Die Zeit vergeht, die tägliche Nachrichtenarbeit stiehlt uns die Tage, und nach Lisas Anruf bei Aba trifft es uns fast unerwartet: Das erste Interview steht an.
Bei unserem Treffen auf der Couch war klar, dass wir uns ein Sendungskonzept ausdenken möchten. Keine leichte Aufgabe, und nichts, was man zwischen Tür und Angel schnell nebenbei macht. Jetzt tickt die Uhr. Morgen wird das Gespräch mit Aba Lewit stattfinden, und auch wenn wir noch nicht wissen, wohin uns die Reise führen wird, muss Lisa morgen alles einholen, was für eine Doku vielleicht notwendig werden wird.
Punkt drei Uhr ist ausgemacht, im kleinen Sitzungsraum. Ich krame Stifte und Blöcke zusammen, Lisa kommt beladen mit Laptop und einem Berg Zetteln zum Treffpunkt. Dann schließen wir die Tür. Jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht. Das haben wir zumindest vor.
Ich bewaffne mich mit einem schwarzen Edding, und Lisa beginnt, von ihren Recherchen zu erzählen.
Aba Lewit, lebt in Wien. Inzwischen verwitwet, war mit einer Frau verheiratet, die im KZ -Auschwitz gewesen ist. Hat mehrere Konzentrationslager überlebt.
Zweite Möglichkeit: Esther Bejarano. Eine Musikerin und Sängerin, lebt in Hamburg. Hat in Auschwitz im sogenannten „Mädchenorchester“ gespielt. Singt jetzt in einer Band mit ihrem Sohn und einem muslimischen Rapper.
„Was war das Mädchenorchester? Wo haben die gespielt?“
Ich habe davon noch nie gehört.
„Die mussten für die Leute spielen, die auf dem Weg in die Gaskammern waren. Damit sie geglaubt haben, alles sei in Ordnung.“
Dieser Gedanke schockiert mich, er ist abartig und grauenhaft, und es wird nicht das letzte Mal sein, dass mich die mörderische Kreativität der Nazis fassungslos zurücklässt.
Dritte Möglichkeit: Jehuda Bacon. Lebt in Jerusalem. Ist Maler und war einer der „Birkenau Boys“.
„Eine Gruppe von Buben, die in Auschwitz Botendienste erledigen mussten“, erklärt Lisa.
Ich schreibe alle drei Namen an die Tafel, notiere die Orte und die Stichworte. Nur das Interview mit Aba Lewit ist bis jetzt fixiert. Die zwei anderen sind Lisas Wunschkandidaten.
„Vielleicht hat Abas Frau das Mädchenorchester in Auschwitz spielen sehen“, sage ich. Ich suche nach Verbindungen, nach Anknüpfungspunkten der drei Überlebenden. Was ich an der Tafel sehe, gefällt mir sehr: eine Musikerin, ein Maler. Ein Mann, der „eigentlich nicht mehr leben dürfte“, wie Lisa es bezeichnet.
„Das klingt nicht sehr nett“, antworte ich. Die Doppeldeutigkeit des Satzes bringt uns zum Lachen. Der Sog der Arbeit treibt uns voran, alles funktioniert mühelos.
Wir teilen die Interviewpassagen in zeitliche Abschnitte:
Wann und wie haben Sie gemerkt, dass sich etwas in der Gesellschaft verändert?
Wie war der Alltag im KZ?
Wie war die Befreiung?
Wie ist das Leben danach weitergegangen?
Können Sie vergeben? Können Sie vergessen? Wie ist es möglich, nach solchen Erfahrungen weiterzuleben?
Weil alle drei um die 90 Jahre alt sind, planen wir die Interviews im Sitzen, in ihrer Wohnung. Übers große ORF-Archiv möchten wir versuchen, historische Aufnahmen zu finden, die das Erzählte illustrieren. Das Sendungskonzept nimmt nach und nach Formen an. Doch ein wichtiger Punkt fehlt noch.
„Welche Rolle spielst du in dem Ganzen?“, frage ich.
Lisa überlegt. Überlegt lange.
„Ich höre zu. Stellvertretend. Nicht jeder hat die Möglichkeit, mit Zeitzeugen zu sprechen.“
„Und was haben diese alten Geschichten mit dir zu tun?“
Fragen wie diese zu stellen gehört zu meiner Arbeit. Lisa weiß das und steigt ein, ohne sich irritieren zu lassen.
„Vielleicht … naja, vielleicht bin ich jemand, der die Aufgabe hat, ein Vermächtnis weiterzugeben.“
Ich schreibe in großen Buchstaben „DAS VERMÄCHTNIS“ auf die Tafel. Es klingt wie ein Thriller von Dan Brown. Lisa lacht und schüttelt den Kopf.
Wir sind uns einig: Das ist der falsche Weg. Doch der Grundgedanke ist der richtige. Denn zeitgeschichtliche Reportagen gibt es zuhauf, viele davon sind ausgezeichnet gemacht, unerreichbar mit unseren Mitteln. Deshalb brauchen wir einen anderen Zugang. Ich weiß, dass wir das Thema in die Gegenwart holen müssen. Und dass Lisa der Schlüssel dazu sein wird.
„Wir könnten deine Überlegungen und Zweifel zum Thema machen“, sage ich. „Deine inneren Monologe werden der rote Faden durch die Geschichte.“
Lisa nickt vorsichtig. Ich habe das Gefühl, erst jetzt wird ihr so richtig klar, was das alles bedeutet. Sie könnte das Gesicht und das Herz einer Dokumentation werden. Anhand ihrer Person würde sich eine Geschichte entwickeln, und alles, was mit dieser Geschichte passiert – egal, ob sie Kritik erntet oder Lob –, all das würde mit ihrem Namen verbunden sein. Es gäbe kein Entkommen. Meine Arbeit endet, wenn das fertige Konzept steht. Lisas Arbeit fängt gerade erst an.