SCHLUSS MIT SCHULD

SCHLUSS MIT SCHULD

UNSERE REISE ZUM HOLOCAUST UND ZURÜCK

Lisa GADENSTÄTTER

Elisabeth GOLLACKNER

Seifert Verlag

Inhalt

VORWORT

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

EPILOG

DANKSAGUNG

QUELLENNACHWEIS

VORWORT

DIE AUTORINNEN

Wir arbeiten schon sehr lange im

Journalismus und haben bei vielen

spannenden Projekten dabei sein dürfen.

Doch das, was nach unserer Dokumentation „Schluss mit Schuld – Was der Holocaust mit mir zu tun hat“ geschehen ist, stellt alles andere in den Schatten. Die positiven Briefe, Mails und Glückwünsche haben uns regelrecht überschwemmt, täglich erreichten uns neue Zeilen, herzlich und ehrlich. Von Menschen, die die Doku zufällig mit ihren Kindern gesehen hatten. Von Lehrerinnen und Lehrern, die sich für neue Blickwinkel bedankten. Von Söhnen und Töchtern, deren Eltern selbst im KZ waren. Und von Schülerinnen und Schülern, die zum ersten Mal vom Holocaust gehört hatten.

Wir sind uns im Klaren, dass diese Briefe in erster Linie nicht unsere Arbeit betreffen. Es waren Reaktionen auf die berührenden Lebensgeschichten der drei Zeitzeugen. Auch uns ist es so ergangen: Die Interviews mit Aba Lewit, Esther Bejarano und Jehuda Bacon waren ein prägendes Erlebnis, alle drei sind faszinierende Persönlichkeiten mit viel Weisheit und Humor, und wir werden die Geschichten, die sie mit uns geteilt haben, nicht so schnell vergessen. Dass es uns offenbar geglückt ist, diese Faszination in Form eines Filmes an andere weiterzugeben, freut uns sehr.

Dieses Buch soll ein Geschenk sein an all jene, die dieser Film berührt und bewegt hat. Die Interviews mit den Zeitzeugen sind in voller Länge abgedruckt. In geschriebener Form entwickeln sie nochmal eine ganz andere Wirkung.

Auch einige unserer Rechercheergebnisse haben wir zusammengefasst. Sie bieten einen guten Überblick der Orte, von denen erzählt wird.

In vielen Briefen wurde die schwierige Frage nach Schuld und Verantwortung angesprochen. Indem wir den Produktionsprozess mit all seinen Zweifeln und Hindernissen dokumentieren, hoffen wir, in dieser Hinsicht vielleicht die eine oder andere Antwort liefern zu können.

Und zu guter Letzt ist dieses Buch auch ein Geschenk an all jene, die unseren Film verpasst haben. Denn wir finden, die Geschichten von Aba, Esther und Jehuda dürfen nicht in Vergessenheit geraten.


Lisa Gadenstätter und Elisabeth Gollackner

PROLOG

ELISABETH

Wir stehen im Halbdunkel dieses fensterlosen Raumes, zwei Meter unter der Erde, still, in der Sprachlosigkeit,

die der Ort mit sich bringt.

Es ist der Lagerraum, der zwischen der Gaskammer und den Krematorien liegt. Hier wurden nicht nur die Brennmaterialien für die Öfen gelagert, hier wurden auch die Leichen gestapelt, bevor sie in Flammen aufgingen. Auf diesem Boden hier. Vor nicht mal 80 Jahren. Es ist unvorstellbar.

Lisa geht die langen dunkelblauen Tafeln entlang, die zur Erinnerung an die vielen Toten aufgestellt wurden. Über 81.000 Namen reihen sich aneinander, übereinander, Buchstaben wie Leichenberge, ein ganzer Raum voll. Ihre Schritte sind bedächtig, langsam bewegt sie sich auf dem Steg, der durch die Installation führt. Warum ein Steg? Vielleicht, um die alte Bausubstanz nicht weiter zu beschädigen, oder vielleicht, um den Besucherinnen und Besuchern etwas Abstand zu bieten? Ich weiß es nicht, doch ich merke, wie dankbar ich dafür bin, nicht mit meinen eigenen Füßen auf diesem Boden stehen zu müssen.

