, wo wir doch beide genügend verdienen, um uns das meiste selbst zu kaufen. Deswegen gibt es zu festlichen Anlässen immer nur eine Kleinigkeit.

»Du bist doch nicht immer noch auf diesem Rohkost-Trip, oder? An dir ist doch kein Gramm Fett«, seufzt die etwas mollige Betty schwer und greift genüsslich wieder in die Tüte. In Wahrheit würde sie nicht im Traum daran denken, ein Gramm abzunehmen. Wenn sie nicht gerade im Pyjama herumläuft, trägt sie mit bemerkenswertem Selbstvertrauen diese hübschen 50er-Jahre-Kleider, die unten weit ausgestellt und oben tief dekolletiert sind und weiß genau, dass ihr keine Bohnenstange das Wasser reichen kann. Genau genommen sieht sie sogar in dem ollen Schlafanzug bezaubernd aus. Betty hat schon einige Herzen gebrochen, wartet aber derzeit mal wieder auf die ganz große Liebe. Und wie immer wird die sicher bald um die Ecke kommen. Betty stolpert so regelmäßig in große Lieben wie ich über Bordsteinkanten.

»Wieso überhaupt einen Reiseführer, mittlerweile müsstet ihr Mallorca doch in- und auswendig kennen?«, fragt sie.

»Deswegen bekommt er auch einen Menorca-Reiseführer. Dieses Jahr fliegen wir nämlich nicht nach Mallorca«, erkläre ich.

»Warum das, braucht Lars bei der vielen Arbeit plötzlich keinen vertrauten Rahmen mehr, um zu entspannen?« Ich versuche, ihre aufgesetzt schockierte Miene zu ignorieren. Man sollte Freundinnen wirklich nie etwas erzählen, das sie dann als Kanonenkugel gegen einen verwenden könnten.

»Es war sogar seine Idee«, entgegne ich trotzig.

Ich für meinen Teil habe nämlich schon längst aufgegeben, andere Urlaubsziele vorzuschlagen. Deshalb war ich insgeheim genauso überrascht wie Betty jetzt, als Lars auf die Menorca-Idee kam.

»Sehr mysteriös«, murmelt sie gespielt nachdenklich mit dem Zeigefinger an der Unterlippe. »Und schwimmen geht er auch noch. Midlife-Crisis?«

»Ach halt doch die Klappe«, rufe ich lachend. Trotzdem ist es ihr gelungen, das Grübel-Karussell in Gang zu setzen. Denn so langsam frage ich mich auch, was Lars genau meinte, als er sagte, er fühle sich ein wenig in Aufbruchstimmung und wolle mal etwas ganz Neues ausprobieren.

»Okay, okay. Hast du mit deinem Chef über eine Gehaltserhöhung geredet?«, will Betty wissen und betritt bei ihrem galanten Themenwechsel erneut Glatteis. Nur dass ich das Gefühl habe, dass im Zweifelsfall ich darauf ausrutsche.

»Klar. Er meinte, wenn ich mich weiter so gut schlage, sei es nur noch eine Frage der Zeit«, sage ich ausweichend. Ich sehe Betty die Zweifel an, dabei war ich doch im Gespräch mit Herrn Kempowski so stolz auf mein Verhandlungsgeschick.

»Wollen wir nun den Film gucken oder wollen wir den ganzen Abend mein Leben sezieren?«, werfe ich ein. Ich mag es nicht, wenn andere Menschen, und dazu zähle ich sogar meine Freundin Betty, ungefragt ihre Nase in meinen Kram stecken und alles infrage stellen. Das verkompliziert doch die Dinge nur. Außerdem bekomme ich dabei immer so ein komisches Gefühl im Magen, als würde ich die ganze Zeit etwas übersehen.

»Ich mache mir doch nur Sorgen um dich«, erklärt Betty. Bevor ich irgendetwas sagen kann, fährt sie fort: »Du wirkst in letzter Zeit so blass und abgespannt. Und die Gehaltserhöhung hat er dir doch schon vor fünf Jahren oder so versprochen.«

Eigentlich war es vor sechs Jahren. Das ist ein wunder Punkt, denn eigentlich glaube ich, dass ich eine verdammt gute Steuerfachangestellte bin und mehr Geld verdient hätte, als Kempowski zu zahlen bereit ist. Viele Leute zucken erschrocken zusammen, wenn ich ihnen sage, was ich beruflich mache. Steuern scheinen etwas so abgrundtief Böses zu sein, dass man sie am besten nicht beim Namen nennt. Aber was glauben die Leute denn, wo die staatlichen Leistungen, an denen sie wiederum ganz gerne teilhaben, herkommen? Doch auch wenn keiner sie zu mögen scheint, muss jeder Steuern zahlen. Deswegen gehen Steuerberater nie pleite, sondern erleben eine Insolvenz höchstens mal als begleitender Beobachter.