Martin hockt neben mir. Versunken in den Sucher seiner Kamera, arbeitet er sich akribisch durch den Raum, rückt sein Stativ weiter in die Mitte und wieder zurück. Er verfolgt Lisa bei ihren Beobachtungen.

Die Luft ist kühl und trocken. Im matten Schein der diskreten Lampen flirren Staubpartikel, und mit ihnen flirren die alten Geschichten, verdichten die Atmosphäre, machen das Atmen schwer. Ich schaue in Lisas Gesicht. Ihr Blick sagt das, was auch ich denke:

Das hier ist kein Museum. Das ist ein Friedhof.

Lisa, Martin, ich. Dann noch Bernhard vom Team der Gedenkstätte Mauthausen. Und Flora, die Kameraassistentin. Wir fünf arbeiten schon den ganzen Tag am Gelände, um die Orte zu finden, von denen die Holocaust-Überlebenden gesprochen haben. Die Felder und die Stiegen und die verschachtelten Bunker unter der Erde, aus denen kaum jemand lebend rauskam.

Martin dreht die Kamera, bittet Lisa, ein paar Schritte weiterzugehen, und dann sagt er mit seiner ruhigen, freundlichen Stimme:

„Und jetzt bitte ab in die Gaskammer.“

Lisa dreht sich erstaunt um, und alle lachen wir los, lauthals, und doch irgendwie verschämt. Martin blickt in die Runde, schüttelt grinsend den Kopf. So habe er das doch nicht gemeint.

Darf ich lachen? Ich halte mir die Hand vor den Mund, doch das Lachen bleibt und löst meine Schultern. Die Anspannung bricht weg, endlich an diesem Tag. Mit einem Mal sind wir fünf in der Gegenwart, und die Steine rund um uns sind nur Steine, Geschichte ist plötzlich etwas, das vergangen ist, und der Tod kann uns nichts mehr anhaben, ganz im Gegenteil, wir lachen ihm ins Gesicht. Und ich frage mich: Wie hat Erinnerung und Gedenken auszusehen? Wenn ich persönlich keinen Grund zur Trauer habe, wenn die Geschichten aus den Schulbüchern nichts mit meinem Leben zu tun haben, wenn die Jahre vergehen und die Gegenwart mit ihren Hürden und Problemen den Kopf besetzt – warum sollten wir schweigen und trauern? Warum sollten wir an einem Ort wie diesem nicht lachen dürfen?

EINS

ELISABETH

Der Nebel hängt über Wien, grau in grau, mit Schlieren aus Regen, so vertreibt er den Sommer endgültig und versperrt die Sicht aufs leichte Leben.

Ich steh an einem der großen Panoramafenster im Büro. Es ist später Nachmittag an einem kalten Tag im Oktober, und in ein paar Stunden wird es auf unserer Seite der Weltkugel stockdunkel sein. Die Nachrichtenlage trägt auch nicht gerade zur Erhellung bei. Der wasserstoffblonde Wahnsinn eines Donald Trump übertrumpft sich täglich aufs Neue, in Syrien gehören die zerbombten Städte und weinenden Menschen zum täglichen Bild, und in Österreich kämpft eine neugewählte Regierung noch vor ihrer Angelobung mit den braunen Schatten der Vergangenheit. Ich bin müde, und ich habe genug von diesem Tag. Doch ich bin noch nicht ganz fertig für heute.

„Hallo, Lilly.“ Lisa steht hinter mir. Sie hat gemeint, sie wolle etwas mit mir besprechen – jetzt ist sie hier. Wir setzen uns auf die grüne Couch am Gang, ihre hohen Rückenlehnen bieten etwas Privatsphäre. Lisa hat ein kleines Notizbuch bei sich. Unterm Gummiband, das es zusammenhält, steckt ein gefalteter Zettel. Ich werde neugierig.

Lisa erzählt mir von einem Interview, das sie vor einem halben Jahr geführt hat. Mit Aba Lewit, einem sehr alten jüdischen Mann, der als Jugendlicher im KZ war.

„Wie soll ich ihn dir beschreiben?“, sagt sie, „er ist sehr klein und freundlich, und er hat so viel erlebt, das kann man sich gar nicht vorstellen.“

In ihren braunen Augen blitzt der Eifer eines Menschen, der Feuer gefangen hat. Ihre Hände halten sich am Notizbuch fest. Ich weiß noch immer nicht, was sie von mir möchte.

„Er ist schon sehr krank“, sagt sie. „Und er ist einer der Letzten, die davon erzählen können. Und ich weiß nicht genau, aber …“

Sie zögert, und schön langsam dämmert mir, was sie vorhat. Sie möchte mehr dazu machen.

„Woran denkst du genau?“, frag ich sie.

„Vielleicht ein längeres Interview? Oder eine Reportage? Ich würde gern mehr machen, aber ich hab keine Idee, was es sein könnte.“

Damit hat sie mich. Ich fühl mich geschmeichelt und geehrt, dass sie damit zu mir kommt. Wir arbeiten so gut wie nie zusammen – sie Moderatorin der aktuellen Nachrichten um 20 und um 24 Uhr, ich die Programmentwicklerin mit „Nine-To-Five-Job“. An vielen Tagen sehen wir uns nicht einmal. Trotzdem hat sie bei diesem Projekt an mich gedacht. Und später, irgendwann auf einer unserer vielen Autofahrten, werde ich ihr sagen, dass mich ihr Vorschlag nicht nur gefreut, sondern auch irgendwie gerettet hat. Denn ich hänge in den Seilen, so kurz nach der Karenz, arbeite an einem Projekt, das zu scheitern droht, und bin mir nicht sicher, was ich den ganzen Tag hier eigentlich soll.

Auf der grünen Couch im Oktober also beginnen wir, Ideen zu spinnen und Fragen aufzuwerfen. Was wäre das Thema? Geht es um die spannende Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen? Oder würde diese Geschichte exemplarisch für mehr stehen? Reden wir über den Holocaust? Oder reden wir über die Gegenwart?

Lisa zieht den Zettel aus dem Notizbuch, teilt ihre ersten Gedanken mit mir. Sie ist akribisch in ihrer Arbeit und hat viel recherchiert über Aba Lewit und seine Lebensgeschichte.

„Ich möchte einfach wissen“, sagt sie, „was ein Mensch wie Aba unserer Generation mitgeben möchte.“

Möchte ich das auch wissen, frag ich mich? Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin (und ich bin es in diesem Augenblick nur zu mir, nicht zu Lisa), dann muss ich zugeben: Nein. Von den vielen Themen auf der Welt, mit denen man sich beruflich beschäftigen könnte, hat es der Zweite Weltkrieg noch nicht in meine „Top Ten“-Liste geschafft. Ganz im Gegenteil. Holocaust, das riecht nach den Plastikeinbänden der Geschichtsbücher, nach knallgelbem Textmarker und nach Angstschweiß. Ein Thema, das im Kopf irgendwo ganz hinten verstaut ist, in der Kiste mit der Aufschrift: Muss man wissen. Verstaut und verstaubt, weil auch nicht mehr hervorgeholt. Ja, ich hab Schindlers Liste gesehen. Aber die großen Heldengeschichten im Kino, dreckverschmierte Blockbuster im Schützengraben für die Ehre und fürs Vaterland, haben mich nie interessiert. Und zu Hause war es tabu, über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Nicht wegen meiner Eltern. Sondern wegen der Großmutter, einer liebevollen, fürsorglichen Frau, die in Rage geriet, wenn das Thema zur Sprache kam. „Wir haben nichts davon gewusst!“, zischte sie in einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. Sie hatte nicht nur ihren Bruder, sondern auch ihre Jugendjahre an den Krieg verloren. Und hatte daraufhin beschlossen, nie mehr darüber zu sprechen. Viel später dann, als die Demenz sie eisern umarmte und die Alpträume wiederkehrten, lief sie nachts durchs Haus und kontrollierte, ob auch alle Türen fest verschlossen waren. Denn „sie sind gekommen“, flüsterte sie dann, dieses Gespenst in ihrem weiten, blumigen Nachthemd mit dem ängstlichen Blick. Sie sind gekommen, und sie hat ihre Schwester schreien gehört.