»Und welchen Film hast du ausgesucht?«, fragt Betty betont fröhlich. Erleichtert sehe ich, dass sie meine Stimmungsschwankung bemerkt haben muss und bereit ist, das Thema zu wechseln. Leider lässt sich die plötzliche Niedergeschlagenheit, die ihre Fragen ausgelöst haben, nicht an- und ausknipsen wie ihr Fernseher. Mechanisch halte ich ihr dennoch die erste DVD hin, die ich greifen kann. Viel lieber würde ich ihr die Chipstüte aus der Hand reißen und alles in mich reinstopfen. Stattdessen wühle ich standhaft in meiner Handtasche nach dem Beutel mit den vorgeschnittenen Karotten.

In einem Punkt hat Betty leider recht, ich fühle mich tatsächlich seit einer Weile ständig tief erschöpft. Dabei habe ich weder übertriebenen Stress noch so wirre Arbeitszeiten wie meine selbstständige Freundin. Und doch ist es mir gerade erst gestern zum wiederholten Male passiert, dass ich abends neben Lars eingeschlafen bin, während er mir noch Anekdoten aus seinem Arbeitsalltag erzählte.

Vermutlich werde ich einfach nur älter. Zu klagen habe ich jedenfalls nicht: Im Gegensatz zu Betty habe ich eine funktionierende Beziehung und muss mir nie Gedanken machen, wo am Ende des einen Monats das Geld für den nächsten herkommt. Nicht mal miese Zeiten könnten mich ernsthaft gefährden. Ich habe ziemlich viel Geld auf der hohen Kante. Lars hat eine Eigentumswohnung. Deswegen konnte ich über die Jahre ein üppiges Sümmchen ansparen. Obwohl ich das ganze Hausgeld für unsere Wohnung allein bezahle, ist das immer noch viel billiger als die Mieten in Hamburg. Zwar verdient Lars fast das Doppelte, aber er stellt schließlich »das Rohmaterial« ,wie er es gerne nennt. Damit meint er unsere vier Wände.

***

Danke für den Reiseführer, den werde ich gleich im Bett lesen«, sagt Lars und drückt mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Unsere Sektgläser füllt er nur halb. »Schließlich müssen wir morgen noch arbeiten, und ich bin ganz erschöpft vom Training. Sei nicht böse, wenn ich heute früh schlafen gehe.«

»Nein, das ist schon in Ordnung«, sage ich und schlucke einen kleinen Kloß hinunter. Sicher noch die Nachwirkungen von meinem Gespräch mit Betty, denn eigentlich neige ich nicht zur Gefühlsduselei.

Als wir nebeneinander im Bett liegen und das Licht ausgeschaltet haben, reißt mich das Klingeln von Lars' Handy aus dem seligen Zustand zwischen Dämmern und Tiefschlaf. Ich schrecke hoch und sehe Lars, der sich das Telefon vom Nachttisch gegriffen hat und nun das Display anstarrt.

»Wer ruft dich denn jetzt noch an?«, ächze ich, während ich mich ungeschickt aufrichte.

Lars antwortet nicht gleich.

»Oh nein, ist etwas Schlimmes passiert?«, frage ich plötzlich hellwach. Um diese Uhrzeit kann es sich doch nur um einen Notruf handeln.

»Das glaube ich nicht«, antwortet Lars zögernd und steht auf. »Das ist nur Klaus. Ich rufe ihn mal eben zurück.«

»Um Mitternacht?«

»Stress mit seiner Freundin«, antwortet Lars einsilbig. »Ich kümmere mich mal kurz um ihn. Schlaf weiter.«

Halbwegs beruhigt sinke ich wieder auf mein Kissen. Auch wenn ich nicht begeistert bin, aus dem Schlaf gerissen worden zu sein, freut es mich, dass Lars offenbar seine Hilfsbereitschaft entdeckt hat. Wenn mich etwas an ihm stört, dann vielleicht, dass er immer darauf beharrt, jeder Mensch müsse seine Probleme alleine lösen, um im Leben voranzukommen. Doch zumindest Menschen, die einem nahestehen, haben ab und zu eine helfende Hand verdient, denke ich.