Meine Geschichtsprüfungen hab ich alle geschafft. Und meine Großmutter ist seit einigen Jahren nicht mehr am Leben. Vielleicht ist es an der Zeit, die alte Kiste rauszukramen und einen neuen, erwachsenen Blick darauf zu werfen.

ZWEI

LISA

Ich stehe von der grünen Couch auf

und verabschiede mich von Lilly.

Ich nenne sie bei ihrem Spitznamen, obwohl ich sie nicht ganz so gut kenne. Aber in unserer Redaktion ist aus Elisabeth ganz schnell Lilly geworden. Etwas verunsichert gehe ich zu meinem Platz zurück. Dieses erste Gespräch ist dann doch anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt habe. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich meine Begeisterung nicht so richtig vermitteln konnte.

„Na ja, dann mach doch mal einen Interviewtermin mit ihm aus, und wir überlegen, in welcher Form wir es bringen könnten“, sagt Lilly.

Ich verstehe ihre Zurückhaltung. ORFeins braucht, wie jeder Sender, eine klare Ausrichtung. Unsere Zielgruppe sind hauptsächlich jüngere Menschen. Eine Zielgruppe, die hart umkämpft ist. Und natürlich muss man die Frage stellen: Warum sollen sich die für dieses Thema interessieren? Aber sind es nicht genau die Jungen, die hier besonders wichtig sind?

Warum sollen wir uns, also die jüngere Generation, erinnern? Ein Satz, über den Lilly und ich noch sehr viel sprechen werden. Ich setze mich vor meinen Computer, lege mein Notizbuch neben meine Tasche. Den kleinen weißen Zettel habe ich mittlerweile komplett zerknuddelt. Ich bin mit mir unzufrieden. Ich habe diese Idee in meinem Kopf, aber ich kann sie noch nicht ausformulieren. Ich weiß nur, dass ich nochmals ein Interview mit Aba führen möchte, ein langes. Nicht nur acht Minuten in der ZIB24. Ich will, dass die Aussagen dieses Mannes festgehalten werden. Lange werden wir nicht mehr die Möglichkeit haben, mit Menschen zu sprechen, die den Holocaust am eigenen Leib erlebt haben. Ich habe Lilly von meinem letzten Interview mit Aba und den Reaktionen darauf erzählt. Die überwiegende Mehrheit äußerst positiv. Aber es hat auch andere Kommentare gegeben. Für rassistische und hetzerische Kommentare werde ich hier keinen Buchstaben verschwenden. Aber ich möchte jene Kommentare erwähnen, über die man reden kann, über die man reden muss. Zu solchen Gedenkjahren, wie wir es im Jahr 2018 begehen, 80 Jahre Kriegsbeginn, wird nämlich noch öfter als sonst diskutiert:

„Warum müssen wir uns immer wieder erinnern?“

„Lasst’s uns doch endlich damit in Ruhe, das ist 80 Jahre her!“

„Eh schlimm, was damals passiert ist, aber wir haben aktuell so viele Krisen und Katastrophen, da brauchen wir nicht auch noch über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu sprechen.“

Es sind diese Aussagen, die mich interessieren. Sind sie berechtigt? Darf man die Geschichte einfach so abhaken? Das Erlebte der Menschen einfach aus dem Blickfeld streichen?

Ich habe Lilly von Abas Zeit in den Konzentrationslagern erzählt, von dem Unfassbaren, das er erlebt hat.

Lilly hat mir aufmerksam zugehört. Und dann diesen einen Satz zu mir gesagt: „Und wie willst du das in die Jetzt-Zeit holen?“

Eine kleine, kluge Frage, die auf den ersten Blick gar nicht so schwer zu beantworten ist; auf den zweiten allerdings schon. Diese Frage wird bei uns in den nächsten Wochen einen Denkprozess auslösen, der uns Schritt für Schritt näher an den Kern bringt: Was hat der Holocaust eigentlich wirklich noch mit mir, mit uns zu tun?

DREI

LISA

Zehn Minuten. So lange sitze ich jetzt schon mit dem Telefon in der Hand da.

Ich habe großen Respekt, diese Nummer zu wählen. Eigentlich komisch, telefonieren, nachfragen, recherchieren, das gehört zu meinem Job. Da sollte ich eigentlich keine Hemmungen haben. Doch bei dieser Nummer ist es anders.

Am anderen Ende der Leitung wird ein 96-jähriger Mann abheben. Ein Mann, der, wenn man seine Geschichte hört, eigentlich nicht mehr am Leben sein dürfte. Aber Aba Lewit ist ein Kämpfer. Er hat den Holocaust überlebt, vier Konzentrations- und Arbeitslager musste er überstehen, unter Bedingungen, die wir uns alle nicht vorstellen können. Dieser alte Mann mit seiner Lebensgeschichte hat mich nach meinem ersten Interview vor einem halben Jahr nicht mehr losgelassen. Immer wieder habe ich an Aba gedacht. Und schließlich habe ich Lilly auf der grünen Couch seine Geschichte erzählt.

„Warum interessierst du dich so für dieses Thema?“, hat Lilly mich bei diesem ersten Gespräch gefragt. Ja, warum eigentlich, eine gute Frage. Meine Eltern haben da wohl einen sehr großen Anteil. Sie sind sehr interessiert an Geschichte, lieben Dokus jeder Art. Als Kinder sind mein Bruder und ich oft neben Mama und Papa auf der Couch gesessen und haben nicht nur die Zeit im Bild geschaut, sondern auch Dokumentationen. Über den Zweiten Weltkrieg, über Hitler, über den Holocaust. Für mich war als Kind immer unvorstellbar, wie so etwas wie der Holocaust auf der Welt passieren konnte. Diese für mich so unfassbare Katastrophe hat mich nicht mehr losgelassen, ich wollte verstehen. Und konnte es nicht.

In meiner Studienzeit habe ich dann ein Interview mit einem Mann geführt, der während des Zweiten Weltkriegs als Reporter und Kameramann gearbeitet hat. Im vollen Flug hat er bei offener Tür aus dem Flugzeug gefilmt und Berichte erstellt.

Als ich bei Ö3 als Reporterin gearbeitet habe, durfte ich ein Gespräch mit einem Überlebenden des Spiegelgrunds führen. Der Spiegelgrund war eine Anstalt in Wien, in der zwischen 1940 und 1945 Kinder und Jugendliche gequält und systematisch ermordet wurden. „Am Spiegelgrund“ gilt als Synonym für Verbrechen der NS-Medizin.

Und jetzt, als Nachrichten-Moderatorin und Interviewerin im ORF-Fernsehen, möchte ich mit Überlebenden des Holocaust sprechen. Ich möchte ihre Geschichten weitergeben. So definiere ich, für mich, meinen Job. Ich möchte im besten Fall erreichen, dass Menschen am Ende einer Nachrichtensendung oder eines Interviews ein Stückchen mehr informiert sind, etwas Neues erfahren haben und sich eine eigene Meinung bilden können.

Ich schaue auf und sehe Kolleginnen und Kollegen, die über Geschichten sprechen, über mögliche Interviewpartner, über Gestaltungsformen. Mein Telefon liegt noch immer schwer in meiner Hand. Es scheint immer schwerer zu werden. Ich stehe von meinem Platz auf und gehe in einen kleinen Raum. Hier ist es ruhig, hier steht nur ein Computer mit einem speziellen Programm. Damit können wir fertiggestellte Beiträge anschauen. Der zweite Gegenstand im Raum ist ein Kühlschrank. Er brummt leise vor sich hin. Ich lehne mich gegen die Tür und wähle Abas Nummer.

„Hallo!“, ruft es am anderen Ende der Leitung in den Hörer. Aba hat eine durchaus feste, herausfordernde Stimme. Ich stelle mich vor und nehme nicht an, dass sich Aba noch an mich erinnern kann. Immerhin war mein letztes Interview ein halbes Jahr her. Ich frage, ob ich störe.