Doch Klaus' Schicksal scheint Lars wirklich an die Nieren zu gehen. Nachdem er sich wieder unter die Decke verkrochen hat, wälzt er sich unruhig hin und her. Egal, was Betty von Lars hält: Er ist doch ein grundanständiger Kerl.

»Konntest du ihm helfen?«, will ich wissen.

»Bitte? Ach so, ja, ja. Schon viel besser.«

»Gut«, seufze ich und kuschele mich zur Feier des Tages enger an ihn. Er zuckt überrascht zusammen, legt dann aber leicht den Arm um mich.

***

Mittwoch, 28. August

8.30 Uhr Auf dem Weg ins Büro Briefe einwerfen.

8.50 Uhr Treppen statt Aufzug nehmen.

12.30 Uhr Der Würstchenbude standhalten, frischen Salat ohne Brötchen im Gemüseladen kaufen, dazu zur Abwechslung eine Schale Hüttenkäse.

13 Uhr Mama anrufen!

Dies ist unser fixes Telefondate. Gegenseitige Zuwendung nach Terminkalender klingt vielleicht nicht sehr anheimelnd, aber wir lassen uns eben beide nicht so gerne überraschend aus anderweitiger Beschäftigung herauszerren. Gerade als ich die Nummer wählen will, klingelt schon mein Telefon. Es ist meine Mutter. Wie ungewöhnlich, sonst rufe ich immer an.

»Effie ist gestorben«, sagt sie. Sie klingt ein wenig aufgelöst, fast so, als ob sich möglicherweise eine Strähne aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst haben könnte.

Tante Effie? Ein paar verschwommene Bilder tauchen auf - eine Schaukel unter einem Apfelbaum, ein wehendes weißes Gewand ... Aber wir haben die ältere Schwester meiner Mutter mindestens zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Sie war zehn Jahre älter als meine Mutter, müsste also ungefähr 7o gewesen sein, rechne ich mir aus. Warum die beiden den Kontakt abgebrochen haben, wurde in unserer Familie totgeschwiegen. Es gab Andeutungen, man habe sich nicht mehr so gut verstanden. Effie war wohl so etwas wie das schwarze Schaf der Familie, mit einem liederlichen Lebenswandel. Vielleicht hat sie ein Bordell betrieben oder so etwas.

Als ein merkwürdig fremdes Geräusch meinen Gedankenfluss unterbricht, halte ich das zuerst für eine Störung in der Leitung. Es ist aber meine Mutter, die schluchzt. Ich habe sie nur einmal weinen gesehen, und da ist Prinzessin Di gestorben. Die Liebe zu Aristokraten ist ihre wohl einzige Schwäche - so blutleer, unnahbar und schön wie meine Vampire. Hilflos warte ich ab, was als Nächstes passiert.

»Am Freitag ist die Beerdigung. Dein Vater will sich dafür nicht extra einen ganzen Tag freinehmen. Ich verstehe voll und ganz, wenn du das so spontan auch nicht einrichten kannst, aber ich könnte gut etwas Hilfe beim Sortieren von Effies Sachen gebrauchen.« Vielleicht war es doch nur ein Rauschen im Telefon. Ihre Stimme klingt vollkommen gefasst. So gefasst, dass ich mich beinahe dafür entscheide, sie nicht auf die Beerdigung einer fast fremden Frau zu begleiten. Aber es ist mir schon immer schwergefallen, meiner Mutter etwas abzuschlagen. »Natürlich begleite ich dich, Mama.«

Ich bereue die Zusage im gleichen Moment. Und dann ist da plötzlich noch dieser gruselige Gedanke: Zehn Jahre Altersunterschied zwischen den Schwestern? Meine Mutter ist doch wohl noch lange nicht in dem Alter, in dem Menschen sterben? Wir sind vielleicht keine Familie, in der man sich ständig herzt und knuddelt, doch der Gedanke, ganz ohne Blutsverwandte dazustehen, macht mir Angst.

»Woran ist sie denn gestorben?«, frage ich.

»Es war ein Herzinfarkt. Ganz plötzlich. Ich habe ihr immer gesagt, eine Diabetikerin sollte ihr Geld nicht mit süßen Kuchen verdienen. Aber sie war ja so leichtfertig!«

Ich tippe, das süße Naschwerk soll kein Sinnbild für irgendetwas unterhalb der Gürtellinie sein. Tante Effi war Tortenbäckerin? So viel also zum Bordell ...