„Nein.“

Aba ist ein Mann der klaren Worte. Ich erkläre ihm, dass ich gerne nochmals ein Interview mit ihm führen würde.

„Ja, können wir machen“, sagt Aba nach kurzem Zögern.

Er fragt mich, wann ich vorbeikommen möchte. Ich blättere in meinem Kalender.

„Wie wäre es mit dem 22. November“, schlage ich vor.

Am anderen Ende der Leitung höre ich Aba atmen und ebenfalls in einem Kalender blättern.

„Ja, der 22. geht“, sagt er schließlich.

Wann wir denn vorbeikommen wollen, es geht ab vier Uhr in der Früh.

Ab vier Uhr in der Früh? Ich bin verwirrt und denke zuerst an einen Witz, aber Aba scherzt nicht. Er steht tatsächlich jeden Tag so früh auf, weil er nicht schlafen kann. Später, im Interview, wird er mir erzählen, welche Alpträume ihn seit Jahren nicht schlafen lassen.

Ich schlage neun Uhr vor.

„Das geht“, sagt Aba.

Er zögert leicht und hat plötzlich einen spitzbübischen Tonfall in seiner Stimme.

„Aber wir müssen schnell sein, um zehn kommt der Gasmann.“

Mir verschlägt es die Sprache. Hat der Holocaust-Überlebende das gerade wirklich gesagt? Noch dazu mit einem kleinen Schmunzeln in der Stimme? Ich schlucke. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Bin ich überkorrekt, weil ich es komisch finde, die Wörter „Gasmann“ und „Holocaust“ in einem Atemzug zu nennen? Was darf man, und was darf man nicht? Wie schaut es mit Witzen aus? Ich beschließe, mich auf Abas Humor einzulassen.

„Ach, der Gasmann“, antworte ich, „das macht nichts, das geht eh immer sehr schnell. Wir können dann gerne warten.“

Aba lacht am anderen Ende der Leitung. Ein leises, lustiges, erleichtertes Lachen. Damit steht mein neuerlicher Interview-Termin mit diesem faszinierenden Mann.

VIER

ELISABETH

Die Zeit vergeht, die tägliche Nachrichtenarbeit stiehlt uns die Tage, und nach Lisas Anruf bei Aba trifft es uns fast unerwartet: Das erste Interview steht an.

Bei unserem Treffen auf der Couch war klar, dass wir uns ein Sendungskonzept ausdenken möchten. Keine leichte Aufgabe, und nichts, was man zwischen Tür und Angel schnell nebenbei macht. Jetzt tickt die Uhr. Morgen wird das Gespräch mit Aba Lewit stattfinden, und auch wenn wir noch nicht wissen, wohin uns die Reise führen wird, muss Lisa morgen alles einholen, was für eine Doku vielleicht notwendig werden wird.

Punkt drei Uhr ist ausgemacht, im kleinen Sitzungsraum. Ich krame Stifte und Blöcke zusammen, Lisa kommt beladen mit Laptop und einem Berg Zetteln zum Treffpunkt. Dann schließen wir die Tür. Jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht. Das haben wir zumindest vor.

Ich bewaffne mich mit einem schwarzen Edding, und Lisa beginnt, von ihren Recherchen zu erzählen.

Aba Lewit, lebt in Wien. Inzwischen verwitwet, war mit einer Frau verheiratet, die im KZ -Auschwitz gewesen ist. Hat mehrere Konzentrationslager überlebt.

Zweite Möglichkeit: Esther Bejarano. Eine Musikerin und Sängerin, lebt in Hamburg. Hat in Auschwitz im sogenannten „Mädchenorchester“ gespielt. Singt jetzt in einer Band mit ihrem Sohn und einem muslimischen Rapper.

„Was war das Mädchenorchester? Wo haben die gespielt?“

Ich habe davon noch nie gehört.