»Wann hast du ihr das gesagt? Ich dachte, ihr hättet gar keinen Kontakt mehr? Und als ihr jung wart, war sie doch bestimmt keine Diabetikerin.«

Meine Mutter hickst, und ihre Stimme zittert ein wenig, als sie abwiegelt. »Wir haben uns immer an unseren Geburtstagen angerufen. Das gehört sich einfach so.«

Natürlich, Geschwister rufen sich an ihren Geburtstagen an, selbst wenn sie sich sonst die Krätze an den Hals wünschen.

»Meine Mittagspause ist in fünf Minuten zu Ende«, stelle ich mit einem Blick auf die Uhr fest.

»Dann beeilst du dich jetzt besser. Ruf mich bitte heute Abend noch einmal an, damit wir alles genau verabreden können.«

Gut, mir bleiben noch drei Minuten Zeit, um in meinen Notizen ein paar Korrekturen einzuarbeiten.

***

19.50 Uhr Fetten Seefisch (Omega-3), am besten Hering, mit gegrillter Paprika (Vitamin C+E)

20.25 Uhr Die Wirtschafts-Doku im Fernsehen gucken.

21.45 Uhr Zähne reinigen - Zahnzwischenraumbürstchen nicht vergessen.

22 bis 7 Uhr Regenerierender Schlaf.

20 Uhr DVD-Recorder zur Aufnahme programmieren.

20.15 Uhr Mama anrufen.

20.30 Uhr Gemüsesuppe aus der Dose am besten mit Linsen (Hülsenfrüchte).

Lars isst ungern nach 21 Uhr, deswegen plane ich lieber ein ganz schnelles Gericht ein. Außerdem messen wir der Nahrungsaufnahme nicht allzu viel Wert bei - wir versuchen nur auf eine vernünftige Nährstoffversorgung zu achten.

Als ich wieder im Büro an meinem Arbeitsplatz sitze, höre ich laute Stimmen aus dem Nebenzimmer. Das ist ungewöhnlich, denn eigentlich ist mein Chef, Dr. Karl Kempowski, von der eher ruhigen Sorte. Doch der durchdringende Bariton gehört zweifellos zu ihm. Mir wird ganz unbehaglich - dies ist das erste Mal, dass ich ihn brüllen höre. Nach einer Erklärung suchend sehe ich mit erhobenen Augenbrauen zu Frau Theobald, der Sekretärin, die gerade den Raum betritt. Doch die zuckt nur mit den Achseln.

»Ich weiß auch nicht, was da los ist. Ich dachte, Sie wären vielleicht eingeweiht.«

Ich lächele sie beschwichtigend an. »Niemals würde Herr Kempowski mir irgendetwas anvertrauen, das Sie nicht schon längst wüssten.«

Geschmeichelt errötet sie. Insgeheim ist sie nämlich in den Chef verknallt, und das vermutlich schon seit dreißig Jahren oder so - beide sind etwa Mitte 5o und ich weiß, dass sie schon immer für ihn gearbeitet hat, nur nicht wie lange das »schon immer« in Jahren gedauert hat. Das Gebrüll geht weiter, aber ich kann keinen verständlichen Satz raushören. Frau Theobalds gerade erst gerötete Wangen werden wieder blass, mit Sorgenfalten auf der Stirn verlässt sie das Zimmer. Den Blick hat sie dabei auf die Wand zwischen Kempowski und mir gerichtet, als erhoffe sie sich, das Mauerwerk würde plötzlich verschwinden.

Was ist denn heute nur mit den Menschen los? Ich schaue aus dem Fenster und fächere mit dem Ausschnitt meiner Bluse Luft in mein Dekolleté. Dies ist der heißeste Augusttag, den ich je erlebt habe, doch in der Ferne ziehen dunkle Wolken auf. Auch wenn ich selbst nicht wetteranfällig bin, habe ich schon öfter beobachtet, dass anhaltende Schwüle merkwürdige Dinge mit den Stimmungen der anderen anstellt.

Endlich öffnet sich die Verbindungstür, und ich höre zumindest einmal einen vollständigen Satz.

»Das kannst du nicht tun!« Das war Kempowski, der mittlerweile ein wenig heiser klingt.

Ganz offenbar kann sein Gesprächspartner doch. Ohne meinen Chef einer Antwort zu würdigen, schlüpft Matthias Zimmermann in mein Zimmer. Als prominenter Hamburger Unternehmer ist er schwerreich. Laut den Tratschblättern in unserem Wartezimmer gehört er aber nicht nur deswegen zu den zwanzig begehrtesten Junggesellen der Stadt, sondern auch wegen seines aparten Äußeren. Nicht, dass ich das nachvollziehen könnte. Sein anzügliches Grinsen ist mal wieder absolut abstoßend. Für ihn muss der Streit wohl besser gelaufen sein als für Kempowski.

»Ich glaube, Sie müssen Ihren Chef ein wenig trösten. Der dreht sonst noch durch.« Mit einem letzten Augenzwinkern in meine Richtung schreitet er zur Tür hinaus.

Ich verzichte darauf, seinen Rücken als Zielscheibe für meinen Brieföffner zu missbrauchen, und genieße für einen Moment die wohltuende Stille. Nach einer Weile schlägt sie aber ins Beunruhigende um. Vergeblich warte ich darauf, dass mein Chef sein Zimmer verlässt, um den Vorfall zu kommentieren. Es ist rein gar nichts zu hören, kein Quietschen von Schritten auf dem Linoleum, nicht das kleinste Atemgeräusch. Mein Bauchgefühl rät mir, dass ich mal nach ihm sehen sollte. Gleichzeitig empfiehlt es mir, genau das zu lassen, weil die Situation unangenehm werden könnte. Ein Unheil verkündendes Klirren nimmt mir die Entscheidung ab. Erschrocken springe ich auf, wofür sich mein Kreislauf mit Sternen vor den Augen bedankt. Es ist einfach zu heiß. Etwas langsamer gehe ich zu seiner Tür. Kaum habe ich die Schwelle übertreten, stehe ich schon in einer Pfütze aus Wasser, oxfordgrünen Glasscherben und geschundenen Blumen. Er hat also tatsächlich die Vase an die Wand geworfen. Sie war der einzige Schmuck seines Schreibtischs, angeschafft von Frau Theobald, um dem Raum eine anheimelnde Atmosphäre zu verleihen. Mir tut unsere Sekretärin leid, hätte er nicht irgendetwas anderes werfen können? Der Anblick dieser Scherben wird ihr sehr wehtun. Doch auch wenn der Verlust der Vase schwer wiegt, ist er wohl kaum der einzige Grund für die ungemütliche Stimmung im Raum. Der kleine Ausbruch muss Kempowski alles abverlangt haben. Er ist zu einer Statue des Glöckners von Notre Dame erstarrt. Mit tief hängenden Schultern schaut er mir direkt in die Augen, ohne mich zu sehen.

»Alles in Ordnung?«, frage ich mit fester Stimme, bevor es zu gruselig wird. Das ist natürlich eine rein rhetorische Frage, denn hier ist eindeutig gar nichts in Ordnung. Doch zumindest hat meine Stimme ihn aufgeweckt. Als hätte man das Uhrwerk an einem Spielzeugkaninchen zu schwach aufgezogen, zuckelt er zittrig um seinen Tisch herum und lässt sich in seinen Stuhl sinken. Ich räuspere mich. »Soll ich vielleicht später noch mal wiederkommen?«

Ich bin schon halb aus dem Raum raus, als ein Gurgeln aus seinem Mund kommt. »Nein, bleiben Sie, Frau Petersen. Wir müssen reden.«

Als ich mich umdrehe, fixiert er mit geschlossenen Lippen die kleine Büro-Golfanlage, seinen Rechner, das Bücherregal - nur mich sieht er nicht an. Diesen Blick zumindest kenne ich. Er verkündet die Art von Unannehmlichkeiten, bei denen sich Kempowski so gerne aus der Affäre zieht. Unangenehme Botschaften zu überbringen oder auch nur Klienten zu bedrängen, endlich ihre Belege für Ausgaben nachzureichen, ist stets meine Aufgabe gewesen. An wen würde er es wohl delegieren, mir etwas Unschönes mitzuteilen?

»Es tut mir leid, Frau Petersen, ich fürchte, Sie müssen sich einen neuen Job suchen«, rattert er seinen Auftrag herunter. Diesmal schaut er dabei aus dem Fenster. »Würden Sie Frau Theobald bitte für mich vorwarnen? Sie arbeitet seit dreißig Jahren für mich, und ich fürchte, es wird sie vollständig umhauen.«

»Ist gut«, sage ich gleichmütig. Doch dann rastet das richtige Rädchen in meinem von der Hitze aufgeweichten Getriebe ein: Er hat mich gerade gefeuert. Das kann einfach nicht sein. Es wird sich sofort alles klären. Wir haben doch gerade noch über eine Gehaltserhöhung gesprochen. Und was hat Frau Theobald mit der ganzen Angelegenheit zu tun?