„Die mussten für die Leute spielen, die auf dem Weg in die Gaskammern waren. Damit sie geglaubt haben, alles sei in Ordnung.“

Dieser Gedanke schockiert mich, er ist abartig und grauenhaft, und es wird nicht das letzte Mal sein, dass mich die mörderische Kreativität der Nazis fassungslos zurücklässt.

Dritte Möglichkeit: Jehuda Bacon. Lebt in Jerusalem. Ist Maler und war einer der „Birkenau Boys“.

„Eine Gruppe von Buben, die in Auschwitz Botendienste erledigen mussten“, erklärt Lisa.

Ich schreibe alle drei Namen an die Tafel, notiere die Orte und die Stichworte. Nur das Interview mit Aba Lewit ist bis jetzt fixiert. Die zwei anderen sind Lisas Wunschkandidaten.

„Vielleicht hat Abas Frau das Mädchenorchester in Auschwitz spielen sehen“, sage ich. Ich suche nach Verbindungen, nach Anknüpfungspunkten der drei Überlebenden. Was ich an der Tafel sehe, gefällt mir sehr: eine Musikerin, ein Maler. Ein Mann, der „eigentlich nicht mehr leben dürfte“, wie Lisa es bezeichnet.

„Das klingt nicht sehr nett“, antworte ich. Die Doppeldeutigkeit des Satzes bringt uns zum Lachen. Der Sog der Arbeit treibt uns voran, alles funktioniert mühelos.

Wir teilen die Interviewpassagen in zeitliche Abschnitte:

Wann und wie haben Sie gemerkt, dass sich etwas in der Gesellschaft verändert?

Wie war der Alltag im KZ?

Wie war die Befreiung?

Wie ist das Leben danach weitergegangen?

Können Sie vergeben? Können Sie vergessen? Wie ist es möglich, nach solchen Erfahrungen weiterzuleben?

Weil alle drei um die 90 Jahre alt sind, planen wir die Interviews im Sitzen, in ihrer Wohnung. Übers große ORF-Archiv möchten wir versuchen, historische Aufnahmen zu finden, die das Erzählte illustrieren. Das Sendungskonzept nimmt nach und nach Formen an. Doch ein wichtiger Punkt fehlt noch.

„Welche Rolle spielst du in dem Ganzen?“, frage ich.

Lisa überlegt. Überlegt lange.

„Ich höre zu. Stellvertretend. Nicht jeder hat die Möglichkeit, mit Zeitzeugen zu sprechen.“

„Und was haben diese alten Geschichten mit dir zu tun?“

Fragen wie diese zu stellen gehört zu meiner Arbeit. Lisa weiß das und steigt ein, ohne sich irritieren zu lassen.

„Vielleicht … naja, vielleicht bin ich jemand, der die Aufgabe hat, ein Vermächtnis weiterzugeben.“

Ich schreibe in großen Buchstaben „DAS VERMÄCHTNIS“ auf die Tafel. Es klingt wie ein Thriller von Dan Brown. Lisa lacht und schüttelt den Kopf.

Wir sind uns einig: Das ist der falsche Weg. Doch der Grundgedanke ist der richtige. Denn zeitgeschichtliche Reportagen gibt es zuhauf, viele davon sind ausgezeichnet gemacht, unerreichbar mit unseren Mitteln. Deshalb brauchen wir einen anderen Zugang. Ich weiß, dass wir das Thema in die Gegenwart holen müssen. Und dass Lisa der Schlüssel dazu sein wird.

„Wir könnten deine Überlegungen und Zweifel zum Thema machen“, sage ich. „Deine inneren Monologe werden der rote Faden durch die Geschichte.“

Lisa nickt vorsichtig. Ich habe das Gefühl, erst jetzt wird ihr so richtig klar, was das alles bedeutet. Sie könnte das Gesicht und das Herz einer Dokumentation werden. Anhand ihrer Person würde sich eine Geschichte entwickeln, und alles, was mit dieser Geschichte passiert – egal, ob sie Kritik erntet oder Lob –, all das würde mit ihrem Namen verbunden sein. Es gäbe kein Entkommen. Meine Arbeit endet, wenn das fertige Konzept steht. Lisas Arbeit fängt gerade erst an.