»Ich verstehe nicht ganz ...«, stammele ich.

Er blickt immer noch starr aus dem Fenster und brabbelt wirres Zeug, das für mich so klingt, als habe er sich mit Zimmermann kräftig in Sachen Steuerhinterziehung geübt. Dummerweise haftet er für die »kleinen Fehler« in den Steuererklärungen, die nun leider aufgeflogen sind. Ausbaden muss er die schmutzige Angelegenheit aber nicht alleine - Frau Theobald und ich gehen mit ihm unter. Angestrengt denke ich nach. Wir Petersens werden nicht gefeuert, wir haben auch keine Probleme, sondern immer eine vernünftige Lösung. Das Mantra meines Vaters ist mir längst selbst in Fleisch und Blut übergegangen.

»Aber dagegen sind wir doch versichert«, sage ich am Ende erleichtert und ein bisschen triumphierend.

»Wäre dies eine Fahrlässigkeit, würde das zutreffen, ja«, entgegnet er müde.

Stimmt, ich hatte vergessen, dass Kempowski mit voller Absicht gehandelt hat. Ich spüre, wie mir Tränen der zornigen Hilflosigkeit in die Augen steigen.

»Heulen bringt nichts, reiß dich zusammen«, höre ich nun die strenge Stimme meiner Mutter in meinem Kopf Doch selbst die kann nicht verhindern, dass mir ganz flau im Magen wird. Und dann werde ich wütend, unglaublich wütend. Auf mich. Auf Kempowski. Auf Zimmermann. Auf diese ganze himmelschreiende Ungerechtigkeit. So unfassbar wütend, dass ich kurz davor bin, Kempowski meine Meinung zu seinen üblen Machenschaften zu sagen. Und ich dachte immer, er sei einfach nur ein etwas steifer, aber freundlicher älterer Herr. In letzter Sekunde stoppt mich seine Ehefrau, die in diesem Moment hereingeschneit kommt. Welch passender Moment! Dann kann sie sich jetzt ja um ihren Ehemann kümmern. Zumindest für seine Frau hat er Augen. Er sieht sie so flehend an, dass ich gegen meinen Willen Mitleid empfinde.

»Schatz ...«, fängt er an und bricht hilflos wieder ab.

Elvira Kempowski macht keinerlei Anstalten, ihren »Schatz« tröstend in die Arme zu schließen. Eiskalt fixiert sie uns alle beide, als hätte sie uns bei einer verbotenen Umarmung erwischt. Igitt, als ob ich so etwas tun würde.

»Alexandra, würden Sie uns bitte allein lassen.« Obwohl sie nicht hier arbeitet, ist sie die Einzige in diesem Büro, die mich ständig beim Vornamen nennt. Dennoch nutze ich gerne die Gelegenheit zu verschwinden - nur um im Vorzimmer auf die schluchzende Frau Theobald zu stoßen. Verflixt.

»Haben Sie etwa alles mit angehört? ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Tut mir so leid ... für uns beide.«

Schniefend und mit geröteten Augen sieht sie mich an. »Diese entsetzliche Frau ...« Der Rest geht in einem Tränenmeer unter.

Unbeholfen lenke ich sie zu einem Stuhl und bitte sie, erst mal Platz zu nehmen.

»Ich mache uns erst mal einen Tee«, sage ich schnell. Ich muss einmal tief durchatmen und überlegen, wie ich vorgehe. Mit Gefühlsaufwallungen anderer Menschen kann ich nicht umgehen, habe ich nie gelernt. Bei uns zu Hause war Selbstbeherrschung angesagt - uns selbst und unserer Umgebung zuliebe.

»Sie liebes Mädchen«, murmelt sie, und ich fühle mich erbärmlich, weil ich ja eigentlich nur meinem Fluchtinstinkt nachgebe.

Als die dampfende Tasse vor ihr steht, kann Frau Theobald zumindest wieder in vollständigen Sätzen reden. Ich habe unter ihren unzähligen Teesorten, die nicht nach ihren Inhaltsstoffen, sondern nur nach ihrer Psychowirkung benannt sind, die Sorte »Seelentröster« gewählt. Hoffentlich helfen die Blätter wirklich! Kurz frage ich mich, ob man die vielleicht auch rauchen oder schnupfen kann, damit es schneller ins Hirn geht. Denn eigentlich könnte ich auch eine Prise Trost gebrauchen.

»Sie hat gesagt, ich hätte doch schon immer ein Auge auf ihren Mann geworfen und könne ihn nun endgültig haben. Dieses undankbare Biest. Was glaubt sie denn, wer immer ihre Geburtstagsgeschenke ausgesucht hat - die Blumen, den Schmuck. Da hab ich mich nie lumpen lassen.«

Selbst ein Gefühlslegastheniker wie ich weiß, dass es an dieser Stelle nicht angebracht ist, darauf hinzuweisen, dass es ja gar nicht ihr Geld war, das sie so großzügig für Frau Kempowski ausgegeben hat. Aber in anderer Hinsicht muss es wirklich hart für sie gewesen sein. Denn schließlich hatte die schreckliche Elvira an einem Punkt recht: Frau Theobald ist nun einmal für jedermann offensichtlich in Kempowski verknallt, aber absolut nicht sein Typ. Ihr Herz mag so viel besser sein als das von Frau Kempowski, doch ist ihr Haar weniger blond, ihre Figur ähnelt weniger einer Sanduhr, und mit knalligem Lippenstift würde sie wie ein Transvestit aussehen. Sie ist ein spätes, brünett bis leicht angegrautes Mädchen. Ich werde wohl so ähnlich enden, aber immerhin werde ich Lars haben - wenn ich schon ohne Arbeit dastehe ...

Unbeholfen versuche ich weiterhin, Frau Theobald zu beschwichtigen, bewirke aber nur, dass sie sich noch lauter schluchzend in der Toilette verbarrikadiert. Erschöpft lasse ich mich auf meinen eigenen Stuhl fallen und starre auf den Rechner. Zumindest wird im Chefbüro nicht mehr gebrüllt. Eine hohe Stimme äußert scharfe, schneidende Worte.

20.30 Uhr Betty anrufen.

Ich muss unbedingt mit jemandem reden - und zwar nicht mit Lars oder meiner Mutter. Lars werde ich erst einweihen, wenn ich eine Lösung habe, und meine Mutter hat genug um die Ohren. Abgesehen davon weiß ich genau, dass die zwei eine Möglichkeit finden würden, mir die Schuld für mein Job-Desaster zuzuweisen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass beide ein Herz und eine Seele sind? Und meine Mutter würde es zu allem Überfluss meinem Vater erzählen, dem strengen Richter und Arbeitstier, unser aller Vorbild, der nie verstanden hat, warum ich nicht auch Jura studieren wollte. Inzwischen weiß ich auch nicht mehr genau, wie es mir gelungen ist, das abzuwehren. Aber mein Vater hatte mit 5o schon zwei kleine Infarkte hinter sich - und das hat mich irgendwie so sehr abgeschreckt, dass ich die Kraft aufgebracht habe, mich gegen den Willen meiner Eltern für eine Ausbildung zu entscheiden.

Die Frau meines Chefs zischt an mir vorbei. »Tschüss, Alexandra«, flötet sie mit einem maliziösen Lächeln. »Würden Sie sich ein wenig um meinen Mann kümmern? Ich glaube, ihm geht es nicht so gut.«

Verärgert schaue ich ihr nach. Als mich das letzte Mal jemand gebeten hat, sich um meinen Chef zu kümmern, habe ich meinen Job verloren. Darauf falle ich nicht noch mal rein. Am Ende dieses verlorenen Nachmittags, an dem ich zu nichts anderem gekommen bin, als mich um Frau Theobald zu kümmern, weiß ich nicht, wie ich mich von meinem Chef verabschieden soll. Dafür habe ich gelernt, dass es möglich ist, für einen Menschen tiefes Mitleid zu empfinden und gleichzeitig stocksauer auf ihn zu sein.

Dennoch scheint mir Höflichkeit angebracht, zumal die Möglichkeit besteht, dass Kempowski mich über seine Kontakte bei einem anderen Steuerberater unterbringen kann. Arbeitslosigkeit - schon dieses Wort ist in meiner Familie ein absolutes Tabu. So wie wir auch nicht über Hämorriden und Geschlechtskrankheiten reden würden. Wir bewahren Haltung in jeder Lebenslage. Ruhig und gefasst begebe ich mich also in das Zimmer meines Noch-Chefs. Schon in der Tür strömt mir der üble Geruch entgegen. Die schmucke Whiskykaraffe ist vollkommen leer. Kempowski hängt mehr zwischen den Armlehnen seines Stuhls, als dass er sitzt. Wenn das so weitergeht, werde ich innerhalb eines einzigen Arbeitstages meine gesamte Achtung vor diesem Menschen verloren haben.

»Sie sind ja noch hier?«, lallt er.

»Ja, aber ich wollte gerade gehen.«

»Da sind Sie nicht die Einzige. Meine Frau hat mich auch verlassen«, ächzt mein Boss.

Dieser Tag wird immer unwirklicher. Obwohl mich seine Raffgier meinen Job gekostet hat, kann ich auf diesen zusammengesunkenen Kerl nicht mehr so wütend sein, wie er es verdient.

»Das war sicher nur der Schreck. Man wirft doch eine so lange Beziehung nicht einfach so weg. Sie kommt sicher zurück«, tröste ich ihn, ohne wirklich daran zu glauben. Doch eine Auszeichnung für die einfühlsamste gefeuerte Arbeitnehmerin der Welt werde ich wohl nicht erhalten. So wie Frau Theobald reagiert auch Kempowski auf meine wärmend gedachten Worte nur mit einem lauten Schluchzen. Er lässt den Kopf auf die Schreibtischplatte fallen. Und zwar so richtig. Mit einem lauten Klonk. »Kommt sie nicht. Sie verlässt mich für ihn«, wimmert er und deutet auf die Tür. Verwirrt schaue ich auf den Türrahmen, bis mir der Gedanke kommt, dass er wohl Zimmermann meinen muss. Er war der einzige Mann, der dieses Zimmer heute verlassen hat. So ein durchtriebenes Miststück. Wenngleich, doof ist sie nicht: Der Ochse ist ausgeblutet, dann zapfe ich doch gleich die bisherige Quelle seines Vermögens an - den wohlhabenden Klienten. Weil ich das besser nicht laut sage, tätschele ich einmal ganz schnell seine Schulter und murmele: »Tut mir echt leid.« Gerade will ich aus dem Raum rennen, als er mich plötzlich am Arm packt.

»Es tut mir wirklich leid für Sie. Die drei Monatsgehälter, die Ihnen nach der Kündigung noch zustehen, kann ich sicher noch zusammenkratzen.«

Er sieht so wahnsinnig erschöpft aus. Ich kann ihm nicht zumuten, noch Geld für irgendjemanden als sich selbst auftreiben zu müssen.

»Ich finde schon etwas. Sie können mich ab sofort von Ihrer Gehaltsliste streichen.« Ich beiße mir auf die Lippe, weil ich einem dummen Mitleidsimpuls gefolgt bin, den ich noch bereuen werde. Spätestens wenn Lars davon erfährt. Berufliche und finanzielle Entscheidungen sollte man wirklich nicht nach einem spontanen Bauchgefühl treffen.

Der Gestank von Whisky und Verzweiflung hat mir die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn abgewürgt.

Erschöpft verlasse ich das Zimmer. Ich muss mich erst mal setzen. Doch da fällt mir sofort Frau Theobald um den Hals. Langsam bekomme ich Übung darin. Viel beherzter, als ich es bei Kempowski getan habe, tätschele ich ihr ein wenig die bebende Schulter. »Kümmern Sie sich noch ein bisschen um Herrn Kempowski. Ich mache mir Sorgen um ihn.«

»Aber was wirst du denn jetzt machen, Kind?« So sehr sie sich auch anstrengt, schafft sie es nicht, das Schniefen zu unterdrücken. Ihre Frage hat mich auf dem falschen Fuß erwischt, ich hatte noch keine Gelegenheit, mir Gedanken um mich selbst zu machen. Was mache ich denn jetzt? Muss ich mich nicht sofort arbeitslos melden? Ich denke an zahllose TV-Dokumentationen über Hartz-IV-Empfänger, die den Zuschauern vorführen müssen, dass man mit etwas guter Planung für nur zwei Euro am Tag prima gesund kochen kann. Diese Welt war für mich bislang ebenso exotisch wie die der Berggorillas am Kongo.

Nach kurzem Überlegen höre ich meine erschütternde Antwort: »Ich habe keine Ahnung.«

***

16 Uhr Zutaten kaufen.

18 Uhr Mit den Vorbereitungen anfangen.

19.30 Uhr Lars bei romantischem Abendessen mitteilen, dass ich keinen Job mehr habe und übers Wochenende verreisen werde.